In Zeiten von Liebe und Lüge - Hélène Grémillon - E-Book

In Zeiten von Liebe und Lüge E-Book

Hélène Grémillon

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Beschreibung

Lisandra ist jung und wunderschön, Lisandra ist eine begnadete Tangotänzerin - und Lisandra ist tot. Hat ihr Ehemann, der Psychiater Vittorio, sie aus dem Fenster gestoßen? Im August ist es Winter in Buenos Aires, Lügen und Verrat bestimmen das Leben der Menschen um Lisandra und Vittorio. Doch Eva Maria, Patientin von Vittorio und heimlich in ihn verliebt, macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. »Eifersucht und Rache, Liebe und Hass - Hélène Grémillon erzählt bravourös von den Abgründen der menschlichen Seele.« Le Monde »Für diesen grandiosen Roman muss man der Autorin dankbar sein.« L'Express

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Hélène Grémillon

In Zeiten von Liebe und Lüge

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Atlantik

Für Julien, für Léonard

Aber was ändert das schon, ob ein Schrei leise ist oder laut? Wichtig ist, dass er aufhört. Jahrelang glaubte ich, dass sie aufhören würden. Nun glaube ich es nicht mehr. Ich hätte anderer Lieben bedurft, vielleicht. Aber Liebe gibt es nicht auf Verlangen.

Samuel Beckett, Erste Liebe

Dieser Roman beruht auf einer wahren Geschichte. Er spielt in Buenos Aires, Argentinien. Wir sind im August 1987, es ist Winter. Die Jahreszeiten sind nicht überall gleich. Die Menschen schon.

In Zeiten von Liebe und Lüge

Lisandra war mit geröteten, vom Weinen verquollenen Augen und vor Kummer taumelnd ins Zimmer gekommen, die einzigen Worte, die sie hervorbrachte, waren: »Er liebt mich nicht mehr«, sie wiederholte sie unablässig, als wäre ihr Gehirn stehengeblieben, als könnte ihr Mund nichts anderes mehr aussprechen, »er liebt mich nicht mehr«, »Lisandra, ich liebe dich nicht mehr«, stieß sie plötzlich hervor, als kämen seine Worte aus ihrem Mund, so erfuhr ich ihren Namen und nutzte ihn, um sie aus ihrem Anfall zu reißen:

»Lisandra! Wer liebt Sie nicht mehr?«

Das war der erste Satz, den ich zu ihr gesagt habe; mit »Hören Sie auf zu weinen« oder »Erzählen Sie« wäre ich nicht zu ihr durchgedrungen. Sie hörte prompt auf, als habe sie mich erst in diesem Moment entdeckt, aber sie rührte sich nicht, verharrte mit vom Leid gebeugtem Rücken, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände zwischen die übergeschlagenen Beine geklemmt, doch weil mein Satz Wirkung gezeigt hatte, wagte ich, ihn leiser zu wiederholen, wobei ich ihr in die Augen schaute, ihre Augen, die mich jetzt wahrnahmen:

»Wer liebt Sie nicht mehr?«

Ich hatte befürchtet, dass diese Worte die umgekehrte Wirkung haben, sie wieder in ihren Tränenfluss stürzen würden, aber es kam anders, Lisandra nickte und flüsterte: »Ignacio. Ignacio liebt mich nicht mehr.« Sie hatte aufgehört zu weinen, sie entschuldigte sich nicht – normalerweise entschuldigen sich die Leute dafür, geweint zu haben, oder sogar noch, während sie weinen, ein Rest von Stolz trotz des Kummers – aber sie hatte keinen Stolz oder hatte ihn verloren. Dann, etwas ruhiger, erzählte sie mir von ihm, von dem Mann, der sie nicht mehr liebte. So bin ich Lisandra begegnet, das war vor sieben Jahren.

Lisandra war schön, eigenartig schön, und das lag weder an der Farbe ihrer Augen noch an der ihrer Haare oder an ihrer Haut, es war eine kindliche Schönheit, obwohl ihre Figur sehr weiblich war, aber an ihrem Blick, ihren Bewegungen, ihrer schmerzverzerrten Mimik konnte ich ablesen, dass in dieser Frau das Kind noch nicht gestorben war, ich war verblüfft von ihrer Art zu lieben, über ihre Liebe zu diesem Mann hinaus, sie war eine Liebende, sie liebte die Liebe. Ich hörte ihr zu, der Mann, den sie so sehr liebte, erschien so wunderbar.

»Hören Sie auf, mir von ihm zu erzählen, Lisandra, erzählen Sie von sich!«

Ich wusste, dass dieser Satz sie vor den Kopf stoßen würde, ich hatte gezögert, mich aber nicht zurückhalten können, albern, jetzt schon eifersüchtig, ich ertrug nicht mehr, mit anzuhören, wie sie mir von diesem Mann erzählte. Sie antwortete, da gebe es nichts zu erzählen, und bevor mir ein verbindlicher Satz einfiel, um den Schaden, den ich angerichtet hatte, zu vermindern, war sie aufgestanden, hatte nach der Toilette gefragt und war nicht wiedergekommen, weder an jenem Tag noch an den folgenden.

Jeden Abend gönne ich mir eine halbe Stunde Pause, eine halbe Stunde Einsamkeit, um aus dem Tunnel der Unzufriedenheit, der Frustration oder gar Verzweiflung herauszufinden, in den mich all das treibt, was ich am Tag gehört habe. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das sage, das sollte ich nicht, aber so, wie es jetzt steht, haben Sie das Recht auf den Blick hinter die Kulissen. Ich gieße mir ein Gläschen Cognac ein und warte, bis ich eine ganz leichte Betäubung spüre, die mich paradoxerweise in meine eigene Realität, in mein eigenes Leben zurückführt, das habe ich immer schon gemacht. Aber an jenem Tag dauerte die halbe Stunde den ganzen Abend, ich hörte nicht auf, an Lisandra zu denken, an ihre verstörten Augen. Ich habe oft Menschen erlebt, die vor Liebeskummer am Boden zerstört waren, aber bei keinem habe ich das Leid so deutlich gespürt, und ihre Verzweiflung war weder romantisch noch aufgesetzt oder gewohnheitsmäßig, sondern ein organischer, tiefsitzender Teil ihrer Persönlichkeit, viele Seelen werden niemals so starke Verzweiflung spüren, dieses Gefühl, dem wir immer denselben Namen geben, das wir alle erfahren und empfinden können, hat ganz individuelle Abstufungen – weil man es für universell hält, vergisst man das allzu oft, aber mein Beruf erinnert mich tagtäglich daran: Leiden bedeutet nicht für alle das Gleiche.

