Vier Frauen und ein Garten voller Glück - Lucinde Hutzenlaub - E-Book
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Vier Frauen und ein Garten voller Glück E-Book

Lucinde Hutzenlaub

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Beschreibung

»Auf die Freundschaft, die wir haben; auf das Leben, das uns bleibt; und auf die Abenteuer, die noch vor uns liegen.«

Eigentlich hat Juli einen Traumjob: Als persönliche Assistentin eines berühmten Opernsängers reist sie um die Welt. An kleine Auszeiten oder gar eine Beziehung ist nicht zu denken, aber seit einer schmerzhaften Trennung vor vielen Jahren ist Juli das auch lieber so. Doch als ihre eigentlich so rüstige Mutter erste Spuren von Vergesslichkeit zeigt, bitten deren Freundinnen sie, zumindest für eine Zeitlang wieder nach Hause zu kommen – in die verwunschene Villa am Stuttgarter Killesberg mit ihrem verwilderten Garten, in dem Stockrosen und Marienglockenblumen blühen. Auf der hölzernen Bank unter der alten Linde, inmitten der wunderbaren, starken Frauen, die sie seit ihrer Kindheit begleiten, spürt Juli endlich wieder, was im Leben wirklich zählt. Doch die Seniorinnen haben ihre ganz eigenen Pläne für Julis Zukunft – und darin spielt ein charmanter junger Koch namens Nic eine nicht unwesentliche Rolle ...

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Seitenzahl: 460

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LUCINDE HUTZENLAUB ist Autorin, Kolumnistin bei der DONNA und managt eine Großfamilie mit vier Kindern. Zusammen mit ihren Co-Autorinnen ist sie regelmäßig zu Gast auf den Bestsellerlisten, zum Beispiel mit Heike Abidi und ihrem gemeinsamen Buch Ich dachte, älter werden dauert länger.

Sie lebt und arbeitet im Süden Deutschlands, ganz in der Nähe von Stuttgart – wo auch ihr neuer Roman spielt.

Vier Frauen und ein Garten voller Glück in der Presse:

»Ein gefühlvoller Roman über Mütter und Töchter, tiefe Freundschaft und natürlich über die Liebe – und eine Geschichte, die man unbedingt mit der besten Freundin teilen möchte.«

DONNA

Außerdem von Lucinde Hutzenlaub lieferbar:

Pasta d’Amore - Liebe auf Sizilianisch. Roman

Drei Frauen und ein Sommer. Roman

Ich dachte, älter werden dauert länger. Ein Überlebenstraining für alle ab 50

Ich dachte, sie ziehen nie aus. Ein Überlebenstraining für alle Eltern, deren Kinder flügge werden

Ich dachte, wir schenken uns nichts!? Ein Überlebenstraining für Weihnachtselfen und Festtagsmuffel

Ich dachte, ich bin schon perfekt. Ein Überlebenstraining für alle, die herrlich normal bleiben wollen

Lucinde Hutzenlaub

Vier Frauen und ein Garten voller Glück

Roman

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Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Lisa Wolf

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27022-3V002

www.penguin-verlag.de

»Alter ist irrelevant, es sei denn, du bist eine Flasche Wein.«

(JOAN COLLINS, POLLYS LIEBLINGSZITAT)

»Am Ende bereuen wir nicht die Dinge, die wir getan,

sondern die, die wir versäumt haben.«

(MARTHA VON HELLBACH, AUS GRÜNDEN)

Prolog

Samstag, 17. Juli 2004, Stuttgart

»Das ist nicht dein Ernst!«

Völlig schockiert sah Juli zu, wie Erik vor ihr auf die Knie sank.

Sie hatte schon ein mulmiges Gefühl gehabt, als er ihr zu Hause die Augen verbinden wollte. Dann, als er ihr das Tuch abgenommen hatte, waren gleichzeitig sehr viele sehr unterschiedliche Dinge passiert: Sie hatte das liebevoll zusammengestellte Picknick samt Teelichtern, einer Tischdecke und vier kleinen Sonnenblumen in einer Vase entdeckt. Sie hatte wahrgenommen, dass die Spaziergänger, die ebenfalls den lauen Juniabend nutzten, um den fantastischen Blick vom Birkenkopf aus über die Stadt zu genießen, stehen blieben und sie beobachteten. Sie begriff, wie perfekt sowohl dieser Hügel oberhalb des Stuttgarter Westens als auch der Moment war, und sie wunderte sich, dass sie keine freudige Aufregung verspürte, sondern nur den dringenden Wunsch davonzulaufen. Schnell und weit weg, fort von ihrem Freund, mit dem sie bereits seit zwei Jahren zusammenlebte und der diese wunderschöne Überraschung für sie vorbereitet hatte.

Aber fürs Davonlaufen war es zu spät, denn Erik, der beste Erik, den man sich nur wünschen konnte, treu, liebevoll, interessiert, zuverlässig und aufstrebender Polizeikommissar mit sicherem Einkommen und verheißungsvollen Karrierechancen, nahm ihre rechte Hand und hielt ihr in diesem Augenblick ein samtbezogenes Schächtelchen entgegen.

»Juli!«

Sie hörte, wie er trocken schluckte. Das machte er immer, wenn er aufgeregt war. Sie starrte auf seinen Adamsapfel, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Schluck.

»Juliane Romy Englaender, … du … möchtest du … willst du mich … willst du meine Frau werden?«

Schluck.

Sie hörte, was er sagte, aber es dauerte ewig, bis es in ihrem Gehirn ankam. Ein bisschen kam es ihr vor, als hätte jemand den Film langsamer gedreht, der hier gerade ablief. Eriks Frage hatte irgendwie zombiemäßig geklungen, als ob er jedes Wort unnatürlich in die Länge ziehen würde.

Juuuuuuliiiiii möööööchtest duuuuuuuu …

An den Rändern ihres Sichtfeldes flimmerte es, was ebenfalls sehr gut zu diesem Zombiefilmgedanken passte. Sie fragte sich, ob sie im Begriff war, in Ohnmacht zu fallen, und wenn ja, warum eigentlich. Erwartungsvoll sah Erik zu ihr auf. Juli hörte das kollektive Seufzen der weiblichen Spaziergänger im Hintergrund. Es fühlte sich an, als würde jeder Einzelne gespannt die Luft anhalten und auf die einzig mögliche Antwort auf diese Frage warten, nämlich auf ihr freudig gehauchtes »Ja«.

Aber es ging nicht. Ihr Mund war staubtrocken und ihr Sprachzentrum bis auf Weiteres ausgefallen, dafür sah sie auf einmal glasklar, was sie in den letzten Monaten ignoriert hatte.

Sie liebte Erik nicht. Zumindest nicht genug, um ihn zu heiraten. Sie wollte überhaupt gar niemanden heiraten, schon gar nicht jetzt, mit gerade mal vierundzwanzig Jahren und ganz am Anfang eines Lebens, das sie nicht jetzt schon bis dass der Tod sie schied planen, sondern auf sich zukommen lassen wollte. Es tat ihr nur leid, dass es einen Heiratsantrag gebraucht hatte, um das zu begreifen.

»Nein!«, sagte sie vielleicht ein wenig zu laut und deutlich. Das hinterhergeschobene und erschrocken gestammelte »Es tut mir leid, aber ich kann nicht, Erik!« fühlte sich schrecklich falsch und gleichermaßen sehr erleichternd an.

Als sie seinen geschockten Gesichtsausdruck sah, war sie für einen Moment versucht, es zurückzunehmen, aber bevor sie aus den falschen Gründen das Falsche tun konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte, begleitet von den enttäuschten Oooohs eines faszinierten Publikums, davon. Das war zwar nicht besonders erwachsen, aber in dieser Situation in Julis Augen der einzige Ausweg.

Beinahe hätte sie eine nicht mehr ganz so junge Frau in viel zu knappen Shorts und mit knallrot gefärbten Haaren über den Haufen gerannt, die das ganze Drama kopfschüttelnd beobachtete.

»Also, ich hätte mir den ja nicht entgehen lassen, Süße!«, rief sie Juli missbilligend hinterher.

»Ja, aber Sie hat er nicht gefragt, Süße,« rief Juli atemlos zurück und stolperte an ihr vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hatten die Leute kein eigenes Unglück, an dem sie sich erfreuen konnten?

Juli rannte die Serpentinen in Richtung Parkplatz hinunter, so schnell es eben in ihren Flip-Flops ging, und erreichte schließlich völlig atemlos Eriks Auto. Sie lehnte sich für einen Augenblick gegen das heiße Blech seines dunkelblauen Golf und schloss die Augen. Was jetzt, Juli Englaender?

