Ins Leere gelaufen - Byung Jin Park - E-Book

Ins Leere gelaufen E-Book

Byung Jin Park

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Beschreibung

»Könnte es sein, dass Sie Depressionen haben?« Byung Jin Park ist perplex, eigentlich hatte der Jurist die Psychotherapeutin wegen einer ganz anderen Angelegenheit konsultiert. Doch nach diesem Gespräch muss er sich eingestehen, dass sie recht hat: Von erholsamem Schlaf träumt er schon lang nicht mehr, die Arbeitstage sind eine einzige Qual, sein Leben fühlt sich leer an. Als er sich Monate später vollständig im Leerlauf wiederfindet, beschließt er, sich endlich seiner Diagnose zu stellen und sich in stationäre Behandlung zu begeben. Langsam sucht er nach seinen Gefühlen und lernt dabei, seine Depression zu akzeptieren. Mit seinem bewegenden Bericht macht Park Betroffenen Mut, sich mit den eigenen seelischen Leiden auseinanderzusetzen, um wieder voll ins Leben zu finden.

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Seitenzahl: 290

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@herrpandabaer

Byung Jin Park

INS LEERE GELAUFEN

@herrpandabaer

Byung Jin Park

INS LEEREGELAUFEN

Wie ich meine Depression überwand und mich selbst neu kennenlernte

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2021

© 2021 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Iris Rinser

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Miloje

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0268-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-615-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-616-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Für Phoebe,

die beste Tochter der Welt

trotz des mangelhaften Vaters

Inhalt

Im Saal unter Fremden

Teil 1: Die Ankunft

Vierhundertfünfundsiebzig Kilometer

Der Mensch, der ich war

Wer bin ich? Und wie bin ich depressiv geworden?

Ich, depressiv? Niemals!

Der Teufelskreis

Die Rettung

In die Klinik?

Der raue See

Teil 2: Auf sich selbst stolz sein

Die Fraueninsel und ein Hauch von Frieden

Die Ukulele

Das Trainingsverbot

Der Stolz (Teil 1)

Integration und deren Folgen

Ich muss besser sein als andere

Der Stolz (Teil 2)

Nina

Teil 3: Sich selbst akzeptieren

Wut ausdrücken lernen

Ein Wiedersehen mit der Familie

Die Kampenwand

»Negative Gefühle«

Die Wut zulassen

Ich darf mich selbst lieben

Alle Gefühle gehören zu mir

Teil 4: Sich selbst verzeihen

Achtsamkeit

Die Parkbank

Die Handpan

Ich bin der See

Der Soundtrack meiner Therapie

Der Löwe

Nordic Walking

Imagine

Musik und Heilung

Der letzte Abend

Abschlussgespräche und Rückfahrt

Teil 5: Zurück in den Alltag

Der neue Alltag

Die Kindheit aufarbeiten

Ein getrennt-erziehender Vater

Dunkle Phasen kommen und gehen

Meine Partnerin, ihre Fibromyalgie, meine Depression und ich

Twitter, Therapiebuch, Blog – und nun das Buch

Teil 6: Mein »Werkzeug«: Das Klapprad

Aufbruch

Bittersüße Erinnerungen

Frieden für die Seele

Ich habe einen großen Wunsch

Danksagung

Über den Autor

Im Saal unter Fremden

Ein kleiner Saal mit Wänden und Boden aus altem Holz, schätzungsweise fünf mal zehn Meter groß. Auf der einen Seite die Tür zum Gang sowie Fenster mit Sichtschutz für Anwendungen und Gespräche ohne optische Ablenkungen, auf der anderen Seite eine Terrassentür, die zu einem Innenhof führt. Schaut man durch diese Terrassentür hindurch, ist in der Ferne der Chiemsee samt Herreninsel zu sehen. Im Saal befinden sich rund zwanzig bequeme, gepolsterte Stühle, die allesamt an die Seite geschoben wurden, um Platz für die Anwesenden zu schaffen.

Während John Lennons »Imagine« läuft, dringen die letzten Sonnenstrahlen des Tages durch die Terrassentür in den Saal, in einer Mischung aus Gelb und Orange lassen sie die dunklen Holzwände und -stühle geradezu wie in Flammen aufleuchten. Die Musik strömt aus einem kleinen mobilen Lautsprecher und verteilt sich langsam bis hin zur meterhohen Decke im Saal. Der sonst bei jedem Schritt ganz leicht knackende Holzboden vibriert sanft zum Rhythmus des Liedes, transportiert Lennons Stimme durch die Füße in den Körper und lässt die Seele ebenfalls leicht vibrieren. Der Klang des Klaviers schlägt sanfte Wellen, genau wie der See dort draußen, der keine fünfzig Meter von der Tür entfernt ist.

Es befinden sich insgesamt 13 Personen im Saal. Zwölf davon stehen oder sitzen im Saal verstreut, manche sind tief in die Musik versunken, manche beobachten die anderen.

Ich, 35 Jahre alt, ein gestandener Mann, Rechtsanwalt, in Deutschland top integrierter gebürtiger Koreaner, Vater einer Tochter, stehe mit geschlossenen Augen in einer Ecke des Saales, in die die Sonnenstrahlen nicht hingelangen, halte meine Hände an meine Brust, so, als umarmte ich mein Herz, und heule Rotz und Wasser vor all diesen fremden Menschen.

TEIL 1:DIE ANKUNFT

Vierhundertfünfundsiebzig Kilometer

Es ist Viertel vor fünf. Ich wache auf, noch bevor mein Wecker klingelt. An jedem anderen Tag würde ich fluchen ob der mir geraubten Schlafzeit. Aber nicht heute. Heute bin ich sogar erleichtert darüber.

