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Tobias Haarburger

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Beschreibung

Die Erde erwärmt sich und verändert sich fundamental. Das Klima gerät außer Kontrolle. Die Politik kämpft dagegen an. Doch was getan wird bleibt halbherzig und selbstbezogen. Zweifler an den Veränderungen und Profiteure der bisherigen industriellen Methoden stemmen sich mit aller Kraft gegen die Veränderungen. Paul, der Erbe eines Unternehmens, das unterzugehen droht, muss es in die neue Zeit führen. Diana ist die weitsichtige Managerin, welche die Von Hernsbach AG aus der Kunststoffindustrie in das Post-Fossile Zeitalter führt. Diana zieht die Entscheidungen an sich. Mit klugen Investitionen gelingt ihr das enorme Kapital neu anzulegen. Paul verliert die Kontrolle über die Firma. Er muss kämpfen und dabei Diana halten. Der Lobbyist und Fondsmanager Thomas Watson spinnt Intrigen gegen die Änderungen in der Politik und er wird der Feind Pauls.

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Tobias Haarburger

In meines Vaters Haus

Wirtschaftsthriller über den Klimawandel

Die Erde erwärmt sich und verändert sich fundamental. Das Klima gerät außer Kontrolle. Die Politik kämpft dagegen an. Doch was getan wird bleibt halbherzig und selbstbezogen. Paul, der Erbe eines Unternehmens, das unterzugehen droht, muss es in die neue Zeit führen.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Tobias Haarburger

In meines Vaters Haus

Roman

Für Birgit,

die mich zu diesem Buch inspiriert hat

© Tobias Haarburger, 2022

Impressum: Tobias Haarburger,

Emdenstrasse 2, 30167 Hannover

https://www.haarburger.de

Auflage 1

Herausgeber: Tobias Haarburger

Autor: Tobias Haarburger

Umschlaggestaltung, Illustration: Tobias Haarburger

Veröffentlicht über tolino media

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die medizinischen und psychologischen Beschreibungen in dem Roman sind laienhaft. Sie dienen der dramaturgischen Entwicklung des Stoffes. Bestimmte kurze fachliche Abschnitte, sind aus dem Internet entnommen. Sie verschwinden in der Handlung. Quellen werden nicht angegeben.

Der Roman wurde im August 2020 fertig gestellt und im Januar 2022 veröffentlicht.

Kapitel 1

Es würde einen gewaltigen Sturm geben, wie man ihn noch nicht erlebt hatte. Seit Tagen regnete es. Der Himmel blieb schwarz. Die Meteorologen sagten voraus, dass dieser Sturm zwei Tage lang seine Kraft entfalten würde. Über den Regen war man froh, es mangelte an Wasser, doch der Sturm würde die einfachen Häuser, die Ställe und die Weidezäune der Umgebung zerstören.

Die Überschwemmungen würden Brücken mit sich reißen, Fahrzeuge einschließen, das Vieh würde ertrinken, sofern man es nicht auf höhere Flächen brachte und die einfachen Strommasten, die aus Holz waren, würden umknicken.

Der Sturm sollte noch stärker werden, als jener, der vor einem Jahr schon den größten Schaden, an den man sich erinnern konnte, angerichtet hatte. Die Ebene, in der die Talsperre lag, würde dieses Mal im Zentrum des Sturmes liegen. Der Notstand wurde ausgerufen, doch was würde das Nützen? In der portugiesischen Region Algarve lebten 450.000 Menschen. Wer sollte sich um all die Zerstörungen kümmern?

Die Talsperre war das wirtschaftliche Rückgrat. Sie produzierte Strom für den ganzen Süden Portugals und speicherte das Trinkwasser und das Wasser für die Felder. Hunderte Menschen waren über den Staudamm beschäftigt. Alles was nicht fest war, würde durch die Luft gewirbelt werden. Nach draußen könnte man während der zwei Tage nicht gehen. Man musste was man besaß, sich selbst überlassen. Der Stausee hatte eine gewaltige Fläche und er fasste 130 Millionen m³ Wasser. Bersten konnte er nicht, das war unmöglich, doch die Stromversorgung des Distriktes Faro und anderer Distrikte bis nach Portalegre würde in Gefahr sein.

Leandro Almeida konnte nicht schlafen. Wann genau würde der Sturm genau losgehen? Der Wind war stark geworden. Es war Januar und 24 Grad warm. So war es noch nie. Maria ging seit Stunden unruhig durch das Haus. Ihre beiden Kinder, João und Ana lebten in Lissabon, sie waren Studenten. In Lissabon würde es nicht so schlimm werden, hieß es in den Nachrichten.

Maria hatte dennoch um sie Angst um sie. Einmal schon, hatte sie die beiden, die in einem Studentenwohnheim lebten, angerufen. Sie saßen mit anderen beisammen, hatten Kerzen bereitgelegt und waren guter Dinge. Maria hörte, wie jemand Gitarre spielte. Doch nun war es Nacht geworden und Maria rang mit sich, sie ein zweites Mal anzurufen. Sie bereitete Tee, setzte sich an den Küchentisch, stand wieder auf, sah aus der Haustür und schloss sie schnell wieder, als der Wind hereindrückte. Danach ging sie zu Leandro und brachte ihm eine Tasse.

»Wo willst du jetzt hin, Leandro?«, fragte sie sorgenvoll, als Leandro nach dem ersten Schluck begann seine Stiefel anzuziehen, die an dem Durchgang zur Haustür standen. Er sagte nichts, Maria würde protestieren.

»Leandro, wo willst du denn jetzt hin, der Regen hat zugenommen«, wiederholte Maria mit einer so großen Furcht in ihrer Stimme, dass sie fast flüsterte. Sie stellte sich gegen die Haustür.

»Ich muss die Anlage prüfen, die Verankerung«, antwortete Leandro knapp. Er schob Maria zur Seite, öffnete die Tür, sah entlang der schmalen Straße, die zu ihrem Haus führte und die sich mit Wasser zu füllen begann. Er sah zu den Olivenbäumen, die karg neben ihrem Haus auf einer kleinen Anhöhe standen und während der letzten Jahre wenig abgeworfen hatten. Jetzt ließ der Wind die Äste brechen. Zweige lagen weit verstreut auf den Wiesen. Die niedrigen Stämme drohten umzukippen. Was war das für eine Welt geworden, in der die Natur ihr Leben bedrohte? Als Leandro in den dunklen, grollenden Himmel sah, dachte er an die Apokalypse.

»Leandro, bitte, bleib hier. Ist dir die Anlage wichtiger, als es dein Leben ist?«

Leandro brummte mürrisch, dass das natürlich nicht so wäre und er müsse eben nur einmal kurz nachsehen. Die Verankerung war die Schwachstelle und sie machte Leandro seit Tagen Sorgen, seit der Sturm angekündigt worden war. Die Anlage war eine der größten der Welt. Sie hatte gewaltige Ausmaße, mehrere hundert Meter in jede Richtung.

Die Lago de Eucalipto Talsperre war wie geschaffen für eine schwimmende Solaranlage. Zehn Jahre vieler und teurer Versuche lagen hinter dem Wasserverband und der Universität. Es ging immer nur um die Verankerung, niemand hatte Erfahrung damit. Der Stausee war über 50 Meter tief. Wie sollte man die riesige schwimmende Insel befestigen? Am Ende entschied man sich für schwimmende Anker. Würden sie die großen Flächen halten?

Diese Windlasten waren neu, jedenfalls mit dieser enormen Kraft. Alles war mehrmals berechnet worden. Dann war man sich über die Anzahl und die Art der Schwimmer sicher. Leandro wollte hinausfahren und über die Stege gehen. Er hatte einen Plan, nach dem er Prüfen musste und aus dem jede Stelle hervorging, die er zu kontrollieren hatte.

