In Putins Kopf - Michel Eltchaninoff - E-Book

In Putins Kopf E-Book

Michel Eltchaninoff

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Beschreibung

Zum Neujahrsempfang 2014 schenkte Wladimir Putin seinen 5000 wichtigsten Beamten drei philosophische Werke. Endlich wird in Umrissen erkennbar, was Putins Unberechenbarkeit noch verdeckt: Auf der Grundlage eines rückwärtsgewandten Weltbilds soll ein eurasisches Großreich unter russischer Hegemonie entstehen. Wenn man die obskuren Philosophen liest, auf die sich Putin und seine höchsten Beamten stützen, wird deutlich, dass Wladimir Putin ein gefährlich rückwärtsgewandtes Weltbild pflegt: Im 21. Jahrhundert möchte er eine hegemoniale Politik des 19. Jahrhunderts etablieren. Nachdem er die Modernisierung und den sozialen Ausgleich verspielt hat, träumt er mit nationalkonservativen bis reaktionären russischen Philosophen von einem eurasischen Weltreich. Es soll sich von Wladiwostok bis nach Warschau erstrecken, darf aber auch gern bis nach Paris reichen. Unter dem sanften Regime von Wladimir dem Großen, dem »lupenreinen Demokraten« (Gerhard Schröder).

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Michel Eltchaninoff

In Putins Kopf

Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten

Aus dem Französischen von Till Bardoux

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Dans la tête de Vladimir Poutine« im Verlag Actes Sud, Arles 2015

© Actes Sud, Arles, 2015

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Herburg Weiland, München

unter Verwendung einer Grafik von © Michael Pleesz, Wien

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN978-3-608-50231-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10931-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

EinführungPutin und die Philosophie

1. KapitelIn erster Linie Sowjetbürger

2. KapitelKant, Peter der Große und die Philosophie des Judo

3. KapitelDie erste philosophische Liebe des Präsidenten

4. KapitelDie konservative Wende

5. KapitelDer Russische Weg

6. KapitelDer eurasische Traum

7. KapitelDostojewski und Berdjajew, die falschen Freunde

8. KapitelWelche Art Imperium?

9. KapitelEine Ideologie für Europa und für die Welt

Anmerkungen

Danksagung

Personenregister

Einführung

Putin und die Philosophie

Russland, Anfang Januar 2014. Hohe Funktionäre, Gouverneure der Regionen und Kader der Partei Einiges Russland erhalten von der Präsidialverwaltung ein besonderes Neujahrsgeschenk – philosophische Werke! Unsere Aufgaben von Iwan Iljin(1), Die Philosophie der Ungleichheit von Nikolai Berdjajew(1), Die Rechtfertigung des Guten von Wladimir Solowjow(1), Werke russischer Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Würde Gogol(1) wieder zum Leben erwachen, beschriebe er, wie die imposanten Würdenträger, gewöhnt an feine Restaurants und Luxuswagen, nun über dieser Lektüre voller sibyllinischer Spekulationen schwitzen. Aber da müssen sie durch, dem allabendlichen Haareraufen zum Trotz. Der Präsident höchstselbst zitierte diese Autoren erst vor Kurzem in wegweisenden Reden, deshalb müssen sie zumindest versuchen zu verstehen, was er damit sagen wollte. Die Ausdauerndsten unter ihnen werden in diesen Büchern Wendungen finden, die merkwürdig nachhallen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass sich über die Zeiten hinweg Parallelen herstellen: die Rolle des Führers der Nation in einer authentischen Demokratie, die Bedeutsamkeit einer konservativen Haltung, die Sorge um die Verankerung der Moral in der Religion, den historischen Auftrag des russischen Volkes angesichts der tausendjährigen Feindseligkeit des Westens …