Man konnte nicht einen Heiratsantrag ablehnen und dann in die gemeinsame Wohnung spazieren, als wäre nichts passiert. Man konnte nicht »Nein« sagen, und dann im nächsten Moment fragen, ob der andere Lust auf einen Salat am Abend oder daran gedacht hatte, den Müll runterzubringen. Und schon gar nicht konnte man seinen Golf entführen, während der andere noch in Schockstarre unter dem Gipfelkreuz stand und um Fassung rang. Es ging nicht. Nichts davon. Sie hatte nicht nur den Heiratsantrag abgelehnt, sondern ihr komplettes bisheriges Leben. Juli fühlte sich schrecklich, weil sie Erik Neumann, den perfekten Mann und Vater ihrer zukünftigen Kinder, sitzen gelassen hatte, während gleichzeitig unbändiges Glück über ihre neue Freiheit ihren kompletten Körper flutete. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie groß ihre Sehnsucht gewesen war, das alles hinter sich zu lassen.

Sein Auto ließ sie selbstverständlich stehen. Ein junges Paar, das gerade ausparkte, war bereit, Juli ein Stück mit in die Stadt zu nehmen, und so stand sie keine Stunde nach ihrem Aufbruch wieder in der kleinen Küche ihrer gemeinsamen Wohnung.

Nachdem sie zwei Jahre gebraucht hatte, um an diesen Punkt zu gelangen, konnte sie jetzt keine Sekunde länger warten.

Während der kurzen Fahrt hierher hatte sie mit ihrer besten Freundin Pia eine sehr wesentliche und grundsätzliche Entscheidung getroffen. Sie brauchte eine neue Wohnung und einen neuen Job. Vor allem Letzteres war sehr wichtig, denn Juli arbeitete als Landschaftsgärtnerin in der Firma von Eriks Vater. Und weil Erik sie von nun an hassen würde, was sie mehr als verdient hatte, würde sie sich eine Weile verstecken und dann neue Pläne schmieden. Wenn ein wenig Zeit vergangen war, könnte sie versuchen, mit Erik zu sprechen und ihm ihre Gründe zu erklären – wenn er das denn wollte.

Da sie so schnell keine Umzugskisten organisieren konnte, stopfte Juli alle Klamotten in ihren Lieblings-Bettdeckenüberzug und stapelte ein paar Bücher und CDs in ihren Einkaufskorb. Sie legte sowohl Eriks Autoschlüssel als auch den für die Wohnung auf den Küchentisch und rief sich ein Taxi, das sie sich ab jetzt, da sie wieder auf sich allein gestellt sein würde, eigentlich nicht mehr leisten konnte.

Drei Tage später joggte Juli die Zeppelinstraße bergauf in Richtung Kräherwald, während sie die Musik auf ihrem pinkfarbenen iPod bis zum Anschlag aufdrehte. »Shut Up« von den Black Eyed Peas dröhnte in ihren Ohren. Mit dem Auto und bergab war es ihr bei Weitem nicht so steil vorgekommen, aber im Grunde kam ihr diese Steigung sogar ganz gelegen, denn sie erfüllte ihren Zweck absolut: Sie zwang Juli, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und sämtliche Grübeleien einzustellen.

Die letzten Tage hatte Juli auf der Couch ihrer besten Freundin Pia verbracht und herauszufinden versucht, was sie nun mit ihrem neuen Leben anfangen wollte. Die Freude und der Tatendrang vom ersten Tag waren genauso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren, und selbst das Glück über ihre Freiheit war längst der verzweifelten Frage gewichen, wie es denn nun weitergehen sollte.

Sie hatte sich krankgemeldet und war weder an die Tür noch an Pias Telefon gegangen, wenn es klingelte, aus lauter Sorge, dass Erik dran sein könnte. Ob er tatsächlich anrief oder vor der Tür stand, wusste sie natürlich nicht, und auch wenn es ihr Ego gestreichelt hätte, wenn er um sie gekämpft hätte, so war sie doch für sie beide sehr froh, dass er es nicht tat. Dabei wäre sie immer wieder beinahe selbst schwach geworden und hätte fast bei Erik angerufen, aber dann siegte glücklicherweise doch jedesmal die Vernunft. Ja, Erik war der beste Zuhörer, Ratgeber und Freund, den man sich wünschen konnte, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihn dafür auszunutzen und mit seinen Gefühlen zu spielen. Sie sehnte sich regelrecht nach Liebeskummer, weil es bedeutet hätte, dass Erik und sie möglicherweise doch noch eine Chance gehabt hätten, wenn nicht als Ehepaar, dann vielleicht als Freunde. Aber ihr Herz wollte da nicht mitspielen. Und auch in ihren unsichersten Momenten war sich Juli sicher, dass ihre Trennung die beste Idee war, die sie in den letzten Jahren gehabt hatte.

Außer Pia wusste bisher nur ihre Mutter Pauline von der Trennung. Martha und Lisbeth, Paulines beste Freundinnen, hatten aber wahrscheinlich auch längst davon erfahren.

»But it still ends up the worst, and I’m crazy«, brüllte Fergie voller Inbrunst in Julis Ohr.

Das fasste es ganz gut zusammen.

»Shut up! Just shut up, shut up!«, fiel Juli laut in den Refrain mit ein und erschreckte damit prompt einen Mann, der mit seinem Hund ebenfalls in Richtung Kräherwald unterwegs war. Im Singen war sie anscheinend genauso eine Niete wie dabei, rechtzeitig ihre Gefühlslage zu analysieren, bevor sie damit den einzigen Menschen fürchterlich vor den Kopf stieß, dem sie niemals hatte weh tun wollen. Und ihn damit sehr schnell, gründlich und nachhaltig aus ihrem Leben verbannt hatte.

Noch ein paar Hundert Meter und sie war endlich oben am Waldrand. Wenn sie es bis dorthin schaffte, dann würde ihr alles gelingen. Dann würde alles gut werden, und eines fernen Tages würde sie sich selbst wieder im Spiegel begegnen und vielleicht davon überzeugt sein können, dass ihr »Nein« tatsächlich die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen war. Und für Eriks sowieso. Dort oben in einem der reichsten Wohnviertel Stuttgarts mit dem atemberaubenden Blick über die ganze Stadt konnte sie dann auch gleich bei Martha vorbeigehen und eine Limonade oder irgendwas mit Schuss trinken. Oder auch mit zwei Schüssen.

Noch ein paar Meter und sie musste sich entscheiden. Geradeaus in den Wald oder links zu Martha? Sport oder Schweinehund?

Links. Eindeutig. Der Schweinehund hatte gewonnen. Außerdem musste sie dringend mit Martha sprechen. Immerhin war die beste Freundin ihrer Mutter schon immer diejenige gewesen, die sie um Rat gebeten hatte, wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Wobei Martha liebend gern auch Ratschläge verteilte, wenn man sie nicht darum bat. Aber immerhin hielt sie nie mit ihrer ehrlichen Meinung hinterm Berg, was in diesem Fall schmerzhaft werden konnte, denn Martha war ein ausgesprochener Erik-Fan. Juli hoffte nur, dass Marthas Mann Arthur nicht zu Hause war. Er war ein arroganter Snob, und Juli versuchte immer, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Aber wenn er zu Hause war, konnte sie ja auch wieder verschwinden.

Endlich mal eine Entscheidung, die wirklich leicht zu treffen war.

Die riesigen Grundstücke der Villen lagen zwischen dem Sternsingerweg und der Leibnizstraße direkt oberhalb von vielen kleinen und dicht bewachsenen Schrebergärten, die sich an den steilen Hang über Stuttgart schmiegten. Manche waren modern und von hohen Mauern umgeben, andere, zu denen Marthas gehörte, stammten aus den zwanziger oder dreißiger Jahren und versprühten den Charme längst vergangener Zeiten.

Juli entschied sich, den Hintereingang zu nehmen, und stieg die zwölf schmalen Sandsteinstufen in der Gartenmauer hinauf. So viele Male war sie die schon gegangen, seit sie überhaupt laufen konnte und jedesmal wieder freute sie sich darüber, dieses Paradies an den Hängen der Stadt betreten zu dürfen.

Sie drückte das kleine morsche Holztor am oberen Ende auf, zu dem es längst keinen Schlüssel mehr gab. Es war wirklich unglaublich, wie modern und prachtvoll der offizielle Zugang von der Leibnizstraße mit seiner Buchenhecke, den weißen Säulen dazwischen und dem weißen hohen Tor mit modernster Gegensprechanlage war. Der gepflasterte Weg von dort bis zum Haus war von akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken gesäumt und mündete in einen runden Vorplatz, auf dem ein kleiner dreistöckiger Springbrunnen munter vor sich hin plätscherte. Von dort führten drei Stufen zu dem halbrund überdachten Eingang hinauf, an dessen Seiten jeweils üppige rosafarbene Hortensien in riesigen Kübeln standen.