Lisandra. Ich versuchte, ihr Alter zu schätzen, vielleicht fünfundzwanzig, braunes Haar, rosige, matte Haut, ihre Augen? Ich hatte nicht mal die Farbe erkannt, denn ich hatte nur das Leid darin gesehen, die Rötung ringsherum. Sie griff nicht nach der Schachtel mit den Taschentüchern, die zwischen uns stand, wischte sich Augen und Nase nervös mit dem Ärmel ihres Pullis ab, blau, an seine Farbe erinnerte ich mich. Bei dem Gedanken, dass ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde, goss ich mir einen zweiten Cognac und dann einen dritten ein, schließlich ging ich nach draußen, um auf andere Gedanken zu kommen, ich kam auf keine anderen, eine tausendstel Sekunde reicht aus, damit dich eine Obsession überwältigt, das ist keine Frage von Zeit. Ich ging die Straße hinunter und wusste genau, dass ich nicht wusste, wohin ich ging – ohne es zu begreifen, hatte ich mich auf die Suche nach ihr gemacht …

Es klopft an der Tür. Eva Maria sitzt an ihrem Schreibtisch. Sie hört nichts. Sie ist in ihre Gedanken versunken.

… Lisandra. Ihr plötzliches Verschwinden hatte mich erschüttert, ich schlief nicht mehr, verfluchte mich, dass ich sie vertrieben hatte, das war mir noch nie passiert, dabei sind weiß Gott eine Menge Leute durch mein Sprechzimmer gegangen, niemand hat sich je auf diese Art davongemacht, natürlich ist es schon vorgekommen, dass Patienten nicht zum zweiten Termin erschienen, aber dass jemand auf diese Art verschwunden war, mitten in der Sitzung, hatte ich noch nicht erlebt. Sie hatte sofort die Flucht ergriffen, ich suchte in den wenigen mit ihr verbrachten Augenblicken ein Indiz, um sie wiederzufinden, ihr Vorname, ihr blauer Pulli, damit würde ich nicht weit kommen, ich wusste nichts von ihr, ich tastete in Gedanken das Bild ab, das sie mir von sich hinterlassen hatte, ganz präzise, wie mit einem scharfen Skalpell ausgeschnitten.

Lisandra, schräg auf dem Sofa sitzend, wie sie mit dem Ärmel ihres blauen Pullis das eine, dann das andere Auge trocknet, dank meinem selektiven und besessenen Gedächtnis entdeckte ich Details, die ich, weil ich an ihrem Gesicht und ihren Worten klebte, in dem Moment nicht erfasst hatte. Sie trug eine leichte Hose aus schwarzem Baumwollstoff und, wie konnte mir das in dem Moment entgangen sein?, schöne Schuhe, ebenfalls schwarz, erstaunlich elegant im Vergleich zum Rest ihrer Kleidung, Absatzschuhe mit einem Riemen, und unter ihren Füßen weiße Spuren auf dem Spannteppich. Ich musste es genau wissen, wollte mich nicht zu früh freuen, aber ich begab mich sogleich auf einen Rundgang durch die Tangosäle und Milongas in meiner Umgebung, sie musste direkt von dort gekommen sein, irgendwo hier in der Nähe, sonst wäre der Talk unter ihren Schuhsohlen völlig verschwunden gewesen. Sie hatte also trotz ihres Kummers noch die Kraft zu tanzen, das beruhigte mich, aber was mich am meisten beruhigte, war, dass ich jetzt eine Spur hatte, um sie wiederzufinden.

Sehen Sie mich nicht so an, ich weiß genau, woran Sie denken, doch, doch, in Ihren Augen, leugnen Sie es nicht, ein gewisser Vorwurf, ich kenne Sie, aber damit das klar ist, Lisandra hatte sofort die Flucht ergriffen, weil ich es herausgefordert hatte, und wenn ich mich beruhigen und mir einreden will, dass ich immer im Recht war – weil man das manchmal braucht, diese Gewissheit, immer im Recht gewesen zu sein, obwohl sie nur wenige Sekunden vorhält –, also, in diesen Momenten sage ich mir gern, dass ich sie am Tag unserer Begegnung unbewusst vor den Kopf gestoßen habe, um sie zu verjagen und so zu vermeiden, dass wir uns in eine Situation begeben, die uns aus den Ihnen bekannten ethischen Gründen jede andere Form von Vertraulichkeit verboten hätte. Also, damit es klar ist, als ich mich auf die Suche nach Lisandra machte, suchte ich eine Frau, keine Patientin, darauf bestehe ich, und ich habe mich niemals eines Verrats an meinem Beruf schuldig gefühlt, ich hatte Lisandra tränenüberströmt vor der Tür meiner Praxis gefunden, sie hatte auf der Straße im Vorbeigehen mein Schild gesehen, keine Terminvereinbarung, keine ganze Sitzung, kein Geld, aber der umwerfendste Moment meines Lebens. Sie glauben nicht an das augenblickliche Erkennen zwischen zwei Individuen? Komisch, ich hätte darauf gewettet.

