In Obhut genommen - Susanne Mohnsen - E-Book

In Obhut genommen E-Book

Susanne Mohnsen

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Beschreibung

Die Geschichte einer Pflegschaft erzählt von Susanne Mohnsen und ihren Erlebnissen mit einem Pflegekind. Bürokratie, überlastete Ämter und deren Versäumnisse wurden überwunden, um schließlich einen siebenjährigen Jungen aufzunehmen. Und ihm mit viel Geduld, innerer Kraft und noch mehr Zuwendung den Weg aus der zerrütteten Kindheit in eine bessere Welt zu ebnen. „In Obhut genommen“ berichtet von den ersten Jahren dieses Weges (eine Fortsetzung ist in Arbeit) und wirft gleichzeitig einen kritischen Blick auf Deutschlands Sozialwesen und dessen Umgang mit den Schwächsten der Gesellschaft.

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Inhaltsverzeichnis

Daniel – Mein Pflegekind.

Ein Pflegekind? – Wie alles begann.

Ein Kind das passen könnte.

Die Mutter.

Erstes Treffen.

Erste Verabredung.

Zweifel und Bedenken.

Erster Besuch bei uns.

Es wird Ernst.

Hospitation in der Schule.

Ich muss mich entscheiden.

Weitere Treffen. Erste Übernachtung.

Letzte Vorbereitungen.

Daniels Einzug.

Schulstart.

Alltagsschwierigkeiten.

Gesundheits-Nachsorge.

Schulprobleme. Ein Au-pair. Arztbesuche.

Psychiatrie oder Hochbegabt.

Schulbegleitung.

Sommerferien. Winterferien.

Psychotherapie und körperliche Gesundheit.

Musik und Freizeitaktivitäten.

Langeweile und ein Nahrungsdepot.

Geschwister.

Mobbing.

Geburtstag.

Aus dem früheren Leben. Aus dem heutigen Leben.

Empathie. Hilfsbereitschaft. Lügen. Stehlen.

Weihnachtszeit.

Pflegschaft versus Adoption.

Mutter und Sohn.

Klassenreise.

Erfolg in der Schule.

Gedanken zu unserem Sozialsystem.

Danksagung

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

© 2022 Susanne Mohnsen · in-obhut-genommen.de

Satz u. Layout / e-Book: Büchermacherei Gabi Schmid · buechermacherei.de

Covergestaltung: Ooografik Corina Witte-Pflanz · ooografik.de

Bildquellen: #54561134, #275151563, #458055199, #197587762| AdobeStock

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-68332-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-68337-2

ISBN tolino media: 978-3-754-69571-5

Um die handelnden Personen in der Öffentlichkeit zu schützen, wurden alle Namen geändert sowie Orte, Lebensumstände und Begebenheiten verfremdet. Auch das Jugendamt in Köln und dessen Mitarbeiter sind rein fiktiv. Dennoch entsprechen die aufgezeichneten Ereignisse den selbst gemachten Erfahrungen der Autorin und geben ihre persönliche Bewertung bzw. Meinungen wieder.

Für F. L.

„Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Allgemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“

(Aus Astrid Lindgren: „Niemals Gewalt!“)

Daniel – Mein Pflegekind.

Daniel kam mit sieben Jahren in unsere Familie. Er lebt nun schon seit acht Jahren bei uns – mehr als die Hälfte seines Lebens. Mit allen Höhen und Tiefen.

Manchmal wenn ich abends zu Bett gehe, an seinem Zimmer vorbeikomme und ihm noch einmal über den Kopf streiche, dann denke ich immer noch: „Meine Güte, du hast das tatsächlich gemacht! Du hast ein fremdes Kind aufgenommen!“

Es gibt auch nach acht Jahren immer noch Situationen, in denen sich das beinahe unwirklich anfühlt. Andererseits ist er mir mittlerweile so vertraut und gehört so sehr zu uns, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen kann.

Die Zeit VOR Daniel ist schon so lange her …

Ein Pflegekind? – Wie alles begann.

„Köln sucht Pflegefamilien!“

Auf diesen Satz wurde ich das erste Mal im Jahr 2008 aufmerksam. Der Aufruf stand auf einem Plakat an einer Litfaßsäule. Ein großes Foto von einem kleinen Jungen mit traurigem, verlorenem Blick, einer Träne im Augenwinkel und einem verlotterten Teddy unter dem Arm.