Die Villa war riesig und für zwei Personen eigentlich viel zu groß, aber Arthur von Hellbach war hier aufgewachsen und fand, dass das Anwesen seinem Erfolg als Inhaber der viertgrößten Küchengerätefirma in dritter Generation angemessen war. Außerdem brauchte er den Platz für seine umfangreiche Kunstsammlung. Das untere Stockwerk stand komplett leer, bis auf die riesige Waschküche, die sich links neben dem Eingang befand, und zwei voneinander unabhängigen Wohnungen rechts davon.

Der hintere Eingang war jedenfalls ein gehöriges Sicherheitsrisiko, zumindest, wenn man Angst vor Einbrechern hatte, denn hier konnte jeder einfach so hereinspazieren, ohne gesehen zu werden. Es sei denn, Martha saß an ihrem Lieblingsplatz im halbrunden und vollverglasten Wintergarten, der einem einen herrlichen Blick über den alten Garten und über ganz Stuttgart ermöglichte.

Juli mochte den anderen Eingang lieber. Sie ging auf den alten Steinplatten durch den prächtigen, aber komplett verwahrlosten hinteren Garten rechts am Wintergarten vorbei und als sie dort niemand sitzen sah, lief sie weiter um die Ecke in Richtung Küche. Unterwegs sog sie tief den intensiven Duft der weißen trichterförmigen Blüten des Trompetenbaumes ein, der sich links an die Hauswand schmiegte, und freute sich über das bunte Beet zu ihrer Rechten aus alten Stockrosen, Marienglockenblumen, Johanniskraut, Rittersporn und Fingerhut, die sich nicht darum scherten, dass sich niemand um sie kümmerte, oder vielleicht auch gerade deshalb unglaublich üppig blühten. Juli war trotzdem versucht, die eine oder andere verblühte Rose abzuzupfen, Pfingstrosen aufzurichten oder mit dem Schuh Moos von den Platten zu schieben, aber sie wusste, dass dieser Garten ein Fass ohne Boden war und Martha darauf empfindlich reagierte, wenn jemand gegen ihren Willen Dinge veränderte. Dennoch: Ihr Landschaftsgärtnerinnenblick sah, was man aus diesem Garten machen könnte, und in ihren Fingern kribbelte es. Eines Tages würde sie aus diesem Rohdiamant ein Juwel zaubern, schwor sie sich wie jedesmal, wenn sie durch den Garten ging.

Die Küche, über die sie die Villa zu betreten gedachte, war Marthas Reich, zumindest, was die Planung der Speisen anging. Sie kochte zwar gern, aber sie überließ es ebenso gern Sonja Hofmann, Haushälterin und gute Seele der von Hellbachs. Dafür liebte sie ihren Garten und pflanzte an allen möglichen und unmöglichen Stellen Gartenkräuter. Sehr oft hatte Juli sie schon mit der Gartenschere bewaffnet durch den Garten pilgern sehen, während sie leise murmelnd den unauffindbaren Thymian fragte, wo er sich denn nun schon wieder versteckt hatte. Ihre Kräuterleidenschaft hatte aber immerhin dazu geführt, dass es seit Neuestem einen Durchbruch mit einer Glastür von der Küche nach draußen gab und nun vier Holzstufen nach unten in den Garten führten, die breit genug waren, um sich darauf niederzulassen. Juli hatte dort für Martha die wichtigsten Kräuter in Töpfe gepflanzt, damit die Suche ein Ende nahm. Zumindest, bis Martha Juli endlich gestattete, den Garten umzugestalten, was wiederum nicht an ihr, sondern an Arthur hing, der solchen Firlefanz für vollkommen überflüssig hielt. Umso dankbarer war Juli wieder einmal für diesen Hintereingang, über den sie ungesehen ins Haus gelangen konnte.

Oder auch nicht. Denn bevor sie die erste Stufe erklommen hatte, wurde die Küchentür so schwungvoll aufgerissen, dass Juli erschrocken zusammenzuckte. Ihre Mutter Pauline streckte den Kopf nach draußen und strahlte ihre Tochter begeistert an. Sie hätte es sich denken können. Wann auch immer irgendetwas im Leben von Martha, Lisbeth oder Pauline geschah, eilten die anderen herbei. In guten Zeiten, um sich gemeinsam zu freuen, in schlechten, um zu helfen, und wenn weder noch erforderlich war, einfach nur, um zu lästern, zu lachen, eine Runde Bridge zu spielen (wobei meist Marthas Nachbar Dr. Wilhelm Wenzelsberger als vierter Mann herhalten musste) und ein Glas Champagner auf das Leben zu trinken. Sie nannten sich selbst die Bridge-Ladies und Juli wartete auf den Tag, an dem sie sich – vermutlich seidene – Freizeitanzüge mit einem passenden Bridge-Ladies-Logo bedrucken ließen.

Als die Jagdleidenschaft von Lisbeths Mann Richard beispielsweise dazu geführt hatte, dass er einen ausgestopften Eberkopf über den Kamin hängte, hatten Martha und Pauline mit Lisbeth auf der Couch gesessen und ihre Hand gehalten, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Auch bei jeder einzelnen Affäre von Arthur oder seinen berüchtigten Wutanfällen waren sie jeweils tage- und nächtelang in der Villa geblieben. Und weil Pauline abends oft im Theater war, hatten sie abwechselnd auf Juli aufgepasst, bis Martha irgendwann für sie kurzerhand ein Zimmer bei sich eingerichtet hatte.

Bei Lisbeth hatte Juli kein Zimmer, denn sie fürchtete sich zu sehr vor dem Eberkopf.

»Hallo, Kind!«, rief Pauline und streckte die Arme nach ihr aus.

Juli wusste nicht genau warum, aber plötzlich wäre sie am liebsten doch wieder gegangen. Vielleicht lag es daran, dass sie dringend eine Dusche brauchte und ihre Mutter wie immer herausgeputzt war wie ein Filmstar. Doch dafür war es jetzt zu spät. Ihre Mutter und die anderen beiden würden das niemals zulassen. Ein gutes Drama ließen sie sich keinesfalls entgehen.

Und zumindest Pauline trug sehr gern ein wenig dazu bei. Sie hatte diese unnachahmliche Fähigkeit, aus allem einen Auftritt zu machen. Das lag vermutlich daran, dass sie als Maskenbildnerin selbst tagein, tagaus am Staatstheater mit Schauspielern, Sängern und Tänzern zu tun hatte. Es hatte auf sie abgefärbt. Und wie. Sie sah immer aus, als wäre sie geradewegs aus einem Theaterstück oder einer Oper dahergeschwebt. Ihr heutiger Anblick bildete da keine Ausnahme.

Die roten Locken, die sie mit einem seidenen Tigerprint-Tuch nach hinten gebunden hatte, der wehende, mit bunten Dschungelmotiven bedruckte Kaftan, der ihre zarte Figur umflatterte und nicht zuletzt die Pose, mit der sie sich an die Küchentür schmiegte, als wäre sie ihr Liebhaber und Pauline in Leidenschaft zu ihr entflammt.

»Hallo, Mutter.« Juli versuchte zu lächeln, während Pauline nun mit ausgebreiteten Armen die Holztreppe hinunterstieg, als wäre sie gerade zur Miss Killesberg gekürt worden.

»Nenn mich Polly, Schätzchen, ja?« Sie warf ihrer Tochter zwei Luftküsse zu, bevor sie sie an der Hand nahm und nach oben in die Küche zog.

Innen lehnte Lisbeth an der Arbeitsplatte und winkte Juli lächelnd zu. »Hallo, Juli, Liebes, schön, dich zu sehen.«

Lisbeth Hengenreuder war definitiv die schüchternste und zurückhaltende der drei, einer ihrer größten Vorzüge, wie Juli fand. Dennoch wurde ihr bei ihrem Anblick ein wenig flau zumute. Dass alle drei hier waren, bedeutete, dass sie sich nicht nur Sorgen machten, was ja im Grunde eigentlich ganz schön war, sondern dass sie vermutlich bereits konspirativ und selbstverständlich, ohne vorher mit Juli darüber zu reden, nach einer Lösung suchten. Einer Lösung, die sie selbst für genial hielten und gegen die selten jemand Einwände erheben konnte. Schon gleich gar nicht Juli.

