Ins Mark getroffen - Prof. Dr. Thomas Bein - E-Book

Ins Mark getroffen E-Book

Prof. Dr. Thomas Bein

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Beschreibung

Ein Intensiv-Mediziner erlebt, was es bedeutet, Krebs zu haben: Professor Dr. Thomas Bein erzählt in seinem Sachbuch von seinen Erfahrungen als Krebs-Patient im Klinik-Alltag der Hightech-Medizin. Prof. Dr. Thomas Bein leitet eine Intensivstation am Universitäts-Klinikum Regensburg, als bei ihm Knochenmark-Krebs (Leukämie) diagnostiziert wird. Fortan ist der Spitzen-Mediziner Patient im Getriebe der Hightech-Medizin: Er erlebt, wie es sich anfühlt, eine Krebs-Diagnose zu bekommen, was es bedeutet, eine Chemo-Therapie auszuhalten, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren und mit der Krankheit Krebs leben lernen zu müssen. Immer schwingen die Erfahrung und das Wissen des Intensiv-Mediziners mit, der sich vor seiner Erkrankung schon gefragt hat, wie das, was er als Arzt tut, auf seine Patienten wirkt. Thomas Bein beschreibt eindrucksvoll, was er über die Autonomie und Würde schwerstkranker Patienten im Klinik-Alltag gelernt hat – und was sich dringend ändern muss, in den Abläufen wie auch im Verhältnis Arzt und Patient. Weil er als Medizin-Ethiker an der Uni-Klinik Regensburg ausgebildet hat, haben seine Erfahrungen als Krebs-Patient ein besonderes Gewicht.

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Seitenzahl: 225

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Prof. Dr. Thomas Bein

Ins Mark getroffen

Was meine Krebserkrankung für mich als Intensivmediziner bedeutet

Knaur e-books

Über dieses Buch

Prof. Dr. Thomas Bein leitet eine Intensivstation am Universitätsklinikum Regensburg, als bei ihm Knochenmarkkrebs diagnostiziert wird. Fortan ist der Spitzenmediziner Patient im Getriebe der Hightech-Medizin. Er erlebt, wie es sich anfühlt, eine Krebsdiagnose zu bekommen, was es bedeutet, eine Chemotherapie auszuhalten, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren und mit der Krankheit leben lernen zu müssen. Immer schwingt die Erfahrung des Intensivmediziners mit, der sich vor seiner Erkrankung schon gefragt hat, wie das, was er tut, auf seine Patienten wirkt. Thomas Bein beschreibt eindrucksvoll, was er über die Autonomie und Würde schwerst kranker Patienten im Klinikalltag gelernt hat – und was sich dringend ändern muss.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoVorwortÜberbringen schlechter Nachrichten – Wahrheit und WahrhaftigkeitDiagnosen und InterpretationenDer Arzt als SpitzenverdrängerKollegen als BehandlerDie Wahrheit und die gute MieneEntwicklung eines Schlachtplans»Wird schon wieder«: Aufmunterungen 4.0Die Dialektik des Perspektivwechsels – vom Arzt zum PatientenGrübeln auf hohem NiveauDie hohe Kunst des WartensEmpathie: Was ist das richtige Maß?Punktionen und andere AngriffeAttacke von hinten: die KnochenmarkpunktionDer Oberarzt (physicus superior): Versuch einer AnnäherungInnen und außen: die Infusion als EindringlingDer Schmerz und ichUnterschriften und andere ZumutungenDas innere Ringen über den Umgang mit der BedrohungGelassenheit oder Gleichgültigkeit? Worin liegt der Unterschied?Mein Ich und mein KörperDer Arzt – Rollen und Funktionen auf dem PrüfstandDer Arzt – (zu) hohe Rollenerwartungen?In der Zange zwischen Kommerz und HumanitätDer rebellische Sohn wird DoktorArzt und Patient: Sprechen sie eine gemeinsame Sprache?Ambulanz für Krebspatienten – eine Tagesration HochleistungsmedizinEin neuer ReisepassKreuzfahrt für LeidendeDer geschundene Körper als »Würdeträger«Auf der Suche nach PunktionsvenenArtenschutz für Onkologie-PflegendeDie Metaphysik der TropfkammerDer Salon der Hoffenden leert sichDie Stammzelltransplantation und der HochsicherheitstraktDie Stadt der halben GesichterMärsche in Isolationshaft und Einstiche in DunkelkammernNächtlicher Gesang der SpritzenpumpenTage ohne weiße Blutkörperchen – Postkartenengel und andere HelferPflegende am LimitZur Philosophie der ÜbelkeitDas Gewicht, die Drohung und die AstronautenkostPieter Bruegel hinter dem Fenster und SMS und WhatsApp als digitale TrösterDie ersten Haare im Waschlappen und ein Lob der KahlheitDer Tod – nicht länger zu ignorierenDie Firewall der Verdrängung wird löchrigVersuch der MeditationDie Endlichkeit, die Hoffnung und das WissenLeben 2.0Nur halb entronnen»Böse« Zellen als DauergastDie Vergänglichkeit macht es sich bequemWeitere Punktionen und andere AngriffeAdieu zur Naivität der GesundheitCorona, meine Abwehrsoldaten und ichSchlussbemerkung: Vom Arzt zum Patienten – ein Rollentausch mit FolgenDank
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Gewidmet meiner Familie,