Herzerweichend.

Das Plakat berührte mich, und ich begann, über das Thema Pflegekind nachzudenken, mich darüber zu informieren.

Ein Pflegekind wird vorübergehend oder auf Dauer von einer volljährigen Person – am besten natürlich von einem Paar – aufgenommen und betreut. Es gibt je nach Situation Ergänzungspflege, Bereitschaftspflege, Dauerpflege und Vollzeitpflege. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit verlassen die meisten Pflegekinder ihre Pflegefamilie.

Während der Pflegschaft erhalten die Pflegeeltern Pflegegeld für den Sachaufwand, die Pflege und die Erziehung des Pflegekindes. Dieses Geld ist ausschließlich für das Pflegekind vorgesehen. Die Höhe des Pflegegeldes richtet sich nach dem Alter des Kindes und ist nicht bundeseinheitlich geregelt.

Die Arbeit der Pflegeeltern ist ehrenamtlich, sie erhalten kein Geld für ihre Tätigkeit.

Die Alternative zur Pflegefamilie ist die Unterbringung in einem Kinderheim oder in einer betreuten Kinder- und Jugendwohngruppe. Ein Platz in einer solchen Einrichtung kostet durchschnittlich 3.500 bis 4.500 Euro im Monat.

Fragt sich, wo ein Kind besser aufgehoben ist.

Zumeist geschieht die Vermittlung eines Pflegekindes durch das Jugendamt. Und fast immer geht der Vermittlung eine Inobhutnahme des Kindes voraus. Das bedeutet eine vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das Jugendamt. Zur Inobhutnahme kommt es in äußerst prekären Familiensituationen. Das kann häusliche Gewalt, Vernachlässigung oder auch ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch sein. In den Medien liest man immer wieder über derartige Missstände und Gräueltaten.

Mir dreht sich der Magen um und das Herz schmerzt, wenn ich darüber nur nachdenke. Ich hatte schon immer den Wunsch, Kindern in solchen Situationen helfen zu können. Diesem Bedürfnis nachzukommen und es nun wirklich in die Tat umzusetzen, setzte sich mehr und mehr in meinen Gedanken fest.

Meine eigenen fünf Kinder waren, wie man so sagt, „aus dem Gröbsten heraus“. In unserem Haus war aber noch alles vorhanden, was ein Kinderleben schön machen kann. Fahrrad, Sandkiste, Schaukel, Trampolin und jede Menge Spielzeug. Platz gab es reichlich. Dazu einen Garten. Und das alles direkt am Waldrand gelegen. Kindergarten und Schulen waren in bequemer Nähe, und in der Nachbarschaft lebten viele Familien mit Kindern aller Altersklassen.

Also eigentlich eine perfekte Situation, um ein Kind aufzunehmen.

Der Aufruf der Kölner Behörden nach Pflegefamilien begegnete mir nun – einmal darauf aufmerksam geworden – immer wieder.

Als Flyer. Auf Plakaten. In Zeitungen.

Ich recherchierte im Internet, um noch mehr Informationen zu bekommen.

An wen muss man sich wenden?

Welche Bedingungen muss man erfüllen?

Vielleicht würde es für jemanden wie mich schwierig sein, ein Pflegekind aufzunehmen – alleinerziehend mit fünf eigenen Kindern.

Aber wenn dringend Pflegeplätze gesucht werden?

Ich verfügte über genug Erfahrung im Umgang mit Kindern. Das müsste doch von Nutzen sein?!

Was würden meine eigenen Kinder zu einem fremden Kind in unserer Familie sagen? Als Scheidungskinder in einer sowieso nicht ganz einfachen familiären Situation würden sie vermutlich nicht gerade begeistert von meinen Plänen sein.

Mit meinem ältesten Sohn David sprach ich als erstes über diese Idee. Er war damals 21 Jahre alt und studierte Jura. David wohnte in einer kleinen Wohnung in der Nähe seiner Uni. Durch eine langjährige, schwere chronische Erkrankung hatte er sehr viel Empathie für andere und war für karitative Tätigkeiten immer sofort zu begeistern. Von dem Gedanken, einem bedürftigen Kind eine Chance zu geben, war er sofort angetan. So hatte ich immerhin schon einen Fürsprecher.

