In sich gehen - zu sich kommen - Ludwig Schönbein - E-Book

In sich gehen - zu sich kommen E-Book

Ludwig Schönbein

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Beschreibung

Für eine grundlegende Neuausrichtung ist oft ein äußerer Aufbruch, ein Sich-auf-den-Weg-Machen jenseits bisher benutzter Pfade notwendig. Eine Pilgerreise zum Beispiel. Schönbeins Gedanken und Reflexionen sind weit mehr als nur Selbst-Gespräche eines Wanderers. Sein Pilgerweg ist eine Bestandsaufnahme, eine Art Lebensbilanz und Ermutigung für andere, sich der Betrachtung des eigenen Lebens und seiner Beziehung zu den Mitmenschen und zu Gott zu stellen. Ein Buch für alle spirituell Interessierten, die innerlich und äußerlich unterwegs sind, speziell auch auf dem Jakobsweg.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Verlag der Ideen, Volkach

www.verlag-der-ideen.de

eISBN: 9783942006897

Covergestaltung und Satz:

Jonas Dinkhoff, www.starkwind-design.de

Coverfotografie: misterQM / photocase.de

Printed in Germany

Ludwig Schönbein

IN SICH GEHEN ZU SICH KOMMEN

Unterwegserfahrungenund Pilgergedanken

Ludwig Schönbein, geb. 1947 in Bad Mergentheim, studierte Theologie, Philosophie, Geschichte und Caritaswissenschaft; war viele Jahre als Lehrer am Hohenlohe-Gymnasium in Öhringen tätig, wo er heute noch lebt und sich ehrenamtlich engagiert.

Inhalt

Der lange Weg zum ersten Schritt

Ultreia!

Unsortiertes zum Pilgerphänomen

Todesschauer als Ersatzreligion

»Venceremos!«

Suche nach dem Mysterium

Wie gelebt, so gestorben?!

Logrono. Hauptstadt der Weinregion Rioja

Sakrileg im friedlichen Kreuzgang

Beim Einsiedler in St. Juan de Ortega

Irrationale Freude in Burgos

Dekonstruktion im Outback

Gehirnjogging als Pilgerdisziplin

»Ja Pablo, wie schaust denn du aus?!«

Unterwegs mit dem heiligen Franziskus

Innerlich als Pilger angekommen

»Hey du, Peregrino!«

Eine konkrete Utopie

Galizien

»Buen camino!«

»Alle waren mir so seltsam nah« (Rilke)

»Santiago!«

»Chapeau, Johan!«

Verdurstet vor der Quelle

Die »erste europäische Kulturroute«

»… und sonst nichts mehr am Hut?

»… ich möchte viele Pilger sein …« (Rilke)

»Auf euch alle! A su salud!«

Der Pilger bleibt der gleiche, ist aber nicht mehr derselbe!

Der lange Weg zum ersten Schritt

Er redete und redete und redete über Gott und die Welt oder ein Drittes. Vermutlich über unaufgebbare Prinzipien einer konzeptionellen Familienpolitik. Er bemerkte wohl selbst wie ihm das Interesse und die Aufmerksamkeit der zur Bildung »aus erster Hand« zusammengetrommelten jugendlichen Zuhörer immer mehr entglitt. Bis er schließlich etwas abrupt seine sicher gut gemeinten und sachlich fundierten, aber dieses Publikum überfordernden Ausführungen beendete mit der eigentlich abschließend gedachten Floskel: »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Als dann jemand nach langer Pause gleich zwei Fragen stellte, die noch dazu mit dem Vortragsthema rein gar nichts zu tun hatten, spitzten sich plötzlich die Ohren und hellwach war die mit starren offenen Augen vor sich hin dösende Herde:

»Was machen Sie, wenn Sie mal im Ruhestand sind« – der ihn dann schneller einholte als ihm lieb war – »und haben Sie noch so etwas wie unerfüllte Träume?«

Der etwas trocken dozierende Bundesfamilienminister Bruno Heck blühte plötzlich auf, weil er merkte, jetzt tatsächlich gefragt zu sein.

Ob das aufgeworfene Thema ein typisches Beispiel für spätpubertären Bildungsverdruss war oder gar noch Teil einer subtil anklopfenden religiösen Rest-Sehnsucht, sei dahingestellt.