Als Nächstes werden im Februar 2014 Vorträge zum Thema Konservatismus gehalten, und einige der Funktionäre – die aus den Abteilungen Innenpolitik und Soziales in der Präsidialverwaltung, um genau zu sein – sind zur Teilnahme verpflichtet. Im März sind die Parteikader von Einiges Russland an der Reihe; sie müssen Kurse im Rahmen des Projekts »Bürgeruniversität« besuchen.1 Doch dieser Nachhilfe in Philosophie kommt ein historisches Ereignis in die Quere – die Annexion der Krim. Kein Grund, in seinem Bemühen nachzulassen, im Gegenteil. Vom 10. bis zum 20. August wird auf der gerade eroberten Krim das Jugendforum Tawrida 2014 abgehalten. Philosophen erklären dort den Jugendlichen die intellektuellen Quellen und die Aktualität der von Wladimir Putin eingeleiteten »konservativen Wende«. Boris Meschujew(1), Dozent an der angesehenen Moskauer Lomonossow-Universität, erinnert vor vollbesetztem Saal daran, dass das Land vor folgender schicksalhafter Entscheidung steht: »Sich als eine von den anderen getrennte Kultur aufzubauen […] oder sich als konservativer Retter Europas zu denken.«2 Mehrere Philosophiehistoriker, Spezialisten für das russische Denken, stehen ihm zur Seite. Zur gleichen Zeit halten in einem prächtigen Schloss am Ufer des Schwarzen Meeres, einer früheren Residenz von Zar Alexander III., weitere Philosophen Vorträge über das »konservative Denken in Russland« oder die »Rückkehr der Krim nach Russland als jüngste Phase in der Entwicklung des russischen Staates – vom Niedergang in den 1980er und 1990er Jahren zu einer Phase der Konsolidierung«. Die Philosophie ist im Russland des Jahres 2014 allgegenwärtig. Und es ist der Präsident höchstpersönlich, der diese Bewegung mit seinen Zitaten philosophischer Denker prägt.

Putin – ein versierter Kenner der Philosophie? Lassen wir die Kirche im Dorf. Der Mann ist kein Intellektueller. Er hat eher eine Vorliebe für Geschichte, Literatur und vor allem für Sport. Und bevor er sein Jurastudium an der Leningrader Universität erwähnt, erzählt er lieber von seiner Jugend als Gauner und Spion. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit präsentiert er sich als jemand, der das weite Land und die körperliche Ertüchtigung der Enge der literarischen Salons vorzieht. Und wenn er die Philosophie erwähnt, dann zumeist, um sich über die Haarspalter lustig zu machen oder um seine eigene Unwissenheit einzugestehen. Oder aber er versteht die Philosophie, wie viele Russen, im Sinne einer östlichen Weisheit. Gern zitiert er Laotse(1), den »großen östlichen Philosophen«,3 oder er erklärt, dass das von ihm praktizierte Judo die wahre Philosophie sei. Kurzum, niemand würde so weit gehen, aus Putin einen Intellektuellen zu machen.

Als politischer Lenker hegt Putin nicht den Wunsch, eine Staatsideologie nach sowjetischem Vorbild durchzusetzen. In dem programmatischen Text »Russland an der Jahrtausendwende«, den er 1999 genau zum Zeitpunkt des Antritts seiner Interimspräsidentschaft veröffentlicht hat, grenzt er sich von der kommunistischen Vergangenheit ab: »Ich bin gegen die Wiederherstellung einer staatlichen, offiziellen Ideologie in Russland in jedweder Form. In einem demokratischen Russland soll es kein erzwungenes bürgerliches Einvernehmen geben.«4 Er wird diese Aussage regelmäßig wiederholen: »Ich glaube nicht, dass uns eine herrschende Ideologie und Philosophie fehlt. Doch natürlich kann der Staat von einem Philosophen gelenkt werden – unter der Bedingung, dass er diese Sicht der Dinge teilt.«5 Er hat nichts gegen die Metaphysiker, aber an einem platonischen Philosophenkönig ist ihm dann doch nicht gelegen.