Meine 19-jährige Tochter Sarah sah das ein wenig anders. Mitten in den Vorbereitungen zum Abitur stehend, fand sie die Idee völlig abwegig und absurd. Als Scheidungskinder und mit einem kranken Bruder, so fand sie, gebe es bei uns durchaus genug Probleme. Das war ihre eindeutige Meinung zu dem Thema und sie verteidigte sie hartnäckig. Wir diskutierten und debattierten. Leider muss ich zugeben, dass sie nicht ganz unrecht hatte.

Die nächstjüngere Tochter Anna war damals 16 Jahre alt. Auch sie nahm meine Idee nicht gerade begeistert auf. Trotzdem hoffte ich – langfristig – auf ihr Mitgefühl und ihre Zustimmung. Sie arbeitete damals schon ehrenamtlich bei einem Hilfsprojekt für Afrika mit und wollte nach dem Abitur Medizin studieren, um Kinderärztin zu werden. Ich hoffte insgeheim, dass sie im Laufe der Zeit für mein soziales Projekt Pflegekind Verständnis entwickeln würde.

Meine beiden jüngsten Söhne Paul und Simon waren elf und 13 Jahre alt. Als ich ihnen von meinem Gedanken erzählte, waren sie eher irritiert. Heute glaube ich, dass sie sich einfach gar nicht vorstellen konnten, dass ich so etwas tatsächlich in die Tat umsetzen würde. Eigentlich mehr als verständlich. Ein fremdes Kind in die eigene Familie aufnehmen? Vollkommen abwegig.

Auch meine Mutter – mein Vater lebte seit einigen Jahren nicht mehr – reagierte verständnislos. Sie versuchte mit allen Mitteln, mir mein Vorhaben auszureden.

„Du hast doch nun wirklich genug zu tun. Und wer weiß, was für Schwierigkeiten du dir da ins Haus holst.“

So oder ähnlich lautete ihre Argumentation jedes Mal, wenn wir über das Thema sprachen.

Im Kreis meiner Freunde und Verwandten wollte ich das Thema erst gar nicht zur Sprache bringen. Ich war mir sicher, man würde mich für verrückt erklären. Alleinerziehend mit fünf Kindern, eins davon schwerkrank.

Ich mochte mich mit niemandem auf eine Diskussion einlassen.

Denn: Ich wollte mich von meinem Projekt nicht abbringen lassen.

Einige Monate vergingen, aber der Gedanke, ein Kind aufzunehmen, ließ mich einfach nicht mehr los.

Dann wurde die gesundheitliche Situation meines ältesten Sohns David plötzlich wieder sehr bedrohlich. Er war wochenlang im Krankenhaus und kämpfte ums Überleben. In meiner Verzweiflung, meiner Sorge und Trauer schwor ich mir, dass ich wirklich ein Kind aufnehmen würde, wenn er diese lebensbedrohende Situation überleben würde. Ich legte gewissermaßen einen Eid, ein Gelübde ab.

Es folgte eine lange Zeit voller Bangen und Hoffen.

Nach Monaten konnte er tatsächlich das Krankenhaus wieder verlassen.

Wir waren alle unendlich erleichtert, unendlich dankbar!

Und unendlich erschöpft.

Nach einer sehr langen Phase der Genesung und der Regeneration – als das Leben wieder halbwegs normal wurde –, besann ich mich auf meinen persönlichen Schwur an Davids Krankenbett.

Ich schrieb voller Motivation einen Brief mit der Bitte um Informationen an das zuständige Jugendamt und erhielt nach einer angemessenen Wartezeit: Nichts.

Keine Antwort. Keine Mail. Nichts!

In der Vermutung, dass meine Post verlorengegangen sei, schrieb ich ein weiteres Mal. Wieder kam keine Antwort. Daraufhin rief ich bei der zuständigen Behörde an und landete erst in der telefonischen Warteschleife. Dann beim Anrufbeantworter. Ich sprach mein Anliegen auf das Band. In den folgenden Tagen bekam ich: keine Antwort. Mehrere Wochen vergingen. Verstehen konnte ich das nicht.

Köln suchte doch Pflegefamilien?!

***

Bei einer Konsultation unseres Kinderarztes fiel mir im Wartezimmer der Flyer einer Kinderhilfsorganisation in die Hände. Darauf der gleiche Text wie damals auf dem Litfaßsäulenplakat: „Köln sucht Pflegefamilien!“ – mit dem Zusatz „Dringend!“.