Der Minister reckte den Rücken hinter dem für ihn etwas zu groß geratenen Rednerpult und parlierte jetzt ganz locker drauflos. Offensichtlich begeistert darüber, auch einmal über seine Träume berichten zu dürfen. Und das Publikum hörte jetzt gespannt zu, als er zum großen Erstaunen aller von einem fast in Vergessenheit geratenen mittelalterlichen Pilgerpfad zum nordspanischen Santiago de Compostela erzählte. Diesen Weg zum Grab der Gebeine des heiligen Apostels Jakobus d. Älteren würde er gerne ausfindig machen. Ja, diesen Traum habe er noch. Die Lunte war gelegt.

Das noch kleine Feuer der Begeisterung kokelte jahrelang vor sich hin. Neu entfacht wurde das Interesse dann durch einen in Bietigheim entdeckten Holzschnitt von Detlef Willand, der einen Pilger zeigt, wie er einen imaginären Grenzstrich überschreitet.

»Im ersten Schritt liegt der ganze Weg«, schrieb der Künstler dazu. Ein Besuch der von Sieger Köder ausgestalteten St. Jakobuskirche in Hohenberg bei Ellwangen gab dann den entscheidenden Kick. Die Glasfenster beeindrucken durch ihre Farbigkeit und ihre unverkennbare Originalität. Sie wecken im Betrachter das Interesse an vielleicht noch nicht entdeckten oder inzwischen wieder vergessenen biblischen Geschichten. Als »biblia pauperum« sind sie heute wieder aktuell. Früher waren die »Armen« angesprochen, die nicht lesen konnten, heute sind es die, die Bibel nicht gelesen haben.

Die Pilgergemälde am Pfarrhaus nebenan sprachen mich so an, dass es mich vehement zum Aufbruch drängte. Ein paar Wochen später war es dann so weit. Ich machte mich auf zu einem in dieser Art mir bislang unbekannten und zugleich sehr vielschichtigen kleinen Abenteuer. Der Funke war übergesprungen.

Was Pilgern ist, war mir aber noch nicht ganz klar. Von einkalkulierter, aber dennoch häufig unterschätzter Entbehrung war die Rede. Auch von streckenweise großer Einsamkeit, viel Zeit zu innerer Einkehr und von gelegentlichen Selbstgesprächen. Von manchem Mysteriösen und von »Perlen am Weg«. Aber nie von spröder Ereignislosigkeit oder häufigen Scheinangriffen verwilderter Hunde. Auch von profanem Sockenwaschen im Bach war, soweit erinnerlich, nicht die Rede. Von abstrakt bis »andefiniert« reichte die Bandbreite des Ungefähren. Vielleicht reizte gerade das Ungriffige, dass ich hinter diesen Nebelvorhang schauen wollte.

Ohne die früher übliche Verabschiedung mit Requiem zog ich schließlich los. Auf den Spuren der Pfadfinder Bruno Heck und Sieger Köder. Im Mittelalter hätte ich mir mit Sicherheit noch überlebenswichtige kirchliche Geleitpapiere für die Pilgerlizenz mit Übernachtungsund Verpflegungsanspruch in Klöstern besorgt – zu allererst die Erlaubnis des Leibherrn. Und die hätte ich dann immer eng am Leib getragen. Denn ohne Papiere galt man als rechtlos. In diesen armen Zeiten genügte der bloße Verdacht, ein auf Gelegenheitsdiebstähle angewiesener und spezialisierter Landstreicher zu sein, um »zum Strick am Galgen« verurteilt zu werden.

In Santo Domingo de la Calcada ist man wegen einer aus solch einem Hintergrund untergeschobenen Untat mit einem armen Pilger aus Deutschland verfahren. Die Hühnerlegende, die in der Winnender Schlosskirche St. Jakob so schön dargestellt ist, hat darin ihren Kern.

Ich konnte nichts mehr hören und wollte nichts mehr lesen. Wollte nur noch weit weg. Blockiert war die Arbeitsfreude, platt die Fantasie und leer der Akku. Etwas anderes musste ich sehen, etwas Neues erleben und ich sehnte mich nach starken Bildern und frischen Gedanken.

