Drei Frauen und ein Sommer - Lucinde Hutzenlaub - E-Book
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Drei Frauen und ein Sommer E-Book

Lucinde Hutzenlaub

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Beschreibung

Drei Frauen, ein unvergesslicher Sommer und ein Ort, der Erinnerungen weckt

Kurz vor ihrem 40. Geburtstag erfährt Kiki, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, eine andere heiraten wird. Ausgerechnet da bittet ihre Mutter sie, sie zu einer Reise auf die Schwäbische Alb zu Kikis Tante zu begleiten. Kiki stimmt nur widerwillig zu. Doch an einem Sommerabend am See, als die letzten Sonnenstrahlen die flachen Steine am Ufer wärmen und Kiki den Duft reifer Himbeeren riecht, beginnt sie zu ahnen, warum Tante Elsie sich diesem Ort so verbunden fühlt. Und endlich erzählt Elsie ihr die tragische Geschichte ihrer großen Liebe Kurt, den sie in den letzten Kriegsjahren hier kennenlernte. Kiki fühlt, wie sich ihre Sicht auf viele Dinge im Leben ändert – besonders, als ihr der charmante Schreiner Jakob über den Weg läuft ...

»Ein warmherziger Roman, der mit humorvoller Leichtigkeit und einer Prise Wehmut davon erzählt, dass es für die große Liebe und einen mutigen Neuanfang nie zu spät ist.« DONNA

Das Buch ist unter dem Titel »Tante Elsie hat Schwein« bereits vorab bei Weltbild erschienen.

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Seitenzahl: 437

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LUCINDE HUTZENLAUB ist Autorin, Kolumnistin bei der Donna und managt eine Großfamilie mit vier Kindern. Ihr Buch Ich dachte, älter werden dauert länger (mit Heike Abidi) stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Sie lebt und arbeitet im Süden Deutschlands, ganz in der Nähe der Schwäbischen Alb – und wollte schon immer mal eine Geschichte erzählen, die dort spielt.

Außerdem von Lucinde Hutzenlaub lieferbar:

Pasta d’Amore. Liebe auf Sizilianisch. Roman.

Ich dachte, älter werden dauert länger. Ein Überlebenstraining für alle ab 50 (mit Heike Abidi)

Ich dachte, sie ziehen nie aus. Ein Überlebenstraining für alle Eltern, deren Kinder flügge werden (mit Heike Abidi)

Ich dachte, wir schenken uns nichts!? Ein Überlebenstraining für Weihnachtselfen und Festtagsmuffel (mit Heike Abidi)

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Lucinde Hutzenlaub

Drei Frauen und ein Sommer

Roman

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Dieses Buch enthält Zitate aus Mascha Kalékos Werken In meinen Träumen läutet es Sturm und Liebesgedichte, beide erschienen bei dtv.

Copyright © 2020 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Cover: Bürosüd

Covermotiv: Plainpicture/robertharding/Jochen Schlenker; Trevillion Images/Ildiko Neer; Trevillion Images/Elisabeth Ansley

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25153-6V003

www.penguin-verlag.de

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

JEAN PAUL, 1763–1825

Anmerkung:

Ähnlichkeiten zu lebenden Personen (sowie Schweinen und Hunden) sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Es war Freitag, der 14. Juli 1944. Elsie hatte sich am Morgen extra die goldblonden langen Haare gewaschen und diese in der Sonne trocknen lassen, bevor sie sie wieder zu zwei Zöpfen flocht, um sie als Kranz am Kopf festzustecken. In dem kurzen Ärmel ihrer weißen Bluse hatte sie schon vor zwei Tagen Lavendelzweige befestigt, damit sie gut duftete. Gerne hätte sie einen Büstenhalter getragen, damit sie wenigstens ein bisschen so aussah wie eine junge Frau, aber selbst, wenn sie einen gehabt hätte, wäre er überflüssig gewesen. Elsie war gerade sechzehn Jahre alt geworden und beobachtete ihre körperliche Entwicklung gleichermaßen hoffnungsvoll wie verzweifelt. Wäre ihre Mutter mit ihr hier in Ehrenweiler gewesen, hätte sie sich vielleicht deren Büstenhalter leihen können, aber sie war in Stuttgart geblieben. Sosehr Elsie ihre Mutter vermisste und sich gewünscht hätte, dass sie sie bei der Evakuierung nach Ehrenweiler begleitet hätte, so sehr bewunderte sie sie dafür, dass sie alles, sogar die Nähe zu ihren Kindern, opferte, um den Kranken zu helfen, die in Stuttgart zurückgeblieben waren und dringend ihre Hilfe brauchten. Die Familienvilla am Killesberg war aufgrund ihrer Größe, der vier Bäder und des gemauerten und zum Bunker umfunktionierten Kellers zur Infektionsstation umgebaut worden. Magdalena von Betzenstein war keine Krankenschwester, aber sie hatte auch nicht gezögert zu helfen, wo Hilfe nötig war. Vielleicht, weil sie insgeheim hoffte, dass irgendjemand für ihren Mann genau dasselbe tun würde, wenn er, wo auch immer er sich gerade befand, auf Hilfe angewiesen war. Ihre Mutter war für Elsie ein großes Vorbild, und deshalb tröstete sie jeden Abend liebevoll ihren dreizehn Jahre jüngeren Bruder Matthias, der seine Mutter schrecklich vermisste, und sang ihn in den Schlaf, während sie den warmen Körper des Jungen neben sich im Bett spürte und sich selbst damit tröstete, dass der Krieg schließlich irgendwann zu Ende sein musste. Dieser elende Krieg, der ihr jede Freude nahm und, egal auf welcher Seite der sich ständig verschiebenden Grenzen, für unendliches Leid und Kummer sorgte.

Nur heute, heute war ein Tag der Freude. Heute begann das traditionelle Spanferkelfest, das alljährlich in Ehrenweiler gefeiert wurde, und auch wenn es kein Spanferkel oder Fässer voller Bier geben würde wie sonst, so blieb es doch ein Fest und eine große Abwechslung von der ewigen Sehnsucht nach besseren Zeiten.

Heute Abend würde zuerst die Abendandacht stattfinden, nach der traditionell Volkslieder gesungen wurden. Früher, so hatte man ihr erzählt, hatten die Jungen und Alten aus dem Dorf dabei vor dem Festzelt mit Geigen und Akkordeon um ein großes Feuer gesessen, während heute das verblassende Licht des Tages reichen musste. Ein Feuer war zu gefährlich. Es könnte die Aufmerksamkeit des Feindes auf Ehrenweiler lenken. Abgesehen davon war Brennholz kostbar, und man musste sparsam damit umgehen. Morgen dann, nachdem der Tanzboden gesegnet worden war, würden alle tanzen. Die Nächte waren schließlich klar, der Mond voll und die Ehrenweiler ein trotziges Volk. Man konnte ihnen alles nehmen, aber einmal im Jahr wurde getanzt. In Friedenszeiten wäre auch ein Schwein gesegnet worden, das man dann später bei der Verlosung gewinnen konnte, aber es gab einfach keines, das irgendjemand hätte entbehren können. Dafür hatten die Bäuerinnen kleine süße Teigschweine gebacken, von denen jedes Kind eines bekommen sollte. Ja, es war Krieg. Aber heute und morgen musste er einfach eine Pause machen.

Frau Hermann, die Bäuerin, auf deren Hof Elsie und Matthias untergekommen waren, hatte angeboten, auf Matthias aufzupassen, damit Elsie zur Andacht gehen konnte.

Es war kein Wunder, dass Elsie aussah, wie sie eben aussah – viel zu dünn und viel zu jung –, schließlich gab es einfach nie genug zu essen, auch wenn man jetzt im Sommer, vor allem, wenn man früh genug loszog, an den Himbeer- und Brombeerranken am Waldrand die prallsten und prächtigsten Beeren finden konnte, so als ob es der Natur gleichgültig war, dass es im ganzen Land an allem mangelte. Schon oft war Elsie gleich nach Sonnenaufgang dort bei dem Hochsitz gewesen, hinter dessen Leiter die besten Früchte wuchsen. Ein paarmal hatte sie Kurt dabei getroffen. Kurt, der genauso alt war wie sie selbst und der mit seinen blonden, zurückgekämmten Haaren und den braunen, warmherzigen Augen so unglaublich gut aussah, dass sie jedes Mal beinahe vergaß, ihre kleine Schüssel zu füllen.

