Die beste Schule für mein Kind - Lucinde Hutzenlaub - E-Book

Die beste Schule für mein Kind E-Book

Lucinde Hutzenlaub

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Beschreibung

Jedes Kind ist anders – und jede Mutter, jeder Vater wünscht sich für das eigene Kind das bestmögliche Lernumfeld für einen guten Start ins Leben. Doch an Deutschlands Regelschulen läuft vieles falsch: überfüllte Klassenräume, kleine Budgets, überarbeitete Lehrer – und kaum individualisierte Förderung. Es gibt jedoch Alternativen: zehn Prozent aller Schulen in Deutschland sind in freier Trägerschaft, Tendenz steigend. Was muss man sich unter Namen wie Waldorf, Montessori, Konfessionsschule, internationale Schule oder Freie Aktive Schule vorstellen? Welche Vorteile einerseits, Herausforderungen und Risiken andererseits bringen Schulen mit reformpädagogischem Konzept mit sich? Und vor allem: Wie finden Väter und Mütter die Schule, die zu ihrem Kind und zur ganzen Familie am besten passt? Dieser Ratgeber gibt endlich Antworten auf die drängenden Fragen der Eltern: Wie sieht der Schulalltag in Alternativschulen aus? Was kommt auf die Eltern und ihr Kind zu? Welches Menschen- und Weltbild steckt hinter den verschiedenen Schultypen? Die AutorInnen vermitteln Insiderinformationen und schöpfen aus der Expertise einiger der gefragtesten Bildungsforscher der Welt. Eine lange überfällige Entscheidungshilfe für alle Eltern!

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ALLER ANFANG IST SPANNEND!

Hurra, Ihr Kind kommt ins Schulalter! Aus Ihrem Nachwuchs wird ein Schulkind, das die Welt auf ganz neue Art entdecken und erobern wird. Dass schlaue andere Erwachsene – Pädagoginnen und Pädagogen – Ihr Kind bei seiner Entwicklung begleiten, Wissen mit ihm teilen und ihm helfen, herauszufinden, was es alles kann, ist Anlass zur Freude.

Und in der Tat kann die Zeit im Alter zwischen fünf, sechs oder sieben und achtzehn Jahren eine schöne sein, eine Lebensphase, in der Ihr Kind sich die Welt erschließt und sich entfaltet. Ob das gelingt, hängt jedoch maßgeblich von der Schule oder den Schulen ab, die es besucht. Schließlich wissen Sie – aus eigener Erfahrung oder Beobachtung –, dass die Schuljahre Stress, Misserfolge, Langeweile und Angst mit sich bringen können. Womöglich haben Sie auch schon Schlechtes über die nächstgelegene Grundschule gehört.

Und es gibt noch mehr Gründe dafür, den Blick zu weiten: Lieb­äugeln Sie vielleicht mit Schulen ohne Noten und Leistungsdruck? Oder mit solchen, die unter kirchlicher Trägerschaft stehen und entsprechende Werte vermitteln? Lebt in Ihrem Haus bereits ein Schulkind, das allmorgendlich unter Bauchschmerzen leidet? Sind Sie auf dem Sprung ins Ausland und möchten, dass Ihr Kind souverän mehrere Sprachen spricht?

Interessiert es Sie, wie leicht oder schwer der Schulwechsel von einer staatlichen zur privaten Schule oder umgekehrt funktioniert? Oder fragen Sie sich eher, ob Sie es schaffen können, eine eigene Schule zu gründen oder Ihr Kind sogar ganz ohne Schule großzuziehen?

Vor einigen Jahren standen wir, zwei Mütter und ein Vater, vor genau solchen Fragen. Wir sind zusammengerechnet Eltern von elf Kindern, leben in drei unterschiedlichen Bundesländern und stellten schnell fest: Die staatlichen Schulen vor Ort wurden nicht allen unseren Söhnen und Töchtern gerecht oder entsprachen einfach nicht unserer Vorstellung von ganzheitlicher Bildung und gelungenem Miteinander.

So lasen wir uns durch Fachartikel und Bücher zu infrage kommenden Schultypen, klapperten passende Bildungsstätten in unserer Umgebung ab, fragten Lehrkräften, Eltern, aktuellen und ehemaligen Schülerinnen und Schülern Löcher in den Bauch und setzten uns zudem mit dem Thema Schulgründung auseinander.

Dabei stellten wir schnell fest: Eltern haben die Wahl! Diese muss keineswegs auf die nächstgelegene Schule im Viertel fallen. Tatsächlich stellen Ihnen die folgenden 251 Seiten freie Schulen vor, vorwiegend mit reformpädagogischen Konzepten, die Lehren und Lernen auf eine andere Art zu denken wagen.

Was wir noch gelernt haben: Die eine perfekte Schule, die zu jedem Kind passt und alle Eltern glücklich macht, gibt es nicht.

Wohl aber einige Bildungsstätten, unter staatlicher und unter freier Trägerschaft, in denen engagierte, liebevolle Pädagoginnen und Pädagogen jedes Mädchen und jeden Jungen da abholen, wo sie oder er eben steht. In denen zuvor ängstliche Kinder Selbstbewusstsein entwickeln, zappelige ruhiger werden, gelangweilte sich interessieren, orientierungslose spüren, dass sie ihren Platz gefunden haben. Es gibt diese Orte, an denen Kinder (und ihre Eltern) sich wertgeschätzt und ernst genommen fühlen. An denen die Werte hochgehalten werden, die auch den Eltern selbst am Herzen liegen. Für Familien, die unter dem Leistungsdruck unserer Gesellschaft leiden, gibt es Schulen ohne Noten, ohne Sitzenbleiben und Schulen, in denen praktische und kreative Fähigkeiten als ebenso wertvoll erachtet werden wie Rechnen oder Schreiben.