»Da bist du ja endlich!« Martha schob sich an Lisbeth vorbei und blieb schließlich direkt vor Juli stehen. Als ihr deren Sportdress und die verschwitzten Haare ins Auge fielen, verrutschte ihr Strahlen für einen Augenblick ein wenig. Sie atmete vorsichtig ein und rümpfte dann die Nase. »Nun, ich denke, wir könnten heute auch mal … draußen bleiben«, sagte sie und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Julis Laufschuhe, als wäre Juli zu einer festen Verabredung absichtlich in den falschen Klamotten aufgetaucht und nicht zufällig vorbeigekommen. Aber Martha von Hellbach würde vermutlich auch nach einer Joggingrunde aussehen und riechen wie frisch geduscht. Wenn joggen nicht unter ihrer Würde wäre, wie beinahe alles, was zur Folge hatte, dass eine Frau nicht mehr aussah wie frisch aus dem Ei gepellt.

In ihrer rechten Hand hielt sie eine Flasche ihres Lieblingschampagners und in der linken vier Sektflöten.

»Also, Kind, wir müssen reden! Die Bridge-Ladies haben einen Plan.«

Juli hatte es befürchtet.

Martha strahlte. Kurzerhand drückte sie Pauline sowohl die Flasche als auch die Gläser in die Hand. »Geht schon mal voraus. Ich muss noch was holen«, sagte sie und verschwand im Flur.

Julis Mutter und Lisbeth machten sich sofort in Richtung Wintergarten auf, nur Juli konnte sich nicht so richtig aufraffen. Ein wenig unentschlossen stand sie auf der unteren Treppenstufe. Jetzt wäre ein geeigneter Moment gewesen, um irgendeinen mehr oder weniger sinnvollen Grund vorzutäuschen, um das Grundstück in Lichtgeschwindigkeit wieder zu verlassen.

Andererseits … manchmal waren die Ideen der Bridge-Ladies gar nicht mal so schlecht, und ein Glas Champagner mit Menschen, die ihr halfen, sich gedanklich nicht immer weiter im Kreis zu drehen, war womöglich sogar genau das, was sie jetzt brauchte.

Pauline wandte sich an der Hausecke noch einmal zu ihrer Tochter um, wobei die Sonne wie zufällig durch die grüne Seide ihrer langen Kaftanärmel schien.

»Kommst du?«, fragte sie.

Es war mehr ein Befehl mit sanfter Stimme als eine Frage. Das Glitzern in ihren Augen verhieß nichts Gutes. In diesem Moment bereute Juli es, dass sie sich für ihren Schweinehund entschieden hatte.

1

Mittwoch, 20. April 2022, Stuttgart – ziemlich genau 18 Jahre später

»Elvis?«

Martha schüttelte ein bisschen Katzenfutter in das hübsche blau-weiße Porzellanschälchen, das ihr Lisbeth zu ihrem Fünfundsiebzigsten vor drei Jahren geschenkt hatte, nicht ohne zu betonen, dass es aus der Meissner Manufaktur kam und genauso alt war wie Martha selbst.

Sie ging den Gartenweg entlang, durch das morsche Törchen und über die Straße, dorthin, wo die Schrebergärten begannen.

»ELVIS!«

Martha schüttelte den Kopf. Was war denn so toll daran, achtundsiebzig zu sein? Gut, vielleicht war es das für ein Schälchen, aber für eine alte Schachtel wie sie selbst war es einfach nur alt. Nicht kostbar, sondern zerbrechlich. Lisbeth würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie die Gedanken ihrer Freundin hören könnte. Sie würde sich vermutlich furchtbar aufregen, vor allem darüber, dass Martha den wahren Wert des Geschenks so wenig zu schätzen wusste, dass sie sogar ihre Katze daraus fressen ließ. Aber genau deshalb bereitete es Martha ja so eine diebische Freude. Außerdem war die Schüssel tatsächlich ziemlich hübsch. Genau wie ihr kleiner Kater.

Alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, bis auf Pauline und Lisbeth, waren längst tot. Juli reiste in einer Geschwindigkeit in der Weltgeschichte umher, die Martha schon immer schwindelig gemacht hatte, und dachte nicht im Geringsten daran, einmal zurückzukommen, sesshaft zu werden oder eine Familie zu gründen – wofür es im Übrigen natürlich ohnehin schon viel zu spät war, denn Juli war mit ihren zweiundvierzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste. Natürlich war Martha auch daran nicht unschuldig, immerhin hatten die Bridge-Ladies damals diese geniale Idee gehabt … Aber wer hätte denn damit gerechnet, dass Juli so lange dabeibleiben würde.

Nein, wie man es drehte und wendete, Martha war so einsam, dass sie sich manchmal sogar Arthur zurückwünschte. Altern war einfach nur was für Porzellanschüsseln.

Ihr Leben war ihr viel zu groß geworden und passte nicht mehr zu ihr, wie ein alter Pullover, der aus der Mode gekommen und löchrig geworden war. Ein Fall für den Kleidersack. Sie hatte keine Kraft mehr, ununterbrochen die Fassade der klugen, bissigen und unabhängigen Unternehmergattin aufrechtzuerhalten und auch die ihrer riesigen Villa begann zu bröckeln. Wenn sie Kinder hätte, wäre das alles anders. Hatte sie aber nicht. Hatte sie auch nie gewollt. Bis eben … gerade jetzt. Ein bisschen spät dafür. Nun, wenigstens gab es ja Juli.

Wenn sie nicht einmal im Jahr für eine komplette Woche bei Martha einziehen würde, um ihren Garten wieder einigermaßen in Schuss zu bringen, dann würde sie längst in einem Dschungel leben. Eine Schande war das. Alles. Und das einzige Lebewesen, das sie daran hinderte, sich von ihrem drei Millionen Euro teuren Balkon zu stürzen, war Elvis. Der kleine Kater, den Max, ihr ehemaliger Untermieter und in Ungnade gefallener ewiger Student, einfach so bei seinem Auszug in seiner Wohnung »vergessen« hatte. Wie auch seinen Müll. Und die merkwürdigen Kräuter, die fein säuberlich in Portionsbeutel verpackt hinter den Schuhschrank gerutscht waren. Nicht einmal eine Adresse hatte er ihr hinterlassen, an die sie die Briefe hätte weiterschicken können, die für ihn eintrudelten. Aber kein Wunder, dass er die nicht haben wollte – sie sahen alle höchst offiziell und nicht wirklich erfreulich aus. Letztlich war es gut, dass er weg war. Vielleicht verschwand irgendwann ja auch der seltsame Geruch, der immer noch in seiner Wohnung hing. Spätestens hoffentlich, wenn sie sie nächste Woche streichen lassen würde.

Martha hatte noch nie ein Tier gehabt, geschweige denn gewollt. Eine Katze schon gleich gar nicht. Die machten schließlich immer nur, was ihnen gefiel. Sah man ja an dieser hier. Und trotzdem hatte Martha nicht verhindern können, dass sich der kleine Kater zuerst auf ihr Lieblingskissen auf der Couch, dann auf ihren Schoß und schließlich in ihr Herz geschlichen hatte. Und nun war er weg.

»Elvis?«

Martha hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Er musste einfach wieder zurückkommen. Er und die Bridgenachmittage mit Willi, Lisbeth und Pauline hielten sie schließlich am Leben. Das musste man sich auch erst einmal eingestehen.

»Elvis, verdammt! Wo bist du denn, du kleiner Streuner?«

Sie drehte sich zum Nachbarsgrundstück, um zu sehen, ob ihr Nachbar Willi, aka Doktor Wilhelm Wenzelsberger, der alte Richter a.D., Marthas Fluchen gehört hatte, aber noch nicht einmal er stand wie sonst irgendwo in seinem Garten herum und schnippelte, sägte oder mähte. Oder langweilte sich, wie sie selbst.

Martha kickte einen kleinen Stein vom Gehweg, und lächelte kurz, als sie sich vorstellte, was er wohl dazu sagen würde. Oder Lisbeth. Sie hätte bestimmt Angst um den Lack an all den Luxuskarossen, die hier herumstanden. Pauline hingegen würde lautstark »Tor!« brüllen und irgendeinen verrückten Siegestanz aufführen, wenn sie getroffen hätte, so viel war klar.

Doch Marthas Fröhlichkeit verflog so schnell, wie sie aufgeflackert war, und machte Platz für etwas, das sie nicht so richtig greifen konnte. Sie schluckte die Tränen herunter, die sich hartnäckig ihren Weg nach außen bahnten, und schalt sich selbst als alte, sentimentale Frau, die so dumm war, einem Kater hinterherzulaufen, der vermutlich einfach nur das tat, was Kater eben so tun.

Martha räusperte sich und wischte sich unauffällig über die Augen. Sie hätte die Katze einfach sofort ins Tierheim bringen sollen. Sie griff in die Tasche ihres hellgrauen Kaschmir-Strickmantels und erschrak über ihre Nachlässigkeit. Dass sie kein Taschentuch dabeihatte, war unerhört. Dafür fand sie wenigstens ihr Handy und drückte auf Paulines Nummer.

»Englaender?« Pauline meldete sich sofort.