Sie wusste nicht viel über ihn, außer, dass er nicht wie Elsie und Matthias aus Stuttgart evakuiert, sondern hier in Ehrenweiler geboren worden war und nun versuchte, gemeinsam mit seiner Mutter deren kleinen Bauernhof und die Tischlerei zu retten, bis der Vater wieder aus dem Krieg heimkam.

Elsie errötete bei dem Gedanken an Kurt und dessen schüchternes Lächeln. Sie hatten bisher kaum miteinander gesprochen, aber wann immer sie sich begegneten, selbst am Sonntag in der Kirche, spürte sie seinen Blick auf ihrem Rücken, auf ihrer Haut und auf ihrem Gesicht. Allein der Gedanke daran brachte Elsie zum Lächeln. Sie strich über den rauen Stoff ihres Rockes, den sie aus der alten, aber hübsch bestickten Tagesdecke ihrer Großmutter noch in Stuttgart hatte nähen dürfen. Sie hatte ihn erst gestern ein wenig enger gemacht und den Knopf versetzt, was ihre Taille noch schmaler wirken ließ. Der Rock sah sehr hübsch aus. Wenigstens etwas. Ob sie Kurt so wohl gefiel?

Gestern, als sie sich bei den Himbeeren begegnet waren, hatte er sie gefragt, ob sie auch zum Fest kommen würde. Zuerst hatte sie Nein gesagt, denn allein die Vorstellung, ohne Begleitung auf eine Veranstaltung zu gehen, bei der getanzt und sicherlich auch einige der raren Alkoholvorräte freigegeben wurden, war ein Abenteuer, das ihre Mutter sicher nicht gutheißen würde. Und außerdem musste sie Matthias allein lassen. Schließlich hatte sie Frau Hermann davon erzählt, und die hatte sie mehr oder weniger überredet, nachdem Kurt sogar noch einmal vorbeigekommen war, um sie zum Tanz zu bitten. Er hatte Elsie außerdem so lange vom unvergleichlichen Geschmack von Spanferkelbraten mit Sauerkraut und frischem Brot vorgeschwärmt, das es in den besseren Zeiten immer gegeben hatte, bis ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen war und sie es beinahe schmecken konnte. Daraufhin hatte er versprochen, sie eines Tages dazu einzuladen und ihr ein Los für die Tombola zu kaufen. Eines Tages. Wenn der Krieg vorbei war. Seine Augen hatten ihr gesagt, dass er sein Versprechen halten würde.

Ob er sie wohl vielleicht sogar zum Tanzen auffordern würde? Aufgeregt machte Elsie drei kleine Schritte auf den Bruder zu, der gerade zur Zimmertür hereinkam. Er strahlte.

»Du siehst aus wie eine Prinzessin, Elsie!«

Elsie schmunzelte und streckte die Hände nach ihm aus, um ihn in den Arm zu nehmen. Ganz bestimmt hatte er noch nie eine Prinzessin gesehen, sonst wüsste er sicherlich, dass sie selten fadenscheinige Blusen und ausgeblichene Röcke trugen. Aber seine Begeisterung rührte sie und wärmte ihr Herz. Tief vergrub sie die Nase in seinen blonden Locken und atmete den vertrauten Duft ein. Wenn nur das Leben eines Tages wieder leichter werden würde und Angst und Sorge nicht mehr dessen ständige Begleiter.

Sie schluckte und schob die trüben Gedanken beiseite. Die nächsten Stunden sollten ein wenig Glanz und Glück auf diese schwierigen Zeiten werfen, sodass sie vielleicht ein wenig besser zu ertragen waren.

»Findest du wirklich? Wie eine echte Prinzessin?« Elsie drehte Matthias um, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

Er nickte so heftig, dass sie beinahe lachen musste.

»Weißt du, Elsie, du leuchtest beinahe so hell wie die Sonne, ganz ohne Juwelen. Und das soll dir eine echte Prinzessin erst mal nachmachen.«

1

»Nein, Kiki, echt jetzt? Du hast nicht ernsthaft gedacht, dass das mit uns was Ernstes ist, oder?« Dass Bennet nicht auch noch laut loslachte, sollte sie ihm wohl zugutehalten. »Sorry, aber wie kommst du denn darauf?«

Gute Frage. Mal sehen: Vielleicht, weil sie beide kaum bekleidet nebeneinander im Bett lagen, und nur fürs Protokoll: Es war weder ihre Idee gewesen hierherzukommen, noch hatte sie das Gefühl gehabt, er wäre unfreiwillig hier. Zumindest nicht bis gerade eben. Vielleicht aber auch, weil Bennet, seit dem Moment als sie vor sieben Wochen, an ihrem ersten offiziellen Arbeitstag als Architektin bei Henderson & Henderson, mit einem Blick aus seinem gläsernen Büro zu Kikis Schreibtisch gestarrt hatte, als sei er Robinson Crusoe und sie ein Rettungsschiff am Horizont. Und nicht zuletzt, weil man um Menschen, mit denen man zusammenarbeitete, zwischenmenschlich und/oder sexuell eher einen großen Bogen machen sollte, vor allem, wenn man selbst der Juniorboss war, und ganz besonders, wenn man wollte, dass das Objekt der Begierde einem auch noch weiterhin als Arbeitskraft erhalten blieb.

Wenn man es genau betrachtete, warf dieses Gespräch offensichtlich noch weitere Fragen auf, die sich Kiki bisher nie gestellt hatte. Wie zum Beispiel, ob ihr Job in Gefahr war. Aber damit konnte sie sich auch beschäftigen, wenn sie ihren verdammten BH endlich gefunden, die Scherben ihres Herzens vor dem Hotelbett aufgefegt hatte und erhobenen Hauptes aus diesem fürchterlich überstylten Designerhotel in ihr Leben zurückgekehrt war, in dem es hoffentlich eine Rückspultaste gab, die es ihr ermöglichte, die letzte Stunde – ach was, die letzten sieben Wochen – ungeschehen zu machen.

Es war wirklich unglaublich, dass sie tatsächlich davon ausgegangen war, Bennet und sie würde etwas Besonderes verbinden.

»Hey, jetzt entspann dich mal!« Bennet streichelte irgendwo an ihrem Oberschenkel herum, während er selbstgefällig grinste. »Wir können es uns doch auch nett machen, ohne dass wir gleich heiraten oder die ganze Welt von uns weiß. Willkommen im 21. Jahrhundert, Fräulein von Betzenstein. Nur, weil ich dich nicht meiner Familie vorstelle, heißt das doch noch lange nicht, dass wir aufhören müssen, Spaß zu haben!«

Spaß zu haben? Kikis Herz brannte, als stünde es in Flammen. Spaß zu haben?Das war also seine Definition von dem, was sie für zarte Bande und eine beginnende Beziehung gehalten hatte?

Nein, sie wollte nicht unbedingt noch einmal heiraten. Das hatte sie schon hinter sich. Und wie wenig sie als Ehefrau wirklich taugte, war ihr endgültig an ihrem neununddreißigsten Geburtstag vor knapp einem Jahr bewusst geworden, als ihr Ex-Ehemann Rob, aka Robert Ferdinand Behrens, ihr im Takt ihrer laut tickenden biologischen Uhr mitgeteilt hatte, dass er ihre vierzehnjährige Beziehung inklusive Eigentumswohnung, Ehering und bereits begonnener Familienplanung nicht mehr weiter fortführen könne, weil er festgestellt habe, dass »das nichts für ihn war«. Auf was genau sich dieses »nichts« bezog, wusste Kiki damals nicht, aber jetzt war sie schlauer: Es bezog sich auf alles. Noch niederschmetternder ausgedrückt: Kikis Alles war sein Nichts. Er wollte keine Kinder, oder zumindest nicht mit ihr, und auch kein Haus. Er wollte frei sein, so behauptete er zumindest, und das Einzige, was außer seinem Job noch in seinem Leben Platz hatte, wäre ein Hund. Nein, das hatte sich nicht gut angefühlt. Auch wenn Esther sie dazu beglückwünscht hatte, dass sie sich nun nie wieder den Kopf darüber zerbrechen musste, wie albern sich Isolde Behrens-von Betzenstein anhörte, sie war ihren Job in Robs Eventagentur als Mädchen für alles los und konnte nun endlich als Architektin arbeiten. Aber dennoch fühlte sie sich so, als hätte ihr jemand die Augen verbunden und das Geländer von einer Freitreppe entfernt. Jeder Schritt in dieses Leben war mühsam, Kiki fehlte komplett die Orientierung, und sie hatte niemanden, an dem sie sich festhalten konnte. Das hieß, eines wusste sie sehr wohl: Sie wollte die wahre Liebe finden. Dieses Mal bedingungslos, mit richtigem Herzklopfen, Schmetterlingen und allem, was dazugehörte.