den Ärzten und Pflegenden, die mich in dieser Krise hervorragend geführt und begleitet haben,

und meinem Hund Levie – durch die gemeinsamen Wanderungen bin ich auf viele inspirierende Gedanken gekommen.

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Doch es kommt auch vor, dass der Arzt-Patient,

wobei er in seinem Unglück durchaus noch ein wenig Arzt bleiben kann,

weit mehr Patient als Arzt ist.

Dann ist er nur eine erbärmliche Kreatur,

die gemeinsam mit den anderen Kreaturen in ein gleiches Schicksal verstrickt ist.

 

Vladimir Jankèlèvich, Der Tod

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Vorwort

Das Arztsein kann mit großer Erfüllung und Freude verknüpft sein, selbst unter den schwierigen Bedingungen der Ausübung, wie sie momentan zu beobachten sind.

Die Hochleistungsmedizin hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte erbracht: Schwerst verletzte Patienten können überleben, eine Krebserkrankung stellt kein Todesurteil mehr dar, neue hoch technisierte und verfeinerte Methoden der Diagnostik spüren jeder entarteten Zelle nach, und die moderne Medizin verspricht – angetrieben durch die enorm gestiegene Lebenserwartung – ein mobiles und autonomes Leben, gegebenenfalls mit einfachem oder mehrfachem Gelenk- oder Herzklappenersatz. Ohne Frage – Technik und Digitalisierung charakterisieren die aktuelle Medizin. Eine wichtige »Endstrecke« der Hochleistungsmedizin ist die Intensivbehandlung: Sie bietet moderne technische Verfahren an (bei Patientenverfügungen oft als »Apparate« bezeichnet), durch die das an sich tödliche Versagen von Organen wie Lunge, Kreislauf oder Niere so lange ersetzt werden kann (künstliche Beatmung, maschinelle Kreislaufunterstützung, Nierenwäsche), bis sich die Organe von einer schweren Schädigung, zum Beispiel nach einer Blutvergiftung (Sepsis), erholt haben. Eine faszinierende Entwicklung, die den Arzt antreiben kann, dem drohenden Tod die Stirn zu bieten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – befindet sich die Medizin in einer Umbruchsituation mit Verunsicherungspotenzial. Ein zunehmend industriell anmutender medizinischer Hochleistungsbetrieb ist entstanden. Von überforderten Ärzten, verunsicherten Patienten, einem drohenden Pflegemangel und unter Druck stehenden Krankenhausmanagern ist mehr und mehr die Rede.

Ich habe mich als Intensivmediziner über Jahrzehnte mit der Hightech-Medizin identifiziert und verbunden gefühlt. Sah ich doch in Wissenschaft und täglicher Praxis große Entwicklungen. Es war eine nachhaltige Erfüllung, mit Expertise, Technik und einem spezialisierten Team schwer kranken Menschen nach Unfällen, Blutvergiftungen oder anderen lebensbedrohlichen Organausfällen zu helfen und diesen hart Getroffenen eine Überlebenschance zu bieten.