Es ist ein Donnerstag Anfang Februar. Ich habe die letzte Nacht bei meinen Eltern in Hanau, in meinem alten Kinderzimmer verbracht und bin erst knapp dreieinhalb Stunden zuvor eingeschlafen. Müde und gerädert schleppe ich mich aus dem Bett und schlurfe langsam ins Bad. Im Spiegel erblicke ich einen Panda: Meine Augenringe sind unübersehbar. Die Augen hingegen – leer. Das Gesicht ist aufgedunsen, das Doppelkinn deutlich zu sehen. Das gelbliche Licht im Badezimmer lässt meine Haut noch fahler und richtig ungesund aussehen.

»Ja, so siehst du aus«, sage ich zu meinem Abbild im Spiegel.

Zähne putzen, duschen, meinen Lieblings-Hoodie nebst Jeans anziehen, Kaffee aufsetzen, frühstücken. Wortlos. Die sorgenvollen Blicke meiner Mutter, die auch aufgestanden ist, ignorieren und stattdessen den Versuch unternehmen, ein Lächeln aufzusetzen. Ein letzter Check, meine große, erst gestern Abend gepackte Sporttasche mühevoll in den Kofferraum hieven, fertig. Ich verabschiede mich knapp von meiner Mutter und setze mich ins Auto.

475 Kilometer. »Fucking fast fünfhundert Filometer.« Während ich mich über die misslungene Alliteration amüsiere, zünde ich schon nach ein paar Hundert Metern die erste Zigarette an. Die Fahrt soll mich nach Bernau am Chiemsee führen, in eine psychosomatische Klinik.

»So weit ist es also gekommen, dass ich in der Anstalt lande!«, sage ich laut und drehe die Musik auf. Ich höre mein eigenes bittersüßes Lachen, eine Mischung aus Verzweiflung, Erleichterung, Vorfreude und Resignation. Passenderweise ertönt »Bitter Sweet Symphony« aus dem Radio.

Die Klinik sprach in der telefonischen Besprechung im Vorfeld von einem Aufenthalt von sechs Wochen. Pah! Maximal vier, wenn nicht eher drei Wochen, dann bin ich wieder draußen, denke ich, während ich die Autobahnauffahrt zur A45 Richtung Aschaffenburg nehme. Haben die Menschen denn eine Ahnung, wie lange sechs Wochen sind? Angestellte Berufstätige können doch nicht einfach so sechs Wochen freinehmen! Ich werde dort ein paar Gespräche führen – mal sehen, ob ich mit der Psychologin beziehungsweise dem Psychologen gut auskomme, das könnte dann vielleicht etwas bringen, ansonsten werde ich einfach nur viel schlafen und hoffen, dass das Essen halbwegs genießbar ist. Aber immerhin: Ich bekomme regelmäßig Essen und muss nicht putzen. Das ist doch mal eine gute Perspektive!

Die A3 über Würzburg bis nach Nürnberg, die A9 über Ingolstadt bis nach München, dann die A8 Richtung Salzburg. Ich muss schwer aufpassen, dass ich nicht einschlafe. Der Schlafmangel macht sich deutlich bemerkbar. Nach fünf Stunden lustloser Fahrt inklusive zweier Kaffeepausen und sechs Zigaretten zeigt mein Navi gegen zwölf Uhr an, dass ich die Autobahn verlassen soll. Strahlende Sonne, blauer Himmel. Den Chiemsee sehe ich noch nicht. Dabei hat es auf der Karte so ausgesehen, als ob die Klinik direkt zwischen See und Autobahn liegen würde. Bin ich hier überhaupt richtig?

Bernau hat viele Hotels für die kleine Größe, wie es sich eben für einen Kurort gehört. Auffällig viele Outlets mehr oder minder bekannter Modemarken sind zu finden, ansonsten gibt es ein paar Gaststätten und kleine Läden. Sonst nichts – außer einer großen Justizvollzugsanstalt und ebenjener psychosomatischen Klinik am See. Welche Ironie. Die Abfahrt an einem Kreisverkehr entscheidet über die Unterbringung in der JVA oder in der Anstalt.

Auf den Straßen sind kaum Menschen zu sehen. Es ist ruhig. Für meinen Geschmack zu ruhig.

Das wird doch alles nichts, denke ich mir, als ich im Ort kurz anhalte, um einen Brief an meine Freundin, den ich in der Nacht zuvor geschrieben habe, bei der Post aufzugeben. Denn: Die Leute hier sprechen ein breites Bayerisch – na bravo. Ich verstehe nicht alles. Ich bin müde, ich habe Hunger, mein Rücken schmerzt von der langen Fahrt, ich will einfach nicht mehr. Ich versuche trotzdem, die nette Postbeamtin anzulächeln.

Jetzt bin ich schon so weit gefahren. Ich will mich jetzt nicht auch noch konzentrieren müssen, um die Menschen hier überhaupt richtig verstehen zu können. Alles, wirklich alles ist mir zu anstrengend.