Was uns dabei aufgefallen ist: Nicht alle, aber doch viele dieser besonderen Schulen sind in freier Trägerschaft, also private Schulen. So kamen wir auf die Idee, unseren Ratgeber diesen Schulen zu widmen, von denen es mehr gibt, als viele Eltern ahnen. Im Schuljahr 2015/16 waren es hierzulande laut Statistischem Bundesamt 3628 allgemeinbildende und zudem 2186 berufliche Schulen. Das entspricht 10,8 Prozent aller allgemeinbildenden Schulen und sogar 24,9 Prozent aller berufsbildenden Schulen in Deutschland.

Wir möchten Ihnen einen Überblick über jene Schultypen geben, die besonders verbreitet und/oder interessant sind. Wir stellen Ihnen das Menschenbild und die Leitsätze vor, beantworten Ihre Fragen zu einem möglichen Schulwechsel von oder zu anderen Schulformen und laden Sie ein zum Blick hinter die Kulissen.

Vor allem aber wollen wir Ihnen zeigen, wie Sie jene Bildungsstätte finden, die für Ihre Familie genau die richtige ist. Das kann, nach ausführlichem Nachdenken, Stöbern und Vergleichen, durchaus auch eine staatliche Schule sein.

Um Sie noch ein wenig besser auf die Schulwahl vorzubereiten, haben wir einige international erfolgreiche Bildungsforscherinnen und -forscher für Sie befragt. Prof. Dr. John Hattie aus Neuseeland zum Beispiel, der immer wieder betont: Nicht vom Label »Privatschule« oder »Konfessionsschule« hängt der Erfolg junger Menschen ab, auch nicht von der Klassengröße und ebenso wenig von reformpädagogischen Elementen wie zum Beispiel der Freiarbeit. Die größte Chance auf Erfolg haben Schulklassen, deren Lehrerinnen und Lehrer nicht nur viel Fachwissen mitbringen, sondern sich auch richtig viel Mühe mit jedem einzelnen Kind oder Jugendlichen geben. Unsere Erfahrung zeigt: Besonders motivierte, den Lernenden zugewandte Lehrkräfte finden sich in Deutschland nun mal oft an Privatschulen.

Es spricht – jedenfalls hier und heute – vieles dafür, private Schulen zumindest in die engere Auswahl zu nehmen, und die folgenden 17 Kapitel verraten Ihnen, warum. Das geht aus den Experteninterviews ebenso hervor wie aus unseren Erfahrungen mit den Bildungseinrichtungen, die wir bei der Recherche für dieses Buch besuchten.

Über das Thema Geld reden wir auf den kommenden Seiten natürlich auch – ebenso über Weltanschauungen, die zu erwartende Elternmitarbeit und die Realität hinter den Vorurteilen, die jeder, der mit einer freien Schule liebäugelt, zuhauf zu hören bekommt.

Auch wenn Sie internationale Schulen interessieren oder Sie sich ein Internat für Ihr Kind vorstellen können, werden Sie in diesem Buch fündig. Und falls sich im ganzen bunten Angebot der Schulen gar nichts Geeignetes findet, erfahren Sie Wissenswertes über die Möglichkeit, selbst eine Schule zu gründen. Auch eine Kindheit und Jugend ganz ohne Schule ist mit den Ansätzen des Homeschoolings oder Unschoolings sowie des Freilernens Thema dieses Buches.

Für alle Leserinnen und Leser, deren Kinder noch ein oder mehrere Kindergartenjahre vor sich haben, stellen wir im ersten Kapitel zudem Kindergärten vor, die auf bestimmte Schulformen besonders gut vorbereiten – Waldorf und Montessori zum Beispiel.

Im Anschluss folgen Porträts und Fakten zu den verbreitetsten und den – aus unserer Sicht – interessantesten Schulformen in nichtstaatlicher Trägerschaft. Wir laden Sie ein, in verschiedene Schulen hineinzuschnuppern, und erforschen mit Ihnen das dahin­terstehende Menschenbild und pädagogische Konzept.

Manche Lehrkräfte und alle Kinder, von denen in diesem Buch berichtet wird, sind anonymisiert, um ihre Privatsphäre zu wahren. Die Bildungsstätten jedoch gibt es alle wirklich und Sie können sie besuchen und sich ein eigenes Bild da­von machen.

Unser 15-Schritte-Plan verrät Ihnen, wie Sie diejenige Schule finden, die für Ihr Kind und Sie am besten geeignet ist. Damit die Begeisterung für das Lernen eine Chance hat und Sie bald sagen können: »Also diese Schule ist wirklich die beste für mein Kind!«

Zuerst aber wünschen wir Ihnen viel Freude beim Erkunden der großen, weiten Welt der Schulen in freier Trägerschaft und vor allem an Ihrem Leben mit einem (künftigen) Schulkind.

1 KINDERGARTEN-LIEBE ODER: VIELFALT FÜR DIE JÜNGSTEN

Hendrik Lambertus

Ihr Kind ist noch klein und erforscht gerade krabbelnd das Wohnzimmer. Bis zur Einschulung sind es noch fünf oder sechs Jahre. Genug Zeit, um sich mit verschiedenen Schulkonzepten zu befassen und vielleicht hier einmal zu schauen oder dort einmal etwas nachzulesen. Irgendwann. Demnächst. In aller Ruhe. Bis dann die Erkenntnis kommt, dass eine andere Entscheidung schon viel früher ansteht: Welchen Kindergarten soll eigentlich das kleine Wesen besuchen, das da gerade so zufrieden die Bücher aus dem Regal zieht und auf dem Boden verteilt? Da gibt es doch inzwischen auch mehr Möglichkeiten als nur die Igel-Gruppe im städtischen Kindergarten um die Ecke, den man vielleicht selbst einmal besucht hat. Welche Wahl haben Sie also? Und hat diese vielleicht sogar Auswirkungen auf die spätere Schullaufbahn?