In dieser Broschüre wurde das Thema Pflegekinder ausführlich erklärt und es gab Kontaktdaten. Endlich eine neue Informationsquelle, die mich weiterbringen würde!

Ich rief die dort angegebene Nummer an und sprach auf einen Anrufbeantworter. Einige Tage später wurde ich auch tatsächlich zurückgerufen. Eine Mitarbeiterin hörte sich mein Anliegen an und versprach, mir in den nächsten Tagen entsprechendes Informationsmaterial zuzusenden.

Ich hatte die – wohl etwas naive – Vorstellung, dass die Kölner Jugendämter nur auf mich gewartet hätten. Der Aufruf auf den Plakaten „Köln sucht Pflegeeltern“ klang für mich so, als wenn SOFORT Hilfe gebraucht würde.

Ich war mir sicher, schon zu Weihnachten ein Pflegekind im Haus zu haben.

Das war im September 2008.

Voller Enthusiasmus machte ich insgeheim bereits große Pläne. In Gedanken organisierte ich bereits alles rund um das Leben mit einem – unserem – Pflegekind.

Grundsätzlich sollte das überhaupt kein Problem sein. Schließlich besaß ich einen großen Erfahrungsschatz durch das Familienleben mit meinen eigenen fünf Kindern. Und zusätzlich hatte ich sehr häufig Gastschüler oder Austauschschüler bei uns aufgenommen.

Das versprochene Informationsmaterial wurde mir tatsächlich recht schnell zugeschickt. Es waren dicke Broschüren mit Erfahrungsberichten von ehemaligen Pflegekindern, von Pflegeeltern, von Lehrern, Psychologen und leiblichen Eltern.

Ich las die Unterlagen mit großem Interesse durch und mir wurde relativ schnell klar, dass man doch nicht ganz so einfach zu einem Pflegekind kommt. Und beim Lesen wurde mir auch deutlich, dass es wohl doch nicht ganz so einfach ist, mit einem Pflegekind zu leben.

Ein Dach über dem Kopf, essen, trinken, warme Kleidung, Spielzeug, liebhaben – und dann wird schon alles gut werden.

So oder ähnlich hatte ich mir das gedacht. Aber so simpel schien es nicht zu sein.

Heute weiß ich: Ist es auch nicht!

Ich meldete mich also zu einem „Seminar für potenzielle Pflegeeltern“ bei der Kinderschutzorganisation an. Es kam mir ein wenig grotesk vor, mich als Pflegemutter ausbilden lassen. Ich war doch nun wirklich eine erfahrene Mutter! Aber das Absolvieren dieses Kurses war die allererste Grundvoraussetzung, um überhaupt ein fremdes Kind aufnehmen zu können.

Irgendwie auch logisch. Sicherlich gab es so viel zu beachten und zu bedenken, von dem ich gar keine Vorstellung hatte.

Für mehrere Wochen besuchte ich nun abends diese „Fortbildung“ zur Pflegemutter. Jeden Mittwoch fuhr ich um 18 Uhr eine Stunde bis ans andere Ende der Stadt. Dort befand sich die Pflegeelternschule. Drei Stunden saß ich dann in den nüchternen Seminarräumen und fuhr anschließend wieder eine Stunde zurück. Meist war ich erst gegen Mitternacht wieder zu Hause.

Die Teilnahme an dem Kurs war sehr interessant.

Und informativ.

Ich bekam viele neue Einblicke in die Situation von Kindern in Not und von Pflegefamilien. Aber es war auch sehr ernüchternd für mich. Ich war doch relativ unbedarft an das Projekt herangegangen. Allein über die juristische Situation hatte ich überhaupt noch nicht nachgedacht.

Auch die Tatsache, dass Kinder, die eine Pflegefamilie brauchen, zumeist schwer traumatisiert sind, war mir bis dahin überhaupt nicht bewusst.

Wir Kursteilnehmer hatten die Möglichkeit, mit erfahrenen Pflegeeltern, mit betroffenen Eltern, mit Psychologen, mit Sozialarbeitern, mit Sonderpädagogen und mit ehemaligen Pflegekindern zu sprechen. Es gab Vorträge und Interviews. Und es gab auch Rollenspiele, um uns die unterschiedlichsten Situationen zu verdeutlichen.