Doch erst einmal war es nun ein enormer Rückschritt, nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung zu sein, sondern wieder in ihrem alten Appartement im Parterre der von Betzensteinschen Familienvilla. Bei ihrer Mutter. Weil der Job bei Henderson zwar prestigeträchtig war, aber dafür schlecht bezahlt wurde und Kiki bisher keinen anderen gefunden hatte, der es einer beinahe vierzigjährigen Berufseinsteigerin mit einem abgeschlossenen Architekturstudium ermöglichte, große finanzielle Sprünge zu machen. Überqualifiziert und unerfahren lautete meist der Subtext der Absage auf ihre Bewerbung. Kiki begriff erst jetzt allmählich, wie abhängig sie sich vor vierzehn Jahren gemacht hatte, als sie direkt nach dem Studium »erst mal« bei Rob eingestiegen war und aus Bequemlichkeit und weil es ja sowieso für immer sein sollte, blieb. Sie war ein Schaf. Ein überqualifiziertes, immerhin.

»Komm schon her, Kiki. Wir haben noch mindestens zwanzig Minuten.«

Das, was sie bisher für ein verliebtes Lächeln gehalten hatte, erinnerte sie nun eher an das breite Grinsen eines Haifisches, kurz bevor er seine hilflose Beute verschlang. Aber sie hätte es wissen können. Müssen.

Sie war einfach schon zu lange raus aus diesem ganzen Mann-sucht-Frau-Dingens, hatte bis vor ein paar Wochen keine Ahnung von Dating-Apps oder Online-Partnerschaftsbörsen gehabt oder davon, wie man die Zeichen des Gegenübers in freier Wildbahn deutete und sich auf etwas einließ, was moderne Menschen »Freundschaft plus« oder gar »Friends with benefits« nannten. Nun, wenigstens würde das ein gewisses Maß an Freundschaft voraussetzen und nein: Egal, wie nett es mit Bennet bisher gewesen war, Freunde waren sie definitiv nicht, denn dann wüsste er, dass Kiki das, was er da gerade gesagt hatte, tief verletzte.

Ihre Finger ertasteten den Saum ihres spitzenbesetzten Slips, dem teuersten Kleidungsstück, nach dem dazu passenden BH, das sie je gekauft hatte. Extra für ihr neues Leben als Single. Zur Scheidungsfeier sozusagen. Oder, um so richtig ehrlich zu sich selbst zu sein: Weil sie kein Single sein wollte. Extra für »Ich will dich nicht heiraten«-Bennet. Weil sie es einer ausgedehnten Mittagspause in einem Hotel angemessen fand, weil sie dachte, Bennet würde so etwas gefallen, weil sie außerdem gedacht hatte, er wäre möglicherweise verliebt in sie. Wenigstens ein bisschen. Und sie wäre es auch. Aber während sie diesen Mann ansah, der entweder völlig unbekümmert oder total gleichgültig ihr gegenüber war, wurde ihr schlagartig klar, dass sie im Grunde versucht hatte, das, was sie mit Rob gehabt hatte, weiterzuführen. Nur mit einem anderen Mann. Einem, den sie noch nicht einmal kannte und der offensichtlich an einem anderen Punkt in seinem Leben stand als Kiki, nicht nur, weil er drei Jahre jünger war, sondern auch, weil er etwas anderes suchte.

Kiki sollte dringend dieses Hotelzimmer verlassen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie zu spät ins Büro kommen würde, selbst wenn sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr. Zu Fuß auch noch zusätzlich mit Blasen an den Füßen. Denn sie trug, bis sie und Bennet vor einer knappen Stunde dieses Zimmer betreten hatten, nicht nur teure Unterwäsche, sondern auch als Fluchtschuhe völlig ungeeignete High Heels. Hätte sie damit gerechnet, abserviert zu werden, hätte sie Sneakers mitgebracht. Andererseits: Hätte sie damit gerechnet, wäre sie gar nicht erst hier. Hoffentlich.

Ihr Name war Isolde Maria von Betzenstein, ihr Spitzname Kiki, und wenn es so etwas gab wie das Gegenteil einer Superkraft, dann war es bei ihr eindeutig die Inkonsequenz. Sie begann ihr Liebesleben komplett von vorne, mit hehren Vorsätzen, die sie bereitwillig sofort über Bord warf, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, und sie war ähnlich ahnungslos wie damals mit siebzehn, allerdings mit weniger Vertrauen darauf, dass der Traumprinz schon in schimmernder Rüstung in den Startlöchern stand, um sie zu erobern. Für Liebesexperimente war sie anscheinend nicht gemacht.

»Lass uns einfach wieder zur Arbeit gehen, Bennet, ja?«

Kiki stand auf, wickelte sich in eines der flauschigen Handtücher, die auf dem Fußboden lagen, und bemühte sich, wenig von dem Bennets Blicken preiszugeben, was er bis gerade eben noch berührt hatte, um ihm nicht das Gefühl zu vermitteln, dies hier sei Teil der Show. Wenigstens hatte sie ihre Seidenbluse vorher auf einen Bügel an die Schranktür gehängt. Vorsichtig nahm sie sie herunter. Dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel.

Im Vergleich zu ihrer winzigen Mutter war Kiki riesig. Die langen, schlanken Glieder hatte sie von den von Betzensteins, und mit ihren goldblonden Haaren sah sie ihrer Tante Elsie in jungen Jahren verblüffend ähnlich, zumal Kiki ebenfalls gerne ihre Haare zu einem Kranz geflochten trug, was Kikis Mutter zu allerlei Spott und der Aussage verführte, dass diese Frisur ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt nicht unbedingt erhöhen würde. Ihre beste Freundin Esther behauptete, sie würde aussehen wie Charlize Theron und passend zu ihrem Namen an guten Tagen wirken wie eine aus der Zeit gefallene Prinzessin. In Jeans. Auch wenn es Kiki schmeichelte und Miss Theron sogar einige Jahre älter war als sie, stimmte es natürlich nicht wirklich. Aber beste Freundinnen sagten schließlich so etwas. Dafür ließ Helga von Betzenstein keine Gelegenheit aus, jeden Makel oder Fehler, den sie an ihrer Tochter entdeckte (und das waren einige), Kikis Tante und deren mangelhaftem Genpool in die Schuhe zu schieben. Die von Betzensteins waren alle nicht nur groß und schlank, sondern auch ein wenig unbeholfen, als wären ihre Körper zu lang für ihr Körpergefühl. Dass Elsie sich das Bein gebrochen hatte, lag bestimmt auch daran. Und ein wenig hatte es vielleicht auch damit zu tun, dass die von Betzensteins (ausgenommen Helga natürlich) alle zu waghalsigen Manövern neigten, wie beispielsweise in fortgerücktem Alter auf Tische zu steigen, um Glühbirnen zu wechseln.

Heute war keiner der guten Charlize-Theron-Tage. Trotz toller Haare, blauer Augen, einem schönen Mund und … wirklich hübscher Unterwäsche. Liebesglück sah trotzdem anders aus.

Die kühle Seide streichelte Kikis Haut, als sie in die Bluse schlüpfte. Bennet beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen vom Bett aus.

»Du willst wirklich wieder zur Arbeit?« Er grinste. »Du bist doch diejenige, die es kaum erwarten konnte, hier zu sein, Kiki. Jetzt tu bloß nicht so, als wärst du plötzlich ein unschuldiges Lämmchen! Los, komm zurück ins Bett! Oder soll ich dich holen?« Er robbte näher.

Nein, Kiki war kein Lämmchen. Da hatte Bennet vollkommen recht. Sie war ein ausgewachsenes Schaf, sonst wäre sie ganz sicher nicht hier. Und was auch immer als Nächstes geschah: Diese hier war keine Geschichte mit Happy End. Das hatte selbst Kiki mittlerweile immerhin begriffen.