1.1Der Kindergarten als Tor zur Schule

Die pädagogischen Ansätze, nach denen die diversen freien Schulen arbeiten, haben oft auch etwas für das Kindergartenalter zu bieten. Zuweilen kooperieren die Kindergärten sogar eng mit einer Schule des entsprechenden Typs.

Darum kann es Vorteile haben, wenn ein Kind bereits einen Kindergarten besucht hat, der nach dem gleichen Konzept wie die später gewünschte Schulform funktioniert: Zum einen wird es gern gesehen, wenn ein angehender Schüler, eine zukünftige Schülerin bereits mit den Abläufen des jeweiligen Ansatzes vertraut ist, weil er oder sie sich dann in der Schule leichter zurechtfindet. Wer zum Beispiel an die Materialarbeit in einem Montessori-Kindergarten gewöhnt ist, wird später auch leicht Zugang zu den Lernmaterialien an einer Montessori-Schule finden.

Zum anderen kann es natürlich auch von Vorteil sein, durch den Kindergarten bereits einen Fuß in der Tür zu haben, wenn er mit einer in der Region sehr beliebten Schule zusammenarbeitet, an der man das Kind dann später anmelden möchte. Schon allein deswegen, weil Eltern dadurch zeigen, dass sie wirkliches Interesse am Konzept haben und dahinterstehen.

Besonders attraktive Möglichkeiten bieten sich, wenn der Kindergarten und die dazugehörige Schule sogar im gleichen Gebäude untergebracht sind: Das Kind muss dann beim Schuleintritt das vertraute Umfeld nicht wieder komplett wechseln, sondern zieht lediglich einige Räume weiter. Je nach Konzept ist es zudem möglich, bereits im Kindergartenalter in die Schule nebenan hineinzuschnuppern und vielleicht sogar unabhängig von einem festen Einschulungstermin die Tätigkeiten immer mehr dorthin zu verlagern, sobald es für das Kind so weit ist.

Wenn Sie mehrere Kinder im Schul- und Kindergartenalter haben, ergibt sich außerdem der praktische Vorteil, dass morgens alle an einer Adresse abgeliefert werden können.

1.2Konzeptvielfalt der Kindergärten

Doch auch wenn man noch keine bestimmte Schulform im Auge hat, sollte man sich eines bewusst machen: Jeder Kindergarten hat ein Konzept. Auch in dieser Altersstufe geht es nicht nur um Betreuung oder gar »Bespaßung«, sondern um durchdachte pädagogische Arbeit. Es lohnt sich auf jeden Fall ein Blick auf den theoretischen Unterbau der Einrichtung. Die verschiedenen Ansätze gehen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Menschenbildern einher, die mit den gelebten Werten innerhalb der Familie harmonieren sollten. Sie fördern verschiedene Kompetenzen und, vielleicht am wichtigsten, bieten unterschiedliche Umgebungen, die natürlich zum Kind passen sollten. Schließlich wird es einen gehörigen Anteil seines Alltags im Kindergarten verbringen.

1.3Waldorfkindergärten

Gebannt schaut ein kleiner Junge zu, wie eine Erzieherin ruhig und mit routinierten Bewegungen Brötchenteig knetet. Etwas später wird er selbst zu einem großen Bäcker: Im Spiel werden Zapfen, Kastanien und Steine zu Broten, Kuchen und Torten, die er kunstvoll auf einem bunten Tuch drapiert.

Lernen durch Nachahmung und Vorbilder ist ein wichtiger Aspekt an Waldorfkindergärten. Diese orientieren sich an der anthroposophischen Pädagogik nach Rudolf Steiner. Der Ansatz geht davon aus, dass sich die menschliche Entwicklung in Schritten von je sieben Jahren vollzieht. Das erste Lebensjahrsiebt, in das die Kindergartenzeit fällt, ist demnach geprägt von dem Bedürfnis nach Nachahmung. Ein Waldorfkindergarten bietet den Kindern einen geschützten Raum für diese Lernphase. Die Alltagstätigkeiten der Erzieherinnen und Erzieher dienen den Kindern dabei als Vorbild.

Die Abläufe sind stark rhythmisiert. Bestimmte Elemente kehren immer wieder, zum Beispiel am Montag das Backen, am Dienstag das Malen, am Mittwoch der Waldtag. Das Kind ist so geborgen in einen überschaubaren Kosmos eingebettet, der Halt und Sicherheit bieten soll. Zudem sind die Aktivitäten stark am Verlauf des Jahreskreises als übergeordnetem Rahmen ausgerichtet, was zum Beispiel Basteln zu jahreszeitlichen Themen mit einschließt.

Charakteristisch sind auch die typischen Spielsachen in Waldorfkindergärten: Sie sind möglichst schlicht und naturnah gehalten und umfassen unter anderem Tücher, Zapfen, Steine, Muscheln und einfache Stoffpuppen. Dadurch sollen die Sinne des Kindes angeregt und seine Fantasie ohne feste Vorgaben entfaltet werden.

Manche Waldorfkindergärten sind direkt an eine Waldorfschule angeschlossen, andere arbeiten eigenständig.

1.4Montessori-Kinderhäuser

Ein Mädchen sitzt vor einem Holzrahmen, an dem mehrere weiße und rote Bänder jeweils paarweise untereinander angebracht sind. Mit höchster Konzentration sind ihre kleinen Hände damit beschäftigt, jedes einzelne Paar zu einer Schleife zu binden.