Vielleicht sollte ich auf der Stelle umdrehen und wieder nach Hause fahren, denke ich noch, als ich in die Zielstraße einbiege und der Chiemsee sich plötzlich vor meinen Augen in seiner vollen Pracht präsentiert. Ich hatte keine wirkliche Vorstellung, wie er aussieht oder wie groß er ist – und bin daher überrascht. Noch bevor ich diesen ersten Blick auf den See verarbeiten kann, ist auch schon die Klinik zu sehen: Sie sieht aus wie eine Hotelanlage. Hat was von »Club Med« oder ähnlichen Ferienclubs. Eine Seite des Gebäudes ist komplett verglast. Fast überall sind große, dicke Vorhänge zugezogen. Kein Wunder, denn die Sonne knallt heftig herunter. Am Haupteingang steht der Name der Klinik in großen Lettern. Der Gebäudekomplex ist eine Mischung aus Tradition und Moderne. Und vor allem: Die Klinik steht direkt am Wasser.

Mit offenem Mund fahre ich auf das Gelände. Nachdem ich mein Auto auf dem Parkplatz abgestellt habe, laufe ich direkt zum See, das Gepäck lasse ich erst mal im Auto.

Das schöne Wetter lässt den See tiefblau leuchten. Enten und andere Vögel lassen sich in Ruhe treiben, manche tauchen immer wieder unter. Weiter in der Ferne erblicke ich eine Fähre auf dem Weg zu einer großen Insel. Die sanften Wellen plätschern gegen die Ufermauer. Ich atme durch. Mein Puls wird langsamer. Ich starre fünf Minuten lang auf den See hinaus und lasse mich genauso treiben wie die Enten da draußen. Die Zeit bleibt für einen Augenblick stehen.

Es ist wunderschön.

Dann gebe ich mir einen Ruck, hole meinen Koffer aus dem Auto und betrete die Klinik. Meine Schritte sind eine Spur langsamer, etwas … gemächlicher. Im Empfangsbereich sieht es aus wie in einem Hotel: Links und rechts stehen bequeme Sessel und Sofas, überall frische Blumen auf den Tischen. Eine junge, attraktive Dame (im Dirndl! Oh nein!) am Empfang lächelt mich an und stellt sich vor (ohne Dialekt! Gott sei Dank!). Sie strahlt Souveränität und Ruhe aus. Ich nenne meinen Namen, und sie weiß sofort Bescheid. Routiniert tippt sie meinen Namen und meine Ankunft in das System ein und greift zum Hörer. Keine fünf Minuten nach der Anmeldung werde ich von einer anderen, ebenso freundlichen Mitarbeiterin der Klinik abgeholt und zu meinem Zimmer geführt.

Als ich das Zimmer betrete, fällt mir auf, dass es hinter der Verglasung liegt, die ich von außen schon bewundert habe. Durch die Glasfront habe ich einen prachtvollen Ausblick auf den See. Ans Auspacken denke ich erst mal gar nicht. Ich entscheide spontan, in den ersten Tagen aus dem Koffer zu leben. Lieber genieße ich einige Minuten lang die Aussicht, bevor es zu den Erstgesprächen geht.

Die Müdigkeit, die Lustlosigkeit, die Rückenschmerzen, das Hungergefühl – alles, was mich noch vor einer Viertelstunde beschäftigt hat, nehme ich nicht mehr wahr. Ich bin aufgeregt und von den vielen neuen, frischen Eindrücken überwältigt. Ich verlasse das Zimmer und laufe wie in Trance zurück in Richtung Lobby. Ich drehe eine Runde und gehe wieder raus, um zu checken, wo es einen Zigarettenautomaten gibt – damit ich gleich weiß, wo ich hinmuss, wenn mein Vorrat aufgebraucht ist. Ich habe fünf Schachteln dabei, aber sicherlich werde ich viel mehr brauchen hier.

Während ich noch mal ans Ufer schlendere, zünde ich mir gleich eine an, aber ich rauche sie gar nicht richtig. Immer wieder zieht mich der See in den Bann, der weite Blick lässt mich noch besser runterkommen. Ich bin immer noch damit beschäftigt, die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Es ist eine Reizüberflutung, verbunden mit der Müdigkeit, die ja trotz allem immer noch da ist.

In mir hat sich ein Gefühlschaos breitgemacht. Ich kann nicht sagen, ob ich nun froh bin, dass ich hergekommen bin. Ich weiß nicht, was mich hier erwartet. Die Menschen, die ich bislang gesehen habe, waren alle »ganz normal«. Ich hatte mir das etwas anders vorgestellt hier. Alle, die mir bis jetzt begegnet sind, haben so fit und gesund ausgesehen, gar nicht krank, nicht depressiv. Viele haben mich angelächelt. Irgendetwas läuft hier doch falsch.

Mir fällt ein, dass ich versprochen habe, meinen Eltern und meiner Freundin Bescheid zu geben, wenn ich angekommen bin. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und tippe zwei kurze Nachrichten. Bei dieser Gelegenheit stelle ich mich auf die Wiese und mache ein Selfie mit dem See im Hintergrund.

Ich schaue mir das Foto an. Dieselben Augenringe, dasselbe aufgedunsene Gesicht. Fix und fertig, deutlich sichtbar. Meine ohnehin kleinen Augen sind noch kleiner als sonst. Gott, sehe ich beschissen aus. Ich müsste dringend schlafen. Aber es ist ein neuer Schlafplatz, und bei all den ersten Eindrücken gehe ich davon aus, dass ich heute Nacht nicht wirklich schlafen können werde. Nun gut. Eigentlich ist es auch egal. Jetzt bin ich hier, den Rest muss ich auf mich zukommen lassen.

Nach einer weiteren Zigarette am Ufer laufe ich zurück in die Lobby. Die Empfangsdame händigt mir die vorläufige Aufenthaltsbestätigung aus.

Voraussichtlicher Aufenthalt: sechs Wochen.