Bennet hatte sich auf den Bauch gelegt und zupfte an ihrem Blusensaum. Kurz schloss sie die Augen und wappnete sich, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Es war nämlich so: Selbst, wenn sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte, so hinderte es sie nicht daran, gleich den nächsten zu begehen. Die Inkonsequenz schlug meist ihren Verstand k. o., bevor Kiki es bemerkte. Leider hatte sie offensichtlich nämlich nicht nur eine Schwäche für dumme Ideen, sondern auch für Männer, die alles andere als gut für sie waren. Und Bennet war quasi der Inbegriff all dessen, wovon sie besser die Finger lassen sollte. Apropos Finger davonlassen: Er nahm ihre Hand und zog sie neben sich aufs Bett.

»Willst du es dir nicht doch noch einmal anders überlegen, Prinzessin?« Bennet zwinkerte ihr zu.

Seine Berührung kribbelte an ihrer Hand. Und leider auch an anderen Stellen. Ihr Herz hüpfte aufgeregt und ein wenig unkontrolliert wie ein Kind, das zu viele Süßigkeiten genascht hatte. Kiki seufzte unhörbar und winkte ihrem sich erneut verabschiedendem Stolz in Gedanken wehmütig hinterher.

»Wenn schon, dann Comtesse.«

Das mit der Comtesse war natürlich totaler Quatsch. Die von Betzensteins waren zwar ein altes Adelsgeschlecht, allerdings ohne irgendwelche Ländereien oder sonstige Besitztümer. Sie besaßen eine Familienvilla am Killesberg, die durch ihren großartigen Blick auf Stuttgart und sehr zugige Fenster bestach, aber wenn man es genau nahm, floss in Kikis Adern kaum noch blaues Blut. Selbstachtung offensichtlich auch nicht wirklich, dachte sie, und ließ sich nach hinten fallen.

2

Mühsam versuchte Elsie, sich aus dieser merkwürdigen Phase zwischen Schlafen und Wachsein zu befreien, die einen sehr früh am Morgen manchmal mit allzu klaren Bildern überfiel. Der Traum war schmerzhaft gewesen. Und sosehr sie den Kummer spürte, so dringlich wollte sie gleichzeitig jeden Moment auskosten. Noch konnte sie sich nicht von den Bildern lösen, die so klar vor ihrem inneren Auge entstanden:

Es war der 24. Dezember 1944, und Elsie fühlte auch im Halbschlaf das Piksen unter den dünnen Sohlen ihrer abgetragenen Schuhe, als sie über die abgeernteten Stoppelfelder in Richtung Waldrand lief.

Die Kälte fraß sich durch ihren Wollschal, den sie eng um sich gewickelt hatte, weil der Mantel doch schon mehr als fadenscheinig war, aber die Vorfreude auf ihre Verabredung wärmte sie und schützte sie davor zu frieren.

Die Sonne schien in einem flachen Winkel gerade so über die Baumwipfel und blendete sie, sodass sie mehr oder weniger blind auf den Hochsitz zwischen den Bäumen zulief.

Aber selbst das war unwichtig. Schließlich wusste sie genau, wo er stand, und um ihn zu finden, musste sie nur ihrem Herzen folgen. Ticktack. Ticktack. Es schlug schnell vor lauter Vorfreude. Heute ganz besonders. Schließlich war Weihnachten, und auch, wenn es kaum etwas gab, womit man feiern konnte, so fühlte sich Elsie heute außergewöhnlich und trotz allem irgendwie festlich. An Weihnachten geschahen Wunder. Auch wenn der Krieg mit all seinen Entbehrungen sie alle fest im Griff hatte, so hatte Elsie dennoch die Hoffnung nicht verloren, dass bald alles gut werden würde. Der Pfarrer hatte heute endlich auch einmal wieder eine schöne Predigt gehalten, und Elsie kam es vor, als sei alles ein wenig heller geworden. Eiskalt, aber heller. Außerdem hatte sie ein Weihnachtsgeschenk für Kurt. Dafür hatte Elsie einen neuen Holzgriff geschnitzt und ein altes Küchenmesser so lange gefeilt und geschliffen, bis es wieder scharf war. In den Griff hatte sie ihre Initialen geritzt: Ein verschnörkeltes K und ein E. Es war zwar nicht perfekt, aber sie war einigermaßen geschickt und hatte tagelang daran gearbeitet. Außerdem war es vermutlich das einzige Weihnachtsgeschenk, das Kurt bekam. Nicht, dass sie selbst mit einem Geschenk rechnete. Aber es machte ihr schon Freude, sich sein Gesicht dabei vorzustellen, wenn er seines aus dem Küchentuch auswickelte, das sie ebenfalls aus der Küche stibitzt hatte.

Noch ein paar Meter, und sie würde Kurts fröhliche Stimme vom Hochsitz hören. Elsie und er hatten im Grunde den ganzen Sommer dort oben am Märchensee oder beim Beerenpflücken in dem umliegenden Himbeer- und Brombeerbüschen verbracht. Wie durch ein Wunder gab es den Hochsitz noch. Keiner hatte ihn bisher abgeschlagen, um Brennholz daraus zu machen. Als ob sie einen Bannkreis aus Liebe um ihn gezogen hätten, Kurt und sie, und er ebenso unsichtbar war wie die beiden, wenn sie oben auf den groben Holzplanken saßen. Sie nannten ihn ihr Vogelnest.

Elsie machte sich nichts vor. Der Hochsitz würde nicht mehr lange da sein, vor allem, weil er geradezu zwischen den Bäumen hervorleuchtete, jetzt, da auch die niederen Gewächse ihre Blätter verloren hatten und Brennholz kostbarer war als Gold. Gleich würde sie Kurt sehen. Normalerweise saß er längst oben, wenn sie kam, was auch daran lag, dass er einfach gehen konnte, wann er wollte, und sie immer dafür sorgen musste, dass ihr dreijähriger Bruder Matthias bei Frau Hermann bleiben konnte oder bei seinem gleichaltrigen Freund Emil, der im Nachbarhaus wohnte. Sie seufzte. Matthias war mit seinen blonden Locken und den blauen Augen zwar zuckersüß, und sie liebte ihn von Herzen, er hatte sie schon manche Nacht getröstet, allein dadurch, dass er mit ihr in einem Bett schlief, wenn der Krieg und seine Schrecken die Krallen nach ihren Träumen ausstreckten, aber er war eben erst drei. Und Elsie war gerade sechzehn geworden und bis über beide Ohren verliebt in Kurt.

Kurt, der gleich alt war wie sie und doch schon viel erwachsener wirkte. Der den kompletten Hof (oder wenigstens das, was noch davon übrig war) allein mit seiner Mutter bewirtschaftete, seitdem sein Vater zu Beginn des Krieges nach Frankreich geschickt und seitdem nur einmal zu Hause gewesen war. Nun hätte er den Hof wohl auch kaum wiedererkannt. Halb Stuttgart schien nach Ehrenweiler evakuiert worden zu sein. Im Haus lebten drei weitere Familien und im Stall noch mal zwei. Wenigstens halfen sie gegen Kost und Logis auf dem Feld mit, aber die Verantwortung lag bei Kurt, und auch so gelang es kaum, alle Mäuler zu stopfen. Dennoch konnte er sich trotz all der Arbeit im Sommer immer wieder eine Stunde herausnehmen, um mit Elsie am Märchensee auf dem Steg zu liegen, zu schwimmen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Wenn sie zusammen hier waren, war die Welt in Ordnung. Am liebsten wäre sie für immer geblieben, hätte gewartet, bis die Nacht kam, um von hier aus die Sterne zu sehen, den Mond und das Morgengrauen. Aber leider gab es nach wie vor die Sperrstunde, und Elsie hätte es sowieso nicht über sich gebracht, Matthias so lange allein zu lassen.

Eines Tages, so hatte Kurt ihr aber versprochen, würde er den See und das Grundstück darum herum kaufen, eine kleine Hütte an den Steg bauen, um dort Kissen, Decken und viele Kerzen aufzubewahren, damit sie hier sein und bleiben konnten, wann auch immer ihnen der Sinn danach stand. Eines Tages … Elsie lächelte froh, weil sie spürte, dass Kurts Traum tatsächlich wahr werden würde.

Ob er wohl schon im Vogelnest war? Bisher hatte sie ihn nicht gehört.