Den Tod allerdings können wir Mediziner immer noch schwer akzeptieren, und das persönliche Leid, die individuelle Betroffenheit der Schwerkranken blenden wir gern hinter hochkomplexen Geräten, Laborwerten oder Röntgenbefunden aus. Ich hatte viele Erlebnisse und Fragen bei Unklarheiten über die (ethisch) angemessene Therapie bei bestimmten Patienten oder bei problematischen Situationen am Ende eines von uns betreuten Lebens; dies führte schließlich dazu, dass ich mich entschloss, als »gestandener« Oberarzt und Leiter einer Intensivstation – also mitten im Zenit meines Berufslebens – berufsbegleitend Medizinethik zu studieren, da ich oft mit meinem »ethischen Latein« am Ende war und Burn-out-Symptome zu entwickeln begann. Frisch gestärkt durch das Master-Studium und durch das Nachdenken über das Menschenbild in der Medizin arbeitete ich mit neuer Freude weiter. Bis es mich, den Arzt, selbst erwischte mit der plötzlichen Diagnose einer bösartigen Erkrankung, war die medizinische Welt – abgesehen von Erschöpfung und schwerer beruflicher Belastung – weitgehend in Ordnung. Ich wurde mitten in der produktivsten Phase meiner Tätigkeit (große Erfahrung, fachliche Reifung, Freude an Teamarbeit und Ausbildung jüngerer Kollegen) vom Krebs ins Knochenmark getroffen.

Mein persönlicher Perspektivwechsel vom Arzt zum Patienten ist Gegenstand dieses Berichtes. Arzt zu sein und gleichzeitig über Jahre hindurch das Getriebe der Spitzenmedizin vom Ende her zu erleben, war zunächst eine große Irritation für mich. Ich habe mir angewöhnt, zu beobachten und zu notieren – Begegnungen mit Pflegenden, Gespräche mit Ärzten, das Wahrnehmen der Atmosphäre beim Warten oder in der Tagesklinik neben den anderen Mitleidenden.

Diese Beobachtungen und meine Reflexionen haben bei mir neue Fragen zum Verständnis der modernen Medizin aufgeworfen und eine andere Einstellung zum Medizingetriebe hervorgerufen, und dieses ist ambivalent geworden.

Ich musste es am eigenen Leib erleben: Der ungeheuren Verdichtung der Medizin mit einer enormen Leistungsbreite steht nach wie vor der arme und leidende Mensch mit Verunsicherung, Angst und vielen Fragen gegenüber. Die Hightech-Medizin muss mehr denn je auf diese Urfragen des Menschseins eingehen, sonst werden die großen Erfolge nicht nachhaltig sein. Es ist bedenkenswert, dass Rufe nach der Humanität in der Medizin immer lauter werden, obwohl diese doch eigentlich das Wesen der Heilkunde darstellt.

Meine Erfahrungen, Beobachtungen und Reflexionen sind auf den folgenden Seiten zusammengefasst. Warum ist es mir wichtig, dem Leser diese Gedanken mitzuteilen? Ich glaube nicht, um meine Seele zu erleichtern oder um einen weiteren Bericht über eine Krebserkrankung anzufügen – es gibt bereits sehr authentische und bewegende Darlegungen. Ich will mich auch nicht mit gewisser Bedeutsamkeit vor dem Leser produzieren.

Ich glaube, dass die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich während der nunmehr fünfjährigen Behandlungsphase gemacht habe, grundsätzlich mein Rollenverständnis als Arzt beeinflusst und ein kritisches Nachdenken in Gang gesetzt haben, das ich aus verschiedenen Gründen hier darstellen möchte. Verstehen sich Arzt und Patient überhaupt noch in einer Sprache, deren Komplexität diejenige der Medizin widerspiegelt? Ist möglicherweise eine Entfremdung eingetreten zwischen dem in den sogenannten Gesundheitsberufen wesenhaft angelegten Anspruch darauf, den Menschen in den Mittelpunkt zu nehmen, und der offensichtlichen Schwierigkeit seiner Umsetzung?