Als ich das geplante Entlassungsdatum sehe, beschleicht mich zum ersten Mal das Gefühl, dass es vielleicht doch gut so wäre.

Der Mensch, der ich war

»Was erhoffen Sie sich von dem Aufenthalt bei uns?«

»Ich möchte ein wenig wieder der Mensch sein, der ich früher mal war.«

Aufnahmegespräch bei der Co-Therapie.

Die Co-Therapeuten sind diejenigen, die in einem Krankenhaus als Pfleger*innen bezeichnet werden. Sie sind die ersten Ansprechpartner für die Patienten.

Meine Co-Therapeutin klärt mich in Ruhe auf, aber ich kann kaum ein Wort aufnehmen. Größe und Gewicht werden gemessen – 1,63 Meter und 103 Kilogramm. Ein Foto von mir wird für die Akte angefertigt, weitere Hinweise zum Aufenthalt und zu den Hausregeln folgen. Ich bin froh, dass ich all das auf Papier ausgehändigt bekomme. Ich bin geistig völlig überfordert. Als die Co-Therapeutin fertig ist, verabschiede ich mich und eile zur ärztlichen Erstaufnahme.

»Haben Sie irgendwelche körperlichen Beschwerden?«, fragt der Stationsarzt, während er in meiner Akte blättert.

»Ich bin ein Wrack«, sage ich, worauf er überrascht seinen Blick zu mir wendet.

Wir lachen, als er mein – gespielt – gequältes Lächeln sieht.

Übergewicht, überall immer wieder Schmerzen, ständig krank gewesen in den letzten Wochen und Monaten. Aber ansonsten ist der Körper funktionsfähig. Der Arzt fragt mich, ob ich denn Ziele habe, wie zum Beispiel Gewichtsabnahme.

»Ich möchte einfach nur ein wenig wieder der Mensch sein, der ich früher mal war«, seufze ich.

Der nette Arzt schlägt mir diverse Anwendungen vor, und ich sage jedes Mal Ja. Ich weiß nicht wirklich, ob ich all das will. Wirbelsäulengymnastik? Ja. Nordic Walking? Ja, sicher. Pilates? Her damit. Atemgymnastik? Klar. Noch irgendwas? Er lächelt und sagt, ich solle mich bei ihm melden, wenn es mir insgesamt zu viel werden sollte oder körperliche Beschwerden auftreten würden. Ich lache nur, bedanke und verabschiede mich.

Nächste Station: Aufnahmegespräch beim Oberarzt. Auch hier kann ich nicht viel aufnehmen. Also lächeln und nicken, ein wenig erzählen, warum ich hier bin. Die Euphorie, mit der ich vor drei Stunden hier angekommen bin, ist verflogen. Ich bin müde und inzwischen völlig ausgelaugt. Gleichzeitig fühle ich mich aber, als hätte ich fünf Liter Kaffee getrunken. Die Achterbahn der Gefühle, in der ich mich befinde, schlaucht. Ich bin gefangen in einem Körper, den ich nicht will, mit einem Kopf, den ich nicht will. Als die oberärztliche Aufnahme vorbei ist, bin ich erleichtert. Der erste Tag meiner stationären Therapie ist damit quasi vorbei. Nur noch der Rundgang und das Abendessen stehen auf dem Programm, bevor es am nächsten Tag zur Erstaufnahme bei der Psychologin geht.

Der Rundgang dauert etwa fünfzehn Minuten. Die Klinik besteht aus vier Gebäudeteilen und ist viel größer, als ich angenommen hatte. Von einem Ende bis zum anderen benötigt man zu Fuß etwa fünf Minuten. Nach dem Abendessen ziehe ich mich zurück, dusche lange und lege mich endlich ins Bett.

In dieser ersten Nacht liege ich lange wach, ohne in der Lage zu sein, über all das wirklich nachdenken zu können – wie ein Motor im Leerlauf, bei dem das Standgas nicht korrekt eingestellt ist und der zwar weiterläuft, aber immer wieder stottert. All die neuen Bilder tauchen immer wieder vor meinen Augen auf: der Chiemsee, die Klinik, die Rezeption, der Rundgang. Mein Speicherplatz ist voll. Während ich noch darüber nachdenke, wie schön es wohl wäre, wenn es einfach einen Ein- und Ausknopf für den Kopf geben würde, schlafe ich ein.

Mein Wecker klingelt um Viertel vor sieben, und ich bin schlagartig auf den Beinen. Das ist mir zuvor noch nie passiert. Ich bin ein begeisterter Snooze-Nutzer. Zwar bin ich immer noch müde, mein Kopf fühlt sich jedoch etwas klarer an. Nach dem Frühstück eile ich zu meiner Psychologin. Das Besprechungszimmer befindet sich am anderen Ende der Klinik. Frühsport. Meine Güte.

»Sie sind ja völlig außer Atem, Herr Park«, begrüßt sie mich, als ich ins Zimmer reinstürme, gerade noch pünktlich.

»Ja? Oh. Das ist mir nicht aufgefallen«, lächle ich verlegen.

»Setzen Sie sich, kommen Sie an. Wie geht es Ihnen, wie war die erste Nacht?«, fragt sie erst einmal, um mir etwas Zeit zu geben.