Am Anfang hatte er sie noch Elsie gerufen, wie alle anderen, aber seit ein paar Wochen nannte er sie Rotkehlchen, weil sie einfach immer so schnell rot wurde. Normalerweise hätte sie so etwas gestört, aber als Kurt ihr diesen Spitznamen verpasst hatte, war sie beinahe stolz darauf. Rotkehlchen. Sie ging noch ein bisschen schneller. Atemwölkchen tanzten vor ihrem Mund. Gleich wäre sie dort. Sie würde die Leiter nach oben steigen und sich in seine Arme fallen lassen. Dann würden sie dort sitzen und Pläne schmieden. Für eine gemeinsame Zukunft und Tage, in denen sich niemand mehr verstecken oder Angst haben musste, in denen der Krieg vorbei war und ihre Liebe eine Chance hatte.

Lange konnte es nicht mehr dauern. Das sagten alle, auch wenn Hitler und die NSDAP immer noch mit dem »Endsieg« prahlten.

Frieden. Elsie schmeckte das Wort auf der Zunge, als handelte es sich dabei um eines der Sahnebonbons, die sie vor langer Zeit einmal von ihrem Großvater bekommen hatte. Seitdem träumte sie davon, wieder einmal etwas so Köstliches schmecken zu dürfen. Süß wie Kurts Küsse. Er hatte noch nicht gerufen. Anscheinend war sie doch einmal vor ihm da. Ob sie oben im Nest oder lieber unten auf ihn warten sollte?

Da, endlich hörte sie seine Schritte hinter sich. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie sich umdrehte. Zu kostbar war dieses Wissen, gleich in seinen Armen zu liegen und von nichts und niemandem getrennt werden zu können.

»Elsie!«

Ein frohes Glucksen bahnte sich seinen Weg durch ihre Kehle, als sie sich voller Freude umdrehte, ihr Geschenk unter ihrem Schal verborgen.

Das Blut gefror in ihren Adern, als ihr bewusst wurde, was sie sah. Kurts Augen lagen dunkel vor Kummer und Angst in seinem blassen Gesicht, das über Nacht um Jahre gealtert schien. Seine Schultern hingen, als ob nicht ein sechzehnjähriger Junge vor Elsie stand, sondern ein alter Mann. Elsie spürte, wie ihr schwindelig wurde, als sie ihre Hand ausstreckte und fassungslos den rauen Stoff seiner Jacke berührte. Kurt, ihr Kurt, ihr Licht, ihre Hoffnung, ihre Liebe trug eine Uniform.

3

»Fräulein?«

Keine Reaktion.

»Entschuldigen Sie bitte.« Elsie räusperte sich. Nächster Versuch, noch ein wenig lauter: »Fräulein?«

Die Frau in der Schwesterntracht drehte sich noch nicht einmal um, dabei war sie jetzt definitiv laut genug gewesen. Auch wenn ihr Gehör nicht mehr ganz so fein war wie früher: ihre eigene Stimme konnte Elsie schließlich immer noch hören. Ihr Hörgerät lag irgendwo im Nachttischchen dieses merkwürdigen Krankenhausbettes, das eher was von einem unbekannten Flugobjekt hatte mit all diesen verwirrenden Knöpfen und Kabeln, aber das brauchte hier drin auch keiner. Passend zu ihren Überlegungen summte sie die ersten Töne von Frank Sinatras »Fly Me to the Moon«. Sogar auf dem Mond wäre es vermutlich interessanter als hier.

Diese sogenannte Rehabilitationsklinik für Seniorinnen und Senioren, in der Helga sie vor dreieinhalb Wochen untergebracht hatte, glich eher einer Endstation als einem Krankenhaus zur Wiederherstellung. Niemand schien daran interessiert zu sein, die Patienten tatsächlich wieder auf die Beine zu bringen. Das Personal sorgte lieber dafür, dass sie still im Bett lagen und den gestressten Pflegern so wenig wie möglich in die Quere kamen. Und weil es dementsprechend sterbenslangweilig war, lohnte es sich auch nicht, das Hörgerät zu suchen, geschweige denn es einzusetzen.

Sterbenslangweilig. Der war gut. Für was brauchte sie hier ein Hörgerät? Damit sie mehr vom Gejammer ihrer Mitpatienten hatte, zumindest von den glücklichen, die allein die Flure entlangschlurfen konnten? Lieber nicht. Elsie wusste selbst, dass sie ohne ihr Hörgerät gerne mal so laut sprach, als würden alle anderen eines brauchen. Ein Vorwurf, den ihr ihre Schwägerin sehr gerne machte, obwohl Helga selbst Anfang siebzig war und auch schon die ein oder andere Verschleißerscheinung aufwies. Sterbenslangweilig. Immerhin wäre das auch eine Option. Elsie kicherte bei dem Gedanken, was dann wohl auf ihrem Grabstein stehen würde: Hier liegt Dr. Elisabeth Isolde von Betzenstein, gestorben aus Langeweile im Alter von 91 Jahren. Für viele sicher nicht die schlechteste Option. Für Elsie der absolute Alptraum. Lieber irgendwo in Südamerika vom Schlag getroffen werden, als beim Lösen von Kreuzworträtseln einzuschlafen und es noch nicht einmal zu bemerken. Eine Stadt mit sechs Buchstaben? Berl…

Nein. Niemals. Wenn es dann mal so weit sein sollte, würde Elsie mit einem Knall abtreten und nicht ihr Leben heimlich, still und leise aushauchen, nur um niemanden mehr als unbedingt notwendig zu behelligen.

Verdammter Oberschenkelhalsbruch. Schlimm genug, dass sie ausgerechnet beim Auswechseln der Glühbirne über ihrem Küchentisch vom Stuhl gefallen war. Sie hatte zudem von Anfang an das Gefühl, als würde Helga es insgeheim genießen, endlich ihre Vorträge in Dauerschleife absenden zu können:

Die meisten Unfälle passieren im Haushalt! In deinem Alter muss man ja auch nicht mehr unbedingt …

Doch, dachte Elsie trotzig. In ihrem Alter musste man sehr wohl. Gerade dann. Man hatte schließlich nichts mehr zu verlieren.

Könnte sie wieder laufen, wäre sie im Klinikgarten, dem einzigen einigermaßen erträglichen Ort, den dieses Heim zu bieten hatte. Andererseits: Könnte sie wieder laufen, wäre sie überall, nur nicht hier. Selbst den Garten hatte Elsie bisher nur durch ihr bodentiefes, aber nicht zu öffnendes Fenster aus bewundert, denn bisher hatte es leider niemand für nötig gehalten, sie mal mit diesem blöden Rollstuhl nach draußen zu fahren, obwohl der Himmel blau und die Temperaturen mehr als freundlich waren.

Dieser schreckliche Rollstuhl macht einen wahnsinnig! Wie kostbar Unabhängigkeit war, spürte man erst, wenn man sie nicht mehr hatte. Galt das nicht für alles im Leben?

Alleine in den Garten zu fahren, traute sie sich nicht, nachdem sie gestern (oder war es schon vorgestern gewesen?) einen Versuch gewagt und sich dann so in der viel zu engen Aufzugtür verkantet hatte, dass ein Alarm losging und sie sehr erleichtert war, dass sie sich befreien konnte, bevor jemand kam, der vermutlich sowieso nur gemeckert, aber nicht geholfen hätte.

Im Übrigen sollte das sowieso der Werbeslogan für diese Klinik sein: Rehabilitationsklinik für Seniorinnen und Senioren – hier wird gemeckert, nicht geholfen. Sie kicherte wieder. Vielleicht, wenn sie das noch eine Weile machte, hielt die Schwester sie für verrückt und dann … Resigniert ließ sie die Schultern sinken. Nicht hilfreich. Vorerst kam sie hier wohl nicht weg.

Was für ein Reinfall, diese Reha. Wäre sie nur zu Hause geblieben. Aber das ging ja laut Helga und Dr. Klausner, dem Arzt, der sie operiert hatte, auch nicht.

Du musst mal langsam machen. Helga.

In Ihrem Alter. Dr. Klausner.

Verdammt. Elsie.