Wladimir Putin ist schließlich und vor allem eines: Realist. Er legt keinen Wert darauf, an irgendein ideologisches Joch gekettet zu werden, seinen Diskurs passt er den jeweiligen politischen Umständen an. Er möchte die Initiative behalten. Ein ganzer Schwarm von speechwriters umgibt ihn und unterbreitet ihm Vorschläge mit vielfältigen und wechselnden philosophischen Bezügen. Alle Personen, die bei den Recherchen zu diesem Buch befragt wurden, ob Präsidentenberater, Kommentatoren oder Intellektuelle, weisen die Idee einer »Philosophie Putins« zurück. Das wäre zu einfach. Jedoch ist dabei ein Detail bezeichnend: Nachdem sie mit Putin abgesprochen haben, eine kohärente philosophische Theorie zu besitzen oder anzuwenden, beginnen sie allesamt, die Namen der großen Denker aufzuzählen, die ihrer Meinung nach seine Weltanschauung und sein Handeln beeinflussen, und erklären, inwieweit Putin diesen oder jenen Aspekt aus deren Theorien wieder aufgreift.

Tatsächlich ist Putin, das deutet sich in seinen Reden und seinem Handeln an, von bestimmten philosophischen Ideen beeinflusst. Er ist, könnte man sagen, von Grund auf Sowjetmensch geblieben. Wie alle Bürger der UdSSR wurde er zu einem quasireligiösen Respekt vor den Büchern und großen Namen der Kultur erzogen. Weder in der Sowjetunion noch in Russland macht man sich über die Kultur lustig, und über die Philosophie, die bei den Studenten sämtlicher Fachrichtungen auf dem Lehrplan stand, ebenso wenig. Während seines Studiums lernt Wladimir Putin die Namen und Lehren der großen russischen und ausländischen Denker kennen. Zudem ist er bei seiner Rückkehr aus der DDR, nach dem Fall der Berliner Mauer und nach fünfjähriger Mission für den KGB, sicherlich überrascht über die blühende Verlagslandschaft, die sich in seiner Abwesenheit entwickelt hat. In einigen Jahren Perestroika sind zahlreiche Autoren zum ersten Mal veröffentlicht oder neu aufgelegt worden – religiöse Philosophen, emigrierte Denker, große, bisher nicht publizierte ausländische Schriftsteller. Die Philosophie ist damals sehr in Mode. 1994 kehrt Solschenizyn(1) nach Russland zurück und lässt Ideen wieder aufleben, die man für verschwunden hielt. Außerdem ist Putins Geburtsstadt Leningrad, die seit 1991 wieder ihren alten Namen Sankt Petersburg trägt, eine intellektuelle Metropole. Viele Philosophen, die mehr oder weniger als Dissidenten gelten, leben hier. Gut möglich, dass Putin einigen von ihnen über den Weg gelaufen ist. In jedem Fall muss die brodelnde Stimmung jener Zeit unweigerlich seine Aufmerksamkeit erregt haben, zumal eine Spezialabteilung des KGB die ideellen Debatten mitverfolgt, die die Gesellschaft umtreiben. Dazu brauchte man damals übrigens nur den Fernseher einzuschalten, und schon konnte man die leidenschaftlichen Debatten über diesen von der Sowjetpropaganda verleugneten oder entstellten Bereich der Kultur miterleben.

Als er im Jahr 2000 die Amtsgeschäfte des Präsidenten eines zwischen Sowjetnostalgikern, antikommunistischen Demokraten und mehr oder weniger prosowjetischen Nationalisten gespaltenen Landes übernimmt, benötigt Putin eigene ideologische Orientierungspunkte, um pragmatisch und anpassungsfähig zu wirken. Er will seine Mitbürger von der Solidität seines Denkens und Handelns überzeugen. Die Leute sollen eine gut strukturierte Rede hören. Um das Land neu aufzubauen, muss man das Volk zusammenschweißen und den Funktionären eine klare Richtung vorgeben. In einem Land, in dem die Mechanismen der politischen Entscheidungsfindung noch immer sehr undurchsichtig sind, wird jedes seiner Worte sorgsam geprüft. Wenn Putin also, wie noch zu sehen sein wird, in seinen Reden, vor allem seinen großen Ansprachen an die Nation oder ihre Repräsentanten, diesen oder jenen Philosophen zitiert, ist das alles andere als ein Zufall.