»Die Kinder in einem Montessori-Kinderhaus können sich mit den Herausforderungen, auf die sie in ihrem Leben stoßen, isoliert auseinandersetzen«, erklärt eine Montessori-Pädagogin. »Beim Schleifenbinden am eigenen Schuh muss man sich verrenken, um an ihn heranzukommen, während vielleicht noch lauter andere Kinder um einen herumwuseln, die sich auch anziehen wollen. Das ist gar nicht so einfach. Die Montessori-Pädagogik bietet einen Rahmen, in dem das Kind sich geschützt und in aller Ruhe mit den sogenann­ten Übungen des täglichen Lebens auseinandersetzen kann, so lange und ausführlich es das möchte.«

Ein Junge hat Buchstaben aus Sandpapier auf einem kleinen Arbeitsteppich vor sich ausgebreitet. Er fährt ihre Umrisse mit den Fingerspitzen nach und murmelt den Buchstaben dabei leise vor sich hin: »Mmm …« Auch hier wieder die Isolierung der Schwierigkeit. Das Kind, ein Laut und das zugehörige Zeichen. Alles andere ist gerade nicht wichtig.

An Kindergärten, die nach der Pädagogik Maria Montessoris ausgerichtet sind, spielt die Freiarbeit mit Lernmaterialien eine besondere Rolle. Die Montessori-Materialen sind so gestaltet, dass das Kind sich möglichst selbstständig das erarbeiten kann, wofür es sich gerade interessiert, zum Beispiel eben Buchstaben (die es laut Montessori meist im Alter von etwa vier bis fünf Jahren besonders reizen). Die Erzieherinnen und Erzieher geben den Kindern Einführungen in den Umgang mit dem Material und begleiten sie bei ihren Aktivitäten, ohne ihnen dabei einengende Vorgaben von außen zu machen. Das Material steht den Kindern meist ergänzend zu anderen Spiel- und Bastelmöglichkeiten zur Verfügung. Sie entscheiden eigenständig, womit sie sich beschäftigen möchten.

Auch Montessori-Kinderhäuser können an eine Montessori-­Schule angeschlossen sein oder als eigenständige Einrichtung arbeiten.

1.5Waldkindergärten

»Die Natur reizt zum Fragenstellen. Die Antworten finden wir dann gemeinsam«, so fasst eine Erzieherin an einem Waldkindergarten die zentralen Vorteile des Waldes als Ort für Kinder zusammen. Zwischen Bäumen und Büschen, schlammiger Erde und Rindenmulch ergeben sich zahllose Möglichkeiten, etwas zu entdecken und neue Spiele zu erfinden. Das reicht von spannenden Krabbeltierchen unter dem Vergrößerungsglas über lustig hüpfende Springkrautsamen bis hin zu einem kaputten Nistkasten, der von der Kiga-Gruppe gefunden wurde und gemeinsam wieder repariert wird.

Die Grundausstattung vieler Waldkindergärten wirkt eher minimalistisch: ein Bauwagen am Waldrand als Unterschlupf, ein großer Platz zum Spielen, ein paar Holzbänke, ein Geräteschuppen – auf den ersten Blick nicht viel. Doch für die Kinder können sich beständig neue Welten eröffnen, wenn sie sich mit dem Spaten am Boden abarbeiten, Äste beschnitzen oder ein neues Fangenspiel erfinden.

An manchen Tagen ist die Gruppe auf dem eigenen Platz tätig, an anderen unternimmt sie Ausflüge und erforscht verschiedene Bereiche des Waldes. Mal ist freies Spiel angesagt, mal Projekte zu unterschiedlichen Themen aus der Natur und dem Jahreskreis, von der Erschaffung kleiner Holz-Kunstwerke bis zur Pflege eines eigenen Kartoffelackers.

»Wichtig sind Eltern, die sich auf den Waldkindergarten einlassen können«, sagt die Erzieherin. »Die keine Probleme mit dem Schmutzigsein und schlammigen Stiefeln haben und das Kind jeden Tag flexibel anziehen. Am besten mehrere Schichten Kleidung nach dem Zwiebelprinzip.«

Auch für die Kinder selbst kann der Wald herausfordernd sein, denn so ein Tag im Freien kostet Kraft – mehr als ein nachmittäglicher Besuch auf dem Spielplatz. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, darum ist eine flexible Eingewöhnung unerlässlich. Zudem erfolgt die Waldbetreuung entsprechend auch nicht ganztägig, sondern in der Regel als Vormittagsangebot. In Niedersachsen beispielsweise ist der Zeitrahmen, während dem die Betreuung im Wald erfolgen darf, auf fünf Stunden täglich begrenzt. Mitunter sorgt allerdings die Zusammenarbeit mit einem Haus-Kindergarten für verlängerte Betreuungszeiten.

Und später, wenn dann die Schule ruft?

»Manche Lehrerinnen und Lehrer haben das Vorurteil, dass aus dem Wald laute und motorisch unruhige Kinder in die Schule kommen«, weiß die Erzieherin zu berichten. »Das sind dann aber Lehrkräfte, die noch keine ehemaligen Waldkinder in der Klasse hatten.« Denn ihrer Erfahrung nach bringt der Wald offene und neugierige Kinder hervor, die ihren Forschergeist auch gern in der Schule ausleben.

1.6Weitere Kindergartenkonzepte

Neben diesen gibt es noch diverse weitere besondere Konzepte für Kindergärten.