Ein Rollenspiel ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Einer von uns Teilnehmern übernahm die Rolle des fiktiven Pflegekindes und stand in der Mitte des Raums. Dann sollten wir anderen uns als Bezugspersonen rund um dieses Pflegekind aufstellen. Wir sollten Menschen und Institutionen im Leben des Pflegekindes darstellen: Eltern, Geschwister, Lehrer, Freunde, Wohnung, Schule und so weiter.

Der Dozent spannte jeweils einen roten Faden zwischen dem Pflegekind und den diversen, von uns dargestellten sozialen Anhaltspunkten. So hatte das Pflegekind dann also viele rote Fäden in der Hand, die seine Kontakte in seinem Umfeld darstellen sollten. Nun durchtrennte der Dozent mit einem einzigen Schnitt alle roten Fäden in der Hand des Kindes. Damit sollte uns deutlich werden, was für ein unglaublich schmerzhafter Einbruch es für ein Kind ist, durch widrige Umstände aus seiner Familie, seinem Alltag herausgenommen zu werden.

Welche Leere es verspürt.

Wie hilflos es ist.

Und wie einsam es ist.

Alle Verbindungen aus dem Leben des Kindes sind unterbrochen.

Doch es ging noch weiter.

Der Dozent bat uns alle, die wir im Rollenspiel als Bezugspersonen fungierten, dass wir andere Positionen einnehmen sollten, und knotete anschließend alle Fäden mit denen des Kindes wieder zusammen. Das stellte jetzt die neue Situation des Kindes in einer Pflegefamilie dar, mit allen neuen sozialen Bindungen und Institutionen.

Allerdings nun mit einem Knoten – mit einer Narbe.

Dann schnitt der Dozent erneut alle Fäden durch. Damit wollte er uns zeigen, welch große Verantwortung Pflegeeltern tragen, dass das Kind nicht noch einmal so einen schweren Verlust wie zuvor erleiden muss.

Ich fand das sehr beeindruckend und ergreifend.

Wir hörten im Kurs von Kindern, die nicht schlafen konnten.

Die nachts einnässten.

Die klauten.

Die von zu Hause wegliefen.

Die nicht sprachen.

Die aggressiv waren.

Die nicht aßen.

Oder ausschließlich aßen.

Oder das Essen horteten.

Kinder, die durch das, was ihnen in ihrem kurzen Leben schon angetan wurde, zutiefst verwundet sind. Kinder, die in ihrem sozialen Verhalten und Umgang mit anderen Menschen verhaltensauffällig sind.

Teilweise irreparabel.

Essen, Trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf und liebevoll umsorgt werden ist natürlich die Grundvoraussetzung für ein behütetes Leben eines Kindes. Aber die meisten dieser Kinder brauchen darüber hinaus nervenstarke Pflegeeltern oder Betreuer mit ganz viel Zeit und ganz viel Kraft. Und zusätzlich unbedingt eine professionelle psychologische Betreuung.

Über Jahre.

Eventuell ein Leben lang.

Die Rückfallquote der Kinder nach dem 18. Lebensjahr beträgt über 80 Prozent. Häufig kehren sie dann in ihre eigentliche Familie zurück, weil sie volljährig sind – und alles beginnt wieder von vorn.

Nächste Generation.

Es kann durchaus passieren, dass Pflegeeltern aufgeben und das Kind zurückgeben. Sie fühlen sich überfordert und schaffen es einfach nicht, dass Kind weiter zu betreuen.

Intakte Familien, die eigentlich etwas Wohltätiges leisten wollten, können daran zerbrechen.

Obwohl sich der Vergleich verbietet, es ist beinahe eine Situation wie im Tierheim. Da werden Hunde auch zurückgegeben, weil man mit ihnen nicht klarkommt.

Umgekehrt muss man als Pflegeeltern davon ausgehen, dass einem das Kind auch jederzeit wieder weggenommen werden kann. Das kann aus den verschiedensten Gründen geschehen. Zum Beispiel, weil sich die Situation in der Ursprungsfamilie verbessert hat. Oder weil die leiblichen Eltern das Sorgerecht – unter Umständen sogar durch Klage – wiedererlangt haben. Oder weil die Pflegeeltern nicht im Sinne des Jugendamts agieren. Oder weil der Kontakt zwischen den Pflegeeltern, den Eltern und den Mitarbeitern der Behörde nicht funktioniert. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum die Pflegschaft beendet werden kann.