»Bleib hier!«, rief Maria verzweifelt hinaus in den Sturm. Ihre Stimme überschlug sich. Leandro war schon auf dem Weg zu seinem Auto. Er befreite es von den Ästen, die sich auf der Seite angesammelt hatten, stieg ein, schlug mit beiden Händen die Tür gegen den Wind zu. Dann fuhr er los.

Es würde nur zehn Minuten dauern. Die Stelle, an der er den ersten Steg betreten wollte lag nahe. 320 Megawatt waren installiert. Es befanden sich weit über eine Million Module auf den Plattformen. Leandro spürte vom ersten Tag an die Last der Verantwortung für dieses gewaltige Projekt, auf das ganz Portugal sah. Während der kurzen Fahrt dachte er an die Feier der Inbetriebnahme, die ein halbes Jahr zurück lag.

Er war stolz darauf, zum Betriebsleiter berufen worden zu sein. Der portugiesische Energieminister war gekommen und die Honoratioren der Region. Leandro dachte an ihre beiden Kinder, João und Ana. Maria und er waren glücklich über sie. Beide waren talentiert und gewissenhaft und würden ihren Weg gehen.

Vorsichtig das Tempo im Schritt haltend lenkte er seinen Wagen zu der Abzweigung, an der er auf den Feldweg einbog. Langsam rollte er über die schlammige Zufahrt, die sanft hinunter zum Ufer führte.

Er rollte an die Stelle, die den Zugang zu dem zentralen Steg bildete. Dort stand ein Auto, ein Kollege, oder jemand von der Universität vielleicht, aber der Wagen war ihm nicht bekannt. Leandro stellte den Motor nicht ab. Die Scheinwerfer würden ihm helfen über den Steg zu finden.

Er stieg aus, schloss seinen Anorak und setzte seine Mütze auf, die ihm Ana aus England mitbrachte, als sie in Manchester einen Englischkurs absolvierte. Er zog die Verschnürung an seinen Stiefeln fest, betrat den Steg und begann ihn entlangzugehen.

Weit hinten, am anderen Ende, zwischen dem ersten und dem zweiten Segment, sah er undeutlich zwei Männer. Sie wandten Leandro den Rücken zu. Zügig, so schnell er in der Dunkelheit gegen den Regen und den Wind vorankam, ging er schwankend, sich an den Sicherungsseilen haltend nach vorne, bis vor das Ende des Steges. Als er näherkam, sah er, dass sich einer von Ihnen mit einem Bolzenschneider an der Drahtverankerung zu schaffen machte.

»Was macht ihr da!«, rief er in den Sturm hinein. Sie hörten ihn nicht. Dann trat er einen Schritt nach vorne und stand dicht hinter den beiden Männern. Sie durchtrennten die Verankerung. Leandro starrte auf sie. Die schwimmende Anlage reichte so weit nach hinten in den See hinein, dass er ihr Ende nicht sah. Nun bemerkten sie ihn. Leandro sah wie versteinert auf das, was die beiden anrichteten.

Er brauchte einen Moment, um das Ausmaß der Katastrophe, welche die beiden Fremden anrichteten, zu realisieren. Es würde bei dem Sturm lange, bestimmt eine Stunde dauern, alle Anker zu durchtrennen. Die am Rande des Segmentes liegenden Reihen der Plattformen, mit den verschraubten Modulen an denen sie sich zu schaffen machten, würden in die Luft gehoben, dann die weiter dahinter liegenden Reihen, sie würden auf die nächsten fallen und so weiter. Die Anlage würde zerstört werden.

Die beiden Männer mit dem Bolzenschneider trugen Wollmützen, wie sie bei Seeleuten oder Soldaten üblich waren. Leandro schoss eine Fotografie einer japanischen schwimmenden Anlage durch den Kopf, bei der das passiert war. Das ganze System drohte durch den Sturm, der ja erst begann, zerstört zu werden.

»Was macht ihr, seid ihr verrückt?«, rief Leandro durch den Wind den beiden zu. Einer der Männer richtete sich auf und drehte sich Leandro zu. Durch den Regen sah er Leandro an, als wolle er ihn fragen, was er hier zu suchen habe. Leandro wich zurück. Der Fremde zog ein Messer aus einer ledernen Scheide, die an seinem Gürtel hing und folgte Leandro, das Schwanken des Steges ausgleichend.

Einem Reflex folgend wich Leandro weiter zurück. Er konnte nicht begreifen was dort geschah. Er drehte sich um und lief fieberhaft und breitbeinig, so schnell er konnte, ohne sich in der Eile abstützen zu können, den Steg zurück. Seine Gedanken rasten. Er erreichte das Ufer. Leandro war außer Atem. War der Unbekannte ihm gefolgt? Er wandte sich um. Nein, er war in der Mitte des Steges stehen geblieben und sah zu ihm hin. Keuchend stützte sich Leandro mit beiden Armen auf seine Knie. Da sah er in der Dunkelheit jemanden auf ihn zukommen. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Leandro richtete sich auf.

Der Unbekannte, der auf dem Kopf eine Art von militärischem Barett trug, hob eine Waffe, ein Jagdgewehr an und richtete es auf Leandro. Er trug einen dunklen gewachsten, langen und schweren Mantel, der bis zu den Schäften seiner Stiefel reichte. Er wurde von hinten, von Leandros Wagen angestrahlt, was seine Umrisse abgrenzte und ihn noch unheimlicher aussehen ließ. Er näherte sich Leandro und blieb direkt vor ihm stehen. Sein Gesicht war finster. Seine Wangen hatten scharfe Züge und zwischen seinen Augen waren tiefe Furchen zu erkennen. Er trug schwarze lederne Handschuhe.

Leandro durchzuckte es, er zitterte, er erfasste nicht und erfasste doch was geschah. Sein Leben würde in diesem Augenblick enden. Leandro blickte auf das Gewehr. Ihm fehlte der Wille wegzulaufen.

»Nein, was tust du da? – nicht«, abwehrend riss er seine Hand hoch. Die beiden Schüsse hörten nur die Männer mit dem Bolzenschneider. Der Fremde blickte Leandro fast eine Minute mit bleiernem Gesicht an. Leandro lag reglos auf dem schlammigen Boden. Das Jagdgewehr hielt er auf ihn gerichtet. Dann rollte er ihn hinunter zur Böschung, rollte ihn weiter in das Wasser, stieg hinein und schob den toten Körper unter die erste Reihe der Plattform, die sich leicht anhob. Der Sturm nahm zu. Der Fremde stellte den Motor von Leandros Wagen ab.

Sie arbeiteten noch eine halbe Stunde weiter. Irgendwann musste jemand kommen und den Vermissten suchen.

Die drei stiegen in ihr Auto und entfernten sich von der schwimmenden Solaranlage am Lago de Eucalipto. Sie trockneten so gut sie konnten ihre Gesichter. Keiner sprach ein Wort. Sie fuhren über die große Brücke Puente Internacional del Guadiana und waren nach zwanzig Minuten in Spanien. Nach zwei Stunden erreichten sie Sevilla. Unterwegs, in dem kleinen Örtchen La Palma del Condado übergaben sie ihren Wagen an jemanden, der ihnen einen spanischen Mietwagen überließ und fuhren weiter zum Flughafen.

Alle Flüge waren gestrichen. Sie mussten weiter, konnten nicht warten. Sevilla lag zu nahe an Portugal. Nach sechs Stunden, es war fünf Uhr geworden, erreichten sie den Flughafen Madrid-Barajas. Der Fahrer ließ die beiden anderen aussteigen, gab den Mietwagen ab und folgte ihnen in die Abflughalle. Sobald sie den Flughafen betraten, kannten sie sich nicht mehr. Alle drei verschwanden in den Flügeln des großen Abflugbereiches.