Solcherart disponiert auf unbedingten Aufbruch in eine andere Welt interessieren mich weder Paris, noch Bayonne, nur St. Jean Pied de Port. Dort am Fuß der Pyrenäen bündeln sich die Wege der Santiagopilger aus aller Welt. Und dort beginnt im Aufstieg für viele schon am ersten Tag eine unerwartet harte Korrektur der Erwartungen.

Ultreia!

Die kleine Rotwein-Degustation beim abendlichen Rundgang schmeckt nicht so recht. Sind mir die Sinne schon voraus? Ahnen sie, dass sich die so ersehnte hochsommerliche Wandertour schon am ersten Tag als knochenharte Fastentortur entwickeln wird?

Zum wiederholten Male verfolge ich auf der Karte die Wegstrecke der nächsten Tage. Ich bin neugierig und gespannt, was sich hinter Ortsnamen verbirgt, wo und wie ich nächtigen werde. Im Gebüsch, im Wald, in Ruinen oder unter Brücken, in Arro oder Erro oder im Nirgendwo.

Um sechs Uhr breche ich auf ins nasskalte Dunkel. Stehe unter Dampf. In drei Wochen fährt der Zug! Da heißt es dann Kilometerfressen als Zeitpuffer. Ich weiß ja nicht, was einen Pilger so alles erwartet. Ich suche den Einstieg zum Aufstieg. Da nirgends Zeichen zu sehen sind, steuere ich gleich einmal in eine Sackgasse.

Typisches Pyrenäenwetter kommt auf mit Nieselregen und Nebel. Weiter oben dann Schneegestöber. Ich stapfe durch Dreckwege, jongliere durch verschlammt-glitschige Hohlwege und verliere im Nebel mehrmals den Weg, gerate auf Irrwege und reiße mich durchs Dornengestrüpp. Schwer schnaufend stemme ich mich steile und enge Pfade hinauf und empfinde mit wachsendem Verdruss den Vormittag als Parabel für die Realitäten des Lebens. Den Einstieg in die Pilgerei hatte ich mir etwas anders vorgestellt!

Plötzlich taucht im Nebel ein Schild mit gelben und roten Pfeilen auf und puscht mich weiter mit dem Aufruf »Ultreia!« – Dieser Ansporn findet sich in der ersten Woche immer einmal wieder auf Steinen oder an Hütten. Für so manchen Pilgeraspiranten ist das wichtig, wenn er wegen erster ungewohnter Beschwerden schwächelt oder gar aufgeben will. Dass da jemand ganz offensichtlich mitfühlt, mitdenkt und Mut macht, tut gut. Nur nicht aufgeben! »Ultreia!«, »Vorwärts!« Irgendwie geht es immer weiter. Irgendwie und irgendwann findet sich immer wieder ein Pfad, auch aus scheinbar weglosem Terrain. Für manchen armen Pilger war oben am Ibanetapass schon Endstation. Manche gaben entkräftet auf. Einige gingen bei dichtem Schneefall im Kreis und erfroren jämmerlich. Lautlose Einsamkeit umgibt mich. Irgendwoher riecht es nach Schaf. Und einmal drängt tatsächlich so ein neugieriges Rundhorn durch die Nebelwand und ist im selben Moment wieder verschwunden.

Der Weg führt mich mittags am Rolandsdenkmal vorbei zur Wallfahrtskirche in Roncesvalles. Ein mystischer Ort. Nicht nur hinsichtlich des Schicksals der hier gefallenen Gefährten Karls des Großen, sondern auch hinsichtlich der Mühen und Gebrechen, Sorgen und Ängste, Gebete und Gesänge von Millionen Pilgern, die sich seit über tausend Jahren hierher auf diesen Pass hoch mühen, um dann hier im Kloster in doppeltem Sinn ein Refugio zu finden. Ich lege meine nassen und durchschwitzten Klamotten auf das Pflaster hinter dem Kloster und hänge sie dann beim Weitermarsch über den Rucksack.

Die große Stille hier oben tut gut. In der ersten Euphorie fühle ich mich fast schon als Pilger. Sollte ich einen Ort nennen, an dem sich das Beten von allein einstellt es wäre der hier.