Lisandra, ich fragte mich, wie sie als Tänzerin aussah, das lange glatte Haar zum Dutt aufgesteckt, würde ich sie von hinten erkennen? Nein, ich würde sie nicht erkennen, die Vertrautheit, die es möglich macht, jemanden von hinten zu erkennen, hatten wir noch nicht erreicht, darum wartete ich, bis sich die tanzenden Gestalten umdrehten oder mich ihr Profil sehen ließen, und fragte: »Kennen Sie eine gewisse Lisandra?« – »Ist Lisandra hier?« – »Tanzt Lisandra hier?« Womöglich hätte ich die junge Frau, die mir drei Tage zuvor gegenübergesessen hatte, nicht wiedererkannt, weil das zwischen den Schultern eingezogene Gesicht diesmal hinter dem aufrechten, stolzen Körper zurücktrat, der frei in seinen Bewegungen, selbstbewusst und vor allem so gelöst wirkte. Die junge Frau, die sich vor mir bewegte, war nicht mehr dieselbe, sie hatte den schönen Hals einer Tänzerin, jedes Misstrauen, jedes Zögern war verschwunden und sogar ihr Kummer, beim Tanzen strahlte sie eine Sicherheit, eine grenzenlose Freiheit aus, die mich verblüfften und in scharfem Kontrast zu der verliebten Unterwürfigkeit standen, deren brutales Gesicht sie mir gezeigt hatte, zu der Hörigkeit, mit der sie sich einige Tage zuvor herumgeschlagen hatte; sie tanzte nicht für die anderen, sie tanzte nur für sich, sie war die »Seele des Tangos«, ich weiß, das ist kitschig, aber genau das dachte ich in dem Moment über Lisandra, als sie mir gegenüberstand.

»Was machen Sie denn hier?«

Lisandra hat immer geglaubt, der »Zufall« hätte uns wieder zusammengebracht, und sie fand das so »bedeutungsvoll«, dass ich sie in dem Glauben ließ – sie hätte es weniger »wunderbar« gefunden, wenn sie von meinen emsigen Bemühungen gewusst hätte. So war Lisandra, sie zog das Surreale dem Realen vor, und jedes Mal, wenn sie sich über unsere Wiederbegegnung wunderte, ließ ich sie reden, was der Zufall ihr schenkte, stellte sie niemals in Frage, der Zufall als Lenker, als Garant, trauriges Sinnbild derer, die kein Selbstvertrauen haben, wir haben zusammen gegessen, dann haben wir uns wiedergesehen, dann haben wir beschlossen, uns nicht mehr zu trennen, und sehr bald, am 8. Dezember 1980, haben wir geheiratet. Ich liebte diese Frau, niemals hätte ich gedacht, dass man ihr Böses antun könnte, sie war nicht für das Gemeine geschaffen, für das Tragische vielleicht, aber nicht für das Gemeine, Lisandra war so zerbrechlich, ich hätte niemals gedacht, dass ich von ihr in der Vergangenheit sprechen würde …

Es klopft wieder an der Tür. Eva Maria reagiert nicht. Die Tür geht auf. Esteban steht auf der Schwelle.

»Entschuldige, dass ich dich störe, Mama, kommst du essen?«

Eva Maria dreht sich nicht um.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Was machst du?«

»Nichts. Ich arbeite.«

»Bringst du dir jetzt Arbeit mit nach Hause?«

Eva Maria antwortet nicht. Esteban erstarrt.

»Gut, dann esse ich jetzt?«

»Ja, mach das.«

Esteban fährt sich mit der Hand durch die Haare, erst an der Seite, dann hinten. Er geht aus dem Zimmer. Schließt die Tür hinter sich. Eva Maria trinkt einen Schluck Wein.

… als ich zurückkam, stand die Wohnungstür offen, ein heftiger Durchzug packte mich an der Gurgel, laute Musik dröhnte aus dem Wohnzimmer, dort herrschte eine Unordnung, als hätte es einen Kampf gegeben, die Sessel waren umgekippt, die Lampe war runtergefallen, es war eiskalt, das Fenster stand weit offen, ich wusste sofort, dass etwas passiert war, Lisandra war so verfroren, selbst bei der größten Hitze deckte sie sich nachts mit dem Laken zu, sie sagte, sie könne nur mit dem Gewicht des Stoffes und mit meinem an sie geschmiegten Körper einschlafen, die Berührung der Luft, der Hauch der Luft war ihr unerträglich, auch wenn er nicht zu spüren war. Ich habe das Fenster zugemacht und sie überall gesucht, bin in die Küche, ins Schlafzimmer, ins Bad gerannt, und erst in dem Moment, als ich verstand, dass sie nirgends ist, habe ich kehrtgemacht und begriffen, fürchtete ich zu begreifen, ich machte einen großen Schritt über die zerbrochene Vase und das ausgelaufene Wasser, im selben Moment hörte ich draußen auf der Straße einen schrillen Schrei, ich habe das Fenster wieder aufgerissen, ich wagte nicht, mich hinauszubeugen, Lisandra, ihr Körper lag unten, da war sie, ausgestreckt auf dem Boden, auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, ich konnte nicht sehen, ob sie noch atmete, ein junges Paar beugte sich über sie, sie hielten sich bei der Hand, ich brüllte ihnen zu, sie nicht zu berühren, sie nicht zu bewegen, und rannte zur Treppe, das Pärchen war zurückgewichen, hielt sich nicht mehr bei der Hand, hatten sie sie berührt? Ihre Stirn war eisig, Blut rann aus ihrem Mund, ihre Augen waren offen, geschwollen, Lisandra, ich habe sie nicht getötet, ich hätte sie niemals töten können, Sie müssen mir glauben, Eva Maria.