Sie würden zu drei verschiedenen Zielen nach England fliegen. Die schwimmende Solaranlage Lago de Eucalipto, eine der größten der Welt, hatte der Sturm zerstört. Durch den Fund von Leandros Leiche und die durchtrennten Ankerkabel war es offensichtlich was geschehen war.

Kapitel 2

Den letzten Abend verbrachte Paul alleine. Er hatte sich eine Stunde im Fitnessbereich verausgabt. Trotz der Hitze draußen war es zwischen den Geräten so kühl, dass er nicht schwitzte. Er zog Bahnen in der Schwimmhalle und streckte sich auf einer Liege aus. Ein Bildschirm zeigte Sportnachrichten. Paul nickte sofort ein. Als er erwachte, ging er auf sein Zimmer, zog eine beige Hose an streifte ein helles Polo-Shirt über und schlüpfte in seine Segelschuhe.

Er verließ sein Zimmer und wartete vor einem gläsernen Fahrstuhl. Er blickte hinaus auf die sich in der Sonne spiegelnden hunderte Fenster der Wolkenkratzer und die eng bebaute Marina. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl hinunter in den untersten Stock. Er wandte sich dem Restaurant zu, ging den Flur an den Schmuckvitrinen vorbei und wählte einen Tisch, von dem aus er den Hafen vor sich liegen sah. Paul lehnte sich zurück und genoss den Anblick, erst dann nahm er sich die Karte und bestellte einen Hummersalat. Am Vormittag war er aus Muscat angekommen. Paul mochte nicht sofort weiterfliegen. Die vier Wochen, die hinter ihm lagen, waren ereignisreich und hatten ihn angestrengt.

Er sah sich um. Das Restaurant erstreckte sich fast über das gesamte Untergeschoss des Hotels. Es war kaum besucht. Paul saß an einem kleinen Tisch, weit entfernt von anderen Gästen. Etwas abwesend blickte er in die Weinkarte und bestellte einen 2011er Saffredi, dessen Rebsorten sich aus Cabernet Sauvignon, Merlot und einem kleinen Anteil Syrah zusammensetzten und den er in aller Ruhe und Besinnlichkeit genießen wollte.

Im Laufe dieses letzten Tages, bevor er nach Frankfurt zurückreisen würde, erhöhte sich in Abu Dhabi die Temperatur auf 40° Celsius. Es war Mitte Januar. Für gewöhnlich waren es in dieser Zeit 20°, bisweilen nur 15°. Man sprach davon, dass es im Sommer 55° oder gar noch heißer werden würde. In den anderen Städten, die er in den vergangenen Wochen besuchte, war es ebenso. Die Temperatur war gespenstisch hoch geworden. Hinaus ins Freie zu gehen, um sich dort auch nur wenige Minuten aufzuhalten, war ab März nicht mehr möglich, wurde ihm gesagt. Man konnte von einem Gebäude kaum noch zu einem Carport gelangen. Paul fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Kühlung im Fahrzeug einsetzte.

Lange saß er vor seinem Glas. Er dachte an die Universität. Sein Abschluss lag zwei Jahre zurück. Er lebte ein anderes Leben. Die Leichtigkeit, die Freiheit keine Verantwortung zu tragen, waren vorbei. Paul dachte mit Wehmut an seine Zeit als Student.

Er hatte sich an vieles gewöhnen müssen. Manchmal graute ihm davor, was vor ihm lag. Welche gewaltige Verantwortung auf ihn zukommen würde. Von seinen Kommilitonen wurde er als reicher Sprössling angesehen. An der Universität Frankfurt, am Institut für Volkswirtschaftslehre war er nicht der Einzige, der aus einer vermögenden Familie stammte.

Nach dem Master wollte er in Princeton promovieren. Er galt als talentiert und sein Professor verschaffte ihm eine Stelle.

Nach einem halben Jahr rief Ottos Sekretärin an. Otto sagte nicht viel, wie es seine Art war. Komm zurück Junge, sagte er, ich brauche dich hier. Die Ökonomischen Theorien, um die es in Princeton ging, halfen Paul auch nicht, jedenfalls nicht für das, was ihn erwartete. Otto hatte keinen Sinn für akademischen Dünkel, obwohl er selbst in Chemie promovierte.

In der Mitte des Tisches stand eine kleine Vase, in der ein Veilchen steckte. Dieses Veilchen mochte eine lange Reise aus Kenia hinter sich haben, dachte Paul, mit dem Flugzeug war es gekommen. Es wirkte einsam auf dem quadratischen Tisch mit dem weißen Tischtuch. Die Wirklichkeit hatte mit den hochtrabenden Theorien wenig zu tun. Menschen in die Augen zu sehen und sie zu entlassen strengte auf eine andere Weise an, als in einer Klausur zu sitzen. Paul wusste, was vor ihm lag. Es ging um 5.000 Mitarbeiter. Immer wenn er daran dachte, wurde ihm flau im Magen. Wie viele Jahre der Freiheit blieben ihm noch? Sein Telefon summte.

»Hallo Paul, Wie geht’s dir? Wie läuft es am Golf? Du bist auf dem Weg zurück, nicht?« »Hi Alex! Ja also…du klingst gestresst«, sagte Paul und legte die Gabel an den Rand des Tellers.

»Wir hatten eine wirklich sehr lange Besprechung, fast acht Stunden. Am Ende haben wir den Auftrag bekommen. Die anderen sitzen im Biergarten. Ziemlich warm hier, ich meine draußen, 20 Grad.« Alex machte eine Pause und trank etwas. »Verdammt, wir haben Januar...« Er nahm noch einen Schluck. »Was soll‘s, du kennst mich…, ich denke lieber daran, wie es weiter geht.«

»Was meinst du, wie es weiter geht?«

»Mit dem Auftrag. Wir werden eine App für eine Fluggesellschaft programmieren, ziemlich komplizierte Sache. Die wollen, dass man über das Mobiltelefon buchen kann, mit allen speziellen Funktionen.« Alex und Paul redeten weiter über das neue Projekt.

»Wo bist du denn? Noch in Muscat?«

»In Abu Dhabi. Hier haben sie 40 Grad, es ist unglaublich. Der Körper passt sich zwar normalerweise an die Umgebung an, ob das aber unter diesen Bedingungen noch funktioniert, kann ich mir nicht vorstellen.

Ich frage mich sowieso, ob die großen Kältemaschinen, die nennen sie hier Chiller, die hier überall installiert sind, die Hitze überhaupt noch in den Griff bekommen. Sie sind dafür einfach nicht konstruiert worden.«

»Hm das ist krass, am Golf war ich ja noch nicht. Ziemliche Scheiße, was da auf uns zukommt… Wie geht’s dir denn sonst, warst vier Wochen unterwegs, immer noch dasselbe?« Paul wurde unruhig bei dieser Bemerkung.

Sie schwiegen beide. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie mitten in einer Unterhaltung schwiegen. Sie kannten sich buchstäblich seid sie im Sandkasten gespielt hatten.

Alex hieß mit vollem Namen Aleksandar Vlado Jočić. Seine Familie stammte aus Jugoslawien, als es das noch gab. Sein Vater arbeitete auf dem Bau. Mit 50 starb er an Lungenkrebs, er war Kettenraucher. Alex war 22.

Paul und er machten zusammen Abitur und schrieben sich an derselben Universität ein. Paul für Volkswirtschaftslehre, Alex für Informatik. Obwohl Alex aus einfachen, fast ärmlichen Verhältnissen stammte, machte er Pauls Verhältnisse nie zum Thema. Sie vertrauten sich, fast wie Brüder.