Ich warte auf den Pilgerstempel des Priors. Wie auch Antoine und Sabine aus Basel. Sie sind per velo unterwegs. Auf dem Ausweis hat man sein Motiv anzukreuzen: »sportlich« oder »religiös?« und »a caballo – en bicicleta – a pied?«.

Wer nur »sportive Interessen« ankreuzt, wird belehrt, dass das nicht ausreicht, um in Santiago das »Credential« ausgehändigt zu bekommen. Pilgern soll ja auch mehr sein als erholsames Wandern und genussvolles Verweilen in schönen Landschaften. Und es soll auch etwas anderes sein als ein Aufsuchen kultureller Ziele. Formal bin ich nun Pilger. Das habe ich jetzt schriftlich. Für jede Polizeistation, die abstempelt, und für so manche Unterkunft, die sich damit wohl Landstreicher und Schnorrer vom Hals hält.

Vorerst kombinieren sich diffuse überdrehte Erwartungen mit vielen kleinen Schritten und Beobachtungen. Ich konzentriere mich auf Einzelaspekte und ertappe mich dabei, dass ich versuche jeweils einen höheren spirituellen Sinn zu basteln, wo sich eigentlich gar keiner aufdrängt. Auch außerhalb der Kirche suche ich nach Orten der Transzendenz. Da muss doch was ins Auge springen?! Außer dem keltischen Kreuz gleich nebenan finde ich aber nichts Bemerkenswertes. Ich will etwas erzwingen, festhalten, etwas haben, will möglichst viel einsammeln und mitnehmen. In jeder Ecke suche ich nach Motiven zum Fotografieren. Wie gehabt. Ich bin noch ganz im alten Modus.

Von frischer Meeresluft aktiviert schreite ich nach der Mittagspause kräftig aus in ein bewusst karges dreiwöchiges Pilgerdasein. Auf dem tausendjährigen Pilgerpfad will ich mich auch authentischen Bedingungen unterwerfen, um annähernd Authentisches zu erfahren. Das heißt: Gebetszeiten, karge Ernährung, kaum Bequemlichkeiten und Ausschau halten nach besonderen spirituellen Türen, Zugängen und Begegnungen. Eine übergreifende spirituelle Erfüllung – so dass die Summe der Einzelaspekte am Ende etwas Ganzes ergibt – erlebe ich dann erst im Nachhinein.

Ich marschiere bis kurz vor Mitternacht. Harter Asphalt unter den Sohlen, Sternenhimmel über mir und viel Glühwürmchen um mich herum. Romantisch wird’s und eng im Stiefel. In Zubiri verbringe ich dann ein paar schlaflose Stunden auf dem Betonboden eines Rohbaus. Nebenan grölende betrunkene Stierkampftouristen. Ich finde keine Ruhe, sinniere vor mich hin.

Unsortiertes zum Pilgerphänomen

Pilgern hat wieder Konjunktur. Abertausende aus aller Herren Länder machen sich auf den Weg. »Blinde, Lahme und Aussätzige« in verschiedenster Ausprägung. Sie gehen, radeln, reiten, fahren oder fliegen zu unterschiedlichen, Jahrhunderte alten Reliquienstätten in Rom, Köln oder Santiago.

Ich frage mich, ob wohl schon früher gleichzeitig mehrere Impulse einwirkten, die Ungezählte zum Aufbruch drängten. Zuvörderst war es wohl der ersehnte sinnliche Kontakt mit Reliquien von Menschen, die in direktem Kontakt mit Jesus standen und deshalb eine besonders wirkmächtige Fürsprache erhoffen ließen. Er wurde verstanden als indirekte Kontaktaufnahme zu Jesus Christus. Allein die Berührung bzw. das Sehen von Reliquien begründete die Erwartung auf Schutz und Hilfe des himmlischen Patrons. Wem man sich freiwillig unterstellte, dem gebührte Verehrung. Und bei seiner eigenen Ehre hatte der dann aber auch die Verpflichtung den Verehrer zu schützen bzw. ihm in der Not beizustehen und gegebenenfalls bei seinem obersten Herrn auf Bitten vorstellig zu werden. Dieses Bündnis von Treue und Schutz war in Gesellschaft und Kirche des Mittelalters gang und gäbe. Für viele war der Erwerb von Reliquien eine ganz reelle Versicherungspolice für das Diesseits wie für das Jenseits. Bei dem einen war sicher die Annäherung an eine religiöse Aura das entscheidende Motiv. Bei dem anderen vermischte sich dieses mit einem unwiderstehlichen profanen Sog aus der Ferne, dem großen Unbekannten. Vielleicht auch mit einer Affinität zu völlig anderem. Dass viele an den Pilgerwegen verblieben, sich dort ansiedelten, und die einheimische Kultur bereicherten, deutet wohl auch darauf hin, dass sie fündig geworden waren und eine neue Heimat gefunden hatten.