Wie könnte man sich sonst erklären, dass renommierte Medizinethiker wie der Freiburger Professor Giovanni Maio wiederholt ein Plädoyer für eine Medizin der Zuwendung ausrufen (müssen!) und Ärzte dazu ermahnen, den kranken Menschen zu verstehen.[1] Giovanni Maio sieht Fehlentwicklungen der modernen Medizin, die insbesondere ihre Ursache in einer extremen Verdichtung von Technik und Personal sowie auch in einer strikten Kommerzialisierung und Unterwerfung unter das Diktat des Profits haben. Maio beklagt, dass »die Strukturen der Medizin, bezogen auf den zwischenmenschlichen Charakter, so entgleist sind wie selten zuvor«.[2]

Nach einer langen Zeit als Arzt im dichten Getriebe der Hochleistungsmedizin hatte es mich erwischt, und ich wurde zu einem Rollentausch gezwungen. Mit dem Überwinden einer ersten tiefen Erschütterung habe ich mich in das Beobachten eingeübt und wollte tiefer verstehen, wie es Kranken und Hilfesuchenden geht, die in eine akute bedrohliche Krise mit hoher Verunsicherung geraten sind.

Der Mensch stößt auf die großen Versprechen der technisierten Medizin – und muss sich dennoch immer wieder mit seiner Endlichkeit befassen. Ein Aspekt, den der aktuelle Gesundheitsbetrieb gern zurückstellt.

Ich bin dankbar dafür, dass diese effektive Medizin mein Weiterleben ermöglicht hat. Ich sehe aber auch Verwerfungen, Irritationen und unerfüllte menschliche Bedürfnisse im zwischenmenschlichen Bereich. Diese beiden Blickwinkel möchte ich dem Leser näherbringen mit dem Versuch, mich immer wieder von meiner persönlichen Krankheitsgeschichte zu entfernen und die Gedanken anderer Denker (Philosophen, Schriftsteller, Theologen, Soziologen) mit einzubeziehen. Ich hoffe sehr, dass der Leser sich in dieser Erweiterung und Zusammenführung von Persönlichem und Allgemeinem zurechtfinden kann und möglicherweise für sich selbst in diesem existenziellen Bereich von Gesundheit und Krankheit zum Nachdenken angeregt wird. Nach meinem Verständnis braucht die Medizin ein Umdenken zu einer neuen Humanität. Patienten, Angehörige und vor allem die Mitgestalter des Gesundheitssystems können hierzu beitragen. Vielleicht bietet dieses Buch eine kleine Anregung dazu. Auch im Zeitalter der Technisierung und Digitalisierung soll (und kann!) die Menschlichkeit in der Medizin bewahrt werden.

Regensburg im Frühjahr 2021

Thomas Bein

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Überbringen schlechter Nachrichten – Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Wer unter den Sterblichen mehr Freude als Leid hat, kann nicht aufrichtig sein.

 

Hermann Melville, Moby Dick

Diagnosen und Interpretationen

Es lief alles bestens. Die Karriere an der Universitätsklinik, ausgefüllt mit klinischer Arbeit, wissenschaftlichen Meriten, Vorlesungen und Seminaren, führte zu einer gewissen ständigen Aufgeregtheit, einem Dauer-Push in einem Spektrum zwischen Überdrehtheit und Erschöpfung. Das Gefühl, etwas Bedeutsames zu leisten, kann wie eine Droge wirken: im Brennpunkt der Hightech-Medizin auf der Intensivstation zwischen lebensrettender künstlicher Beatmung und Entscheidungen über die Beendigung einer Therapie am Lebensende. Eine große Intensivstation mit vielen Ärzten und Pflegenden zu leiten, da sind Durchhalte- und Organisationsvermögen gefragt. Therapiestrategien, Gespräche mit Angehörigen, künstlicher Luftweg, Nierenwäsche, Punktionen, Katheteranlagen, Begleitung beim Sterben, Management von Bettenbelegungen, Strategiebesprechungen mit dem Personal – kurz: ein bedeutungsschweres und wirbelndes Leben; welch ein Gefühl, ununterbrochen angerufen, um Entscheidungen gebeten zu werden. Nachfragen um Auskunft und Gespräche sind häufig zu vertrösten: »Der Oberarzt hat jetzt leider keine Zeit, Visite, wichtige Besprechung, Notfall …« Man lässt dies mit flüchtigem Bedauern von den Pflegekräften ausrichten. Die verspürte Wichtigkeit, genährt von dem besonderen Gefühl, gebraucht zu werden. Einen Hightech-Betrieb der Spitzenmedizin organisieren, Leben retten, den Tod in die Schranken weisen (manchmal allerdings ihm auch zähneknirschend den Eintritt lassen). Zur täglichen Intensivmedizin am Krankenbett kamen Publikationen, Einladungen zu internationalen Kongressen – es lief wie am Schnürchen und war natürlich ein ungemein erfüllendes Gefühl, wichtige klinische Arbeit zu leisten, mit wissenschaftlichen Berichten auf positive Resonanz zu stoßen und rastlos zwischen Intensivstation, Flieger und Kongresszentrum hin und her zu eilen. War da noch was? Ja, eine Familie mit Ehefrau und drei Kindern – aber davon später …