Sie seufzte. Alt werden war definitiv nichts für Feiglinge, da hatte Mae West, die Schauspielkönigin ihrer Jugend, absolut recht. Ihre Jugend … Je älter Elsie wurde, umso mehr genoss sie die Gedanken daran, versank in diesen Träumen, die sie benommen aufwachen ließen und dank derer sie erst eine Weile brauchte, um zu begreifen, dass sie nicht mehr sechzehn war, sondern neunzig. Einundneunzig. Als ob es auf das eine Jahr ankam. Mittlerweile vermischten sich ihre Träume oft auch mit der Wirklichkeit, und sie musste sich mitunter sehr konzentrieren, um nichts durcheinanderzubringen. Wenn es doch passierte, war es ihr unglaublich unangenehm. Andererseits: Wer hätte je gedacht, dass eines Tages die Nächte wieder spannender als die Tage werden würden? Elsie schmunzelte bei diesem Gedanken. Sie selbst ganz sicher nicht.

Wenn nur wenigstens Kiki, ihre Nichte, in der Nähe wäre. Die Einzige, die wirklich an ihr interessiert war und der sie absolut vertraute, seitdem ihr Bruder Matthias vor zwei Jahren viel zu früh gestorben war. Nur über Kurt hatte sie mit ihr nie gesprochen. Warum, war ihr selbst nicht ganz klar, aber ein wenig lag es vermutlich daran, dass sie ihn niemals so hätte beschreiben können, dass es ihm hätte gerecht werden können. Und Elsie hatte Angst, dass sein Leuchten dadurch auch für sie verloren ging.

Ihr heutiger Traum hatte sie wieder einmal sehr aufgewühlt, und sie hätte einfach gerne jemanden in ihrer Nähe gehabt, bei dem sie nicht so sehr darauf achten musste, keine Fehler zu machen. Unter normalen Umständen wäre Kiki sicher hier, aber als das alles passiert war, hatte sie gerade erst in diesem grässlichen Architekturbüro von diesem überheblichen Henderson angefangen. Elsie hatte ihre Nichte gewarnt. Sie kannte Henderson aus dem Kunstverein – und verachtete ihn zutiefst. Aber Kiki wollte unbedingt dort arbeiten, eigensinnig wie sie nun mal war, und konnte Elsie nun auch nicht helfen, da hätte sie sich für eine ambulante Reha entscheiden müssen. Das wäre wirklich ideal gewesen. Im Sinne von »nicht ganz so furchtbar«. Ein kleines Leuchtfeuer am düsteren Horizont sozusagen.

»… weil du nicht da bist, blättre ich in Briefen und weck vergilbte Träume, die schon schliefen. Mein Lachen, Liebster, ist dir nachgereist. Weil du nicht da bist, ist mein Herz verwaist«, murmelte Elsie.

Mascha Kalékos Texte begleiteten sie wie ein Talisman durchs Leben, und schon oft hatte sie sie zur Hand genommen, wenn sie aufgeregt oder unglücklich gewesen war. Es war wie eine Art Meditation für Elsie, die ihr Erste Hilfe leistete, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, das Haus ohne dieses Buch in ihrer Handtasche zu verlassen. Wie gut, dass Kiki ihr noch eines ihrer Gedichtbände in die Tasche gepackt hatte. Elsie blätterte ständig in dem zerfledderten Buch, obwohl sie jedes einzelne Gedicht auswendig kannte. Aber Maschas Worte trösteten sie, und Elsie fühlte sich beim Lesen, als ob sie mit einer Freundin sprach, die sie besser verstand als jeder andere Mensch.

Wenn Kiki nur hier wäre. Ihre einzige Nichte. Überhaupt ihr Ein und Alles. Wenn Elsie selbst Kinder gehabt hätte, sie hätten ganz genau so wie sie sein müssen. Abgesehen vom Namen. Was auch immer sich ihr kleiner Bruder und Helga dabei gedacht hatten, als dieses wunderbare Kind geboren wurde (und es war wirklich ein Wunder, dass eine so winzige strenge Person wie Helga ein so strahlendes, großes Baby gebären konnte) und sie ihr ausgerechnet Elsies zweiten Vornamen Isolde als Rufnamen gaben. Die Arme. Elsie hatte ihr selbstverständlich gegen den Willen von Helga den Kosenamen Kiki verpasst, weil es das erste Wort war, das das Kind gesagt hatte. Zu allem. Ein staunendes, glückliches, glucksendes, fröhliches und manchmal auch ein durchaus zorniges »Kiki«.

Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Die zweite Liebe auf den ersten Blick in Elsies Leben. Die erste war natürlich Kurt. Endlich wurde ihr Herz ein wenig leichter. Die Liebe zu ihm war über siebzig Jahre alt, aber dennoch so jung, als hätte sie ihn erst gestern getroffen, und so klar wie der Himmel da draußen, und das, obwohl sie sich nicht ein einziges Mal wiedergesehen hatten.

»FRÄULEIN?« Nächster Versuch.

Endlich drehte sich die Krankenschwester um.

»Was gibt’s denn? Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin, Frau …« Genervt runzelte sie die Stirn. »… Betzinger?« Ihre Stimme klang selbst ohne Elsies Hörgerät schrill.

»Frau Doktor von Betzenstein«, antwortete Elsie mit all der Würde, die ihr in diesem verdammten Bett noch zur Verfügung stand, und schenkte ihr ein unschuldiges Lächeln. Sie bildete sich überhaupt nichts auf ihren Namen ein, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwägerin, aber ein paarmal hatte ihr Titel den Menschen, die nicht unbedingt zu respektvollem Umgang neigten, immerhin doch noch erfolgreich Respekt eingeflößt, und vielleicht half es ja auch jetzt, wenn schon die schlichte Tatsache nicht ausreichte, dass sie hier Patientin war.

»Schön, Frau Doktor von … wie auch immer. Ich versuche gerade, Ihre Medikamente so in Ihre Tablettenbox zu portionieren, dass Sie versorgt sind, was nicht ganz einfach ist, denn Sie haben offensichtlich darauf verzichtet, die von heute Morgen und heute Mittag zu nehmen.«

Missmutig hielt sie eine rosafarbene, in mehrere Kästchen unterteilte und mit einer durchsichtigen Schiebeplastikscheibe bedeckte Schachtel in ihrer Rechten und wies mit der linken Hand darauf, als ob sie ein Beweisstück vor Gericht präsentieren wollte.

»Stimmt.« Wozu sollte man Medikamente nehmen, wenn man gesund war? »Ich habe mir das Bein gebrochen und keine Depressionen. Knochen heilen schließlich auch nicht besser, wenn man ein Schlafmittel nimmt, nicht wahr?«

»Sind Sie etwa der behandelnde Arzt? Ich denke, nein. Aber immerhin geben Sie es zu.« Die Schwester stemmte die Hände samt Pillenschachtel in die Hüften.

»Natürlich. Warum auch nicht? Ich brauche doch keine Schmerzmittel, Schlafmittel, verdauungsfördernde Tropfen oder irgendetwas für mein Gehirn. Das Einzige, was ich brauche, ist ein Stündchen an der frischen Luft und was Anständiges zu essen!« Dieses Reha-Kantinenfutter war so undefinierbar wie geschmacklos und vermutlich so lange gekocht worden, dass sich definitiv auch der letzte Nährstoff in Dampf aufgelöst hatte. Sogar die Vitamine starben hier an auf kleiner Flamme lang gegarter Langeweile. Ruhe in Frieden, Brokkoli. Wenigstens konnte den Fraß dann jeder essen. Sogar die Patienten ohne Zähne.

»Sie wollen nach draußen?« Skeptisch schaute die Schwester vom Rollstuhl zu Elsie und wieder zurück. »Alleine? Wie kommen Sie denn darauf?« Vermutlich hatte diesen unerhörten Wunsch hier noch nie jemand geäußert. »Bekommen Sie keinen Besuch, der mit Ihnen spazieren geht?«

Touché. Bisher nicht. Kiki wollte am Sonntag in einer Woche kommen, nur … das waren noch die restlichen sechs Stunden bis zur Nachtruhe und zehn weitere, ewig gleiche und trostlose Tage. Elsie fragte sich langsam, ob sie es so lange noch aushielt oder ob sie vielleicht einfach doch aufstehen und gehen sollte. Einmal war sie nachts schon heimlich und ohne Hilfe aufs Klo gegangen, weil sie einfach nicht warten konnte, bis irgendjemand kam. Das hatte problemlos geklappt. Aber bis in den Garten traute sie sich nicht. Für eine längere Strecke war sie dann doch noch nicht sicher genug auf den Beinen.