Eva Maria rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn. Sie gießt sich noch ein Glas Wein ein. Vittorio hatte ihr alles erzählt. Bis ins kleinste Detail. Er hatte keine Zeit gehabt zu reagieren, gleich darauf war die Polizei da, jemand musste sie gerufen haben, bestimmt ein Nachbar, alle Lichter im Haus brannten, er war mit den Polizisten wieder hoch in die Wohnung gegangen, dann hatten sie ihn aufgefordert, sie zum Revier zu begleiten, während andere den Ort abriegelten und Spuren sicherten, sie wollten seine Aussage aufnehmen. »Wir müssen uns beeilen, je weniger Zeit bei einer Ermittlung vergeht, desto größer die Chance, den Mörder zu finden, es dauert nicht lange«, das hatte man ihm gesagt, er hätte die Geistesgegenwart haben müssen, einen Anwalt zu verlangen, aber man wechselt nicht einfach so vom Schockzustand zu extremer Vorsicht, er jedenfalls nicht, außerdem hatte er sich nichts vorzuwerfen, also war er meilenweit davon entfernt, sich auszumalen, was ihn erwartete, auf dem Revier hatte man ihm den Ausweis abgenommen und ihn in einen kleinen Raum geführt, um seine Aussage aufzunehmen, dann hatte man ihn in einem noch kleineren Zimmer warten lassen, damit er das Protokoll unterschriebe, ehe er ging. Man hatte ihm einen Kaffee gebracht, um ihm die Zeit zu verkürzen, sie reichte für drei Kaffee, er war erschöpft, das grelle Licht im Raum betäubte ihn, die Wanduhr stand still, er hatte keine Ahnung, wie spät es war, sein Kopf schmerzte ganz entsetzlich, ihm kam es sehr lange vor, aber er hatte ja keine Erfahrung, außerdem brachte er keinen Gedanken zustande, also versuchte er es gar nicht erst. Schließlich waren sie zurückgekommen, diesmal waren sie viele, sie hätten ihm noch ein paar Fragen zu stellen. Und da nahm dann alles eine böse Wendung.

»Doktor Puig, wo haben Sie den Abend verbracht?«

»Im Kino, das sagte ich Ihnen schon.«

»Allein?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich begreife das nicht. Was soll dieses neue Verhör?«

»Doktor Puig, hier stellen wir die Fragen, wir sind nicht in Ihrer Praxis, begreifen Sie das? Gut, fassen wir zusammen: Ihre Frau hat keine Lust ins Kino zu gehen, und als Sie zurückkommen, ist sie tot, war es so?«

»Ja, die Wohnungstür stand offen, im Wohnzimmer waren Spuren eines Kampfes, das Fenster war …«

»Ja, ja, das wissen wir alles, das haben Sie uns schon gesagt.«

»Aber ich habe Ihnen alles schon gesagt.«

»Nein, Sie haben uns nicht gesagt, ob der Film gut war.«

»Ob der Film gut war? Machen Sie sich über mich lustig? Meine Frau ist gerade getötet worden, und Sie wollen, dass ich Ihnen von einem Film erzähle?«

»So war das nicht gemeint, wir wollten nur mal hören, schließlich gehen wir auch gern ins Kino, die Kleine an der Kasse war nicht übel, oder? Schöner breiter Mund, ein Negermund im Gesicht einer Weißen bringt mich immer auf Ideen, ich kann nichts dafür, Sie nennen das, glaube ich, Phantasma.«

»Ich pfeif auf Ihr Phantasma.«

»Darauf zu pfeifen ist aber nicht sehr schlau, denn dieser schöne breite Mund ist für Sie wichtig, sogar entscheidend. Abgesehen davon, dass er im Bett Wunder vollbringt – Pardon, ich muss einfach immer daran denken –, jedenfalls spricht dieser schöne breite Mund, und das, was er über Sie erzählt, nun ja, das gefällt uns gar nicht.«

»Was hat sie über mich gesagt?«

»Das war für mich der schönste Moment heute Abend, dieser Mund, der sich bewegte, manche Münder sind schön, wenn sie sprechen, andere, wenn sie schweigen, aber dieser ganz besondere Mund ist einfach immer schön.«

»Was erzählt sie über mich?«

»Dass sie Sie heute Abend nicht gesehen hat. Und Sie haben wirklich Pech, die Platzanweiserin hat Sie auch nicht gesehen, aber deren Mund, das kann ich Ihnen gleich sagen, ist uninteressant.«

»Das Foto auf meinem Ausweis ist mindestens zehn Jahre alt, man erkennt mich kaum, die können nicht nach diesem Ding urteilen. Das ist doch lächerlich.«

»Sie haben recht, hätten wir uns auf das Passbild beschränkt, wären wir, wie meinten Sie? Ja, ›lächerlich‹. Dazu kommt, dass Sie wirklich ein Stück älter aussehen – aber keine Sorge, wir verstehen unseren Beruf ganz gut, sehen Sie den Spiegel da? Die beiden hatten reichlich Zeit, Sie von allen Seiten zu betrachten, aber sie bleiben dabei: Weder die eine noch die andere erinnert sich, Sie heute Abend gesehen zu haben.«

»Sie erinnern sich nicht, mich gesehen zu haben, aber erinnern sie sich denn, mich nicht gesehen zu haben? Haben Sie sie danach gefragt? Sich zu erinnern, dass man jemanden gesehen hat, ist nicht dasselbe, wie sich zu erinnern, dass man jemanden nicht gesehen hat.«

»Sie wiederholen sich, Doktor Puig, wir sind nicht Ihre Patienten und begreifen die Dinge gleich beim ersten Mal, aber es stimmt, unter diesem Blickwinkel haben wir ihnen die Frage nicht gestellt, wir haben nicht Ihren scharfen Sinn für Fragen und Nuancen, Sie könnten uns noch viel beibringen, aber manchmal sind die Dinge viel einfacher, wissen Sie?«

»Einfacher als was? Sagen Sie doch, was Sie sagen wollen, hören Sie auf mit Ihren Andeutungen.«

»Wir machen keine Andeutungen.«

»Dann geben Sie mir meine Aussage, damit ich sie unterschreibe, und lassen Sie mich nach Hause gehen, ich bin todmüde.«

»Das wird schwierig.«

»Was heißt ›Das wird schwierig‹? Weil sich zwei Frauen, an denen jeden Abend eine Prozession von Gesichtern vorbeizieht, nicht an mich erinnern?«

»Nein, nicht deswegen.«

»Warum dann?«

»Weil diese beiden Frauen zwei Männer sind, Doktor Puig, und weil wir sehr erstaunt sind, dass Sie nicht darauf hingewiesen haben, Sie waren doch keiner ›Prozession von Gesichtern‹ ausgesetzt.«

»Sie haben von Anfang an von Frauen geredet, ich habe nur Ihre Worte wiederholt …«

»Und wenn wir von Anfang an gesagt hätten, dass Sie Ihre Frau getötet haben, würden Sie uns sagen, dass Sie Ihre Frau getötet haben?«