Die dritte Aufforderung zur betriebsärztlichen Untersuchung, die regelmäßig beim Personal im Gesundheitswesen durchzuführen ist, wird so drohend, dass ich – mit einer Verzögerung von sechs Monaten – endlich hingehe. Die ersten beiden Ermahnungen habe ich, wie so manche meiner Kollegen, erst mal auf die Seite gelegt, schließlich befand ich mich im Höhenflug meines Schaffens. Welche Unverfrorenheit: Einen Arzt zur ärztlichen Untersuchung einzubestellen ist ja fast so, als ob man ständig den Führerschein eines Fahrschullehrers überprüfen wolle oder als ob regelmäßig Geistliche die auswendige Rezitation des Vaterunsers gegenüber ihrem Bischof beweisen müssten. Ein Gesundheitscheck beim Arzt, dem Experten für geistiges und körperliches Wohlsein schlechthin. Eine lästige und etwas kränkende Angelegenheit, sie hält davon ab, Röntgenbilder anzuschauen, Visite zu machen oder die wissenschaftliche Untersuchung weiterzuführen. Ich schleppe mich also zur routiniert empathischen Betriebsärztin – Blutabnahme, Blutdruckmessung, allgemeiner Check. Der diskrete Briefumschlag in meiner Post wenige Tage später enthält eine Überraschung: abnorm niedrige weiße Blutkörperchen (Leukozyten) in kaum messbarer Zahl. Kurzes Erstarren, dann ein Ruck: Was macht der routinierte Arzt mit einem solchen pathologischen Befund (den er bei seinen Patienten nicht tolerieren und akribisch weiter diagnostizieren würde): verdrängen! Ärzte sind perfekte Verdränger. Sie leben oft ungesund, treiben wenig Sport und sollen häufig unglücklich verheiratet sein.

Der Arzt als Spitzenverdränger

Wenn schon der postmoderne Mensch ein entfremdetes Verhältnis zur eigenen Gesundheit hat, dann ist dem Arzt der »Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit sich selbst«, den der Philosoph Hans-Georg Gadamer als Idealform der Gesundheit postuliert hat,[3] möglicherweise abhandengekommen. Mehreren Studien in europäischen Ländern zufolge sind Ärzte häufig ungeimpft, unterziehen sich keinen Vorsorgeuntersuchungen, vertrauen sich keinem Hausarzt an und behandeln sich gegebenenfalls selbst. Natürlich war es bei mir auch so, aber warum? »Die Selbstfürsorge kommt zu kurz«, meldet das Deutsche Ärzteblatt unter der Rubrik Arztgesundheit;[4] zunehmender ökonomischer Druck und Personalmangel werden dafür verantwortlich gemacht. Das ist für mich zu kurz gegriffen, denn Ärzte waren schon immer – auch in »gemütlicheren« Zeiten medizinischer Versorgung – gute Verdränger, wenn es um die eigene Gesundheit geht.

Depressionen und Suchterkrankungen kommen bei Ärzten häufiger vor als in der restlichen Bevölkerung. Ein weiteres bei Medizinern häufig auftretendes Krankheitsbild ist das Burn-out-Syndrom, das bereits bei Studierenden der Medizin in einer erhöhten Rate nachgewiesen werden kann. Psychische Probleme korrelieren häufig mit Zeitdruck und mangelnder Autonomie am Arbeitsplatz sowie belastenden Patient-Arzt-Beziehungen. Belastende Patient-Arzt-Beziehungen? Warum ist das eigentlich so? In meinem späteren Krankheitsverlauf werde ich immer wieder mit dieser Frage konfrontiert sein. Wie kann es sein, dass der Beruf des Arztes, zu dem es doch angeblich eine innere Berufung gibt und der zu den angesehensten Professionen gehört, mit solcherart ausgeprägten Kollateralschäden verknüpft sein soll? Ist der moderne Arzt eine Fehlkonstruktion? Im Laufe von fünf Jahren meiner chronischen Erkrankung ergibt sich genügend Gelegenheit, hierüber vertiefend nachzudenken.