»Elvis ist weg!«, rief Martha ins Telefon anstelle einer Begrüßung. Es hörte sich immer noch ziemlich verzweifelt an.

»Wer ist da?«, fragte Pauline verwirrt.

»Nein, nicht da, sondern weg!« Martha schniefte.

Ungeduld mischte sich in ihren Kummer. Dass man auch immer alles erklären musste. Pauline war seit einiger Zeit einfach nicht mehr so richtig auf Zack.

»Es geht um Elvis«, wiederholte sie und bemühte sich um Geduld.

»Englaender«, sagte Pauline hartnäckig.

»Ich weiß, wie du heißt, Pauline.«

»Das ist ja schön.« Pauline lachte. »Sag doch gleich, dass du es bist, Martha!«

Natürlich hatte sie recht, andererseits war Martha davon ausgegangen, dass Pauline ihre Nummer erkannte oder wenigstens ihren Namen eingespeichert hatte. Sie irrte sich offensichtlich.

»Wenn du dich mit deinem Namen gemeldet oder mich sofort angeschnauzt hättest, dann hätte ich auch gleich gewusst, wer dran ist«, setzt Pauline fröhlich nach.

Im Hintergrund klapperte es. Pauline konnte einfach nicht still sitzen. Vermutlich dekorierte sie gerade zum hunderttausendsten Mal ihre Wohnung um oder probierte irgendein dramatisches Make-up aus, das sie dann vergaß abzuwischen, wenn sie nach draußen ging. Es war in all den Jahren ihrer Freundschaft nicht selten vorgekommen, dass Pauline mit einem zur Katze geschminkten Gesicht, einem Schnurbart oder blutunterlaufenen Augen zum Bridge und einmal auch auf Julis Elternabend erschienen war, weshalb Juli nur mit Mühe davon überzeugt werden konnte, überhaupt jemals wieder in die Schule zu gehen.

»Hast du mich denn nicht eingespeichert?«, fragte Martha missbilligend.

Bei so etwas fiel es ihr schwer lockerzulassen, und außerdem konnte sie es nicht leiden, wenn sich ihr Gesprächspartner nicht auf sie konzentrierte. Wenn bei Martha das Telefon klingelte, wusste sie sofort, wer dran war. Juli hatte es so eingerichtet, dass nicht nur der Name erschien, sondern auch ein Foto des Anrufers. Nicht, dass das von Belang war. Letztlich wusste sie, wie die Menschen aussahen, deren Nummer sie eingespeichert hatte.

Abgesehen davon telefonierte Martha sowieso viel lieber mit dem Festnetztelefon, da hatte sie wenigstens nicht das Gefühl, nebenher gleich noch ihr Gehirn zu grillen. Man musste schließlich auf seine grauen Zellen umso mehr aufpassen, je weniger davon noch übrig waren. Pauline ganz besonders. Sie schien schon einige davon über die Jahre verloren zu haben.

»Selbstverständlich habe ich dich eingespeichert, Martha«, erwiderte Pauline. »Aber ich kann doch nicht auf mein Display schauen, während ich mir das Ding ans Ohr halte, nicht wahr? Am besten wäre es, das Telefon würde den Namen des Anrufers nennen, anstatt so plötzlich und laut loszuschellen, dass man einen Herzinfarkt bekommt.« Sie kicherte.

»Ich kann ja in Zukunft leiser klingeln, wenn das für deine empfindlichen Ohren besser ist«, grummelte Martha.

»Das würdest du für mich tun, Martha? Also, wenn das geht … dann danke sehr!« Sie glaubte es wirklich. »Aber jetzt sag schon: Warum hast du mich überhaupt angerufen?«

Sofort kehrte der Kummer über die verschwundene Katze zurück. »Elvis ist weg«, wiederholte Martha leise.

Kurz blieb es still am anderen Ende, bevor Pauline auf ihre unnachahmliche Art und Weise losplapperte. »Wie meinst du das? Der Sänger? Und wieso weg? Ich dachte, er ist tot! Das heißt, man weiß es natürlich nicht. Vielleicht ist er ja auch …« Pauline räusperte sich und stimmte ein sehr tiefes »… In the Ghetto« an, bevor sie wieder zu lachen begann.

Wenn man sie nicht sah, konnte man meinen, sie sei immer noch fünfundzwanzig. Oder fünfzehn. Und wenn man sie sah und nicht zu nah ranging, dachte man zumindest nicht, dass sie schon siebenundsechzig war. Für einen winzigen Moment war Martha neidisch auf Paulines unbekümmertes Lachen und ihr fröhliches Wesen, das sie sich über die Jahre bewahrt hatte. Sie war immer noch ein hauchzarter, wunderschöner und sehr flatterhafter Zitronenfalter. Und Martha das genaue Gegenteil. Sie seufzte. Was war noch mal das Gegenteil von einem Schmetterling?

»And his Mama cries …!«, trällerte Pauline mitten in Marthas Überlegungen.

»Pauline, doch nicht dieser Elvis! Ich spreche von meiner Katze!« sagte Martha genervt. »Und ich finde das auch überhaupt nicht lustig!«

»Oh.« Das Kichern war weg. Sogar das Klappern hatte aufgehört. »Der Elvis.«

»Ganz genau.« Martha ließ das Katzenfutter noch ein bisschen in der Schüssel klimpern. Beide schwiegen für einen Moment.

»Und jetzt?«

»Keine Ahnung.« Martha schniefte noch einmal so unauffällig wie möglich. Heulen und kein Taschentuch dabeihaben … Sie war wirklich tief gesunken.

»Soll ich kommen und suchen helfen?«

»Das wäre … das wäre …« Martha spürte, wie ihr schon wieder die Kehle eng wurde. Es war eine Sache, dass Pauline unpünktlich, vergesslich, dauernd pleite und einfach völlig verrückt war – sie war auch die beste Freundin, die man haben konnte, und immer sofort zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde. »Das wäre wirklich großartig, Polly.«

»Alles klar, bin quasi unterwegs. Ich muss nur noch …« Es schepperte laut. »O nein, hat sich erledigt. Ich wollte mein Regal mit den Tassen neu sortieren, aber wie es aussieht, muss ich das nicht mehr.« Sie lachte. »Scherben fegen kann ich auch später.« Pauline war einfach durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

»Oh … okay.«

»Hast du Lisbeth schon Bescheid gesagt?« fragte Pauline, als ob ihr nicht gerade die halbe Kücheneinrichtung vor die Füße gefallen wäre. Martha wollte sich gar nicht vorstellen, wie es gerade auf dem Fußboden der winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung aussah.

»Nein, das mache ich jetzt sofort.«

Einerseits hätte Martha Pauline als Unterstützung völlig gereicht, andererseits wäre Lisbeth sicherlich beleidigt, wenn Martha sie nicht anrufen würde, zumal ihr ebenfalls des Öfteren die Decke auf den Kopf fiel, seitdem Richard im Januar gestorben war und sie mit den schrecklichen Jagdtrophäen alleingelassen hatte. Martha schüttelte sich. Schon allein wegen dem Eberkopf mit dem starren Blick musste sie Lisbeth anrufen und zu Hilfe bitten. Sie musste da unbedingt mal wieder raus.

Pauline hatte offensichtlich vergessen aufzulegen und so wurde Martha unfreiwillig Zeugin, wie sie ihre Wohnung verließ, noch einmal zurückkehrte, weil sie irgendetwas vergessen hatte, und schließlich ihr Fahrrad aufschloss, während sie weiterhin »In the Ghetto« trällerte.

Nachdem sie ein paarmal versucht hatte, ihre Freundin darauf hinzuweisen, indem sie laut Paulines Namen ins Telefon brüllte (was selbstverständlich ebenfalls unter ihrer Würde war, aber Gott sei Dank keiner hörte), legte sie auf und rief stattdessen Lisbeth an, die sehr erfreut versprach, sofort zu kommen. Trotz Kummer über den verlorenen Kater wurde es Martha gleich sehr viel leichter ums Herz. Sie kehrte ins Haus zurück, um dort auf ihre Freundinnen zu warten und eine Flasche Champagner auf Eis zu legen. Wenn sie schon zusammen waren, konnten sie später ja noch eine Runde Bridge spielen, auch wenn nicht Freitag war. Vielleicht war es Zeit, ein wenig entspannter mit der Einhaltung von Regeln, die das gesellschaftliche Miteinander betrafen, umzugehen.

Was für ein Glück, dass sie diese beiden Freundinnen hatte, dachte Martha, als sie Paulines Gesang schon vom anderen Ende der Straße hörte, bevor sie sie sah. Auch wenn sie es ihnen vermutlich noch nie gesagt hatte. Sie waren wichtiger, als jeder Mann es je hätte sein können. Ohne sie wäre dies nur ein weiterer trostloser und sehr langweiliger Tag gewesen. Gemeinsam war man definitiv weniger einsam. Schon allein das war doch ein Grund, mit dem Trübsalblasen aufzuhören. Dann musste nur noch Elvis wieder auftauchen und alles war gut.