So sind etwa konfessionelle Kindergärten mehr oder weniger stark an den Werten einer bestimmten Religion ausgerichtet und gestalten zum Beispiel zusammen mit den Kindern die Feste des christlichen Jahreskreises. Die Art und Weise, wie der Glaube hier im täglichen Miteinander gelebt wird, kann sehr unterschiedlich sein. Vielleicht werden gelegentlich biblische Geschichten zu den Hochfesten erzählt oder einfach nur Grundwerte wie Nächstenliebe besonders hochgehalten, vielleicht wird aber auch regelmäßig miteinander gebetet.

Ein Aktives Kinderhaus hingegen steht der nichtdirektiven Pädagogik nah und ist darum bemüht, den Kindern im Rahmen gewisser schützender Grenzen größtmögliche Freiheiten bei ihren Aktivitäten und ihrer persönlichen Entwicklung zu lassen. Oft kooperiert es mit einer Freien Aktiven Schule.

Manche Kindergärten arbeiten bilingual, wobei einige der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den Kindern ausschließlich Englisch reden und sie so die Fremdsprache im praktischen Alltag erfahren lassen. Andere setzen einen Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Forschergeist oder folgen weiteren reformpädagogischen Konzepten.

1.7Das Wichtigste: Sich selbst ein Bild machen

Zur ersten Orientierung ist das Konzept der meisten Einrichtungen mit besonderer pädagogischer Prägung online einsehbar. Fragen an Bekannte, die ihre Kinder an dem besagten Kindergarten haben oder hatten, können darüber hinaus wertvolle persönliche Einblicke bieten.

Doch jedes Konzept ist nur so gut wie seine Umsetzung, es steht und fällt mit den Menschen, die es leben und gestalten. Darum ist es unerlässlich, sich selbst einen Eindruck vor Ort zu verschaffen, sobald man eine Einrichtung in die engere Wahl gezogen hat. Oft besteht die Möglichkeit, einen Hospitationstermin auszumachen und einen Vormittag lang die Abläufe hautnah mitzuerleben. Dabei kann man dann Augen und Ohren offen halten: Wie ist die Stimmung in der Gruppe? Welchen Gesichtsausdruck zeigen die Kinder? Wie gehen sie miteinander um, wie gehen die Erzieherinnen und Erzie­her mit den Kindern um? Wie reagieren die pädagogischen Fachkräfte, wenn Tränen fließen oder es zu Konflikten kommt? Welche Punkte aus dem Konzept finden Sie in der praktischen Umsetzung wieder, welche vermissen Sie? Was haben Sie sich anders vorgestellt und warum?

Ein Gespräch mit den Pädagoginnen und Pädagogen bietet die Möglichkeit, viele Fragen loszuwerden und die Menschen kennenzulernen, die vielleicht bald wichtige Bezugspersonen für Ihr Kind sein werden.

Der persönliche Eindruck ist es auch, der letztendlich entscheidender ist als jedes wohlklingende Konzept. Denn schließlich muss die Einrichtung für Sie, Ihr Kind und Ihre Familie passen und nicht für ein hypothetisches Modell-Kind, für das das Konzept einmal geschrieben wurde. Dabei spielen natürlich auch ganz praktische Erwägungen eine Rolle, etwa die Entfernung, die jeden Morgen zum Kindergarten zurückzulegen ist. Die Wunscheinrichtung am anderen Ende der Stadt kann einem bei allem Enthusiasmus schnell verleidet werden, wenn man dafür täglich zwei zusätzliche Stunden im Berufsverkehr verbringt. Andererseits ist es ein wirklich toller Kindergarten natürlich wert, dass man einen gewissen Aufwand auf sich nimmt.

Letztendlich bleibt es eine Frage der persönlichen Prioritäten.

Alles richtig gemacht hat man, wenn man morgens sein fröhliches Kind mit einem guten Gefühl übergeben kann und in dem Wissen zur Arbeit geht, dass es in einer geborgenen Umgebung mit respektvollem, wertschätzendem Umgang untergebracht ist – ganz gleich, ob nun »Waldorf«, »Montessori« oder »Städtischer Kindergarten« über dem Eingang steht.

2 DER (NICHT SO) KLEINE UNTERSCHIED ZWISCHEN ERSATZ- UND ERGÄNZUNGSSCHULEN UND WAS SIE ÜBER BEIDE WISSEN SOLLTEN

Petra Plaum

Das Grundgesetz regelt in Artikel 7 Absatz 4, dass jeder Privatschulen gründen darf – und zwar wie folgt: »Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffent­lichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.«

Für Grundschulen gilt in Ableitung von Artikel 7 Absatz 5 des Grundgesetzes zusätzlich die Regelung, dass das pädagogische Konzept, verglichen mit denen der schon vorhandenen staatlichen Bildungsstätten, besonders sein muss. Wenn es zum Beispiel bereits eine staatliche Schule mit Montessori-Zweig gibt, stehen die Chancen darauf, eine freie Montessori-Schule gründen zu dürfen, schlecht.

Ersatz, Ergänzung, Genehmigung und Anerkennung

Die meisten freien Grund- und weiterführenden Schulen sind Ersatzschulen. Sie stehen unter der Rechtsaufsicht des Staates, müssen sich an den staatlichen Lehrplänen orientieren und ihre Schülerinnen und Schüler zu anerkannten Abschlüssen wie Hauptschulabschluss, mittlerer Reife und Abitur führen. Wer eine Ersatzschule besucht, erfüllt die Schulpflicht. Die Bundesländer erstatten Ersatzschulen, die sich bewährt haben, den größeren Teil ihrer Betriebskosten, im Durchschnitt zwei Drittel.

An einer staatlich anerkannten Ersatzschule können Schülerinnen und Schüler staatliche Schulabschlüsse erwerben – also zum Beispiel Hauptschulabschluss, mittlere Reife und Abitur.