Putin hat in den Jahren von 2000 bis heute eine Entwicklung durchlaufen. Er hat seine Überzeugungen nicht geändert, sondern sich in dem Maße, in dem sie sich herauskristallisierten und von neuen ideellen Bezügen profitierten, mehr und mehr getraut, sie zu äußern. Seine zweite Amtszeit von 2004 bis 2008 ist von einer spürbaren Anspannung gekennzeichnet. Sein drittes, 2012 einsetzendes Mandat hat eindeutig im Zeichen der Revanche begonnen – Revanche an den Demonstranten gegen seine Rückkehr an die Macht und Revanche am Westen. 2013 haben Putins Ansichten eine konservative Wendung genommen. Im Jahr darauf ist er zum Imperialisten geworden. Immer deutlicher verkörpert Putin die Vergeltung derer, die den Untergang der UdSSR und ihre Umwandlung in eine Demokratie nicht ertragen haben. Der russische Präsident möchte seine Spuren in der Geschichte hinterlassen. Dafür sind Ideen unverzichtbar, die tief in der Geschichte des Landes verankert sind. Die Frage, ob er an sie glaubt oder nicht, ist dabei nebensächlich. Vielleicht ist Wladimir Putin wie Dostojewskis(1) Held Dmitri Karamasow ein »weites Gefäß«, zugleich ernsthaft zynisch und ernsthaft idealistisch.

Bevor die philosophischen Vektoren des »Putinismus« erkundet werden, ist noch ein Wort zur Entourage des Präsidenten zu sagen. Wer erzählt ihm von Philosophie? Wer schwärmt ihm von seiner letzten Lektüre vor? Wer bewegt ihn dazu, Passagen aus Werken zu lesen, die vor einhundert Jahren geschrieben wurden, aber sich anscheinend auf die aktuelle Lage anwenden lassen? Es seien hier zunächst zwei bedeutende Berater Putins, die aus weiter zurückliegenden Zeiten bekannt sind, genannt.Wladislaw Surkow(1), den die Presse als seinen »Rasputin« betrachtet, jener talentierte Schöpfer des Konzepts der »souveränen Demokratie«, jener Experte in »politischen Technologien«, der ad hoc Parteien und Jugendbewegungen aus dem Boden stampfte, hat auch nach den Protesten von 2011 seinen Einfluss nicht verloren. Nachdem Surkow sich eine Zeit lang eher im Hintergrund hielt, wurde er Berater des Präsidenten in Sachen der Ukrainepolitik. Gleb Pawlowski(1), der Putin in den 2000er Jahren, der Hochzeit der »gelenkten Demokratie«, mit Ideen belieferte, gehört nicht mehr zum intellektuellen Umfeld des Präsidenten. Laut den Interviewpartnern für dieses Buch liest Putin weder Zeitungen, noch zieht er das Internet zurate, da es ihm nicht vertrauenswürdig erscheint. Aktuelle Nachrichten erhält er durch Akten, die ihm zugestellt werden, oder durch rote Dossiers, die ihm von Mitarbeitern auf dem Schreibtisch bereitgelegt werden. Aber wer liefert ihm die Informationen, die er für sein Handeln benötigt?