In meinem Kurs waren Paare mit den unterschiedlichsten Beweggründen, ein Kind aufzunehmen. Auffallend war die hohe Anzahl von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch.

Die Anzahl an Kindern, die zur Adoption freigegeben werden, sinkt mehr und mehr. Und die Anforderungen und Auflagen an die potenziellen Adoptiveltern sind sehr hoch. Adoptionsverfahren im Ausland sind teuer und ebenfalls sehr aufwendig.

Da liegt dann die Aufnahme eines Pflegekindes nahe.

Es ist allerdings mit hohem Risiko verbunden, ein Pflegekind aufzunehmen, wenn man keinerlei Erfahrung mit Kindern hat. Die meisten Pflegekinder haben nun einmal schlimmste Erfahrungen gemacht.

Allein die Trennung von den leiblichen Eltern – warum auch immer – ist ja für sich genommen schon ein traumatisches Erlebnis. Die Folgen davon sind eben fast immer verhaltensauffällige oder verhaltensgestörte Kinder.

Damit muss man umgehen können. Und das muss man auch aushalten können.

Täglich.

Woche für Woche.

Jahr für Jahr.

Eine Auszeit oder Urlaub gibt es nicht.

Was mir in all den Jahren - von dem Gedanken ein Pflegekind aufzunehmen, bis zum heutigen Zeitpunkt - aufgefallen ist: es sind immer eher Menschen aus der unteren Mittelschicht, die sich bei sozialen Projekten ( wie der Aufnahme von Pflegekindern ) aktiv hervortun. Niemals waren Menschen aus „finanziell gehobenen Verhältnissen“ oder Menschen mit „einem hohen Bildungsniveau“ dabei.

Nachdem ich den Kurs abgeschlossen hatte, war der nächste Schritt, den Kontakt zum Jugendamt wiederaufzunehmen. Genauer gesagt zum Pflegekinderdienst.

Der Pflegekinderdienst berät und begleitet Pflegeeltern und -kinder in allen Belangen und Anliegen des alltäglichen Lebens. Er wird vom Allgemeinen Sozialen Dienst (kurz ASD) beauftragt, wenn Kinder in Not sind. Der Allgemeine Soziale Dienst wiederum untersteht stets dem Jugendamt, soweit er Aufgaben der Jugendhilfe übernimmt. Das alles kann aber von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein. Auch die Bezeichnungen der Ämter können anders sein.

Beim Pflegekinderdienst musste ich wieder auf den Anrufbeantworter sprechen. Scheinbar war es nicht möglich, in dieser Behörde tatsächlich einmal jemanden direkt am Telefon zu erreichen. Sicherheitshalber sendete ich deshalb auch gleich noch eine E-Mail an das Jugendamt. Ich wollte mein Pflegekind-Projekt nun endlich weiterbringen. Mein Versprechen endlich in die Tat umsetzen.

Einige Tage später erhielt ich dann schließlich einen Rückruf. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass man sehr erfreut über mein Interesse an einem Pflegekind war.

Mir wurde mir sehr eindringlich erklärt, dass ich nun eine Vielzahl an Fragebögen auszufüllen hätte und diverse Nachweise bringen müsse. Wenn das alles eingegangen und bearbeitet sei, würde man sich wieder bei mir melden.

Anschließend würde ich einen Termin zur Begutachtung meines Hauses und meiner Familie erhalten. Wenn das alles den Vorgaben entspräche, bekäme ich einen Termin für ein zweistündiges Interview. Und wenn ich mich nach diesem Prozedere als kompetent erwiesen hätte, würde man meine Anfrage an alle Jugendämter beziehungsweise an alle Pflegekinderdienste der Stadt weiterleiten. Dort würde man ein geeignetes Pflegekind aussuchen, dass zu unserer Familie passen würde.

Wieder schlich sich der gedankliche Vergleich mit dem Tierheim ein.

Ich war enttäuscht, dass das alles so lange dauern sollte.

Und vor allem, dass das alles so kompliziert war.

Richtig verstehen konnte ich das nicht.

Köln suchte doch Pflegefamilien?!