An staatlich genehmigten Ersatzschulen ist das nicht möglich. Schülerinnen, die eine staatlich anerkannte Prüfung ablegen wollen, können diese allerdings an kooperierenden staatlichen Schulen machen. Dafür hat die Schule aber größere Freiheiten bei der pädagogischen Gestaltung, weil der Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler nicht nach jedem Schuljahr mit dem von gleichaltrigen an staatlichen Schulen vergleichbar sein muss.

Ergänzungsschulen führen, wenn überhaupt, zu anderen als den staatlichen Abschlüssen. Man kann an staatlich anerkannten Ergänzungsschulen jedoch internationale Schulabschlüsse und berufliche Qualifikationen erwerben. Allgemeinbildende Ergänzungsschulen, zum Beispiel manch internationale Schule, sind so strukturiert, dass Kinder und Jugendliche hier in der Regel ihre Schulpflicht erfüllen. In anderen, zum Beispiel berufsbildenden Ergänzungsschulen, ist das häufig nicht der Fall. Aber Achtung: Jedes Bundesland hat hierzu eigene Regelungen!

Ergänzungsschulen bekommen vom Staat in der Regel keine Zuschüsse, weshalb die Eltern auch im Durchschnitt höhere Gebühren entrichten müssen. Dafür haben Träger und Schulleitung von Ergänzungsschulen in der Unterrichtsgestaltung, dem Lehrstoff sowie der Auswahl der Lehrkräfte und der Schülerschaft relativ freie Hand. Neben einigen internationalen sowie ausländischen Schulen gehören häufig Berufsfachschulen und Sprachschulen zu dieser Kategorie. Weil auch hier zwischen den Bundesländern Unterschiede bestehen, fragen Sie am besten an allen Schulen Ihres Interesses nach, welchen Status sie haben und ob sich eventuell bald etwas ändert, ob zum Beispiel eine Ersatzschule demnächst eine staatliche Anerkennung anstrebt. Und die tendenziell teuren Ergänzungsschulen bieten oft Stipendien oder Ermäßigungen an, zum Beispiel für kinderreiche Familien.

3 RUDOLF STEINER, EMIL MOLT UND DIE SACHE MIT DEM NAMENSTANZ – DIE WALDORFSCHULE

Lucinde Hutzenlaub

Die meisten Waldorfschülerinnen und -schüler kennen die Vorurteile zur Genüge. Von »Ach, dann kannst du ja bestimmt deinen Namen tanzen!« bis zu »Was für ein Abitur hast du dir dort gemalt?« müssen sie sich einiges anhören. Sie haben oftmals den Ruf, irgendwie ein bisschen seltsam zu sein, »öko« oder einfach nur unfähig, auf anderen Schulen mitzuhalten.

»Du packst das Gymnasium/die Realschule/die Hauptschule nicht? Du hast Schwierigkeiten, dich anzupassen? Dann probiere es doch mal auf der Waldorfschule!«, ist ein Ratschlag, den viele Eltern erhalten, die verzweifelt eine Lösung für ihre auf der Regelschule vermeintlich gescheiterten Kinder suchen.

Ob diese Schulform die richtige Wahl für das eigene Kind ist, muss man sich dennoch gut überlegen. Bevor man sich für die Waldorfschule entscheidet, sollte man unbedingt wissen, dass sie alles andere als ein pädagogischer Lumpensammler ist, der schon alles richtet, was in der Schulkarriere des Sohnes oder der Tochter bisher schiefgelaufen ist, einzig darauf ausgerichtet, schwierigen Fällen doch noch irgendwie zu einem Abschluss zu verhelfen.

Hinter der Waldorfschulpädagogik steckt ein sehr weitgreifendes Konzept, das nicht unbedingt für jeden Schüler passend ist. Diejenigen, die sich allerdings für die Waldorfschule entscheiden, gerade weil ihnen das Menschenbild, die Lerngeschwindigkeit und die Verbindung von beidem zusagen, können sehr davon profitieren.

3.1Ein Tag an der Freien Waldorfschule Böblingen

»Der Sonne liebes Licht

Es hellet mir den Tag;

Der Seele Geistesmacht,

Sie gibt den Gliedern Kraft;

Im Sonnen-Lichtes-Glanz

Verehre ich, o Gott,

Die Menschenkraft, die Du

In meine Seele mir

So gütig hast gepflanzt,

Dass ich kann arbeitsam

Und lernbegierig sein.

Von Dir stammt Licht und Kraft,

Zu Dir ström’ Lieb’ und Dank.«

Das Klassenzimmer mit den hohen Decken der vierten Klasse der Waldorfschule Böblingen ist in einem freundlichen Rosaton gestrichen, auf der Fensterbank stehen viele Pflanzen und in der Ecke ein zur Jahreszeit passend üppig geschmückter Tisch mit einer großen Wurzel, kleinen Filzpüppchen und -tieren, Kieselsteinen und Moos. Frau Hohner, die Klassenlehrerin, hat außerdem ein wunderschönes Gemälde passend zum aktuellen Thema Tierkunde auf die Außenseite der Tafel gemalt. Die Kinder stehen neben den Schulbänken, während sie im Chor diesen Morgenspruch aufsagen. Geschrieben hat ihn Rudolf Steiner und mit ihm beginnen die unteren Klassen aller Waldorfschulen seit der Gründung 1919 jeden Schultag. Er soll das gemeinsame Ankommen ermöglichen, dient als Andacht und Einstimmung auf den gemeinsamen Unterricht.