Vermutlich spielten auch die Berichte von heimgekehrten Pilgern eine große Rolle. Da baute sich bei manchem der Wunsch auf, auch einmal hinter die fernen Berge zu schauen, auch auszubrechen aus dem vertrauten Umfeld. Da die meisten sich in Gruppen aufmachten, gesellte sich mancher dazu, der sich allein nicht getraut hätte, sich dem »Elend« auszusetzen in fremden Ländern, bei fremden Völkern mit unverständlichen Sprachen und seltsamen Sitten. In und zwischen den Pilgerberichten schimmern noch sehr viele andere Motive durch.

Was bewegt Leute von heute wie die Pilger vor Jahrhunderten weite und zum Teil auch nach wie vor beschwerliche Wege zu gehen?

Was aber treibt auch diejenigen, die vorgeblich »mit Religion nicht viel am Hut« haben? Man staunt ja, dass sie die Mehrheit ausmachen! Reine Neugier auf eine bisher fast übersehene religiöse Kultur?

Die Magie »mittelalterlicher« Zentren des Glaubens? Dieses heute eher abwertend gemeinte Attribut ist erst seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich. Seitdem wird die Zeit zwischen 500 n.Chr. und ca. 1500 n.Chr. als »finster« geschmäht. »Wie im Mittelalter!« wird zum bleibenden und kaum hinterfragten Vorurteil. Um sich als »moderner und aufgeklärter« Mensch von einer scheinbar nur von Grausamkeit und »Aberglauben« definierten Welt zu distanzieren und sich dabei zugleich als besserer Mensch abzuheben von der ehemals christlich geprägten Vergangenheit? Entsetzliche Abgründe der Moderne und das monströse Ausmaß der Bestialitäten in den letzten zwei Jahrhunderten konterkarieren eine solche Sicht als recht substanzarm.

Gebetsmühlenhafte Wiederholungen verraten schablonenhaftes unaufgeklärtes Verharren oder zumindest eine partielle Verunsicherung. Man möchte gern einfächern, sich abheben, einer anderen Menschheit angehören. Zumindest die geniale Raffinesse der gotischen Kathedrale müsste doch … sollte man meinen!

Um »heilige« Stätten aufzusuchen, die es als solche begrifflich für viele gar nicht gibt? Um Reliquien zu sehen, die ihnen eigentlich nichts bedeuten? – »Nichts als Knochen!« Um einen Reliquienkult zu sichten, den es als solchen schon lange nicht mehr gibt? Der eine oder andere Wanderer oder Biker versichert vor dem »Hadsch«, dass er eigentlich »nur den Flair« des Wegs kennenlernen möchte. Aber wenn er sich danach als Pilger versteht oder sich sogar organisiert in einer Bruderschaft. Wie soll man das dann interpretieren? Dass er den Weg nicht einfach abgehakt hat? Was muss da auf dem Weg in sich zusammengefallen sein?! Und was muss da passiert sein, dass er nach seinem »Hadsch« anders denkt über den Pilgerweg und vielleicht sogar anders handelt als vorher? Wer oder was hat ihm da jeweils den Blickwinkel geweitet bzw. verändert?

Was suchen die Leute von heute auf diesen längst ausgetretenen Pfaden?

Geht es ihnen eher um ein zivilisationsflüchtiges »Outdoor-Gefühl« und die Magie des morgendlichen Lichts auf freiem Feld?