Es folgen in rascher Abfolge: Computertomogramm, Knochenmarkbiopsie, Labor, Ultraschall von Bauch und Herz – alle Befunde sind beieinander. Ich sitze vor dem Zimmer des Chefs der Klinik und habe einen Besprechungstermin. Der Moment der Wahrheit. In etlichen Hundert Situationen habe ich von der anderen, sicheren Position als Arzt Patienten und Angehörigen bedrückende und wenig optimistische Nachrichten überbracht: »Wir haben alles versucht, aber wir können nicht mehr davon ausgehen, dass sich Ihr Mann von dieser schweren Blutvergiftung noch mal erholen kann. Alle lebensnotwendigen Organsysteme sind schwer geschädigt und bedürfen immer mehr technischer Unterstützung.« Oder: »Das Gehirn ist so stark verletzt, wir können nichts mehr für Ihre Mutter tun. Das Ende des Lebens ist bald erreicht.« Ich war gut geschult in feinfühligem und empathischem Umgang mit solchen Krisensituationen und habe das Seminar »Das Überbringen schlechter Nachrichten« für Medizin-Studierende mitgestaltet.

Kollegen als Behandler

Hier im leeren Vorzimmer sitzen und ahnen, was gleich eröffnet wird. Ich bin vom Fach, ich habe die Befunde schon gelesen, ich kenne mein Urteil bereits und warte nur darauf, dass es verkündet wird, wie im Vorraum eines Gerichtes warte ich, dass das Richtergremium aus der Beratung kommt. Die Beweislast für diese Krebserkrankung ist erdrückend, es bedarf keiner längeren Verhandlung mehr. Es ist klar, dass keine Bewährungsstrafe herauskommt, sondern eine Chemotherapie mit ungewissem Ausgang vor mir liegt. Hat der Arzt durch das medizinische Wissen um seine Krankheit einen psychologischen Vorteil gegenüber dem »Laien«? Über diese Frage nachzudenken, habe ich ja nun genügend Zeit. Hier im Warteraum des Chefsekretariats ist die vorläufige Antwort ein klares Nein.

Angst, schweißige Hände und Herzklopfen sind kein Merkmal eines souveränen Arztes, der fast alles (Lebens-)Bedrohliche schon gesehen hat. Mit dem Patientsein ist die souveräne Haltung wie weggeblasen; klein und hilflos komme ich mir vor und auch ein wenig neugierig, welche Worte die Ärzte für mich, ihren Kollegen, finden werden. Die Tür öffnet sich, und die junge Sekretärin, im adretten dunkelblauen Kostüm mit einem dezenten Schal um den Hals, bittet mich mit routiniertem Lächeln in das Zimmer des Klinikdirektors. Der Chef, flankiert von zwei Oberärzten, erhebt sich von der Ledersitzgruppe, begrüßt mich mit Handschlag und bittet mich, Platz zu nehmen. Ein sympathischer, schlanker, etwa fünfzigjähriger Mann mit freundlich nachdenklichem Gesichtsausdruck. Auffällig sind die langen und schlanken Finger, die eine Assoziation zu einem Künstler, vielleicht einem Pianisten, wecken. Nach einem kurzen Schweigen eröffnet er das Gespräch mit der Frage, wie es mir gehe. Da ich nicht viel Bedeutsames von mir gebe (die von Kollegen manchmal bei mir bewunderte Redekunst ist vollständig weggeblasen und zunichte), beginnt er, die Befunde vorzutragen, als ob er einem Kollegen im Rahmen eines Fachkonsils oder einer gemeinsamen Visite einen komplizierten Patienten vorstellt.

Ich befinde mich plötzlich in einer merkwürdigen Doppelrolle. Ich bin sozusagen in dieser Gesprächsrunde zu einem Fachkollegen geworden, mit dem man sich austauscht, der aber gleichzeitig das Objekt dieses Austausches ist. Ich nehme diese Rolle an und diskutiere wie von mir selbst distanziert die Befunde. Offensichtlich hilft dieses Rollenspiel allen Anwesenden, diese ungewöhnliche Situation zu meistern.