Die Vorstellung, dass genau jetzt, während dieser aufwendigen, langwierigen Bearbeitungszeit vermutlich irgendwo ein Kind geschlagen, missbraucht oder verhungern würde – während bei mir alles nur so auf dieses Kind wartete – das konnte ich nur schwer ertragen. Ich hatte doch wirklich alle Möglichkeiten, einem Kind ein liebevolles und kompetentes Zuhause zu bieten.

Jetzt. Sofort.

Andererseits war mir durch den Vorbereitungskurs klargeworden, dass man zukünftige Pflegeeltern tatsächlich sorgfältig prüfen muss. Eben, damit einem Kind nicht erneutes Leid oder ein erneuter Verlust zugefügt wird.

Ich füllte die zugeschickten Unterlagen sorgfältig aus. Es waren wirklich sehr viele. Dann besorgte ich alle erforderlichen Nachweise und schickte alles voller Hoffnung zurück.

Mittlerweile war es März 2009.

Und wieder passierte mehrere Wochen nichts.

Mehrfach rief ich beim Pflegekinderdienst an.

Beim Jugendamt.

Auch bei der Kinderhilfsorganisation rief ich an.

Ich sprach auf die diversen Anrufbeantworter und schickte unzählige E-Mails.

Es war frustrierend und für mich nicht nachvollziehbar.

Ich konnte es einfach nicht verstehen.

Köln suchte doch Pflegefamilien?!

***

Endlich rief mich eine Mitarbeiterin vom Pflegekinderdienst an. Frau Breuer-Höttges. Sie vereinbarte mit mir einen Termin zu einem Hausbesuch und anschließend einen weiteren für das erforderliche Interview. Zwei Wochen später, zum vereinbarten Zeitpunkt, kam Frau Breuer-Höttges zur „Inspektion“ unseres Hauses und unserer Familie.

Eine Inspektion war es im wahrsten Sinne des Wortes. Es gab keinerlei Diskretion und wenig Respekt vor unserer Privatsphäre. Vom Keller bis zum Dachboden wurde alles begutachtet. Gerade einmal der Inhalt der Kleiderschränke und der Schreibtische blieb verschont.

Ich fand das wirklich nicht schön, aber wenn es so sein musste …

Unser Haus und unser Garten waren durch meine eigene große Kinderschar vollkommen kindgerecht. Es gab ein freies, mit allem Erforderlichen eingerichtetes Kinderzimmer. Jede Menge Spielzeug, Kinderbücher, Roller, Fahrrad, Trampolin und Schaukel. Und einen großen, lieben, den Umgang mit Kindern gewöhnten Hund.

Frau Breuer-Höttges wollte natürlich auch meine noch bei mir lebenden Kinder kennenlernen. Die drei Älteren waren mittlerweile im Studium und wohnten am Studienort. Dieses Kennenlernen sorgte mich ein wenig. Denn so richtig positiv sahen meine Kinder der Aufnahme eines Pflegekindes nicht entgegen.

Verständlicherweise waren sie deshalb sehr skeptisch.

Sie beantworteten die Fragen von Frau Breuer-Höttges eher verhalten und zögerlich, beinahe unwillig. Frau Breuer-Höttges war durch ihren Beruf den Umgang mit schwierigen Kindern gewöhnt und schien nicht sonderlich erstaunt, dass da keine große Begeisterung zu bemerken war. Gott sei Dank!

Vielleicht dachte sie ja auch, meine beiden Jungs seien einfach nur schüchtern. Ich war sehr froh, dass sich keiner von den beiden laut und deutlich gegen die Aufnahme eines fremden Kindes aussprach. Das hätte der tatsächlichen Wahrheit eher entsprochen.

Somit war dann auch diese Etappe auf dem langen Weg zum Pflegekind genommen. Nun fehlte nur noch das erforderliche persönliche Interview. Darüber machte ich mir keine großen Gedanken. Ich empfand mich als souverän und gelassen im Zusammensein mit Kindern und würde einem Pflegekind alles individuell Erforderliche bieten können.

Die einzige Befürchtung, die ich hatte, war meine Lebenssituation als alleinstehende, alleinerziehende Frau und Mutter von einem schwer erkrankten Kind. Früher wurden ausschließlich verheiratete Paare zu Adoptionen und Pflegschaften zugelassen. Würde das meine „Zulassung“ als Pflegemutter beeinträchtigen? Es blieb abzuwarten.

Zwei Wochen später wurde ich bei meinem nächsten Termin im Jugendamt interviewt. Zweieinhalb Stunden lang.