»Ich kann mich weder erinnern, wer mir die Eintrittskarte verkauft, noch, wer sie abgerissen hat. Eine Frau? Ein Mann? Keine Ahnung, ich kann mich nicht mehr erinnern …«

»Anscheinend sind heute Abend alle in ihren Erinnerungen sehr beeinträchtigt. Aber irgendwo müssen wir ja mit unseren Ermittlungen anfangen, und derzeit sind die Erinnerungen derjenigen, die sich erinnern, die einzigen konkreten Anhaltspunkte, über die wir verfügen. Das kennen Sie doch, Sie müssen mit der Psychoanalyse ja auch irgendwo ansetzen, schon ein paar undeutliche Erinnerungen reichen Ihnen, dabei überprüfen Sie die Aussagen nicht mal, Sie haben immer nur einen Zeugen, und es ist einfach, die Schuldigen sind bei Ihnen immer dieselben: die Eltern, der Vater und die Mutter, aber keine Angst, uns treibt allein die Suche nach der Wahrheit an, darum werden wir es nicht dabei belassen. Auch wenn die wenigen Erinnerungen leider nicht zu Ihren Gunsten sprechen, zweifeln wir keine Sekunde daran, dass die weitere Untersuchung Sie entlasten wird, machen Sie sich keine Sorgen, es kann sich nur um Stunden handeln, morgen Abend schlafen Sie sicher wieder in Ihrem eigenen Bett.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage, ich bleibe keine Sekunde länger hier! Ich gehe jetzt nach Hause.«

»Beruhigen Sie sich, Doktor Puig. Sie dürfen sich nicht so aufregen. Nicht auf einem Polizeirevier.«

»Was machen Sie denn da? Was soll das bedeuten? Nehmen Sie mir die Handschellen ab!«

»Das soll überhaupt nichts bedeuten, Sie regen sich auf, wir legen Ihnen Handschellen an, das ist normal. Im Leben hat nicht immer alles eine Bedeutung.«

»Sie überschreiten Ihre Befugnisse!«

»Wir überschreiten überhaupt nichts, jeder Verdächtige kann in Polizeigewahrsam genommen werden, so ist das Gesetz. Und ich muss sagen, dass Sie im Moment leider verdächtig sind.«

»Sie machen einen Riesenfehler. Ich will einen Anwalt! Ich verlange einen Anwalt!«

»Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich. Sie tun allerdings sehr gut daran, die einzige Sache zu verlangen, auf die Sie im Moment ein Recht haben, Sie sehen, es ist gar nicht so schwer, sich zu einigen. Aber schlafen wir erst mal eine Nacht darüber, kommt Zeit, kommt Rat. Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Welche Größe haben Sie?«

»Größe wovon?«

»Welche Jackengröße?«

»Warum fragen Sie danach?«

»Noch einmal, hier stellen wir die Fragen. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Welche Jackengröße haben Sie?«

»52.«

»Das hatte ich vermutet. Also, gute Nacht. Und vielleicht erinnern Sie sich morgen früh an irgendetwas, mit den Träumen weiß man nie, die analysieren Sie doch so gern.«

Eva Maria zündet sich eine Zigarette an. Vittorio hatte ihr alles erzählt. Mit der Genauigkeit eines Menschen, der an lebhafte Dialoge gewöhnt ist. Sie hatte ihm fast eine Stunde lang zugehört. Normalerweise hörte er ihr fast eine Stunde lang zu. Wie sich die Rollen manchmal umkehren im Wein, denkt Eva Maria. Sie meinte, im Sein. Sie hört das Bandoneon. Esteban ist fertig mit Essen. Er wird bald losgehen. Eva Maria legt ihre Zigarette in die Kerbe des Aschenbechers. Sie kramt in ihrer Hosentasche und zieht ein Schlüsselbund hervor. Drei Schlüssel an einem Schlüsselanhänger, der selbst die Form eines Schlüssels hat. Eva Maria schaut sich diese vier Schlüssel an. Von denen einer eine Attrappe ist. Sie lächelt. Vittorio hat seinen Augen nicht getraut, als er sie auf der anderen Seite des Tisches gesehen hat. Auf der guten Seite des Tisches in diesem verdammten Besucherraum. Das war zu schön, um wahr zu sein. Aber wie hatte sie sich nur die Schlüssel zu seiner Wohnung beschafft? Der hat vielleicht geguckt, als sie ihm die ganze Geschichte erzählt hat.

»Guten Morgen, Mama. Gut geschlafen?«

Eva Maria antwortet nicht. Flüstert benommen:

»Das kann nicht sein. Irgendwas stimmt da nicht.«

Eva Maria kann sich nicht von der Zeitung losreißen. Nur ein paar Zeilen. Esteban geht zum Kühlschrank.

»Das war ein schöner Abend gestern … Du solltest mal mitkommen, wirklich … Tänzer sind wie schlafende Vulkane, nur dass sie wach sind … das musst du dir mal vorstellen …«

Eva Maria schlägt die Zeitung zu. Mit einer schroffen Geste. Also kann sich jeder von einem Tag auf den anderen in den Polizeimeldungen wiederfinden. Eva Maria steht auf. Geht in den Flur. Zieht den Mantel an. Bindet ihr Tuch um. Nimmt ihre Handtasche. Esteban folgt ihr.