Jedes Kind hat zusätzlich noch einen Zeugnisspruch, der jedes Schuljahr wechselt und der oft von den Klassenlehrern sehr individuell für das jeweilige Kind ausgesucht oder sogar selbst geschrieben wird. Er dient als Ermutigung und persönliche Lernermunterung für das Schuljahr. Die Kinder dürfen ihren Zeugnisspruch an dem Wochentag aufsagen, an dem sie geboren sind. Heute ist Donnerstag und Mattis ist dran. Er ist seit diesem Schuljahr an der Waldorfschule und hat seinen Spruch erst nach ein paar Wochen bekommen, weil Frau Hohner ihn gern ein bisschen besser kennenlernen wollte. Auch für ihn war diese Wartezeit ganz gut, denn so konnte er zuerst einmal den anderen dabei zusehen, wie sie ihren Spruch allein vor der Klasse vortragen. Nun schaut er selbstbewusst in die Runde und sagt stolz seinen eigenen Spruch auf:

»Ist ein Wassertropfen schwer?

Und erst gar ein ganzes Meer?

Ich sehe auch das Wasser steigen

hinauf zum höchsten Wolkenreigen.

Schwer ist nur, was sich nicht regt.

Leicht ist stets, was aufwärts strebt.«

Direkt im Anschluss beginnt der zweistündige Hauptunterricht, in dem zurzeit die Epoche Tierkunde bearbeitet wird. In einer Woche, wenn Tierkunde abgeschlossen ist, beginnt eine neue Epoche und das große Einmaleins sowie die Grundrechenarten sind wieder dran. Noch aber arbeiten die Kinder fleißig an ihrer Präsentation über ein Tier, das sie sich selbst ausgesucht haben. Felix hat die Königskobra gewählt und bemüht sich, die Informationen, die er über sie zusammengetragen hat, fehlerfrei in sein selbst gestaltetes Epochenheft zu übertragen. Er weiß wirklich alles über die riesige Schlange: Wo sie lebt, wie es dort aussieht, was sie für Feinde hat und wie ihr Verhältnis zum Menschen ist. All das hat er selbst recherchiert. Er war in der Bücherei, hat sich in der Buchhandlung ein eigenes Buch über Schlangen aussuchen dürfen und sich zu Hause ein bisschen im Internet umgesehen. Auf die Zeichnungen, die er von der Kobra und ihrer Umgebung angefertigt hat, ist er mindestens genauso stolz wie auf die langen Texte, die so gut wie keine Rechtschreibfehler mehr aufweisen, nachdem er sie zuerst von Frau Hohner korrigieren lassen und nun all seine Fehler ausgebügelt hat. Die letzte Deutschepoche zeigt Wirkung.

Sein Freund Timo hat sich für den Hund entschieden, aber es gibt auch Berichte über Pferde, Katzen oder Delfine. Jedes Epochenheft ist ein eigenes Lexikon. Kunstwerke sind sie sowieso alle.

Nach dem Hauptunterricht wird die Klasse geteilt. Die eine Hälfte der Klasse hat nun Russisch, während Felix’ Gruppe in den Handarbeitsraum geht. Gerade bei den künstlerischen und handwerklichen Arbeiten können die Kinder besonders gut im Unterricht Gehörtes mit eigenen Erfahrungen verknüpfen und so sehr viel stärker verinnerlichen. »Hier können sie im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen«, sagt Hans-Joachim Sennock, Gründer und Lehrer der Freien Waldorfschule Böblingen.

Mit Begeisterung bestickt Laura ein viereckiges Stück Stoff mit bunten Fäden. Ein paar Kinder sind schon mit dem Sticken fertig und bereits dabei, aus dem Stoff ihr eigenes Nadelmäppchen zu nähen. Alle Jungen und Mädchen bringen ihr Werk am Ende stolz mit nach Hause, um es zu zeigen. Dann aber wird es in der Schule wieder gebraucht: Alle Kinder nähen ein Tier. Ob Laura dafür wohl den Eisbär wählen wird, über den sie ihre Tierkunde-Präsentation erstellt hat?

Nun aber wird es wieder anstrengend: Für die eine Hälfte der Klasse steht nun Englisch und für die andere Russisch an. Obwohl Mattis noch nicht so lange an der Schule ist und die anderen drei Jahre Vorsprung haben, kann er schon das russische Alphabet aufsagen und ein paar der schwierigen Vokabeln auch. Vor allem aber freut er sich darauf, bald eine Sprache zu verstehen, die außerhalb der Schule kaum jemand kann.

Zum Instrumentalunterricht in der vierten Stunde kommt die Klasse wieder zusammen. Jedes einzelne Kind hat seine eigene Flöte dabei. Auch hier hat es Mattis nicht ganz leicht. Die anderen machen das schließlich schon seit der ersten Klasse. Mattis ist jedenfalls froh, dass er beim Flöten einigermaßen mitkommt. Viele seiner Klassenkameradinnen und -kameraden spielen zusätzlich noch andere Instrumente: Geige, Bratsche, Querflöte oder Cello. Das Schulorchester hat hier regen Zulauf und bei den Konzerten in der Turnhalle sind meist alle Stühle besetzt. Das Gleiche gilt für den Chor, dessen Darbietung erst neulich wieder die Kirchenbänke im benachbarten Sindelfingen gefüllt hat. Da ist Mattis in seinem Element. Seitdem er hier auf der Schule ist, singt er mit Begeisterung. Freiwillig wäre ihm das vorher nie in den Sinn gekommen.