Alex hatte immer Geld, schon als Kind. Er trug Werbung aus. Später handelte er mit gebrauchten Fahrrädern. Mit 17 gründete er eine Firma, die Internetseiten erstellte und bei Google Werbung beriet. Inzwischen hatte Vlado Consulting 20 Angestellte. Er galt als Geheimtipp. Schnell, effizient und zuverlässig war sein Motto.

Paul hörte wie Alex auf seiner Tastatur tippte. Er öffnete währenddessen eine Nachrichtenseite auf seinem Mobiltelefon, scrollte durch. Nach einer Weile redeten sie weiter.

»Ja immer noch dasselbe, keine Ahnung wie es weiter geht.«

»Du hast diese ganzen Firmen aufgelöst, wie war das?«

»Ganz ehrlich, ich habe das einfach durchgezogen. Die Leute waren natürlich sauer und enttäuscht. Sie meinten, sie hätten keine Chance in nur zwei Jahren Fuß zu fassen. Es gibt aber einfach keinen Markt für unser spezielles Granulat. Ein paar sind extra aus Indien an den Golf gezogen, haben eine Familie. Natürlich helfen wir denen, wobei die schnell was anderes finden werden.

Mir ist klar geworden, dass man das trennen muss, das Soziale und das Konzept der Firma. Ich habe gelernt, das Ganze zu sehen, den ganzen Konzern. Systematisch Verluste zu machen ist tödlich. Man investiert, man de-investiert, so ist das eben.

Die hier das Sagen haben, denken alle so. Ich war beim Handelsminister in Riyad, wollte nicht, dass was auf uns zurückfällt. Der ist ein alter Hase, Dr. Ibrahim Mafood. Die Firmen stehen bei denen Schlange.«

Alex hörte aufmerksam zu. »Ok, du musst mir das erzählen. Vielleicht wäre das was für uns, ich meine in den Emiraten oder in Saudi zu investieren.«

»Ja ganz bestimmt, ihr passt hierher. Ich rufe den Handelsminister nochmal an, wenn du willst.

Alex, ich muss Schluss machen, muss mal vor die Tür.«

»Alles klar, bis dann.«

Paul dachte nach, über was sie gesprochen hatten, über die Hitzewellen und - über Diana. Er aß zu Ende und schrieb seine Zimmernummer auf die Rechnung, gab Trinkgeld, verließ den Tisch und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch in die Lobby. Vorsichtig, instinktiv die Temperatur prüfend, trat Paul aus dem Hotel und machte sich auf den Weg zu einem Spaziergang entlang der Uferpromenade.

Es war neunzehn Uhr und die Sonne war untergegangen. Paul schlenderte am Ufer entlang, eine niedrige Mauer trennte den Weg vom Meer. Die wenigen Sträucher bewässerte man sorgsam mit Tropfschläuchen, damit deren winzige Blätter ihr Grün behielten. Dann sah er den Vollmond und blieb stehen.

Der Mond lag rund und milchig über der stillen See. Paul setzte sich auf eine Bank, schlug ein Bein über das andere und genoss dieses Bild, das sich vor ihm auftat. Es war einer jener Momente, den man teilen, an dem man sich gemeinsam erfreuen wollte und dessen Anblick, wenn man alleine war, etwas sehnsüchtig Trostloses hatte.

Ob sie auch zum Mond sah? Die vier Wochen am Golf waren nicht schnell vergangen. Nun musste er noch für Otto, seinen kleinen Sohn, der eineinhalb Jahre alt war, und Mathilde, die sie alle Tilda nannten, Geschenke kaufen. Immer wieder hatte er das aufgeschoben. Es blieb ihm nur noch der Flughafen. Paul nahm sich vor, noch zwei Kilometer weiterzugehen und dann umzukehren. Im Hotel würde er ein weiteres Mal duschen.

Vieles ging ihm durch den Kopf. Es wartete eine neue Aufgabe auf ihn. Ab dem nächsten Montag sollte er eine Geschäftseinheit übernehmen, deren Leitung besonders anspruchsvoll war. Er wäre für 700 Mitarbeiter zuständig. Es war ihm nicht wohl dabei. Paul fühlte sich überfordert. Er hatte keine Erfahrung im Tagesgeschäft. Er musste mit Otto sprechen. Natürlich konnte er das so nicht sagen, nicht so einfach, er wäre noch nicht soweit und dergleichen. Noch immer war er es, der Senior, der von seiner Villa aus, die er kaum mehr verließ, alles Wichtige entschied.

Paul fragte sich in diesem Augenblick, was er Tilda mitbringen könnte. Ihm fiel nichts ein. Er mochte nicht an sie denken. Während der vier Wochen sprachen sie am Telefon nur jeweils am Freitagabend. Sie plauderten über Belanglosigkeiten und vermieden es beide, irgendetwas zu erwähnen, was eine Diskussion über ihr Verhältnis hätte auslösen können. Tilda und er spürten, wie künstlich ihre kurzen Gespräche geworden waren und wie beladen die Atmosphäre zwischen ihnen blieb.

Sie waren dreißig Jahre alt, beide, und seit zwei Jahren verheiratet. Sie passten zusammen, generell. In den letzten Monaten hatte sich eine unheilvolle Distanz zwischen ihnen gebildet. Paul ging Tilda aus dem Weg, wann immer er konnte. Er schämte sich dafür und ihm war bewusst, dass es seine Schuld war. Er war unaufrichtig und ihm war klar, dass ihr das, was in ihm vorging, ihr nicht verborgen bleiben konnte.

Sie konnte es beobachten, mit wenigen Blicken nahm sie alles auf. Paul hatte bemerkt, dass Tilda kurz nach ihrer Hochzeit schon klar geworden war, was in ihm vorging. Wenige Gesten von Paul genügten.

Sie empfand wohl eine große Hilflosigkeit. Was blieb ihr zu tun? Tilda gab Paul zu verstehen, sie beschloss abzuwarten. Sie fügte sich, ohne aufzubegehren in ihr Schicksal, was immer kommen mochte. Nachdem Tilda lange nachgedacht hatte, sagte sie Paul, sie sei zu dem Schluss gekommen, dass stillzuhalten für sie die einzige Möglichkeit war, um Paul zu helfen und ihn zu halten.

Paul war nicht zu feige Tilda zu sagen, wie es war. Doch schon seit langem versuchte er das, was er empfand, loszubekommen, zu ersticken, irgendwie. Er litt selbst am meisten unter seinen Gefühlen.

Er hatte nichts dazu getan. Es war einfach geschehen, gegen alle Vernunft, hatte langsam begonnen und irgendwann war ihm bewusst geworden, dass er Diana liebte. Er liebte sie so, wie ein Mann eine Frau nur lieben konnte.

Er musste diese Gedanken, die nun wiederkamen, ihn lähmten und ihm den Schlaf raubten, verscheuchen, jetzt sofort. Er durfte nicht wieder stundenlang in diese Gefühle, in diese Sehnsucht hineinfallen. Im Laufe der Zeit hatte er sich ein Bild zurechtgelegt.

Es war so, dass Diana für ihn wie eine Glut war, eine Glut aus Kohle, die ewig glimmen würde. Er sah auf diese Glut, mit ihren grünen und roten Farben, was für ihre Augen und ihr Haar stand, wie sie funkelten und er stellte sich die Wärme vor, die sich aus der Glut bildete.