»Alles in Ordnung, Mama?«

»Ja, ja …«

»Wann kommst du heute Abend nach Hause?«

»Um fünf.«

»Okay, ich bin da.«

Esteban beugt sich zu seiner Mutter herab. Umarmt sie. Sie ist abwesend. Also kann sich jeder von einem Tag auf den anderen in den Polizeimeldungen wiederfinden. Die Tür fällt ins Schloss. Esteban fährt sich mit der Hand durch die Haare, erst an der Seite, dann hinten. Er schiebt den Vorhang beiseite. Sieht, wie Eva Maria die Straße entlangrennt, in einer Hand die Tasche, in der anderen die Zeitung. Sie hält sie ganz fest. Das Papier in ihrer Faust ist zerknüllt. Der Bus hat die Türen schon geschlossen. Eva Maria klopft an die Scheibe. Die Tür geht auf, sie steigt ein. Der Bus fährt ab. Esteban lässt den Vorhang los. Setzt sich an den Tisch. Auf Eva Marias Platz. Sein Gesicht ist wieder verschlossen. Eva Maria steigt aus dem Bus. In einer Hand die Tasche, in der anderen die Zeitung. Sie umklammert sie nicht mehr so fest. Ihr Haar hat sich gelöst. Der Tag ist vorbei. Eva Maria geht schnell. Sie muss sich vergewissern. Sie geht an einem kleinen Café vorbei. El Pichuco. Der Kellner ruft sie. Eva Maria winkt ihm, ohne stehen zu bleiben. Sie muss sich vergewissern. Sie kommt zu einem Haus. Geht hinein. Läuft fünf Treppen hoch. Klingelt an der rechten Tür. Vittorio wird aufmachen. Keine Antwort. Sie klingelt noch einmal. Nichts. Das kann nicht sein. Sie trommelt gegen die künstliche Holztäfelung. Sie wartet lange. Steht da. Unbeweglich. Vor der verschlossenen Tür, die sich nicht öffnet. Ihre Hand verkrampft sich wieder um die Zeitung. Sie geht die Treppe runter. Überquert den Platz. Betritt das kleine Café. Der Kellner kommt. Stellt ein Glas Wein auf ihren Tisch. Er ist sehr aufgeregt.

»Du bist nicht die Einzige, die hier strandet. Weißt du nicht Bescheid? Sie ist tot. Tot, kannst du dir das vorstellen? Er hat sie umgebracht. Aber so einfach kommt der nicht davon, das kann ich dir sagen, er sitzt ganz schön in der Tinte, du kannst dir das Chaos hier nicht vorstellen, den ganzen Tag lang, überall Bullen … Ein Seelenklempner als Mörder, das gibt Gerede, kann ich dir sagen!«

Eva Maria stellt ihr Glas hin. Sehr heftig.

»Nein, das kannst du mir nicht sagen! Halt die Klappe, Francisco, halt einfach die Klappe, hör auf zu reden, wenn du nichts weißt.«

»Aber ich weiß …«

»Nein, du weißt nichts.«

Eva Maria steht auf. Wirft ein paar Münzen auf den Tisch. Ihr Ton ist scharf.

»Nur weil du am liebsten der ganzen Menschheit erzählen möchtest, dass du einen Mörder bedient hast, ist dieser Mann noch lange kein Mörder.«

Die Gäste an den Nachbartischen drehen sich um. Eva Maria verlässt das Café. Wirft die Zeitung in einen Papierkorb. Überquert den Platz, setzt sich auf eine Bank. Es ist kalt. Eva Maria zündet sich eine Zigarette an. Sieht zum Fenster hoch. Sieht auf den Boden. Da ungefähr muss ihr Körper gelegen haben. Der Bürgersteig ist so makellos, als wäre nichts geschehen. Kein Blut. Nichts. Orte bewahren keine Spur von Leichen, die dort irgendwann gelegen haben. Orte mögen keine Erinnerungen. Nicht die kleinste Aufschlagstelle im Asphalt. Nicht die kleinste Verformung im Beton. Ein Mensch, der stürzt, verändert den Boden nie. Eva Maria sieht hoch zum Fenster. Sieht nach unten. Vom fünften Stock, es wäre ein Wunder gewesen, wenn sie überlebt hätte. Ist zuerst ihr Gesicht aufgeschlagen oder ihr Körper? Waren die Glieder so verrenkt, wie man sie lebendig nie verrenken kann? Verdeckten die Haare das Gesicht? Oder lagen sie auf der Seite, sodass eine Blässe sichtbar wurde, die die Frau als Tote kennzeichnete? War sie entstellt? Oder war sie tot ebenso schön wie lebendig? Eva Maria hatte sie mehrmals flüchtig in der Wohnung gesehen, eine zarte Gestalt, die sich ihren Blicken ebenso entzog wie bestimmt auch denen der anderen Patienten. Wie lautete ihre Absprache? Die Räume gehörten ihr natürlich ebenso wie ihm, außer wenn ein Patient hereinkam, außer wenn ein Patient hinausging. »Diskretion« nennt man das. Eva Maria denkt an die Zeitung im Papierkorb, schade, dass das nicht für Journalisten gilt, diese »Diskretion«, schade, dass man jeden beliebigen Menschen der Welt als Verdächtigen präsentieren kann, man sollte nur Schuldige in den Zeitungen erwähnen dürfen. Eva Maria erstarrt. Wenige Meter von ihr entfernt steht ein Junge, ein Halbwüchsiger, und starrt auf den Boden. Er sieht zu dem Fenster hoch, eine Hand steckt in der Tasche, die andere lässt er hängen. Eva Maria beobachtet ihn neugierig. Wenn er eine andere Haltung hätte, würde sie ihn vielleicht verdächtigen, aber sein Blick beschränkt sich auf ein unglückliches Hin und Her zwischen dem Fenster und dem Boden. Nach einer ganzen Weile geht der Junge zum Haus und hinein. Eva Maria steht auf. Nur weil man unglücklich aussieht, ist man noch lange nicht unschuldig. Eva Maria folgt dem Jungen. Sie hört seine Schritte im Treppenhaus. Er geht hoch. Sie geht hoch. Er bleibt stehen. Fünf Etagen, sie hat es geahnt. Ein Patient. Eva Maria tut, als wollte sie ihn überholen. Der Junge trommelt gegen die künstliche Holztäfelung. Wie viele wohl heute schon diese ungläubige Wallfahrt unternommen haben? Eva Maria dreht sich um.

»Suchst du jemanden, mein Junge?«

»Ich wollte den Mann besuchen, der hier wohnt.«

»Er ist nicht da.«

Der Junge rührt sich nicht. Ist hilflos. Eva Maria kommt eine Stufe hinab. Sie möchte ihn trösten. Auch wenn sie schwindeln muss.