Dass ich offen gestanden beschissen geschlafen habe, verschweige ich. »Es geht mir ganz gut, danke. Ich bin immer noch ein wenig baff. Ich schätze, das sind die vielen neuen Eindrücke.«

»Das ist kein Wunder, es geht vielen in den ersten Tagen so, teilweise sogar ein bis zwei Wochen. Lassen Sie sich Zeit.«

»Sie sagen das so leicht. Als ich gestern ankam, dachte ich noch, sechs Wochen wären viel zu lang. Heute habe ich schon Sorge, dass die sechs Wochen viel zu schnell vorbei sein werden.«

Ich beginne wirr durcheinanderzureden, als die Psychologin mich fragt, was mich in die Klinik geführt hat. Ich schaue dabei wiederholt auf die Wanduhr. Die Zeit rennt zu schnell. Wieso bin ich so in Hektik? Ich beginne, mich an den Fingerkuppen zu kratzen. Das tue ich immer, wenn ich nervös bin. Die Psychologin bemerkt es und holt mich gedanklich ab, indem sie mich sanft unterbricht. Wir schweigen einige Sekunden. Indem sie mir diese Zeit schenkt, bleibt sie mit mir in meiner rastlosen Welt kurz stehen. Ich nehme meine Brille ab und putze sie, um mich selbst aus dieser Gedankenwelt herauszuholen, während sie einen Blick in meine Akte wirft. Danach sieht sie mich wieder direkt an, mit ihrem Stift in der Hand, ihrem Notizblock in der anderen.

»Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind. Langsam. Sie haben Zeit. Sie müssen sich nicht hetzen«, sagt sie ruhig.

Ich atme durch.

Wer bin ich? Und wie bin ich depressiv geworden?

Von außen betrachtet habe ich lange Zeit ein Bilderbuchleben geführt. Meine Familie stammt aus Südkorea, auch ich bin in Seoul auf die Welt gekommen. Als ich zehn Jahre alt war, zog mein Vater mit uns aus beruflichen Gründen nach Deutschland. Ich habe wundervolle Eltern, die mich immer bedingungslos unterstützten: Sie ermöglichten mir viel, obwohl sie aus bescheidenen Verhältnissen stammen – doch Bildung wurde bei uns immer großgeschrieben. So kommt es, dass ich schnell Deutsch lerne, Freunde finde und neun Jahre später ein sehr gutes Abitur ablege.

Ich entscheide mich für ein Jurastudium, und in dieser Zeit beginnen die Probleme. Während meines Studiums bin ich zum ersten Mal auf mich allein gestellt, was dazu führt, dass ich mich weniger dem Lernen und mehr den Partys widme. Da ich sehr ungesund lebe und keinen Sport treibe, nehme ich insgesamt rund dreißig Kilogramm zu. Ich habe nie Kochen gelernt und ernähre mich hauptsächlich von Fast Food. Ich werde träge, verbringe die meiste Zeit am Computer, wenn ich nicht gerade auf einer Party bin. Welche Rolle die körperliche Verfassung für die Psyche spielt, ist mir überhaupt nicht bewusst. Nein, noch schlimmer: Ich mache mir gar keine ernsthaften Gedanken um mich, mein Leben und meine Zukunft in dieser Zeit, sondern lebe in den Tag hinein. Das Studium findet eher am Rande statt. Nach dreieinhalb Jahren Laisser-faire besinne ich mich zumindest ein wenig und pauke für das Erste Staatsexamen, das ich schließlich bestehe.

In dieser Zeit bin ich zum ersten Mal in einer Beziehung, die nach dreieinhalb Jahren fürchterlich endet. Ich ertrage das Singlesein nicht und flüchte in die nächste Beziehung, die nicht lange währt. Das Thema Eifersucht ist dabei stets präsent: Die Angst, dass ich verlassen werde, weil ich nicht gut genug bin, begleitet mich ständig. Ich bin auf die wiederkehrende Bestätigung meiner Freundin angewiesen, da ich nicht gelernt habe, mir selbst diese Bestätigung zu geben. Mein Leben wird nicht von mir selbst, sondern ausschließlich von anderen beurteilt.

Mit meiner Familie habe ich in diesen Jahren wenig Kontakt. Ich genieße die Freiheit zu sehr. Ich rede mit meinen Eltern nicht offen, da ich nur Belehrungen erwarte. Was sie nicht wissen, beschäftigt sie auch nicht, lautet mein Motto. Als ich während des Referendariats die künftige Mutter meiner Tochter kennenlerne und es zwischen uns funkt, stürze ich mich auch in diese Beziehung Hals über Kopf.

Bei den gelegentlichen oberflächlichen Gesprächen mit meinen Eltern sagen sie mir, ich möge mich zunächst auf die Ausbildung konzentrieren und das Thema Beziehung erst später angehen. Ich bin verletzt, ich will nicht mehr, dass meine Eltern sich in mein Leben einmischen. Ich blocke ihre Versuche, mit mir zu reden, immer öfter ab. Die Zeit verbringe ich lieber mit meiner Partnerin. Wenn es doch mal zu einem Telefonat kommt, streite ich mich mit ihnen über die Ausbildung, die Partnerschaft, meinen körperlichen Zustand. Sie machen sich Sorgen um mich, was ich aber nicht erkenne, ich interpretiere ihre Fragen als Einmischung. Schließlich rufe ich nicht mehr an und gehe nicht mehr ans Telefon. Ich breche den Kontakt zu meiner Familie ab.

Wann meine Depression genau angefangen hat, kann ich gar nicht sagen. Ich habe lange Zeit überhaupt nicht bemerkt, dass ich depressiv bin. Ich habe sogar ausgeschlossen, dass ich depressiv sein könnte.

Aber mein Alltag gestaltet sich eigentlich seit dem Eintritt ins Berufsleben stressig, was an verschiedenen Dingen liegt. Es passiert sehr viel gleichzeitig: Ich trete eine Stelle als Rechtsanwalt an, heirate meine Freundin – in Abwesenheit meiner Eltern – und werde Vater. Ich könnte, sollte, müsste glücklich sein, aber ich bin es nicht. Es bleibt gar keine Zeit zum Nachdenken.