Zunächst sind das seine Freunde und engen Verbündeten der Silowiki-Clique, die sich aus Mitgliedern der Armee, der Polizei oder der Geheimdienste zusammensetzt, und die oftmals wie er aus Sankt Petersburg stammen. Vergleicht man die Quellen und Erklärungen der russischen Interviewpartner für dieses Buch, so lassen sich ein halbes Dutzend Personen anführen, die dem Präsidenten im Rahmen seines politischen Handelns quasi täglich zur Seite stehen: Alexander Bortnikow(1), seit 2008 Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB; Alexander Bastrykin(1), Chef des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, neben dem Generalstaatsanwalt der höchste Strafverfolgungsbeamte Russlands und ein Kamerad Putins schon aus Studienzeiten; Igor Setschin(1), ein weiterer Putin sehr nahestehender Petersburger, Vorstandsvorsitzender des Mineralölkonzerns Rosneft, der im Verdacht steht, einer der Hauptverantwortlichen für die Verhaftung von Michail Chodorkowski(1) zu sein, und den die Financial Times 2010 als den (nach Putin und Medwedew(1)) »dritten Mann« im russischen Machtgefüge bezeichnete; Juri Kowaltschuk(1), Oligarch mit großen Beteiligungen im Banken- und im Mediensektor; Wladimir Jakunin(1), Präsident der russischen Eisenbahngesellschaft; der Verteidigungsminister Sergej Schoigu(1); und in geringerem Ausmaß Dmitri Rogosin(1), Stellvertretender Ministerpräsident, zuständig für den militärisch-industriellen Sektor und sehr aktiv während der Ukrainekrise … Innerhalb dieser Gruppe ist Wladimir Jakunin(2) die Person, die am tiefsten im russischen Denken und einer konservativen Weltanschauung verwurzelt ist. Der Doktor der Politikwissenschaften organisiert aufwendige intellektuelle Treffen im Rahmen des World Public Forum »Dialogue of Civilizations«, und er verteidigt leidenschaftlich antiwestliche Positionen. Jakunin(3) ist streng gläubig und begibt sich jedes Jahr zur orthodoxen Ostermesse nach Jerusalem, um das dort auf wundersame Weise erscheinende »Heilige Feuer« nach Russland zu bringen. Er sieht sich als eine der Speerspitzen einer religiösen und moralischen Wiedergeburt Russlands. Schließlich beeinflussen noch zwei weitere Männer, obwohl sie keine Politiker sind, das politische Denken des russischen Präsidenten. Der berühmte Filmregisseur Nikita Michalkow(1) behauptet seit zwei Jahrzehnten, das Wiederaufleben eines »Weißen Russlands« nach dem Untergang des Kommunismus zu verkörpern. Er steht dem Präsidenten nahe und muss ihm von seinen Lektüren berichten. Wie noch zu sehen sein wird, hat er ihn mit dem Werk des Philosophen Iwan Iljin(2) bekannt gemacht. Außerdem soll Putin einen Beichtvater haben, Vater Tichon Schewkunow(1). Der ehemalige Student der Moskauer Filmhochschule ist heute Archimandrit des Sretenski-Klosters im Zentrum Moskaus. Er ist mächtig und gefürchtet. Man spricht ihm einen realen Einfluss auf den Präsidenten zu.6

Was verbirgt sich hinter diesen Begegnungen, diesen Lektüreberichten, dieser von Brüdern im Geiste geteilten Weltanschauung? Eine seit Jahren verschwommen geahnte Doktrin schält sich immer deutlicher heraus. Sie ist nicht minder komplex als die rätselhafte und unberechenbare Person Putin. Doch nach dem Lesen und Studieren der – nicht immer übersetzten – Klassiker des russischen Denkens, nach Unterredungen mit bewanderten Kommentatoren und Akteuren des intellektuellen Lebens in Russland, nach dem Zerpflücken von Putins Reden seit seinem Amtsantritt als Präsident zeichnet sich ein Bild ab. Diese Doktrin setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen. Ausgehend von einem sowjetischen Erbe, zu dem sie aus Überzeugung stehen, und einem nur vorgetäuschten Liberalismus ist die erste Ebene eine konservative Vision. Die zweite ist eine Theorie des Russischen Weges. Die dritte schließlich ist ein von den eurasischen Denkern inspirierter imperialer Traum. Und obendrein steht all das im Zeichen einer sich wissenschaftlich gebenden Philosophie.

Diese hybride und sich wandelnde Doktrin verheißt uns eine unruhige Zukunft. Wagen wir einen Blick.