2

Samstag, 23. April 2022, Stuttgart

Was Martha am Sternsingerweg hinter ihrem Haus immer besonders gemocht hatte, war, dass er mittendrin in einen Fußweg überging, der nicht befahren werden durfte, bevor er dann, nach ungefähr zweihundert Metern, wieder zu einer richtigen Straße wurde. Es war etwas Besonderes und es sorgte dafür, dass sich nicht allzu viele Autos hierher verirrten. Dementsprechend lebten nicht nur die Anwohner, sondern auch deren Katzen in einem kleinen Paradies. Aber Elvis war trotzdem immer noch nicht wieder aufgetaucht. Seit vier Tagen war er nun schon verschwunden. Martha dachte jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen an ihn und hörte nicht damit auf, bis sie abends wieder einschlief. Es war Frühling, überall duftete es für so eine kleine Katze sicher verheißungsvoll nach Abenteuer, und Martha konnte es ihm nicht verdenken, dass er seiner neugierigen kleinen Katzennase folgte. Sie hoffte einfach nur, dass ihm nichts passiert war oder dass er aus Versehen in einer Garage oder einem Keller gelandet war, wo ihn niemand miauen hörte.

Sie waren beinahe eine kleine Karawane, die seit ein paar Tagen allabendlich den Sternsingerweg entlangwanderte. Martha mit Lisbeths Keramikschüssel vorneweg, dahinter Pauline, Lisbeth und mittlerweile sogar Willi, der zwar Katzen nicht besonders mochte, Abendspaziergänge und Damengesellschaft aber schon. Pauline hatte sich bei ihm eingehängt und redete ohne Punkt und Komma, was Martha beides unangemessen fand. Dass er sie dabei so anstrahlte, war ebenfalls völlig übertrieben. Immerhin war Willi ihr Nachbar und so etwas wie ihr Freund. Sie siezten sich zwar wie am ersten Tag ihrer Begegnung vor etwas mehr als vierzig Jahren, aber sie benutzten die jeweiligen Vornamen. Wenn sie noch weitere vierzig Jahre warten würden, wären sie vermutlich beim Du. Dass es Pauline gelang, ihn so für sich einzunehmen, störte Martha gewaltig, und sie suchte nach etwas, womit sie ihn von Paulines rot lackierten Fingernägeln und den knallroten Lippen ablenken konnte, an dem er so gebannt hing.

»Aber Willi, sagen Sie, auch Katzen haben doch irgendwann mal Hunger, oder etwa nicht?«, fragte sie ihn einigermaßen verlegen. Nicht, weil sie sein Gespräch mit Pauline unterbrach, sondern weil ihr nichts Besseres einfiel.

Sie waren beinahe schon wieder auf dem Rückweg. Noch zwei Häuser bis zu Marthas morschem Gartentor und ein weiterer Abend würde vergangen sein, ohne dass Elvis wieder aufgetaucht war.

»Ich denke schon, Martha«, antwortete Willi freundlich wie immer. »Allerdings gibt es hier doch so viele Mäuse, da wird er sicher nicht so schnell hungrig.« Er lächelte sie kurz an, und wandte sich dann aber gleich wieder Pauline zu, um deren Hand zu drücken, die auf seinem Unterarm lag.

»Willi!«

Es war ihr nur so rausgerutscht, wirklich. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie sich über ihn so aufregte, aber Willi hatte glücklicherweise gar nicht bemerkt, dass sie sein Getätschel und nicht etwa seine Antwort meinte. Wobei die natürlich auch überflüssig gewesen war.

»Was denn?« Nun sah er Martha doch an. Wenigstens hatte er auch seine Hand von Paulines genommen. »Aber Martha, so aufgewühlt kenne ich Sie ja gar nicht?« Er lächelte. »Elvis ist ein Kater. Und die fressen nun mal Mäuse! Für ihre Nahrungsvorlieben bin ich glücklicherweise nicht verantwortlich!« Er zuckte mit den Schultern.

Pauline kicherte glockenhell über seinen Scherz und klatschte begeistert in die Hände. Martha ballte die Hände zur Faust. So lustig war es dann auch wieder nicht. Schlimmer als Teenager, dachte sie. Wenn das überhaupt ging.

»Wenigstens frisst er die Mäuse nicht von meiner kostbaren Keramik«, schaltete sich nun auch noch Lisbeth mit ein.

Das hatte Martha gerade noch gefehlt. Schlimm genug, dass der Kater fehlte, jetzt ging ihr auch noch die halbe Welt auf die Nerven. Pauline, Willi und jetzt auch noch Lissi, die immer noch beleidigt war, weil Martha Elvis aus ihrem kostbaren Geburtstagsgeschenk fressen ließ. Martha beschloss, ab morgen alleine nach ihrem Kater zu suchen.

»Wenn schon, dann frisst er von meiner Keramik, Lisbeth. Oder willst du sie vielleicht doch wieder zurück?« Martha streckte ihr die Schüssel entgegen.

»Nein, schon in Ordnung«, sagte Lisbeth gepresst. »Zu deinem nächsten Geburtstag bekommst du einfach einen Fressnapf aus Plastik, den kannst du ja dann für dich benutzen. Oder für mich, wenn es sowieso keinen Unterschied macht, ob man jetzt ein Mensch ist oder eine Katze.«

»Meine Güte, Lissi, bist du etwa eifersüchtig? Nun sei doch nicht so empfindlich!«, gab Martha zurück, während sie ein wenig schneller als sonst die Straße überquerte, sodass die anderen Mühe hatten, Schritt zu halten. Diesen Blödsinn würde sie sich nicht länger als unbedingt nötig anhören, so viel stand fest. Wie konnte man denn auf eine Katze eifersüchtig sein, fragte sie sich – und schob das unangenehme Gefühl beiseite, dass sie selbst auch ein wenig eifersüchtig war. Wobei, es war keine Eifersucht, sondern pure Scham über das irritierende und beschämende Verhalten ihrer verrückten Freundin und ihres alten alleinstehenden Nachbarn. So sah es nämlich aus. Eifersucht war ihr fremd. Sie war maximal die Hüterin des guten Benehmens.

»Und natürlich macht es durchaus einen Unterschied, ob man ein Mensch oder eine Katze ist. Zumindest, was die Kommunikation angeht.« Martha lächelte süffisant und kniff die Augen ein wenig zusammen. »Deshalb muss ich mir auch unbedingt überlegen, welche Gesellschaft mir lieber ist.«

Treffer, versenkt. Martha liebte gut gezielte spitze Bemerkungen. Lissi hielt sie dafür kaum aus.

»Also, wenn das so ist …«, Lisbeth verschränkte die Arme vor der Brust, »… dann kann ich ja auch gehen!«

»Meine Damen!«, unterbrach Willi das Gespräch mit seiner lauten Richterstimme.

Jede Freundlichkeit war daraus verschwunden. Er klang streng und – wenn Martha ehrlich war – auch ein wenig furchteinflößend. Wenn er seinen Gerichtshammer dabeigehabt hätte, hätte er ihn sicher benutzt, um für Ruhe zu sorgen. Martha beobachtete mit Genugtuung, wie er Paulines Arm losließ, nachdem sie bei seinen Worten zusammengezuckt war, dabei ging es endlich einmal nicht um sie. Warum nicht gleich so? Willi sah empört von Lisbeth zu Martha. »Ich muss doch sehr bitten! Sie sind schon so lange befreundet. Martha kenne ich nun schon über vierzig Jahre und fast so lange kenne ich auch Sie beide.« Er machte eine ausholende Handbewegung in Richtung Talkessel. »Das ist meine Stadt, mein Ausblick und, wenn man es so will, auch mein Leben. Ich habe immer nur gearbeitet und keine Zeit für eine Familie gehabt oder auch nur für Freundschaften wie die Ihre. Ich habe Sie über all die Jahre hinweg immer dafür bewundert, wie sehr Sie sich gegenseitig unterstützt haben. Und nun, im Spätherbst Ihres Lebens, riskieren Sie all das für … für … was? Einen Teller? Eine Katze?« Empört schüttelte er den Kopf. »Nein, das lasse ich nicht zu und …«

Pauline begann zu lachen. Irritiert hielt Willi mitten in seiner Ansprache inne. »Was ist denn so komisch, meine Liebe?«

»Im Spätherbst unseres Lebens, Willi«, zitierte sie ihn. »Das hast du aber schön gesagt! Hach, der Spätherbst meines Lebens! Da komme ich mir doch gleich vor wie ein Ahornblatt im Wind«, ergänzte sie und streckte die Arme aus, drehte sich mehrmals im Kreis und flatterte dann regelrecht auf die Straße, um auf die andere Seite zu gelangen, wo sie auf dem Bürgersteig weitertanzte.