Ich bin nicht etwa Rechtsanwalt geworden, weil dies mein Traumberuf war. Ich habe Jura studiert, um den Erwartungen gerecht zu werden, und habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht, was mich eigentlich interessieren würde. Zum Glück lande ich in einer Kanzlei mit Schwerpunkt auf Wirtschaftsrecht, und ich bemerke schnell, dass mir die Arbeit Spaß macht. Trotzdem ist sie sehr fordernd, gerade für mich als Berufseinsteiger. Hinzu kommt der lange Arbeitsweg. Die Anfahrt beträgt 75 Kilometer einfache Strecke, was mich im besten Fall eine Stunde, im schlimmsten Fall aber staubedingt bis zu zweieinhalb Stunden Zeit kostet. Das führt dazu, dass ich unter der Woche abends nicht selten erst zwischen acht und neun Uhr nach Hause komme. Ich bin erschöpft und zudem von der anstrengenden Fahrt genervt.

Ich möchte – und muss – eigentlich mehr für meine Familie da sein. Da es in der Schwangerschaft Komplikationen gab, von der meine Frau Langzeitfolgen davongetragen hat, möchte ich auch bei der Kinderbetreuung und im Haushalt meiner Verantwortung gerecht werden. Aber ich schaffe es einfach nicht, alles unter einen Hut zu kriegen. Ich komme nie zur Ruhe. Zwar gibt mir meine Tochter Kraft, aber zugleich braucht sie viel Aufmerksamkeit. Mir fehlt die Zeit – oder sollte ich besser sagen: Ich nehme mir nicht die Zeit, um den Tag zu reflektieren und sacken zu lassen. Ich kann mich nicht wirklich entspannen und nachts nicht gut einschlafen. So kommt es, dass ich unter permanentem Schlafmangel leide. Ein Teufelskreis beginnt: Ich habe jeden Tag viele Aufgaben zu bewältigen, dadurch kann ich abends nicht abschalten. Durch das Schlafdefizit komme ich noch schlechter mit den Herausforderungen meines Alltags zurecht – alles wächst mir über den Kopf.

Natürlich streikt mein Körper irgendwann und ich bin immer öfter krank. Die zunehmend auftretenden Muskelverspannungen und Schmerzen ignoriere ich lange Zeit, aber immer häufiger treten zusätzlich grippeähnliche Symptome auf, die mich ins Bett zwingen. Kopf- und Gliederschmerzen, Schnupfen und Husten, Schüttelfrost, zudem allergische Reaktionen – die gesamte Palette.

Ich komme nicht auf die Idee, meinen Zustand zu hinterfragen. Ich bin mir sicher: Ich habe mich durchzubeißen. Ich darf kein Weichei sein. So habe ich es gelernt. Der Mann ist stark und kann sich um alles kümmern.

Als sich die Möglichkeit für einen Stellenwechsel in die Nähe meines Wohnorts anbietet, bin ich optimistisch, dass es mir besser gehen wird. Die langen Fahrten fallen ab sofort weg. Auf der anderen Seite trete ich eine Stelle an, bei der ich noch mehr Verantwortung trage. Ich setze mich folglich weiter selbst unter Druck. Es wird im Ergebnis nicht besser.

Ich bin in einem Hamsterrad gefangen: Ich schlafe schlecht, schleppe mich in die Arbeit und zurück, bin müde, spiele halbherzig mit meiner Tochter, mache meinen Teil vom Haushalt und liege dann wach im Bett. Mit der Zeit wird alles immer anstrengender. Sogar die banalsten Dinge wie das Öffnen der Post kosten mich große Kraft. Nicht selten habe ich den Wunsch, alles liegen und stehen zu lassen und irgendwohin zu flüchten – am liebsten auf eine einsame Insel. Ohne jegliche Verpflichtungen.

Natürlich leidet unser Eheleben darunter. Da wir unsere Beziehung Hals über Kopf eingegangen sind und schnell geheiratet haben, haben wir es versäumt, sie auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Wir stellten plötzlich fest, dass unsere Verliebtheit dem Alltag eines Ehe- und Familienlebens nicht gewachsen war – oder vielmehr: Ich war dem Alltag nicht gewachsen und zog es immer mehr vor, zu verdrängen. Wir reden immer weniger miteinander. Die einzigen Themen, über die wir kommunizieren, sind Geld und Haus – einerseits über die Finanzierung und die damit verbundene große Belastung, andererseits über weitere notwendige Anschaffungen sowie Instandhaltungs- und Renovierungsarbeiten, was den finanziellen Druck erhöht. Ausgaben und Probleme häufen sich, ebenso die Streitereien. Ich bin dünnhäutig und ständig unter Strom. Selbst neutral gesprochene Sätze können mich provozieren. Gespräche blocke ich oft ab, weil ich mich nicht mit den angesprochenen Themen befassen will. Ich ignoriere meine Frau immer öfter, und wenn sie mich auf das Thema Beziehung, also uns, anspricht, streiten wir. Ich beklage meine Müdigkeit, meine komplexe Arbeit, meine nicht vorhandene Freizeit und beschwere mich, dass sie mich nicht versteht. Sie fragt mich, ob ich denn wisse, wie es ihr denn gehe, ob ich annehmen würde, dass sie es besser hat. Konstruktive Kritik und sachliche Auseinandersetzungen finden nicht mehr statt.