»Kann ich dir helfen? Ich wohne eins höher.«

Der Junge zieht die Hand aus der Tasche. Es sieht so aus, als wüsste er nicht, was er damit machen soll. In seinem Handteller glänzt etwas.

»Ich wollte ihm seine Schlüssel zurückgeben, er hat sie gestern verloren, auf der Straße, neben … neben der …«

Der Junge bringt seinen Satz nicht zu Ende. Eva Maria kommt ihm zu Hilfe.

»Neben der Leiche?«

Der Junge nickt. Eva Maria versucht, ruhig zu bleiben.

»Warst du da?«

Der Junge senkt den Kopf.

»Wir haben sie gefunden, meine Freundin und ich, wir waren zum ersten Mal zusammen aus, ich meine, nur zu zweit, das war komisch, aber es ging gut, wir waren auf dem Rückweg, ich war glücklich, weil sie meine Hand genommen hatte, es war das erste Mal, wir haben nicht so viel gesagt, und ich kam mir irgendwie blöd vor, es ist verrückt, ich hab mir gewünscht, dass irgendwas passiert, ich schwör’s, irgendwas, das uns aufhalten würde, ich hatte ziemlichen Bammel, sie bis zu ihrer Haustür zu bringen. Wir haben uns noch nie geküsst. Ich meine, so richtig«, er zeigt auf seinen Mund, »verstehen Sie … deswegen bin ich langsam gelaufen. Meine Freundin hat sie zuerst gesehen. ›Guck mal da, auf dem Bürgersteig, da liegt jemand.‹ Zuerst dachten wir, da liegt ein Penner, aber das passt nicht in dieses Viertel, und als wir näher gekommen sind, haben wir gesehen, dass es eine Frau ist, in einem schönen Kleid, und dann das offene Fenster. Wir sind hingerannt. Im selben Moment kam der Mann ans Fenster, er hat irgendwas geschrien, wir haben uns nicht getraut, näher ranzugehen, nicht mal, sie richtig anzusehen, ich jedenfalls. Der Mann kam angerast, er hat dann gesehen, dass sie wirklich tot ist, und hat gebrüllt. Sie hat sich umgebracht, stimmt’s?«

Der Blick des Jungen ist so verzweifelt. Eva Maria spürt, dass er einen Schlusspunkt unter die entsetzliche Szene braucht, mit der ihn das Leben ohne jede Vorwarnung konfrontiert hat: Der Tod vor seinen Augen. Eva Maria zögert keinen Moment. Auch wenn sie schwindeln muss.

»Ja, so ist es. Sie hat sich umgebracht.«

Eva Maria geht die paar Stufen zu ihm runter. Sie weiß, dass unter diesen Umständen Gesten besser sind als jedes sentimentale Geschwafel.

»Wenn du willst, kannst du mir die Schlüssel geben, ich bringe sie Vittorio.«

Er zögert keine Sekunde. Streckt Eva Maria das Schlüsselbund entgegen und lässt sich auf eine Stufe sinken, als könne er sich nach dieser Übergabe endlich entspannen. Er seufzt. Sein Körper ist erleichtert. Seine Seele noch nicht ganz.

»Ich hatte noch nie einen Toten gesehen.«

Eva Maria würde am liebsten nach seiner Hand greifen.

»Ich habe auch noch nie einen Toten gesehen.«

»Sie haben Glück.«

»Mir wäre es anders lieber gewesen.«

Der Junge starrt sie an.

»Sie sind ja komisch, dass Sie so was sagen.«

Eva Maria presst die Hände aneinander.

»Ich hatte eine Tochter, sie hieß Stella. Sie war ungefähr so alt wie du. Eine Morgens habe ich sie umarmt, um ihr einen schönen Tag zu wünschen, und sie ging zur Uni. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen, vergangene Woche war es fünf Jahre her. Weißt du, ich glaube, ich hätte lieber ihre Leiche gesehen, als die Ungewissheit zu ertragen.«

Der Junge senkt den Kopf.

»Das tut mir leid. Die haben so viele Menschen getötet.«

Beide schweigen und starren ins Leere. Eva Maria versucht zu lachen. Sie möchte gern ablenken.

»Dieser Kuss wäre bestimmt gut geworden.«

Er lächelt kurz, aber er überlegt weiter.

»Kannten Sie die Frau?«

»Ich kenne vor allem ihren Mann.«

Das Lächeln des Jungen schwindet.

»Der Arme! Er ist um sie rumgerannt wie ein Irrer, hat mit den Fäusten gegen die Mauer geschlagen und gebrüllt, er war total erledigt.«

»Hast du das der Polizei gesagt?«

Er wehrt ab.

»Der Polizei? Was hat die Polizei damit zu tun? Ich habe der Polizei nichts zu sagen.«