Sowohl Martha als auch Lisbeth und Willi sahen ihr mit offenem Mund hinterher, bis sie einen SUV mit schwarz getönten Scheiben umrundet hatte, der dort parkte, und wieder zu ihnen zurückgeflattert war.

»Was? Was schaut ihr so?« Pauline streckte ihre Hände noch einmal mit nach oben gewandten Handflächen in den Himmel und drehte eine letzte schwungvolle Pirouette. »Ich finde, ihr tanzt zu wenig. Allesamt! Wenn ihr mehr tanzen würdet …« Sie nahm Willis Hände in ihre und versuchte, ihn zu einer Drehung zu bewegen, die er ein wenig unbeholfen mitmachte. »… dann wärt ihr viel besser drauf! Los, kommt schon!«

Es wurde immer schlimmer mit ihr. Kopfschüttelnd beobachtete Martha ein paar weitere von Paulines Flugübungen. Aber schließlich war wohl auch sie müde geworden und kehrte zu den dreien zurück.

»Hach, herrlich.« Pauline seufzte glücklich. »Ein Ahornblatt im Wind …« Sie strich sich lächelnd eine rote Locke aus der Stirn, bevor sie ihre Hand wieder auf Willis Arm legte. »Entschuldige. Was wolltest du sagen?«

Es dauerte einen Moment, bis Willi sich gefangen hatte.

»Wie dem auch sei«, fuhr er dann nach wie vor ein wenig irritiert fort und schüttelte den Kopf. »Das Leben ist viel zu kurz für Streit. Und dennoch gibt es genug davon.« Er seufzte. »Glauben Sie mir. Ich saß an der Quelle.« Sein Blick wanderte wieder zu Pauline und zu ihrer Hand auf seinem Arm. »Sie sollten Ihre Zeit nicht damit verschwenden. Wer weiß, wie viel davon noch übrig ist?«

Martha schluckte. Plötzlich war all der Ärger, den sie bis gerade eben noch so gespürt hatte, verschwunden. Auch Lisbeth sah betreten auf ihre Schuhspitzen. Noch nicht einmal Pauline sagte etwas. Willi hatte recht. Martha war wirklich nicht besonders nett zu ihren Freundinnen gewesen. Ganz besonders nicht zu Lisbeth. Dabei hatte sie es bestimmt gerade von ihnen allen am schwersten. Vorsichtig berührte sie ihre Freundin am Arm. Sie selbst hätte ganz sicher sehr unwirsch auf diese Form der Annäherung reagiert, aber Lisbeth war nicht nachtragend.

»Es tut mir leid, Lissi«, sagte Martha leise und meinte es auch so.

»Ist schon gut, Martha.« Lisbeth lächelte sie vorsichtig an. »Das Leben spielt uns ab und zu ganz schöne Streiche, nicht wahr? Aber eine Katze ist wirklich noch lange kein Grund für so einen Streit!« sagte sie versöhnlich.

»Nein, da hast du recht, Lissi. Und ein Teller erst recht nicht«, erwiderte Martha und biss sich sofort auf die Zunge.

Dass das nun wirklich nicht nötig gewesen wäre, sah sie an Lisbeths Gesichtsausdruck. Was war nur los mit ihr? Martha war schon immer bissig gewesen, das schon, aber nie bösartig. So wie sie jetzt gerade mit den liebsten Menschen, die sie noch hatte, umging, so konnte sie sich selbst nicht leiden. Martha machte nicht gern Fehler. Und auch nicht oft. Noch viel weniger konnte sie es ausstehen, sich zu entschuldigen. Es machte sie so durstig.

»Gehen wir rein. Ich habe uns was zu Trinken kalt gestellt. Und dann sollten wir uns überlegen, was wir Sinnvolles mit unserer Zeit anstellen können. Sinnvoller jedenfalls, als uns zu streiten.«

Sie wusste, dass sie selbst meistens diejenige war, die den Unfrieden anzettelte. Lisbeth war einfach zu gutmütig und Pauline zu leicht abzulenken, um ihr das auf Dauer übel zu nehmen. Vermutlich war sie eben einfach nur einsam und verbittert, wofür die beiden ja nun wohl am wenigsten konnten. Aber es war kein Zustand. Sie brauchten eine Aufgabe. Etwas, das ihnen allen Halt gab, und das Gefühl, nicht nur darauf zu warten, bis sie irgendwann ins Gras bissen.

Sie mochte vielleicht Entschuldigungen nicht, aber Pläne dafür umso lieber. Und schon allein das Wissen, dass sie das Problem identifiziert hatte, sorgte dafür, dass sich Martha gleich viel besser fühlte. Lebendiger. Geradezu energiegeladen. Ja, auch wenn sie Willis Geschmachte in Richtung Pauline beschämend fand und er ihr ab und zu mit seiner »Ich bin das Gesetz«-Tour gehörig auf den Keks ging, so hatte er doch auch manchmal recht. Sie lächelte, als sie sich auf der einen Seite bei Lisbeth und auf der anderen bei Pauline einhängte, während sie die Stufen zu ihrem Gartentor hinaufstiegen.

Eine Aufgabe. Genau. So trostlos, wie sich das Leben in den letzten Tagen angefühlt hatte, war es doch gar nicht. Und auch wenn ihr Lächeln sie noch ziemlich anstrengte, so fiel es ihr doch von Sekunde zu Sekunde leichter.

3

Samstag, 23. April 2022, immer noch Stuttgart

»A votre santé!«

Martha erhob formvollendet und mit abgespreiztem kleinen Finger ihre Champagnerflöte, um Lisbeth, Pauline und auch Willi zuzuprosten, den sie ja nun schlecht ausladen konnte, nachdem er sich schon so um sie verdient gemacht hatte. Sie wollte ihn auch auf keinen Fall loswerden, es war nur so, dass sie nach einem Blick auf die Flasche mit Bedauern festgestellt hatte, dass gerade noch ein Bodensatz darin war, und sie überlegte, ob sie schnell aufstehen und eine zweite auf Eis legen sollte. Lisbeth bemerkte ihren Blick und runzelte die Stirn, ohne etwas zu sagen.

»Was denn?«, fragte Martha gereizt.

Sie wusste, dass Lisbeth ein etwas schwieriges Verhältnis zu Alkohol hatte, seit sich ihr heiß geliebter Richard, der eine gewisse Vorliebe für Hochprozentiges hatte, mal bei einem Jagdausflug in den Fuß geschossen hatte. Aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, sich als Moralapostel aufzuspielen.

Pauline und Willi ließen die Gläser wieder sinken, die sie schon erhoben hatten. Trotzig hob Martha ihres noch ein wenig höher.

»Auf uns, auf die Gesundheit und darauf, dass wir so viel trinken dürfen, wie wir wollen.« Sie leerte das Glas in einem langen Zug. »Und auch, wann wir wollen.« Herausfordernd sah sie Lisbeth fest in die Augen, während sie sich den Rest der Flasche eingoss.

Sie hatte sich ihr Leben an Regeln und Konventionen gehalten, die ihr Mann und die Stuttgarter Gesellschaft ihr auferlegt hatten, und sie hatte sich nie darüber beschwert. Nun war sie zwar alt genug, um auf all das zu pfeifen, aber selbst auch überrascht, wie tief all diese Regeln in ihr steckten. Es gab nicht viel und hatte auch nie viel gegeben, was sie aus purem Vergnügen tat. Aber Champagner zu trinken gehörte dazu. Und wenn sich Martha Emilie von Hellbach mit achtundsiebzig Jahren endlich ein Laster gönnte, dann wollte sie sich das nicht ausgerechnet von ihrer Freundin vermiesen lassen, verdammt noch mal.

Martha bekreuzigte sich für das »verdammt noch mal«, obwohl sie es noch nicht einmal laut gesagt hatte, während die anderen drei sie erstaunt anstarrten. Das Sankt Agnes, das katholische Gymnasium für Mädchen, hatte seine Spuren hinterlassen. Sie setze das Glas an die Lippen und trank.

Pauline nahm ebenfalls einen großen Schluck. »Auf die Bridge-Ladies!«, sagte sie fröhlich und prostete Martha und Lisbeth zu. »Und natürlich auch auf Willi«, ergänzte sie und klimperte mit den Wimpern.

»Herzlichen Dank, liebe Polly«, antwortete er. »Ich fühle mich geehrt.«

Wie bitte? Er nannte sie schon bei ihrem Lieblingsspitznamen? Täuschte sich Martha, oder wurde der alte Richter dabei rot?