Wir verstehen uns nicht mehr, weil wir verlernt haben, miteinander zu reden.

Eine Weile halte ich diesen Zustand noch aus, aber ich muss mir eingestehen, dass unsere Beziehung gescheitert ist, dass ich gescheitert bin. Aber ich liebe meine Tochter, sodass ich ihr zuliebe an der Ehe festhalte. Meine Gedanken kreisen vor allem darum, was andere Menschen denn von uns denken würden, wenn wir uns trennen. Ich rede mir selbst ein, dass ich ein Versager wäre, wenn ich diese Phase nicht durchstehen kann.

In all diesen Monaten bin ich unfähig, etwas zu empfinden. Konkret bedeutet das, dass ich die Lebensfreude verloren habe und jeden Tag stumpf hinter mich bringe. Ich habe aufgehört, auf etwas Positives zu warten oder darauf zu hoffen.

Ich habe mich aufgegeben.

Letztlich scheitert die Ehe, denn mit der Selbstaufgabe gebe ich auch diese Verbindung auf. Nach einer von mehreren Krisen entschließe ich mich dazu, den Ehering abzulegen und meiner Frau zu sagen, dass diese Beziehung vorbei ist.

Ich melde mich bei meinen Eltern und benachrichtige sie wortkarg über die Trennung. Zwar haben wir seit der Geburt meiner Tochter wieder sporadisch Kontakt, aber ich war weit davon entfernt, ihnen zu erzählen, was wirklich los ist in meinem Leben. Nun fallen sie aus allen Wolken. Mutter ist von der Nachricht derart geschockt, dass sie krank wird. Meine Eltern flehen mich an, endlich wieder und vor allem offen mit ihnen zu reden.

Groteskerweise leben wir auch nach der Trennung erst einmal weiter unter einem Dach. Wie in einer WG mit getrennten Schlafzimmern. Ich habe Angst davor, meine Tochter und das Haus zu verlassen. Ich habe keinen Plan B. Andererseits bin ich auch zu bequem: Schließlich habe ich noch ein Dach über meinem Kopf. Wir gehen uns im Haus möglichst aus dem Weg. Die Wochenenden verbringe ich mit meiner Tochter, während meine Frau bei ihren Eltern ist; ist sie zu Hause, fahre ich zu meinen Eltern oder bleibe den ganzen Tag im Bett.

Ich rede mir vergeblich ein, dass ich mich erhole, wenn ich viel im Bett liege. In Wahrheit bin ich nur noch mit meinen Gedanken und Ängsten beschäftigt. Ich verbringe meine komplette Freizeit in meinem Bett, außer wenn ich einkaufen gehen muss. So stürzen all meine Probleme ungehindert auf mich ein: Ohne andere Aktivitäten, ohne Ablenkung fällt es schwer, an etwas anderes zu denken. Das wiederum bewirkt, dass ich mich immer weiter verschließe. Ich werde noch öfter krank und komme gar nicht mehr aus dem Bett. Ich schließe mich immer mehr in meinem Zimmer ein und vegetiere vor mich hin.

Einige Wochen lang hält dieses Konstrukt. Dann ist es endgültig genug: Nach einem weiteren Streit – während unsere Tochter zum Glück bei den Großeltern ist – verlangt meine Ex, dass ich sofort ausziehe. Ich packe wütend das Nötigste und verlasse das Haus.

Zunächst komme ich bei Bekannten unter, bevor ich schließlich ein viel zu kleines Zimmer in einer Studenten-WG miete. Meine Tochter sehe ich unregelmäßig unter der Woche nach der Arbeit für ein paar Stunden. Sie lässt sich nichts anmerken, als ich versuche, ihr die Situation zu erklären. Es ist schwierig, einen verbindlichen Umgang zu vereinbaren; es gibt zu viele Themen, die nach der nun erfolgten räumlichen Trennung geregelt werden müssen. Ich stehe vor einem Berg und mache das, was ich in dieser Situation am besten kann – nämlich verdrängen und verschieben.

Bei der Arbeit kann ich mich nun gar nicht mehr konzentrieren. Ich brauche immer länger für meine Akten. Meine Gedanken sind oft woanders. Ich bin immer müder, mein Schlafdefizit wird noch größer. Bald stehe ich vor der Situation, dass ich Fristen nicht mehr einhalten kann.

Ich schaffe das alles nicht mehr.

Als ich eine Stellenanfrage aus meiner Heimatstadt erhalte, diskutiere ich mit meinen Eltern darüber. Auf ihre Frage, was ich denke, sage ich nur noch, dass ich nicht mehr kann. Da sie mir vorschlagen, ich könne wieder bei ihnen einziehen, reiche ich meine Kündigung beim aktuellen Arbeitgeber ein.

Ein Neuanfang, in jeglicher Hinsicht.

Ich, depressiv? Niemals!

Obwohl ich in dieser schwierigen Zeit ununterbrochen auf meinen Problemen herumkaue, kommt mir komischerweise nie der Gedanke, ich könnte eine Depression haben. Ich habe immer das Gefühl, ich sei einfach zu schwach für dieses Leben, das ich mir aufgebaut habe – ich sei ein Versager. Und natürlich unternehme ich verschiedene Anläufe, unsere Beziehung zu retten. Es ist Zufall beziehungsweise mein Glück: Inmitten der Ehekrise, rund ein Jahr vor der endgültigen Trennung, durchlebe ich eine etwas bessere Phase. In dieser Zeit sehe ich unterwegs zufällig das Praxisschild einer Psychotherapeutin, auf dem steht: »Ausgeprägte Konflikte und Probleme in der Partnerschaft«. Ich beschließe, den Versuch zu wagen und mir Rat zu holen, wie ich meine Beziehung kitten könnte. Die telefonische Nachfrage ergibt, dass aufgrund einer kurzfristigen Absage eines anderen Patienten ein Ersttermin schnell möglich ist. In der darauffolgenden Woche mache ich an einem Nachmittag unter der Woche früher Feierabend und fahre in die Praxis.