»Ich würde aber gerne jetzt ein bisschen raus.«

Elsie versuchte ein überzeugendes Lächeln, das leider an der Schwester abprallte. Genervt sah sie auf die Uhr, wobei sie sich gedankenverloren auf die Brusttasche klopfte. Hoffnung stieg in Elsie auf. Eine Raucherin. Elsie konnte förmlich sehen, wie sehr sie sich nach einer Zigarette sehnte.

»Sie haben doch eine Pause verdient, nicht wahr?«

Einschmeichelnd klapperte sie mit den Wimpern, was vermutlich unnötig und auch ein wenig albern war, aber schaden konnte es nicht. Hoffentlich.

»O ja, das habe ich.« Sie schnaubte. »Und nötig habe ich sie auch. Sie wissen ja gar nicht, wie chaotisch es hier zugeht, aber wem sage ich das? Es wäre mir schon geholfen, wenn die Patienten ihre Tabletten …«

»Ich verstehe Sie vollkommen, und es tut mir sehr leid, wenn ich zu Ihrem Stress beigetragen habe.«

Elsie konnte es sich gerade noch verkneifen, wieder mit den Wimpern zu klimpern, aber irgendetwas schien sie richtig gemacht zu haben, denn die Schwester hatte sowohl den bösen Blick als auch das hektische Herumsortieren eingestellt.

»Wie haben Sie sich das denn vorgestellt?«

»Nun ja, Schwester …« Elsie kniff ein wenig die Augen zusammen, um das Namensschild zu entziffern. Wenigstens funktionierten ihre Augen immer noch ganz gut. Die Sehnsucht nach dem blauen Sommerhimmel wurde beinahe übermächtig. »… Erika, wie wäre es denn, wenn wir beide ein Viertelstündchen in den Garten gingen? Für meine Abwechslung und Ihre wohlverdiente Pause?«

»Hm. Ich weiß nicht.« Schwester Erika schüttelte seufzend den Kopf. »Ich hab noch so viel zu tun.«

»Bitte! Ich verspreche auch, meine Medizin danach ganz brav zu nehmen.« Wer lügt, kam vermutlich nicht in den Himmel, so viel war klar, aber vielleicht wenigstens für einen Moment raus hier.

Schwester Erikas Bedürfnis nach einer Zigarette schien größer zu sein als der Zeitdruck, denn sie griff nach der Wolldecke, die über Elsies Bett lag, und drapierte sie schnell über deren Beine.

»Also gut. Eine Viertelstunde, aber keine Sekunde länger!«

Ich freue mich, dass ich mich an das Schöneund an das Wunder niemals ganz gewöhne.Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!Ich freu mich, dass ich … Dass ich mich freu.

Elsie zitierte glücklich Mascha Kaléko in Gedanken, als sie den ersten tiefen Atemzug nahm und die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spürte. Sie dirigierte Schwester Erika zu einer Art Bauerngarten, der mit einer niedrigen Buchshecke eingefasst war, in der Hoffnung, dort ein paar Kräuter zu finden. Bei dem Gedanken an ein Butterbrot mit frischem Schnittlauch oder ein wenig Basilikum lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Aber bevor sie den kleinen Garten erreichten, entdeckte Elsie etwas, das ihr Herz noch sehr viel höherschlagen ließ: Direkt an die Buchsbaumhecke grenzte eine dichte grüne und mit leuchtend roten Früchten behangene Himbeerhecke.

Nein, sie dachte nicht ständig an Kurt oder an diesen Sommer 1944, in dem sie sechzehn Jahre alt, voller Hoffnung und so unendlich glücklich verliebt gewesen war. Sie hatte diese Liebe und den Schmerz über den Verlust nicht komplett losgelassen, aber er war Jahr um Jahr blasser geworden wie eine alte Fotografie, die zu lange der Sonne ausgesetzt war. Aber nun, da sie in die Nähe von Ehrenweiler zurückgekehrt war, und mit all der Zeit, die sie zwangsläufig ausschließlich mit Maschas Gedichten und Gedanken an früher verbrachte, wurden ihre Erinnerungen plötzlich wieder glasklar und bunt, als hätte ihr innerer Elsie-von-Betzenstein-Chronist beschlossen, den Film ihres Lebens nachzukolorieren. Kurz schloss sie die Augen. Schmerzhaft spürte sie die fehlende Kraft in ihren Knochen, die sie daran hinderte, aufzuspringen und sich Frucht um Frucht auf die Fingerkuppen zu setzen, wie sie und Kurt es immer getan hatten, und dann genüsslich die roten Hütchen mit den Lippen abzupflücken und mit der Zunge am Gaumen zu zerdrücken.

»Wenn Sie einen Mittagsschlaf halten wollen, können wir ja auch gleich wieder gehen.«

»Nein, wieso?«

»Na, ich dachte, sie wollen den Garten sehen. Dazu müssen Sie schon die Augen aufmachen, Frau Betzinger.«

»Nein, ich …«

Es war überflüssig, ihr irgendetwas erklären zu wollen. Schwester Erika hätte weder verstanden noch verdient, dass Elsie ihre Gedanken mit ihr teilte. Sie konnte sich ja noch nicht einmal ihren Namen merken. Aber vielleicht konnte sie wenigstens mit etwas Geschick ein paar der Beeren ergattern. Sie schüttelte den Kopf, was Schwester Erika mit einem Schnauben kommentierte, der Elsie in eine Qualmwolke hüllte, die jeden Himbeerduft abtötete. Eine Schande, dass niemand die Beeren pflückte!

»Ach bitte, fahren Sie mich doch ein bisschen näher an die Hecke.«

Beinahe konnte Elsie die süßen Früchte schon auf der Zunge schmecken, und ihr zarter Duft nach Vanille kitzelte ihre Nase.

»Sonst noch Wünsche?« Mit einem Knurren gab Schwester Erika dem Rollstuhl einen Schubs.

»Nein.«

Vergnügt streckte Elsie ihre Hand nach den Himbeeren aus. Ihre Fingerspitzen berührten vorsichtig die grünen Blätter, und als sie einen dünnen Ast zur Seite schob, hakte sich ein winziger Dorn in ihrer alten weichen Haut fest, aber sie bemerkte es kaum. Zu köstlich war das Gefühl, etwas Natürliches unter ihren Fingern zu spüren. So dicht hingen die Beeren und so nah. Ganz gleichgültig, was in ihrem Leben passierte, die Natur hatte Elsie schon immer die nötige Kraft zum Durchhalten gegeben. Glücklich betrachtete sie nun die winzige perfekte Mütze aus köstlichen winzigen roten Bällchen, die sie über ihren rechten Zeigefinger gestülpt hatte, aber bevor sie eine weitere Beere pflücken konnte, riss Schwester Erika den Rollstuhl ruckartig nach hinten und drehte ihn um, sodass Elsie Erikas Raucheratem ins Gesicht schlug, als sie sie böse ansah.

»Frau Betzinger, was machen Sie denn da?«

»Ich …« Elsie wendete verblüfft den Blick von der einzigen Himbeere ab, die sie hatte ergattern können.

»Ich … esse eine Himbeere?« Schnell schob sie sich die Frucht in den Mund.

»Wie kommen Sie denn dazu, hier einfach etwas zu pflücken? Und dann auch noch zu essen? Wenn das alle machen würden …?«

»Wenn alle … Himbeeren essen würden?« Soll das ein Scherz sein?

»Ganz genau. Woher soll ich wissen, dass sie nicht allergisch sind? Dass sie nicht in der nächsten Sekunde aus diesem Rollstuhl kippen? Dann bin ich schuld! Ich verliere meinen Job, das können Sie mir glauben, wenn Sie hier vor meinen Augen ins Gras beißen, nur weil ich so blöd war, Sie nach draußen …«

»Ich bin aber nicht gegen Himbeeren allergisch.« Das hier war mehr als absurd. »… und Sie verlieren ganz bestimmt nicht Ihren Job, weil ich eine Himbeere gegessen habe.« Nur eine einzige. Leider.

Kopfschüttelnd tastete Erika in ihrer Brusttasche nach einer weiteren Zigarette. »Und es ist ganz sicher nicht erlaubt! Woher wollen Sie wissen, dass das nicht nur Deko ist, Frau Betzinger?«

»Die Himbeeren nur Deko?« Beinahe hätte Elsie laut gelacht.