Paul entwickelte die Fähigkeit die Glut, wenn sie auftauchte, zu verscheuchen. Eine Glut tat nichts, sie war einfach da, blass und schimmernd. Eine Glut konnte man neben sich ertragen, vor allem wusste man, dass sie eines Tages erlöschen würde, wenn sie keine Nahrung, keinen Sauerstoff mehr fand. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein. Meistens gelang es ihm mit Hilfe dieser Vorstellung die Sehnsucht, während der er sich unablässig Bilder von Diana machte, zu beenden. Paul fühlte sich hilflos wie ein Gefangener.

Es wäre das Einfachste, Diana zu entlassen. Ihr eine großzügige Abfindung zu geben und sie kurzerhand bei einem befreundeten Unternehmen unterzubringen. Vielleicht würde sie nicht einmal begreifen, warum das geschah. Aber wie sollte er das tun? Er müsste gegenüber seinem Vater und vor allem gegenüber Otto gestehen, was war.

Beide schätzten Diana und förderten sie. Vielleicht würde sie es zur Finanzchefin des gesamten Konzerns bringen. Diana wurde von allen gelobt und gemocht. Von ihren Mitarbeitern, vom Betriebsrat und eben auch von Otto, was sie unantastbar machte und auch von seinem Vater, der die Firma formell leitete.

Es war unmöglich etwas gegen sie zu sagen. Das Einzige wäre … wenn er selbst mit jemandem sprechen könnte, ihr ein attraktives Angebot für eine Stelle zu machen. Aber Paul fiel niemand ein, der nicht sofort zum Telefonhörer greifen und seinen Großvater anrufen würde. Paul kehrte um, es wurde ihm zu warm. Er bekam Durst. Der dichte Verkehr der Straße, die neben ihm verlief, störte ihn. Zügig schlug er die Richtung zum Hotel ein.

Was empfand Diana selbst? Sie mochte seine Befangenheit spüren, wie nervös er in ihrer Gegenwart war. Wie er sich beim Sprechen verhaspelte, was sonst nicht seine Art war. Natürlich nahmen das auch andere zur Kenntnis. Es wurde getuschelt, doch niemand wagte gegen Ottos Enkel etwas zu sagen.

Vielleicht war es Diana unangenehm, vielleicht fühlte sie sich geschmeichelt, vielleicht fühlte sie sich aber auch belästigt. Er begegnete ihr nicht so oft, das heißt, eigentlich schon. Es gab Tage, da spürte er ein solches Verlangen sie zu sehen, dass er in ihr Vorzimmer ging, vorgab mit ihrer Assistentin etwas besprechen zu müssen, wobei er recht einfallsreich vorging und hoffte, sie würde ihn hören und aus ihrem Zimmer heraustreten. Das geschah auch immer wieder und Paul wertete das als ein vages und nicht genau zu bestimmendes Interesse ihrerseits, immerhin.

Vielleicht war es aber nur Neugierde und sie fragte sich, was er schon wieder in ihrem Vorzimmer zu erledigen hätte. Sie duzten sich, wie es mittlerweile alle auf ihrer Ebene taten.

Hörte er, wie sich die Tür zu ihrem Büro öffnete, konnte Paul nicht anders als ihr sofort, manchmal ruckartig seinen Kopf zuzuwenden. Er sah ihr rotes Haar, wie die Locken um ihren Kopf wippten. Diana hatte einen dynamischen Gang.

Paul sah in ihr schönes, helles Gesicht, auf ihren fein gezeichneten, immer roten Mund und auf ihre Hände, die voller Sommersprossen waren. Sie hatte wunderschöne Hände, schlank, elegant und weiß waren sie. Paul liebte ihre Farben, die helle Haut, das rote Haar und die grünen Augen.

Er sah auf ihren weißen Hals, der von drei zarten Linien durchzogen war, er sah an ihrem Körper entlang und wenn sie sprach und er ihre dunkle Stimme hörte, verlor er alle Sicherheit und ein warmes Gefühl stieg in ihm auf und sein Hals wurde trocken.

Oft trug sie ein teures hellblaues oder cremefarbenes Kostüm. Den Blazer pflegte sie zu öffnen. Paul fragte sich, ob sie das wegen ihm tat. Ihre Bluse spannte, auch ihr Rock. Sie war weiblich, sie war eine Frau.

Diana Robinson war vierzig Jahre alt. Sie stammte aus Manchester. Diana leitete das Controlling einer der großen Geschäftseinheiten. Sie war zehn Jahre älter als Paul. Vielleicht hatte seine Verrücktheit nach ihr damit zu tun. Er fand keine schlüssige Antwort darauf. Er wusste nur eines, er liebte diese Frau.

»Hallo Paul, wie geht es dir?«, pflegte sie ihn munter zu fragen, wenn er sich einmal wieder unerwarteterweise in ihrem Vorzimmer aufhielt und sah kurz lächelnd zu ihm. Dann blickte sie zu ihrer Assistentin, sagte ihr etwas und legte einen Stapel Papiere in ein Fach.

»Danke, sehr gut.« Meistens brachte Paul nicht mehr hervor als dies wenige, wenn sie ihn ansprach und er um Worte rang. Die Situation schien ihr ein Vergnügen zu machen und einmal tauschte sie einen amüsierten Blick mit ihrer Assistentin aus, während Paul fast angefangen hätte über das Wetter zu sprechen, doch fiel ihm ein, dass er sich dadurch zu erkennen geben würde, weil er das Gespräch ohne einen Grund zu haben verlängerte und unterließ die sinnlose Bemerkung, dachte dann aber, als er das Vorzimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, dass dies keinesfalls so war und man selbstverständlich auch über das Wetter sprach.

Paul ging zurück, an der Straße und am Meer entlang, dessen Farbe er nicht mehr erkennen konnte. Die Masse des Meeres, des Wassers beruhigte ihn. Doch die Hitze drückte erbarmungslos auf ihn wie ein Stempel, der mit kräftiger Hand auf ein Blatt Papier gepresst wurde. Die Luft war feucht. Man würde sich in dieser Stadt, die so enorm gewachsen war, nicht mehr im Freien bewegen können. Nicht einmal im Januar in der Dunkelheit.

Es gab Momente, da hatte Paul Angst vor diesem Phänomen, das unbarmherzig wurde und eine unbestimmte Furcht auslöste. Wie würde sich alles entwickeln? Die Erde drohte zu verglühen. So musste man das empfinden.

Das war zu einer bitteren Wirklichkeit geworden. Paul ging auf sein Zimmer und surfte gedankenlos und missgelaunt im Internet. Dann kühlte er sich unter der Dusche. Um elf Uhr legte er sich hin.

Paul stand früh auf. Er ging nochmal in das Fitnesscenter. Die Lobby des Hotels war groß wie eine Konzerthalle. Der marmorne Fußboden wurde rund um die Uhr gewischt. Blumenbouquets rahmten jeden der drei mächtigen Tresen, hinter denen jeweils vier Mitarbeitern der Rezeption freundlich und effizient mit gesenkten Stimmen arbeiteten ein. Die Empfangschefin dirigierte sie wie ein Orchester. Alles war eingespielt wie ein Räderwerk. Man war perfekt in Abu Dhabi, wenn es um das Wohl der Gäste ging.

Höflich steckte eine aus Indien stammende junge Frau, deren Frisur so glatt geknotet war, dass es aussah, als wäre es kein Haar, sondern ein angehefteter schwarzer Ball, Pauls Abrechnung in einen Umschlag und fragte, ob er ein Taxi zum Flughafen benötigen würde. Zuletzt fragte sie: Ob sie ihm und seiner Gattin einen Prospekt für den Sommer zuschicken dürften, Paul bejahte. Alles war geschmeidig und eloquent.