1. Kapitel

In erster Linie Sowjetbürger

Versucht Putin die UdSSR zu rekonstruieren? Sein Projekt einer Eurasischen Union und seine Offensive in der Ukraine legen das nahe. Und geschieht dies, falls dem tatsächlich so ist, aus Nostalgie für die Sowjetunion? Was sagen die Fakten? Wenn er sowjetophil ist, dann zuallererst aus Treue zu seinen Wurzeln. Wladimir Wladimirowitsch Putin wird 1952 in Leningrad, der Stadt der russischen Revolution, geboren. Die ausgezehrte und zerrüttete Stadt zeichnen noch die Spuren einer mörderischen, fast zweieinhalbjährigen Blockade. Stalin(1) ist noch am Leben. Putins(1) Vater kämpfte während des Zweiten Weltkriegs in den Reihen des NKWD, der Politischen Polizei, die für die Kriegsgefangenen und für die Durchsetzung der Befehle des Oberkommandos zuständig war, und wurde verwundet. In Leningrad ist er Facharbeiter in einem Werk für Eisenbahnwaggons und Mitglied der Kommunistischen Partei, jahrelang ist er in der Parteigruppe seines Werks aktiv. Im Gegensatz zum atheistischen Vater ist Putins(1) Mutter gläubig, sie lebt von kleinen Jobs. Dem Großvater(1) von Wladimir Wladimirowitsch war ein deutlich ungewöhnlicheres Schicksal innerhalb des kommunistischen Regimes beschieden. Kurz nach seinem Aufstieg zum Präsidenten Russlands muss Putin sich zu diesem Punkt erklären. »Was würde Ihr Großvater von seinem Enkel denken, der nun zu einem demokratisch gewählten Präsidenten geworden ist?«, fragt ihn ein amerikanischer Journalist. Putin, leicht peinlich berührt, antwortet: »Die Tatsache, dass mein Großvater(2) als Koch für Stalin(2) gearbeitet hat, sagt überhaupt nichts über seine politischen Ansichten. Das war damals ein anderes Land, mit einem anderen Leben.«1 Tatsächlich hatte Putins Ahne nicht nur für Stalin(3) aufgewartet, sondern zuvor auch schon für Lenin gekocht, bevor er(3) seinen Lebensabend schließlich in einem Heim der Partei verbrachte.

Trotz dieses linientreuen Stammbaums ist der junge Wladimir meilenweit von allem leninistischen Eifer entfernt. Nach allem, was man von ihm weiß – und man weiß nur, was er selbst zu erzählen beliebt, denn gleich nach seinem Machtantritt stellt er seine Biographie streng unter Verschluss –,2 glaubte er nie wirklich an den Kommunismus. Marx zitiert er in seinen Reden und Interviews allenfalls, um ihn zu kritisieren. Selbst Scherzen ist er nicht abgeneigt, so auch bei einem Treffen mit Kulturschaffenden im August 2014, als sein Interviewpartner Marx und Engels zitiert: »Die Deutschen sind schuld, sie haben uns die beiden aufgedrängt und ihren Marxismus zu uns exportiert …«3 Oft beteuert er, nie an das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft geglaubt zu haben: »Ich war überzeugt davon, dass die kommunistische Idee ein schönes Märchen war, allerdings […] ein gefährliches schönes Märchen […], das nicht nur in eine ideologische, sondern auch in eine ökonomische Sackgasse führt.«4 Das ist ein entscheidender Punkt: Da er beim KGB arbeitete und den Entwicklungsrückstand der UdSSR im Verhältnis zu den westlichen Industriestaaten genau kannte, wusste Putin bereits »Mitte oder Ende der 1980er Jahre«,5 dass das staatlich gesteuerte Wirtschaftssystem mit Sicherheit auf den Bankrott zusteuerte. Er zeigt sich also auf ökonomischer Ebene schon von jeher als eher liberal. Wenn er auch kein Antikommunist ist, so glaubt er als junger Mann doch wie viele seiner Mitbürger weder an die Propaganda noch auch nur an den Traum von einer klassenlosen Gesellschaft. Er ist Pragmatiker, und als solcher konstatiert er das Scheitern der Planwirtschaft.

Indessen teilt Wladimir Putin die hauptsächlichen Werte der sowjetischen Gesellschaft voll und ganz. Vielleicht hat er nicht dieselben politischen Überzeugungen wie sein Großvater oder sein Vater, doch er beteuert, dass er das Wesentliche mit ihnen gemeinsam hat: den Patriotismus. In dem Interview über seine Vorfahren führt er seine Antwort mit einem Gegenangriff fort: »Alle Mitglieder meiner Familie liebten und lieben Russland, haben sich meiner Heimat gegenüber als Patrioten erwiesen und mich in genau diesem Geist erzogen.«6 Was man in der Sowjetunion vor jeglicher kommunistischer Ideologie lehrte, ist ihm zufolge »die Liebe zur Heimat«.7