Lisbeth trank einen winzigen Schluck. Dann stellte sie ihr Glas auf den Tisch ab und fuhr und mit dem Fingern über den Rand, bis es quietschte und sie es erschrocken sein ließ.

»Weißt du, Martha«, sagte sie nachdenklich, »es geht ja nicht darum, wann wir wie viel trinken, sondern aus welchem Grund.« Sie versuchte zu lächeln, aber in Marthas Augen sah es eher aus, als würde sie schon wieder gleich zu weinen anfangen. »Richard hat immer gesagt …«

Der Seufzer war Martha entwischt, ohne dass sie es verhindern konnte. Wenigstens hatte sie nicht auch noch die Augen verdreht. Die Haltung zu verlieren war in Marthas Wahrnehmung eine große Schwäche, allerdings hatte sie auch bemerkt, dass das Alter und Alleinleben einen nicht unbedingt zu einem toleranteren und geduldigeren Menschen machte. Ganz im Gegenteil. Erstaunlich war es dennoch, dass ausgerechnet die sanftmütige Lisbeth Martha mit einer Leichtigkeit aus der Fassung brachte, die sie selbst schockierte. Nun musste sie nicht nur mit einer Standpauke rechnen, sondern auch mit einer weiteren Litanei darüber, wie sehr Lisbeth ihren Mann vermisste und wie schwierig das Leben ohne ihn war. Dabei war er in Marthas Augen der langweiligste Mensch aller Zeiten gewesen. Bei Richard hörte Lisbeths Sanftmut nämlich auf. Am liebsten hätte Martha noch einmal geseufzt, aber das zornige Funkeln in Lisbeths Blick verhinderte das.

»Ich weiß, dass du Richard nicht mochtest, Martha, und damit kann ich leben«, brach es auch schon aus ihr heraus. »Aber ich habe ihn geliebt, und es ist mein gutes Recht zu trauern. Wenn schon nicht wegen ihm, dann könntest du das wenigstens mir zuliebe akzeptieren. Und mir außerdem, wie es für eine Freundin angebracht wäre, zur Seite stehen. Aber vielleicht sind wir ja gar keine Freundinnen, Martha. Vielleicht gibt es in deinem Leben niemanden, der dich wirklich interessiert, außer … dir selbst!«

Lisbeth war aufgestanden. Ihre Wangen hatten eine rosige Farbe bekommen, ihre Augen funkelten und ihre Haare lagen längst nicht mehr in ganz so festzementierten grauen Wellen um ihr schmales Gesicht. Martha fand, sie hatte schon lange nicht mehr so gut ausgesehen.

»… und vielleicht dieser Kater mit dem dümmsten Namen der Welt!«

Lisbeth schob ihren Stuhl an den Tisch und versuchte, ihre Handtasche von der Lehne zu nehmen, wobei sich der Taschenbändel verhakte und sie den kompletten Stuhl umwarf.

Martha kicherte.

»Aber eines sage ich dir, Martha von Hellbach …!« Sie stellte den Stuhl wieder auf.

»Was denn?« Marthas Kopf fühlte sich angenehm leicht an, wie immer, wenn sie Champagner getrunken hatte. Fehlte noch, dass ihre miesepetrige Freundin ihr die Laune verdarb.

»Also, was sagst du mir denn?«, wiederholte sie, nachdem Lisbeth keine Anstalten machte, ihren Satz zu Ende zu sprechen. Martha stützte ihr Kinn auf ihre Hände und klimperte erneut mit den Wimpern. »Du traust dich ja doch nicht!« Das war gemein, das wusste sie. Aber es stimmte auch.

»Martha!«, schaltete sich Pauline ein, die bisher nur stille Beobachterin gewesen war.

Und auch Willi schüttelte empört den Kopf. »Was ist denn nur los mit Ihnen?«

Meine Güte. Da saßen sie alle drei, an ihrem Tisch, in ihrem Haus, tranken ihren Champagner, verbündeten sich gegen sie und fragten dann, was los war?

»Nichts? Was soll denn mit mir los sein? Ich wollte mit meinen Freunden anstoßen und einen schönen Abend verbringen. Und nun muss ich feststellen, dass meine Freunde da ganz anderer Meinung sind. Oder …«, sie machte eine kleine Pause und sah alle drei der Reihe nach mit zusammengekniffenen Augen an, »… dass wir vielleicht gar keine Freunde mehr sind.« So. Jetzt war es raus.

»Martha! Jetzt hör aber auf!« Pauline stieß Marthas aufgestellten Arm an, sodass Marthas Kinn nach unten abrutschte und sie unfreiwillig heftig nickte. Peinlich. Pauline kicherte. »Bist du betrunken?«

Martha sah sie böse an. »Natürlich nicht.«

Wenn man mal von dem leichten Gefühl im Kopf absah. Aber betrunken? Sie doch nicht. Sie trank nicht viel. Gut, in letzter Zeit vielleicht ein wenig öfter oder auch regelmäßiger oder auch schon mal früher, aber nie so, dass es auffiel. Sie hatte keinen Kater und überhaupt gab es keinen Grund, sich zu rechtfertigen. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass ein winziger Hauch eines schlechten Gewissens sich in ihre Wahrnehmung stahl.

Sowohl Lisbeth als auch Pauline und Willi sahen sie aufmerksam an.

»Was denn?«, fragte sie zum dritten Mal. Waren sie wirklich schon wieder beim selben Thema?

»Ich kann doch trinken, so viel ich will!«

Sie sah, wie Lisbeth Willi einen Blick zuwarf, den Martha nicht deuten konnte, bevor sie sich wieder hinsetzte und ihre Hand sanft auf Marthas legte.

»Du kannst zwar trinken, so viel du willst, Martha, aber wir machen uns trotzdem Sorgen um dich.« Lisbeth hielt einen kurzen Moment inne, als ob sie abwarten wollte, ob Martha ihr nicht doch ins Gesicht sprang, bevor sie fortfuhr. »Das machen Freunde so.« Sie betonte das Wort »Freunde« ganz besonders. »Was ich vorher sagen wollte, war, dass es schon möglich ist, dass du glaubst, Spaß zu haben. Aber braucht es dazu unbedingt Champagner?«

Lisbeth schluckte. Willi tätschelte aufmunternd ihre Hand, und Martha wurde sich plötzlich bewusst, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, ihr das so direkt ins Gesicht zu sagen.

»Und weißt du, Martha,« fuhr sie fort, »ich beobachte das schon eine Weile.« Sie sah schuldbewusst aus, vermutlich fühlte sie sich auch nicht gut dabei. »Es ist immer alles gut, wenn Juli hier ist. Aber das ist sie nicht mehr sehr oft.« Lisbeth zuckte mit den Schultern. »Was ich auch sehr schade finde. Aber so ist das nun mal.« Bedauernd sah sie zu Pauline. »Ich weiß, dir fehlt sie auch. Schon klar. Wenigstens hattest du ja dann Elvis.« Sie schüttelte den Kopf und grinste. »Meine Güte, der Kater ist ja wirklich niedlich, aber können wir ihn denn nicht umbenennen? Ich finde es gruselig, so über ihn zu sprechen! Hat jemand Elvis gesehen? Elvis, Süßer, komm lass dich kraulen!« Sie verdrehte die Augen. »Ich meine, wer nimmt uns denn noch ernst? Drei alte Weiber, die durch Stuttgart laufen und nach einem toten Sänger rufen, als würden sie glauben, dass er lebt und sich hier versteckt hält!«

Obwohl sie wütend auf die drei war, konnte Martha nicht verhindern, dass sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. Und ihre Fantasie spuckte sofort ebenfalls Sätze aus, die man besser nicht in der Öffentlichkeit sagte: »Elvis, mein Guter, du darfst heute bei mir schlafen!«, ergänzte sie und fing an zu kichern. »Also ganz unter uns, ich finde ja, Elvis hat einen prächtigen Schw …«

Bevor Martha den Satz zu Ende sprechen konnte, fing Pauline bereits an, laut zu lachen. »Also, wenn jemand so etwas sagen kann, dann ja wohl ich!«

»Wieso?«, fragte Lisbeth sofort. »Hast du ihn denn persönlich gekannt?«

»Wen? Elvis?« Pauline grinste. »Selbstverständlich. Ihn und seinen …«

»Pauline!«

»… Friseur, wollte ich sagen!« Sie probierte einen unschuldigen Augenaufschlag, der ihr gründlich misslang.

Nun lachten alle drei. Nur Willi war die ganze Zeit sehr still gewesen. Ihm war das alles offensichtlich äußerst peinlich.

Martha schob ihm die Schale mit Salzmandeln rüber, die sie noch in der hintersten Ecke ihres Küchenschrankes gefunden hatte. Da legte Lisbeth erneut ihre Hand auf Marthas.