Als er am Flughafen ankam, kaufte er für Otto ein aufblasbares Flugzeug der Gesellschaft, mit der er flog. Was Tilda anging, war er ratlos. Einen Schal, Schmuck, eine Uhr oder einen Bildband vielleicht? Er entschied sich für einen Bildband, Oasen im Emirat Abu Dhabi. Als er vor der Kasse wartete, trat er jedoch zurück und legte das Buch wieder in das Regal. Danach ging er missgelaunt den langen Weg zum Gate. Was sollte sie damit anfangen? Es würde sie verletzen, ein Buch mit einem so belanglosen Inhalt zu bekommen, das Paul offensichtlich aus seiner Ratlosigkeit heraus, weil ihm nichts Besseres einfiel, für sie gekauft hatte.

Kapitel 3

»Wie war deine Reise?« Paul traf im Fahrstuhl auf Hendrik, den Leiter der Konzernentwicklung. Er ließ Paul keine Zeit zu antworten. »Wir haben eine Besprechung, um zehn Uhr.« Paul war das bekannt, er würde selbstverständlich teilnehmen. »Sogar Otto wird dabei sein. Du kommst doch auch?«

»Ja, sicher.« Paul verstand die Frage nicht. Man tuschelte, dass im letzten Monat der Auftragseingang stark eingebrochen sei. Schon seit einem Jahr sah man mit Sorge auf diesen Trend. Paul hatte sich die Zahlen, als er in Muscat war, angesehen.

»Man hat alles sehr vertraulich behandelt«, sagte Hendrik, mit wichtiger Miene, gleichzeitig vorwurfsvoll schnaubend, als hätte er mit all dem nichts zu tun. Seine Absätze berührten sich und sein Rücken stand steif wie ein Besenstil. Neuerdings trug Hendrik einen Drei-Tage-Bart, der sein Kinn noch mehr hervorquellen ließ, als es ohnehin der Fall war.

Der Fahrstuhl war angekommen. Hendrik ließ Paul ohne weitere Worte zu machen stehen und ging beflissen, in der linken Hand seine Aktentasche tragend, die rechte ausladend schwenkend mit kurzen Schritten und zur Seite geneigtem Kopf den Flur entlang.

Paul folgte ihm zögerlich. Er wollte eine weitere Unterhaltung vermeiden. Hendrik schien sich nicht dafür zu interessieren, wie es am Golf gelaufen war. Paul dachte nicht weiter darüber nach. Wie war jemand wie Hendrik in diese Position gekommen, fragte sich Paul. Er war einer jener die mitschwammen, ohne jemals etwas falsch zu machen und das in dieser wichtigen Funktion. Sie hatten Dutzende mit dieser Eigenschaft.

Es war früh und Paul würde außer ihm niemanden auf seinem Flur antreffen. Er betrat sein kleines Büro, hängte sein Sakko in den Schrank, befüllte gedankenlos, wie er es jeden Morgen tat, die Kaffeemaschine, steckte den Filter in den Trichter, startete die Maschine und nahm lustlos Platz. Er entnahm seinen Computer aus seinem Rucksack, presste ihn in die Docking Station und loggte sich, ohne nachzudenken, in das Netz ein. Paul legte seine Beine auf die Kante seines Schreibtisches, was er noch nie gemacht hatte.

Er überflog, seinen Kopf zur Seite gewandt die E-Mails, die in den letzten Tagen eingetroffen waren. Es waren viele Nachrichten und praktisch alle kamen von denen, die er entlassen hatte und waren voller Vorwürfe. Paul presste seine Lippen zusammen. Er klappte seinen Rechner zu und faltete seine Hände.

Einer musste es tun und sie sahen ihn als zukünftigen Vorstandsvorsitzenden des gesamten Konzerns.

In zehn Jahren vielleicht, oder fünfzehn. Paul schob den Gedanken von sich, wenn er aufkam. Sein Vater war 56 und würde noch lange arbeiten.

Einer musste die Niederlassungen schließen und das tat Paul. Eine nach der anderen. Überraschend für die dortigen Angestellten, wie man so etwas eben tun musste. Ohne eine Regung, ohne Gefühle zu zeigen. Er war alleine, das heißt, in Riad begleitete ihn ein Sicherheitsdienst. In Riad wussten sie nichts von ihm und in Riad konnte jemand verschwinden wie ein Sack Mehl von der Rampe eines Bäckers.

Paul begann in Kuwait, dort blieb er zwei Tage. Dann reiste er nach Manama, dann nach Riad und von dort nach Muscat. Zuletzt flog er nach Abu Dhabi. Ausgerechnet in den Vereinigten Arabischen Emiraten hatte der Verkaufsleiter, der vor zwei Jahren die ganzen Niederlassungen registrierte, kein Büro eröffnet. Er war ein Dilettant.

Das Ganze war eine fulminante Geldverschwendung und dass Otto, dem noch nie ein solcher Fehler unterlaufen war, dies zuließ, verstand niemand. Vielleicht war es seine Unkenntnis die Region betreffend, vielleicht hatte man ihm frei erfundene Zahlen vorgelegt, vielleicht war er auch einfach nicht aufmerksam und alt geworden. Den Verkaufsleiter für Middle East und Afrika hatte Otto nach dem ersten Geschäftsjahr entlassen.

Otto wünschte, dass jemand aus der Familie das abwickelte. So traf es Paul, er kam als einziger in Frage. Natürlich ließ sich die krasse Fehlentscheidung in der Belegschaft nicht verheimlichen. Es wäre auch nicht auf so ein Missfallen gestoßen, wenn Otto nicht entschieden hätte eintausend von fünftausend Stellen abzubauen. Vielleicht drohte noch mehr.

Die Stimmung in der Belegschaft, bei den Gewerkschaften und dem Betriebsrat war schlecht. Einzelne Mitarbeiter wurden missmutig und schrieben Beschwerden an den Betriebsrat und an Otto. Allerdings musste jedem klar sein, dass das Unternehmen in dieser Ausrichtung und mit den aktuellen Produkten nicht überleben würde. Es gab wenig Fluktuation, die Loyalität der Mitarbeiter war groß. Die Von Hernsbach KGaA saß, abgesehen von einer Ausnahme, ohne Innovationen, ohne neue Ideen und ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie es weiter gehen könnte, in der Old-Economy fest, wie ein Karren im Schlamm.

Otto war 83 und er hatte es versäumt die neue Zeit zu erkennen. Sein patriarchalischer Stil trug dazu bei, was Otto aber nicht einzusehen vermochte.

Paul dachte an die Besprechung, die gleich beginnen würde. Wahrscheinlich war heute der Tag der großen Offenbarung. Er entnahm den Kaffee, holte nebenan Milch und goss die größte Tasse voll, die er fand. Vielleicht würde es aber auch ein Tag wie jeder andere werden.

Otto war unberechenbar und selbstherrlich. Es würden sich dieselben Führungskräfte treffen, von denen die Hälfte keine sein sollten, weil sie überfordert waren und es nur aufgrund ihrer Routine und ihrer bräsigen Zuverlässigkeit in die jeweiligen Positionen brachten, an die sie sich klammerten wie Affen an eine Stange. Vielleicht lag hier sogar der Kern der ganzen Misere. Nur Menschen, die sich unterordneten, konnte Otto ertragen.

Derselbe Kaffee und dieselben trockenen Butterbrezeln mit zu wenig Butter würden aufgetragen, dieselbe Reihenfolge wäre in der Tagesordnung gelistet und dieselben Mitarbeiter würden zu spät kommen und achtlos abwinken, wenn ihnen vorwurfsvoll entgegengeblickt wurde. August leitete diese Besprechungen. Otto hatte lange nicht mehr teilgenommen.

Vermutlich war es doch der Tag, an dem noch viel drastischere Maßnahmen als die Freisetzung der tausend Mitarbeiter, vielleicht sogar eine Übernahme aus China, das Schreckgespenst aller Angestellten, bekannt gegeben wurde. Paul las eine Notiz des Controllings.