Der Junge gerät in Panik. Er steht auf. Rennt die Treppe runter. Eva Maria kann ihn nicht aufhalten. Sie versucht es auch nicht. Der Junge ergreift die Flucht, so wie jeder Teenager bei dem Wort »Polizei« die Flucht ergreift, nicht wie ein Mörder. Auch wenn der Mörder immer an den Ort des Verbrechens zurückkehrt, er war es nicht, er hat nicht das Zeug dazu. Da ist sich Eva Maria sicher. Vielleicht hat er seinen Eltern einfach verschwiegen, dass er mit seiner Freundin aus war, dann hätte er ihnen alles erklären müssen, und in seinem Alter den Eltern zu gestehen, dass man mit einem Mädchen ausgeht, ist nahezu undenkbar. »Wie für Eltern, ihrem Kind zu gestehen, dass sie gestern Sex hatten«, hätte Vittorio vielleicht gesagt. Eva Maria schüttelt den Kopf. Sie hört die Haustür ins Schloss fallen. Die Polizisten hätten seine Aussage über Vittorios Schmerz und seine Verzweiflung ohnehin mit einer Handbewegung abgetan. »Heuchelei, Theater«, hätten sie erklärt. »Alle Männer, die ihre Frauen töten, sehen zuerst verzweifelt aus, rennen um sie rum wie die Irren, schlagen mit den Fäusten gegen die Mauer und brüllen. Bevor sie gestehen.« Eva Maria bleibt allein auf der Treppe zurück. Sie schaut auf die Schlüssel, die in ihrer Hand liegen, wie ein Körper am Boden. Aus dem fünften Stock. Der Körper des armen Mädchens muss voller Knochenbrüche gewesen sein, wie bei allen Opfern eines Sturzes aus großer Höhe. Diese Knochenbrüche hatten auch die Leichen der Desaparecidos, der Verschwundenen, die das Meer vor einiger Zeit angespült hat, Brüche, wie niemand sie einem anderen mit bloßer oder bewaffneter Hand zufügen kann. Auch wenn er mit aller Kraft zuschlägt. Eva Maria stellt sich vor, dass Neptun die Leichen zurückgibt, um die Schuld der arroganten, bislang unangreifbaren Folterknechte zu beweisen. Neptun der Strenge, Neptun der Gerechte, der den Beweis für die Verbrechen der Junta erbringt. Die Natur hilft den Menschen, über die Menschen zu richten. Ein Teil von Eva Maria ist sicher, dass Neptun ihr Stellas Körper zurückgegeben hätte, aus Mitleid mit ihrem Mutterherz, das an der Ungewissheit zugrunde geht. Der andere Teil von Eva Maria weiß, dass Neptun nicht existiert, und fragt sich, ob Stellas Körper immer noch in der Tiefe des Wassers liegt. Stella, ihr geliebtes Kind, haben sie sich ihrer entledigt wie der anderen? An einem Mittwochabend, eine Spritze Penthotal, ein Flugzeug, die Luke geöffnet und ihren lebendigen Körper von da oben in den Rio de la Plata geworfen? War sie bei Bewusstsein? Weinte sie? Flehte sie? Hat sie geschrien, als sie ins Leere stürzte? Hat sie gespürt, wie ihre Kleider abfielen? Oder war sie schon nackt? Wusste sie, dass ihr Körper auf die Oberfläche des Wassers prallen würde, von der sie bislang nur die sanfte Durchlässigkeit erlebt hatte? Sie, die das Wasser so liebte. Warum spürt eine Mutter nicht, wenn ihr Kind stirbt? Stella kann nicht tot sein, das ist nicht möglich. Eva Maria schüttelt den Kopf, um das unerträgliche Bild des mit Steinen beschwerten Körpers ihrer Tochter in der Tiefe des Wassers zu verjagen. Die Tränen fließen. Eva Maria starrt auf die Stufen, die vor ihr nach unten führen. Wenn die Treppe sprechen könnte, würde sie ihr sagen, wer Vittorios Frau getötet hat. Sie würde alles geben, um die Identität des Mörders zu erfahren. Eva Maria hofft, dass man das Verbrechen in wenigen Tagen aufklärt und dass Vittorio entlastet wird. Sie hofft vor allem, dass sie bald wieder alleine mit ihm ist, wie vorher, sie braucht das so sehr. Nie und nimmer kann sie ohne ihn weitermachen, ohne ihn weiterleben. Eva Maria verlässt das Haus.

Die Tage waren vergangen. Sie hatte beschlossen, Vittorio zu besuchen. Sie hatte befürchtet, dass ihr das Gefängnis die Besuchserlaubnis verweigern würde. Aber man hatte ihr keinerlei Schwierigkeiten gemacht. Sie musste nur die obligatorische Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Das war zu schön, um wahr zu sein.

Eva Maria öffnet die Augen wieder. Sie starrt auf die vier Schlüssel. Einer davon eine Attrappe. Vittorio hatte seinen Augen nicht getraut, als er sie auf der anderen Seite des Tisches gesehen hatte. Auf der guten Seite des Tisches in diesem verdammten Besucherraum. Die Schlüssel zu seiner Wohnung in Eva Marias Händen. Endlich der Schatten einer Hoffnung. »Und das nur, weil ein junger Mann sich vor einem Kuss fürchtete.« Vittorio hatte gelacht. Sehr nervös. »Sie werden mir helfen, nicht wahr? Ich habe Lisandra nicht getötet, ich hätte sie niemals töten können, Sie müssen mir glauben, Eva Maria, Sie sind meine einzige Hoffnung, ich kann nichts machen, ich bin in dieser verdammten Zelle eingesperrt, die Bullen haben sich an mir festgebissen. Jetzt sind sie endgültig überzeugt, dass ich Lisandra getötet habe, sie haben am Tatort die Scherben einer kleinen Porzellankatze gefunden, eine ganz harmlose kleine Figur, sie haben die Sammlung im Bücherregal entdeckt, aber auch – was noch belastender für mich ist – eine Weinflasche und zwei zerbrochene Gläser am Boden: Ein Tête-à-Tête mit meiner Frau, das eine schlechte Wendung genommen hat, so was kommt öfters vor, Abende, die gut anfangen, aber schlecht enden, ich kann noch so oft sagen, dass die Gläser vielleicht seit Tagen da gelegen hatten, dass das nichts zu bedeuten hat, ich kann versuchen, mich damit zu verteidigen, dass wir nicht sehr ordentlich waren. Sie antworten jedes Mal, ich sei nicht der Erste, der sich seiner Frau entledigt habe, wenn man sie hört, ist es geradezu banal, reine Routine, dass ein Mann seine Frau tötet, sie weiden sich daran, sie grinsen, es liege in der Natur des Mannes, ein Trieb, der jeden Mann mindestens einmal im Leben überkommt, und damit haben sie sogar recht, ich hätte mich von meinen Gefühlen überwältigen lassen, dabei sollte doch gerade ich so gut in der Lage sein, sie zu kanalisieren, zu beherrschen, zu hinterfragen, ich brächte Schande über meine Zunft, sie wären wirklich nicht stolz auf mich. Ich musste mir anhören, wie sie sich über mein Motiv austauschten, warum ich zur Tat geschritten sei, nicht einmal der Hauch eines Zweifels in ihrer Argumentation, egal was ich sage, sie glauben mir nicht, sie suchen nicht nach Lisandras Mörder, sie versuchen, mich anzuklagen, sich einen Irrendoktor vorzunehmen