Eine weitere Sphäre von immenser Bedeutung für das sowjetische Leben, für die der junge Mann schwelgt, ist die Militärkultur. In ihren Chroniken des sowjetischen Lebens legt die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch(1) deutlich diesen für das Verständnis der heutigen Ereignisse grundlegenden Zug bloß: »Unser Land war durch und durch militärisch, rund 70 Prozent der Wirtschaft bediente die Bedürfnisse der Armee. Genau wie unsere besten Köpfe … Physiker, Mathematiker …«8 Männer, Frauen, Kinder – alle waren der Militärideologie unterworfen. Die Bildung war militaristisch, die Kinder mussten Kriegsliteratur lesen, um sich auf die Selbstaufopferung vorzubereiten. Der Militärdienst mit seinen grausamen Schikanen und seinen virilen Initiationsriten stellte einen der wichtigsten Aspekte des sowjetischen Lebens dar. Die Stimmung des gesamten Daseins zwischen Militärparaden, Helden- und Märtyrerkult und kollektiver Disziplin war allgemein martialisch. »Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld … ja, warte, hab Geduld … Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen, in Baracken«, heißt es bei Swetlana Alexijewitsch(2) weiter.9 Selbst heute noch ist die Art und Weise, wie im zivilen Bereich gesprochen und sich an sein Gegenüber gewandt wird, in der gesamten ehemals sowjetischen Zone von einer trockenen, militärischen Effektivität geprägt. Im Übrigen gebe es in dem großen Kampf zwischen kapitalistischer und kommunistischer Welt ohnehin »keine Grenze zwischen Krieg und Frieden. Es herrscht immer Krieg«, so zumindest fasst es einer jener Normal-Sowjetbürger zusammen, die von Swetlana Alexijewitsch(3) interviewt wurden.10 Wladimir Putin, aufgewachsen einige Jahre nach Kriegsende in der für immer in unantastbarer Erinnerung bleibenden »Heldenstadt«, ist ein Kind dieses alltäglichen Militarismus. Gekämpft hat er jedoch nicht. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und nahm nicht an der Invasion Afghanistans zwischen 1979 und 1989 teil. Während des ersten Tschetschenienkonflikts (1994–1996) ist er bereits ein hoher Funktionär. Den zweiten, 1999 begonnenen leitet er selbst in die Wege. Wladimir Putin verhält sich umso martialischer, als er den Krieg nie kennenlernte. Wenn er sich selbst gern als mannhaften Helden darstellt, dann weil er von diesem Bild getrieben ist.

Ein bedeutender Wesenszug dieser militaristischen Kultur bestimmt die spontane Geschichtsauffassung zahlreicher Sowjetbürger. Die UdSSR stoppte als erste Nation den deutschen Vormarsch, zwang in Stalingrad die gegnerische Armee in die Knie und drängte sie dann bis nach Berlin zurück. Stalin(4), der mit Hitler(1) paktiert hatte, wurde in den Augen der Welt zum großen Sieger des Konflikts. Die Kultur des permanenten Krieges ist auch die Kultur des Sieges. Und diese verleiht nach Meinung der russischen und sowjetischen Führungsriege den Siegern bestimmte Rechte. In seiner wachsenden Begeisterung für die Armee, die mit einer stetigen Erhöhung ihres Budgets einhergeht, beruft Putin sich 2012 zu Beginn seiner dritten Amtszeit auf den Sieg gegen den Nazismus, um Russland eine Art moralische Überlegenheit in den internationalen Beziehungen zuzusprechen. In seiner Rede während der Parade vom 9. Mai verkündet er: »Wir haben ein unermesslich großes moralisches Recht, unsere Positionen auf grundlegende und dauernde Weise zu verteidigen. Denn unser Land war es, das den Großteil der Nazioffensive zu erdulden hatte […] und den Völkern der ganzen Welt die Freiheit geschenkt hat.«11 Noch argwöhnte niemand, dass diese traditionelle Rhetorik, die in der ehernen Terminologie der UdSSR den völkerbefreienden Soldaten dem »Faschisten« gegenüberstellt, schon bald wieder auftauchen würde, um die russische Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen. Doch das Argument ist bereits zur Hand.