Sozialpläne gab es am Golf nicht. Paul ließ durch Wirtschaftsprüfer eine Schlussbilanz für jede Niederlassung erstellen, entfernte sämtliche Vollmachten, wo immer diese eingetragen waren, vor allem bei den Banken, löschte die Firmen aus den Handelsregistern, schrieb den Sponsoren einen kurzen Brief, was alle angesichts der ausbleibenden geschäftlichen Erfolge mit Gleichmut aufnahmen, kündigte die Mietverträge der Büros und reiste weiter.

Paul hatte in der kurzen Zeit viel darüber gelernt, was ein Unternehmen ausmachte, welche Abhängigkeiten es gab und wie ein Konzern prinzipiell strukturiert zu sein hatte. Mit der Rechtsabteilung blieb er in engem Kontakt. Ohne deren Unterstützung wäre er verloren gewesen.

Natürlich waren sämtliche Angestellten sofort informiert worden, als Paul in Kuwait aus dem Nichts auftauchte und mit den Schließungen begann. Aber irgendwie hoffte jeder seine Niederlassung wäre nicht betroffen. Ein so drastisches Vorgehen, eine Nacht der langen Messer, wie es anschließend jemand ausdrückte, konnte sich niemand vorstellen.

Die Pakistaner und Inder, die vor zwei Jahren eingestellt wurden, waren alle qualifiziert und erfahren, daran lag es nicht. Sie schrieben nun die Beschwerden. Sie fühlten sich ausgenutzt, falsch eingesetzt, oder gar hinters Licht geführt. Es war das gesamte Konzept, das gescheitert war. Diese Angestellten würden schnell etwas anderes finden, dachte Paul. Angesichts der nachlassenden Konjunktur am Golf blieb das jedoch ein Wunschdenken. In der Regel waren die Mitarbeiter loyal. Sie erwarteten dasselbe von ihrem Arbeitgeber und blieben Jahre treu.

Paul sagte nicht, dass es ihm leidtäte, denn so war es nicht. Er bot an, die Angestellten könnten das Geschäft selbst übernehmen. Er bot sogar eine Finanzierung für die ersten sechs Monate an, aber – alle lehnten ab.

***

Keiner wagte es zu spät zu erscheinen. Im Raum war Stille. Minutenlang wurde kein Wort gesprochen. Jeder blickte vor sich hin oder bewegte die Maus seines Notebooks hin und her. Niemand schenkte sich Kaffee ein oder griff nach den Brezeln.

Jetzt erschien Otto. Neben ihm ging Diana. Den wenigsten war aufgefallen, dass sie sich nicht im Raum befand. Paul fiel es sofort auf. Auch bemerkte er, dass der Finanzvorstand abwesend war. Paul saß vorne, seitlich von Ottos Platz, der sich wie gewohnt an das Tischende setzen würde. August, sein Vater, kam eine Minute vor Otto und setzte sich Paul gegenüber. Nun trat also Diana neben Otto ein und Paul war klar, was das bedeuten würde.

Otto war in den letzten Jahren in eine unerklärliche Exzentrik verfallen, die nicht zu seinem Alter passte. Niemand konnte sich erklären, was in ihm vorging.

Er trug einen Sun Yat-sen Anzug. Der war vor allem durch seinen Stehbundkragen und über seinen zweiten berühmten Träger, Mao Zedong, bekannt geworden. Der Anzug entsprang einer Mischung aus einer Uniform und chinesischer lokaler, bäuerlicher Kleidung. Er hatte zwei aufgenähte Brusttaschen und zwei seitlich aufgenähte Seitentaschen.

Jede Brust- und Seitentasche war mit einer Patte versehen und wurde mit einem Knopf verschlossen. Der Kragen besaß einen engen und kurzen, umgeklappten Falz. Die Jacke wurde mit fünf zentrierten Knöpfen bis oben eng an den Kragen verschlossen. Die Betonung lag auf einer Symmetrie und Ausgewogenheit.

Ottos noch volles, graues Haar war nach hinten gekämmt und er trug seine durch ein massives Gestell geprägte Brille. Vor einigen Jahren war er anlässlich einer Reise nach China auf den Anzug und diese Erscheinung gekommen. Was ihn genau dazu bewogen hatte, war niemandem bekannt. Hatte es mit der dortigen Führungsklasse oder einer plötzlichen Vorliebe, anders zu sein, zu tun?

Sein Auftreten war seit seinem Besuch in China insgesamt wunderlich geworden. In seinem großen Büro befanden sich auf einmal japanische Bonsai- Bäume. Eine Ying und Yang - Darstellung hing an der Wand, daneben ein christliches Kreuz. Eine große Landkarte Chinas hing nicht weit entfernt und eines Abends hörte er traditionelle chinesische Musik.

Portraits einer Pipa-Spielerin, einer Guzheng-Spielerin und einer Sheng-Spielerin waren entlang des Besprechungstisches aufgehängt. Weitere Dinge wie chinesische Masken befanden sich in seinem Aktenschrank.

Was Otto in seinem fortgeschrittenen Alter bewog, diese Leidenschaft zu entfalten, war unerklärlich. Otto war nie viel gereist. Er mochte das nicht. Er bevorzugte es, wenn die Geschäftspartner zu ihm kamen und er sie in seiner Villa bewirten konnte.

Nur die wenigsten internationalen Niederlassungen hatte er besucht. Vielleicht lag darin der Ursprung für seine plötzliche, wenn auch späte Neugierde für die ferne, wieder aufblühende Kultur. Andererseits, so einfach konnte die Erklärung nicht sein.

August fragte ihn einmal in Bezug auf den blauen Anzug, ob er der chinesischen kommunistischen Partei beigetreten wäre, was Otto trocken bejahte. Niemand der damals Anwesenden verstand, ob die Antwort ernst gemeint war. So wie er sich gab, würde Otto nicht zögern den ganzen Konzern an die Chinesen zu verkaufen.

Otto schritt mit der Würde des Patriarchen entlang des Tisches. An seinen exzentrischen Aufzug hatten sich seine Mitarbeiter gewöhnt. Er trug gummierte Sohlen, die auf dem Parkettboden kein Geräusch machten. Er schritt wie ein Krokodil, geschmeidig und bereit zuzubeißen. In der peinlichen Stille hörte man nur Dianas Schuhe, wie sie aufsetzten. Diana nahm gegenüber von Paul, neben August Platz. Sie öffnete eine Präsentation. Otto blieb stehen. Er sagte nichts, sah auf seine Mitarbeiter, von rechts nach links.

»Guten Tag zusammen.« Einige raunten kaum vernehmbar ein »Guten Tag.«

»Wie Sie alle wissen, steht unser Unternehmen finanziell schlecht da.« Für eine Sekunde schloss er seine Augen, dann sagte er:

»Sehr schlecht, um es offen zu sagen.« Otto machte eine Pause, sah kurz in die Runde und dann vor sich hin.

»Ich habe entschieden, das Unternehmen nicht komplett zu verkaufen, was viele vielleicht befürchtet haben mochten, sofern sie über unsere Situation nachdachten, jedenfalls nicht das gesamte Unternehmen, meine ich …« Otto räusperte sich. Es kam Bewegung unter die Teilnehmer, einige blickten sich an, andere sahen verdrossen auf den Tisch.

»… was ich aber beschlossen habe ist, wir müssen - und zwar aus eigener Kraft - das gesamte Unternehmen auf neue Beine stellen.« Otto gab Paul ein Zeichen, er möge ihm Wasser einschenken.

»Wir stehen mit Abstand vor der größten Herausforderung, ich meine wir alle, das ganze Land, Europa, einfach alle.« Jeder sah so arglos wie er konnte in den Raum. Was meinte Otto?