Begutachtet. Geprüft. Getestet.

Ich war nervös.

Natürlich wurde ich gefragt, warum ich ein Pflegekind aufnehmen wollte. Ich hätte doch schließlich schon fünf eigene Kinder. Ich antwortete so, wie ich Freunden und Verwandten bisher auch schon geantwortet hatte. Dass ich einem Kind helfen und außerdem einen sozialen Beitrag leisten wolle. Und dass ich die räumlichen Möglichkeiten und die erzieherischen Fähigkeiten hätte, einem weiteren Kind ein gutes Zuhause zu geben.

Ob ich damit zurechtkäme, wenn das Pflegekind unser ganzes Leben umkrempeln würde?

Ob ich damit zurechtkäme, wenn das Pflegekind uns plötzlich wieder verlassen würde, weil es wieder in seine Familie zurückkehren könnte?

Ob ich damit zurechtkäme, wenn das Pflegekind stehlen würde?

Bettnässen?

Weglaufen?

Aggressiv wäre?

Ich antwortete aus tiefster Überzeugung, dass ich damit umgehen könne.

Schließlich hatte ich mich ja schon mit meinen eigenen Kindern verwirklicht und würde solche Situationen mit einem fremden Kind mit der entsprechenden Distanz handhaben können.

Dachte ich.

Diese Distanz zu haben, obwohl einem das Pflegekind irgendwann ans Herz wachsen würde, würde das wirklich möglich sein?

Wäre ich wirklich so gelassen, wenn es uns – warum auch immer – nach ein paar Jahren wieder verlassen müsste?

Ich blendete diese Gedanken erst einmal aus. Das würde sich alles finden, wenn es dann so weit wäre.

Teilweise waren die Interviewfragen sehr persönlich. Ja, beinahe indiskret. Ich erinnere mich sogar an Fragen über die Ehe meiner Großeltern.

Nach Informationen über die Partnerschaft meiner Eltern.

Meiner eigenen Kindheit.

Da ich seit der Trennung vom Vater meiner Kinder alleinerziehend war – und ob der zukünftigen Verantwortung für ein fremdes Kind – versuchte ich Verständnis für all diese Fragen aufzubringen. Dennoch – ich fühlte mich irgendwie bloßgestellt.

Ich sollte einer völlig fremden Beamtin Fragen aus dem absolut intimsten Privatleben beantworten.

Warum haben Sie nie geheiratet?

Was ist mit Ihrem Freund?

Warum wohnen Sie nicht zusammen?

Was ist mit Drogen?

Alkohol?

Sekten?

Gehen Sie regelmäßig in die Kirche?

Haben Sie irgendwelche Straftaten begangen? (Sie hatte doch mein erweitertes Führungszeugnis?!)

Es war ungefähr so, als würde man in die Vereinigten Staaten einwandern wollen.

Aber das war mir die Sache wert. Ich hatte nichts zu verbergen und war ganz ehrlich. Eventuelle Unwahrheiten würden früher oder später ja doch aufgeklärt werden.

Nachdem auch dieses unangenehme Interview bewältigt war, konnte der Vermittlung eines Pflegekindes wohl nichts mehr im Wege stehen. Dachte ich.

Wochenlang gab es keine Informationen über den weiteren Stand der Dinge.

Keine Anrufe.

Keine E-Mails.

Ich wurde immer ungeduldiger. Dieses unendlich lange Warten hatte auch Auswirkungen auf meine gesamte Lebensplanung. Egal ob es um einen eventuellen Umzug, eine berufliche Veränderung, ja, selbst nur um eine Urlaubsplanung ging. Es war ja schon wichtig, zu wissen, ob dies mit einem weiteren Kind oder ohne dieses stattfinden würde.

Schließlich rief ich bei Frau Breuer-Höttges an, da ich dachte, es würde vielleicht noch irgendetwas an Unterlagen fehlen.

Der Anrufbeantworter!

Ich sprach meine Bitte um Rückruf darauf.

Irgendwann machte ich mir auch Sorgen, ob ich vielleicht bei dem Interview etwas Falsches gesagt hatte. Oder ob meine Lebensumstände als alleinerziehende Mutter vielleicht doch hinderlich waren. Aber warum rief sie mich dann nicht wenigstens an, um mir abzusagen?

---ENDE DER LESEPROBE---