»Bevor wir über Ihre Ehe sprechen, sollten wir zuerst über Sie sprechen.«

»Warum über mich?«

»Weil Sie unter einer Depression leiden.«

Ich sitze auf einem blauen, sehr bequemen Sessel. So bequem, dass ich eigentlich gar nicht mehr aufstehen möchte. Die unten auf der Straße vorbeifahrenden Autos sind kaum hörbar. Nur das leise Ticken einer Uhr lässt mich der Vergänglichkeit der Zeit bewusst werden. Auf dem Tisch zwischen der Therapeutin und mir steht eine Box mit Taschentüchern. So typisch.

20 von insgesamt 50 Minuten sind vergangen, als die Therapeutin mich unterbricht. Ich bin bei ihr wegen meiner Ehekrise. Ich brauche Tipps. Daher halte ich seit rund zwanzig Minuten einen Monolog über die Situation. Bis mich die Therapeutin unterbricht und mir diese zwei ungeheuerlichen Sätze um die Ohren haut. Ich depressiv? Es geht hier doch nicht um mich! Ich bin falsch hier. Dafür habe ich also einen halben Tag Urlaub genommen? Ich vergeude hier meine Zeit. Ich gehe!

Aber ich kann nicht aufstehen.

»Wie schlafen Sie derzeit?«

»Schlecht.«

»Warum schlafen Sie schlecht?«, fragt die Therapeutin, während sie seelenruhig weiter Notizen anfertigt.

»Ich leide unter Schlafapnoe.«

»Nutzen Sie ein Atemtherapiegerät?«

»Ja.«

»Dann dürfte es ja nicht daran liegen.«

Ich starre sie an und breite meine Arme aus, um mich optisch in voller Breite zu präsentieren. »Ich bin fett. Völlig außer Form. Es ist kein Wunder. Ich muss abnehmen.«

Sie ignoriert meine Antwort nonchalant.

»Können Sie schnell einschlafen?«

»Nein. Ich habe viel Stress auf der Arbeit und zu Hause.«

»Wie fühlen Sie sich, wenn Sie morgens aufwachen?«

»Gerädert. Und gestresst. Aus den bereits genannten Gründen«, entgegne ich, inzwischen von den vielen Fragen genervt.

Die Therapeutin scheint das zu ignorieren. »Wie ist denn Ihre Tagesstruktur?«

Ich erzähle. Beobachte dabei, wie die Therapeutin mich beobachtet. Sie lässt sich nichts anmerken. Das gefällt mir nicht. Sie bleibt weiter seelenruhig und lächelt mich an. Ihre Fragen hingegen werden bissiger.

»Wann haben Sie denn mal Zeit für sich selbst?«

»Nun ja, ich habe ja Zeit für mich, wenn ich abends mit meinem Handy im Bett liege.«

»Das ist ab wann?«

»So zwischen zehn und elf Uhr.«

»Herr Park, das ist alles zu viel für Sie.«

»Ich kenne Menschen, die arbeiten bis zu vierzehn Stunden am Tag und an den Wochenenden. Andere, die körperlich schwere Arbeit verrichten. Sie schaffen das doch …«

Die Therapeutin hebt ihre Hand vom Notizblock, um mich zu unterbrechen. »Herr Park, für Sie ist das zu viel. Es ist nicht schlimm, dass es zu viel ist.«

Ich verstumme. Ich bin Rechtsanwalt, mir fehlen – auch berufsbedingt – nur äußerst selten die Worte. Es fühlt sich an, als wäre ich in einem Boxkampf, würde fürchterlich verprügelt und weiß nicht einmal, woher die Einschläge kommen. Ich sehe den Gegner nicht einmal.

Ich bin nicht depressiv. Ich bin faul, träge, körperlich außer Form, ja. Aber ich bin nicht depressiv. Depressiv sind andere. Andere Menschen, die schwere Schicksalsschläge erlitten haben. Andere, die viel schwierigere Voraussetzungen, familiäre und finanzielle Hintergründe haben als ich. Mir hatte nie etwas gefehlt. Ich bin behütet aufgewachsen. Ich bin nicht depressiv, ich kann nicht depressiv sein. Ich darf nicht depressiv sein.

Oder doch?

Die nächsten Sekunden und Minuten laufen wie in einem Film ab. Ich bin inzwischen völlig im Sessel versunken, kraftlos, hilflos, innerlich alles verneinend, und lausche den weiteren Fragen der Therapeutin. Ich nehme gar nicht mehr wahr, was ich antworte. Ich sehe nur, wie sie weiter in Ruhe ihre Notizen anfertigt. Was auf dem Blatt wohl steht? Versager? Weichei? Nichtsnutz? Ein weiteres Opfer? Belastung für die Gemeinschaft, da die Krankenkasse einen weiteren Patienten versorgen muss? Ob tatsächlich das Wort »Depression« draufsteht? Gibt es da eigentlich unterschiedliche Formen und Schweregrade? Was weiß ich denn eigentlich überhaupt über Depression? Vor allem, verdammt noch mal, warum geht es hier um mich? Was passiert hier gerade?