»Der Klimawandel, die kolossale Veränderung unserer Umwelt.« Otto sprach langsam mit seiner tiefen, den ganzen Raum füllenden Stimme. Er nippte an dem Wasser. Dann stand er auf, gab Diana ein Zeichen und sie öffnete die erste Folie. Darauf waren nicht die neusten Unternehmenszahlen, wie jeder erwartete zu sehen, sondern ein Diagramm, das die Zunahme von Stürmen in den letzten zehn Jahren anzeigte. Es folgte ein Diagramm, über die Konzentration von Kohlendioxyd in der Atmosphäre und das Ansteigen des Meeresspiegels. Dann folgte eines mit dem Niedergang der Aktien der Rückversicherer, danach die Zunahme der Migration und so weiter.

Otto belegte alles, was er zeigte, mit Zahlen und seine Angestellten wunderten sich über sein Detailwissen.

Schließlich folgten die aktuellen Quartalszahlen. Sie waren niederschmetternd.

»Warum ist das so?«, fragte Otto lauter werdend und sah von einem zum anderen. Jeder hatte Angst eine falsche Antwort zu geben.

»Weil kaum noch gebaut wird und niemand Kunststoffgranulat für Fenster benötigt, weil die Autoindustrie schon seit Jahren kollabiert und nur noch wenige Spritzgussteile abnimmt, weil weniger Kabelkanäle für Stromkabel benötigt werden, weil weniger Laminatfußböden verlegt werden und so weiter und so weiter. Wir sitzen auf den völlig falschen Produkten und wir sind eine große Firma, die auf jedem Kontinent produziert und täglich Millionenaufträge benötigt«, donnerte Otto. Dann nahm er einen weiteren Schluck Wasser.

»Jedem von Ihnen ist das alles bekannt und niemand, ich wiederhole, niemand hat auch nur einen Vorschlag eingereicht, wie wir diesem Dilemma entgehen können, Niemand!« Otto war wütend. Er machte eine weitere Pause.

»Nach dieser Besprechung werden wir uns von einigen von ihnen trennen, bzw. sie werden ohnehin ausscheiden. Sie würden uns bei der fundamentalen Neuausrichtung im Wege stehen, um es ganz klar auszudrücken.«

Ottos Gesicht war nun wie versteinert. Paul, der sein Profil sah, dachte es wäre aus Granit. Sein Kopf wurde rot und man sah ihm seinen Zorn an.

»Die komplette Kunststoffsparte, die zwei Drittel unseres Umsatzes ausmacht, die 3.500 Mitarbeiter beschäftigt, wird verkauft werden.«

Es ging ein Raunen durch die Anwesenden. Die dort saßen sahen sich als Stützen des Unternehmens, als unverzichtbar, allesamt. Die meisten der Anwesenden gehörten eben zu der Kunststoffsparte und sie fragten sich sofort, an wen dieser große Bereich, der dreieinhalb Tausend Menschen beschäftigte verkauft würde. Otto nannte weitere Einzelheiten. Dann sagte er, der Kunststoff würde nach China verkauft werden. Er schätze die Chinesen außerordentlich und sie wären in der Lage, die Fertigung und die Produktentwicklung weiterzuführen. Es regten sich Gegenstimmen, sogar Protest, jemand stand auf und verließ wortlos den Raum.

»An die Chinesen? Die werden die Entwicklung abziehen und dann alles stilllegen!«

»Nein, warum sollten sie das tun? Warum sollten sie erst viel Geld investieren und dann die Fertigungen und den Vertrieb sowie die ganze Organisation schließen?« Otto duldete keinen Widerspruch. Seine Stimme wurde noch lauter.

»Ich hatte ausgeführt, welchen dramatischen Problemen wir uns zu stellen haben. Der Umweltbereich ist es, der entscheidend sein wird! Wir werden eine post-fossile Wirtschaftsweise bekommen.« Otto gab Diana ein Zeichen die nächste Folie zu zeigen.

Paul wusste nichts davon, rein gar nichts, bis auf die Notiz, die er am Morgen las und die das Eintreffen von Chinesen ankündigte. Otto verkaufte den größten Teil der Firma und sagte ihm kein Wort? Hielt Otto ihn für so einen Grünschnabel? Er vertraute Diana so viel mehr als ihm? Paul fühlte sich brüskiert, was galt er für Otto? Ob Sissy etwas wusste? Sie würde mit ihm den Konzern erben.

Paul musste sich beherrschen Diana nicht anzustarren. Er hatte sie vier Wochen lang nicht gesehen. Nicht jetzt, nicht hier, alle würden es bemerken. Er senkte seinen Kopf und blickte vorsichtig, von unten nach oben zu ihr hin. Mein Gott, wie sie ihn anzog. Sie sah ihn unmittelbar an und lächelte ihm zu. Wieder wurde Pauls Hals trocken.

Sie trug ein dunkelrotes Kostüm, es war kastanienrot wie ihr Haar, dazu eine weiße Bluse, Paul fragte sich, ob sie eigentlich Blusen in einer anderen Farbe besaß. Er blickte auf den goldenen Ring an ihrer linken Hand und dann wieder in ihr helles, weißes Gesicht. Wann konnte er sie wiedersehen, alleine? Die Glut war entfacht.

Er hatte den Faden verloren. Otto stand aufrecht und sah wie ein Feldmarschall in den Raum. Was würde er jetzt ankündigen?

»Frau Robinson wird der neue Finanzvorstand, die Vorständin, um es richtig zu sagen.« Otto sah prüfend in den Raum.

»Frau Robinson hat die folgende Präsentation vorbereitet und sie hat ein Konzept erarbeitet, wie wir unsere gewonnenen liquiden Mittel in den Umweltsektor investieren werden.« Otto setzte sich. Diana stand auf und stellte sich neben Otto, der stoisch, die Hände auf dem Tisch gefaltet und in dem Raum blickend dasaß. Sie waren eingespielt.

Paul sah zu seinem Vater. Er tat ihm leid. Er tat jedem leid. Otto hatte drei Kinder. August und die beiden Schwestern, Sofia und Mechthild, die ihren Namen hasste und Memmi genannt werden wollte, was nicht besser klang. Sie war 49 Jahre alt und bestand weiter auf Memmi.

Otto hatte eine finstere Seite. Er konnte tyrannisch und unerbittlich sein. Von seinen Kindern verlangte er Leistungen, die keines zu erbringen im Stande war. August war am falschen Platz. Er hatte sich immer gefügt und der Dank war, dass Otto seine Aggressionen, die er nicht zu unterdrücken vermochte, an ihm ausließ.

August kämpfte gegen seine Verletzungen an. Er entwickelte selbst Aggressionen, doch war er klug genug, das heißt, es war eine große Leistung, die Einzige, für die ihn Paul bewunderte, das zu erkennen und ihm gelang es seine eigenen Aggressionen durch zwei Leidenschaften zu kompensieren.

In diese Leidenschaften würde Otto nicht eindringen. Das war das Bergsteigen und Augusts Passion für moderne Kunst. Er sammelte Kunst und stellte diese in einer kleinen Galerie mitten in Frankfurt aus. August war schlank und asketisch, im Gegensatz zu Otto, der sich sein Leben lang nichts aus seiner Figur machte. Otto war etwas korpulent und hasste Sport.

Da er immer Anzüge mit weiten Sakkos trug, bevor er die Mao Kleidung anlegte, fiel seine rundliche Erscheinung nicht auf.

August verlor sich gelegentlich in Tagträumerei, das heißt, seine Gedanken schweiften ab und er verlor den Faden zu dem, was gesprochen wurde.

---ENDE DER LESEPROBE---