Musikalisch geht es auch im Eurythmieunterricht zu: Während die Klavierbegleiterin ein klassisches Stück spielt, bewegen sich die Kinder zu einer festgelegten und anspruchsvollen Choreografie. Sie schreiten, drehen sich und bewegen die Arme. Das erfordert volle Konzentration und ist für manche Kinder eine große Herausforderung, obwohl heute noch nicht einmal die langen Holzstäbe weitergereicht oder geworfen werden. »Gerade diejenigen, denen Koordination und Konzentration schwerfallen profitieren von diesem Fach«, sagt Hans-Joachim Sennock. »Aber natürlich ist der Eurythmieunterricht eine großartige Möglichkeit für alle Schülerinnen und Schüler, sich selbst und andere im Raum zu begreifen.« Deshalb bietet die Freie Waldorfschule Böblingen, wie einige andere Waldorfschulen auch, zusätzlich zum Unterricht in der Klasse auch noch »Heileurythmie« als Therapie an. Empfehlungen hierfür spricht der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin in Absprache mit der Schulärztin aus, die insbesondere die neuen Kin­der gründlich beobachtet. In Böblingen gibt es außer Heileurythmie außerdem noch Förderunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen, Sprachgestaltung und Sprachtherapie, Bewegungstherapie, Heilpädagogik und sozialpädagogische Begleitung von Oberstufenschülern und -schülerinnen. Der genaue Blick der Schulärztin sowie die umfangreichen Therapieangebote sind natürlich eine großartige Bereicherung für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für die Lehrer und Lehrerinnen an dieser und an vielen anderen Waldorfschulen.

Nach dem Eurythmieunterricht ist Mittag. Viele der Kinder neh­men den Schulbus in die Stadt, einige können nach Hause laufen und ein paar bleiben im Hort.

Die Freie Waldorfschule Böblingen liegt wunderschön auf dem Gelände der ehemaligen Kurklinik, umgeben von Wald und angrenzend an den riesigen Schulgarten, in dem die Kinder ab der fünften Klasse Unterricht in Gartenbau haben. Bevor die Kinder gleich in die Mensa gehen, wo die Entscheidung mal wieder schwerfällt, weil hier grundsätzlich frisch gekocht wird und alles so lecker ist, toben sich die Hortkinder noch ein bisschen aus, spielen Tischtennis und eine Runde Fangen.

Aber auch später, wenn die Hausaufgaben gemacht sind und das Wetter gut ist, werden die Kinder draußen sein. Schließlich muss die Horthütte im Wald fertig gebaut werden und das Lager von gestern ist auch noch nicht so weit, außerdem gibt es da diesen Kletterbaum und überhaupt – schon 15 Uhr?

Bei schlechtem Wetter ist drinnen volles Programm: Basteln, Kerzenziehen, Filzen, Malen oder Brotbacken und noch vieles mehr wird von Herrn Mayer, dem Hortbetreuer, angeboten und von den Kindern gut aufgenommen. Es sei denn, sie sind zu beschäftigt mit den Spielen, die sie sich selbst überlegt haben.

Um 15.30 Uhr ist für alle die Schule aus. Auch Mattis verabschiedet sich von Herrn Mayer und seinen Freunden im Hort, schnappt sich seine Schultasche und nimmt den kleinen Trampelpfad hinter dem Schulgebäude durch den Wald. Den Schulgarten lässt er hinter sich, verlässt das Schulgelände durch das blaue Törchen und steht nur ein paar Minuten später vor seiner Haustür. Singend.

3.2Zur Geschichte

Gegründet wurde die erste Waldorfschule 1919 von Emil Molt, einem jungen, weltoffenen Zigarettenfabrikanten, der einige Jahre im Ausland gelebt und sich schon früh intensiv mit der Anthroposophie beschäftigt hatte.

Bei einem Gespräch mit einem seiner Arbeiter hatte er erfahren, dass dessen begabter Sohn ungewöhnlicherweise eine höhere Schule besuchen konnte und somit bessere berufliche Möglichkeiten hatte. Inspiriert von seinen Gesprächen mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner (1861–1925), dessen Vorträge über Erziehung und Schulfragen ihn sehr beeindruckt hatten, beschloss Molt, mit dessen Unterstützung allen Kindern seiner Angestellten eine ebenso gute wie ganzheitlich orientierte Schulbildung zu ermöglichen. Gemeinsam gründeten sie die erste Waldorfschule in Stuttgart, benannt nach Molts Zigarettenmarke »Waldorf Astoria« und aufgebaut nach Steiners Vorschlägen. Es entstand eine koedukative Gesamtschule und Steiner übernahm die Ausbildung der Lehrkräfte. Als die erste der mittlerweile über tausend Waldorfschulen weltweit am 7. September 1919 an der Uhlandshöhe in Stuttgart eröffnet wurde, hatte sie bereits acht Klassen und insgesamt 256 Schüler, wovon 191 Arbeiterkinder waren, deren Schulgeld die Fabrik zahlte. Des Weiteren besuchten 65 Kinder aus anthroposophischen Familien aus Stuttgart diese Schule, die finanziell gut genug aufgestellt waren und somit keine Unterstützung bekamen. Dadurch entstand das erste Mal eine Schule, in der Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten eine gemeinsame Bildung erhielten. Bis zu seinem Tod 1925 blieb Steiner Berater der Schule.

Übrigens: Selbst nach dem Verkauf der Zigarettenfabrik bezahlte Emil Molt die Schulgebühr für die Kinder seiner Angestellten aus seinen Privatmitteln weiter.

Sehr bald entstanden weitere Waldorfschulen und -kinder­gärten in Deutschland. Schon 1920 folgte außerdem ein Kindergarten in Warschau und bereits 1928 eröffneten die ersten Schulen in New York, Basel, London, Lissabon und Budapest. Während des Nationalsozialismus wurden aufgrund von politischem Druck die Schulen nach und nach wieder geschlossen. Bereits 1932 durften keine neuen Klassen mehr gebildet werden und 1941 gab die letzte Schule – vorübergehend – den Schulbetrieb auf.