Eine weitere sowjetische Institution nimmt im Leben Wladimir Putins einen wesentlichen Platz ein: der KGB (Komitee für Staatssicherheit), der nach dem Untergang der UdSSR zum FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) wurde. Der Legende nach, die er selbst konstruierte und sorgfältig unter Kontrolle behielt, soll sich der junge Wladimir mit sechzehn Jahren selbst beim Leningrader Sitz des KGB beworben haben, um seine Heimat zu verteidigen. Man riet ihm jedoch, zunächst zu studieren, bevor man ihn einige Jahre später einstellte. Putin legt in den autorisierten Biographien und in seinen Interviews großen Wert auf das romantische Bild des unbestechlichen und tapferen Spions. Nur zu gern möchte er die hunderttausenden Opfer der Politischen Polizei unter Stalin(5) und später die erbarmungslose Jagd auf Dissidenten und andere Abweichler, an der er sicherlich beteiligt war, in Vergessenheit geraten lassen. Ihm zufolge ist der KGB / FSB das Elitekorps des russischen Vaterlandes. Mögen die kommunistischen Spitzenpolitiker auch korrumpiert, mag ihr Handeln durch die Ideologie auch beschränkt sein, die Geheimpolizei ist über den Rückstand des kommunistischen Blocks auf dem Laufenden und bildet die Speerspitze bei der Wiedergeburt des Landes. Kurzum, der ideale Machthaber ist eine von der Bevormundung der Partei befreite Politische Polizei. Putin bekräftigt dies, kaum dass er an der Spitze des Staates angelangt ist: »Der KGB war eine ideologische Organisation im Dienste der Interessen einer herrschenden Partei – der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Jetzt bei uns gibt es gottlob keine alleinregierende Partei, keine kommunistische Staatsideologie mehr.«12 Der FSB kann nunmehr mit völlig freier Hand seine Mission erfüllen: »Die Interessen des Staates verteidigen.«13 Darüber hinaus lobt Putin die professionellen Qualitäten, die bei der Berufstätigkeit des Spions gefördert werden, in den höchsten Tönen: »Die Kompetenzen bei der Arbeit mit Menschen: zuhören können, verstehen können.«14 Diese Fähigkeit, sich auf sein Gegenüber einzustellen und ihn in Sicherheit zu wiegen, wird Putin von denen, die ihm begegnet sind, oftmals bescheinigt. Definierte er sich in seiner Jugend nicht selbst als »Spezialist im Umgang mit Menschen«?15

Da diese Opposition zur marxistisch-leninistischen Ideologie mit einer unverbrüchlichen Treue zur Sowjetunion und zu einer ihrer wichtigsten Institutionen, der Politischen Polizei, gepaart ist, macht das Putins Haltung gegenüber dem sowjetischen Jahrhundert zumindest nachsichtig. Sicher ist, dass er nie eine neue Hinterfragung der sowjetischen Vergangenheit auf den Weg bringen wollte. Schon Boris Jelzin(1), der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands, hatte den Vorschlag des einstigen Dissidenten Wladimir Bukowski(1) zur Durchführung eines »Nürnberger Prozesses« gegen die sowjetische Führungsriege abgelehnt. Putin scheint einige Jahre später nicht eine Sekunde lang eine solche Möglichkeit zu erwägen. Für ihn kommt auch nicht infrage, einer Aufarbeitung des kommunistischen Jahrhunderts und seiner Repressionen Vorschub zu leisten, um dadurch die schleichende Renaissance seiner Werte und Diskurse zu verhindern. Er ist der Ansicht, dass das russische Volk während des Jahrzehnts der Freiheit, doch auch der Instabilität, das dem Untergang der UdSSR folgte, genügend gelitten habe. Dass er der sozialen Stabilisierung Priorität einräumt, erlaubt ihm, eine kollektive Bewusstseinsprüfung zu vermeiden. Geschickt doziert er: »Sein Verhältnis zum Kommunismus zu klären heißt nicht, Säuberungsaktionen zu organisieren und Menschen allein auf Grundlage dessen zu verfolgen, dass sie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sind oder in bestimmten, mit der Partei in Verbindung stehenden Militärorganisationen gearbeitet haben. Das wäre der größte Fehler, den man begehen könnte. Es würde in der gesamten Gesellschaft Zwietracht säen.«16