Was war das für eine verrückte Welt, in der man Himbeeren nur anschauen, aber nicht essen durfte?

»Nun, sehen Sie sich doch einmal um!« Schwester Erika zeigte auf drei Tische, die etwas weiter vorne unter Sonnenschirmen standen. »Die Himbeeren auf den Tischen sind sehr wohl Dekoration. Die Blätter und Früchte sind nämlich aus Plastik.« Sie schnaubte.

Der Kies der Gartenwege knirschte unter den Rädern des Rollstuhls, als Erika sie wütend an der Hecke vorbei und zu den Tischen schob und vor sich hin murmelte, was für eine verrückte Idee es gewesen war, mit Elsie nach draußen zu gehen, dass sie bestimmt ihren Job verlieren würde und dass sie das alles nicht verdient hatte.

Der Himmel über ihnen war blau, die Vögel zwitscherten, und die Bienen summten. In Anbetracht der Tatsache, dass sie es immerhin aus diesem grässlichen Zimmer und dem Geruch nach Gemüse im Endstadium geschafft hatte, sollte sie nicht unzufrieden sein. Außerdem konnte Schwester Erika nichts dafür, dass es anscheinend sehr strenge Regeln in der Klinik gab und sie offenbar keinen besonders rebellischen Charakter hatte. Im Gegensatz zu Elsie, die ihren Wunsch nicht aufgegeben hatte, Kräuter für ihr Abendessen zu pflücken, wenn sie die Himbeeren schon nicht haben durfte. Bedauernd sah sie noch einmal zurück. Wenn sie etwas sicherer auf den Beinen sein würde, würde sie zurückkommen und alle pflücken. Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass man Himbeeren aß, hätte er dafür gesorgt, dass sie nicht so köstlich dufteten.

Leider wuchsen hier allerdings keine Kräuter, sondern nur immergrüne Bodendecker, die zwar hübsch aussahen, aber alles andere als essbar waren. Nun ja. Wenigstens rankte sich Kapuzinerkresse mit den intensiv orangefarbenen Blüten um einen Metallbogen, der direkt neben Elsie den Gartenweg überspannte. Sie zupfte einige der Blüten ab und sammelte sie in ihrem Schoß.

»Oh bitte, Schwester Erika, würden Sie mir ein paar hiervon pflücken?« Elsie zeigte auf die Gänseblümchen, die links und rechts am Wegesrand blühten.

Elsie war mehr als überrascht, als Schwester Erika sich tatsächlich bückte und begann, die zarten weißen Blüten abzuzupfen. Wahrscheinlich wollte sie diesen Ausflug einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen und ging davon aus, dass Nachgeben dabei half.

»Was soll das denn werden, Frau Betzinger? Ein Blumenkranz?«

Witzig.

Elsie steckte sich genüsslich eine der Kapuzinerkresseblüten in den Mund, gerade, als Schwester Erika ihr die Gänseblümchen reichte. »Nein, im Gegenteil: Ich will sie essen.«

In dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte, wusste Elsie schon, dass es ein Fehler gewesen war, Schwester Erika an ihren wahren Zielen teilhaben zu lassen. Sie hätte einfach warten sollen, bis sie allein in ihrem Zimmer war. Keiner hätte sich bis zum Frühstück am nächsten Morgen dafür interessiert, was sie machte. Aber eine Gelegenheit zu meckern schlug hier keiner aus, und Schwester Erika war offensichtlich keine Botanikerin, die den Unterschied zwischen essbaren und nicht essbaren Pflanzen erkennen konnte (abgesehen von den Plastikhimbeeren, das hatte sie sehr wohl begriffen). Und Elsie war ihrerseits offensichtlich keine Expertin für überarbeitete Krankenschwestern, sonst hätte sie vielleicht besser nachgedacht, aber nun war es zu spät.

Beinahe in Zeitlupe richtete sich Schwester Erika ganz auf und drehte sich zu Elsie um. Eine Mischung aus Wut, Erschöpfung und irgendetwas Glitzerndem – Mordlust vielleicht? – lag in ihrem Blick. Oha.

»Sie! Was denken Sie sich eigentlich dabei?«

Mal sehen: Nichts?

»Sich einfach irgendwelche Blumen in den Mund zu stopfen? In Ihrer Akte steht, dass Sie hier nur sind, um Ihr Bein zu kurieren, aber sind Sie sicher, dass das Ihr einziges Problem ist? Wollen Sie sich umbringen? Oder mich?«

Beinahe hatte Elsie Mitleid, aber nur beinahe, denn dass man nicht nur Kapuzinerkresse, sondern auch Gänseblümchen und viele andere Blüten sehr gut essen konnte, sondern sie oft genug sogar in Restaurants auf dem Teller wiederfand, war schließlich kein Geheimnis.

»Jetzt mal unter uns, Schwester Erika: Wenn mich etwas umbringt, dann das geschmacklose Essen hier. Vielleicht nicht sofort, aber langsam und stetig. Hier kann keiner gesund werden. Niemand.« Sogar das Pflegepersonal ist krank. »Unfassbar, dass niemand mehr weiß, was die Natur für Schätze zu bieten hat! Los, probieren Sie doch selbst einmal!« Elsie hielt ihr ein Gänseblümchen hin.

»Niemals!« Empört schob Erika Elsies Hand beiseite. »Das ist doch … Sie sind doch … Zuerst die Himbeeren und jetzt auch noch die Blumen! Ich werde das melden müssen!« Eine Himbeere und eine Kresseblüte. »Und Sie müssen definitiv von einem Neurologen untersucht werden! So geht das doch nicht, Frau Betzinger!«

Schwester Erika versuchte, die Blüten von Elsies Schoß zu wischen. Es gab sicher nachvollziehbare Gründe für ihr Verhalten, aber es gab auch Grenzen, deren Überschreitung Elsie nicht tolerierte. Übergriffigen Körperkontakt konnte sie nicht leiden. Und dass sie auf die Himbeeren verzichten musste, regte sie immer noch auf, aber auf keinen Fall würde sie auch noch die Kresse und die Gänseblümchen hergeben.

»Nehmen Sie Ihre Finger von meinem Schoß!«, knurrte Elsie. »Und zwar sofort.«

Elsie war alt und gebrechlich. Friedliebend und geduldig. Aber irgendwann war es einfach genug. Erschrocken zog Schwester Erika ihre Hand zurück.

»Das hier ist mein Abendessen. Es sind meine Gänseblümchen und meine Kapuzinerkresse. Nichts davon geht Sie etwas an. Und wenn ich die Erde auch noch mitesse, in der sie gewachsen sind, dann ist auch das mein Problem.« Nicht, dass sie das Bedürfnis danach hatte. Sie schob Erikas Hände nach hinten. »Wenn … wenn Sie mich noch einmal anfassen, dann beiße ich Ihnen in die Hand! Und übrigens, Schwester Erika: Mein Name ist Doktor Elisabeth von Betzenstein. Falls es Ihnen aufgefallen sein sollte: Ich habe einen Doktortitel. Ich bin Biologin, wenn es Sie interessiert. Das sind die, die sich mit Pflanzen auskennen.« Sie war zwar Entomologin, aber das musste Erika ja nicht wissen. »Und wenn ich ein Gänseblümchen essen will, esse ich ein Gänseblümchen!«

Wenn Blicke töten könnten, wäre Schwester Erika deutlich gefährlicher als alles, was hier im Garten wuchs, zusammen. Mit einem letzten Schnauben drehte sie sich um und ging im Stechschritt in Richtung Haus, ohne Anstalten zu machen, Elsie mitzunehmen. Elsie war es egal.

Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.Ich freue mich vor allem, dass ich bin. Mascha Kalékos Worte kamen ihr in den Sinn, und sie atmete erneut tief die frische Luft ein, die sie so lange entbehrt hatte.

Als Elsie ein Gänseblümchen zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte, um es gleich darauf in den Mund zu stecken, drehte sich Erika noch einmal um.

»Das hier wird ein Nachspiel haben! So können Sie mit mir nicht umgehen! Ich werde … ich werde mich über Sie beschweren!«

Elsie begann den mühsamen Rückweg auf eigene Faust und schwor sich, bald wiederzukommen. Zu Fuß. Allein. Wenn nötig, auch nachts. Alles war besser, als so zu enden wie der arme Brokkoli.

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