Nach ausgiebigem Betrachten von CT-Bildern und Laborbefunden kommt die entscheidende Situation auf uns zu: der Erkrankung einen Namen geben und die Prognose darlegen. Die Nennung des Namens (Plasmozytom, also Knochenmarkkrebs) gelingt noch relativ leicht, bei den Aussichten wird es schwieriger.

Der leitende Arzt trägt zunächst die großen Erfolge der letzten Jahre in der Entwicklung neuer wirksamer Krebsmedikamente vor, insbesondere bei meinem Plasmozytom (mit der Namensgebung beginnt die Krankheit bereits, ein Teil von mir zu werden). Es sei mit weiteren Entwicklungen zu rechnen. Therapeutischer Optimismus zieht auf, eine besondere Stimmung in dem hellen und modern eingerichteten Chefarztzimmer deutet sich an, als ob die Fortschritte der modernen Medizin in der Krebsbehandlung mit Händen greifbar wären und nach dem Unwetter der niederschmetternden Nachrichten eine klare und reinigende Luft aufgezogen sei. Die Oberärzte lächeln zustimmend zu den Zuversicht verbreitenden Aussagen. Eine reduzierte Lebenserwartung, gar ein möglicher Tod: Solche Bedrohlichkeiten werden zunächst ausgespart.

Später werde ich den Anfängerfehler eines Arzt-Patienten machen und mich auf der rastlosen Suche nach Fachinformationen in Fachjournalen auf die Spur wissenschaftlicher Untersuchungen zur Prognose begeben. Ich finde eine (statistisch gesehene!) mittlere Lebensspanne von etwa zehn Jahren nach Diagnosestellung und stürze wieder ab. Statistische Lebenserwartung: abstrakt und bedrohlich zugleich. Wie auch immer: Wie mit einem unsichtbaren Schritt habe ich in diesem Moment das Reich der Kranken betreten – ohne eingestempeltes Visum für eine Rückreise in das Reich der Gesundheit.

Die Wahrheit und die gute Miene

Wahrheit und Wahrhaftigkeit gegenüber dem Krebskranken. Wahrheit ist – allgemein gesprochen – die Übereinstimmung von Aussagen mit einem Sachverhalt, Wahrhaftigkeit ist mehr: eine Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet. Gibt es eine eindeutige medizinische Wahrheit für jeden einzelnen Krankheitsverlauf? Sollen Ärzte die Tugend der Wahrhaftigkeit in ihrem moralischen Portfolio tragen?

Der Kranke und der Heilende stehen in einem komplexen, nicht nur funktionalen Verhältnis zueinander, für das die Begriffe Sachkunde, Empathie, Vertrauen und Gespräch elementar sind. Die Basis ist das Gespräch; es trage die »Humanisierung der Beziehung zwischen fundamental Ungleichen«,[5] schreibt Hans-Georg Gadamer. Der Erkrankte als einer, der seine Gesundheit verloren hat, sucht den Arzt auf, um sie wiederzubekommen. Somit wird ein unausgesprochener Vertrag zwischen beiden begründet: Ich, der Leidende, öffne mich dir, Arzt, liefere mich dir aus, stelle dir meinen Leib zur Verfügung, damit du, Heilkundiger, mir die so schmerzlich abhandengekommene Gesundheit zurückgibst. Bedrohlich ist die Botschaft, dass der Tod näher rücken könne durch die Erkrankung, ein solcher Schatten tritt hinderlich in den Vertrag zwischen Krankem und Heilendem ein; er hätte eigentlich grundsätzlich durch eine Vertragsklausel ausgeschlossen werden sollen.

In der praktischen Arbeit und in wissenschaftlichen Untersuchungen habe ich natürlich schon viele Todesstatistiken studiert, aber in meiner eigenen Situation will ich zunächst – nachdem ich mir mit meiner ärztlichen Neugier die Finger verbrannt habe – nichts mehr davon wissen. Die Angst vor einer verkürzten Lebensspanne schnürt erst einmal die Kehle zu. Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber dem Kranken: prinzipiell ja, aber bitte nicht jetzt! Lieber der Verlockung der Verdrängung erliegen. Es ist ja zunächst relativ einfach, sich als Ausreißer nach oben in der Statistik zu sehen und nicht in der Mitte.

Der Dichter Theodor Storm, ein knorriges Mannsbild, erhielt die Diagnose Magenkrebs. Thomas Mann schrieb einen Essay über ihn, in dessen Schlusspassage man liest: »Er gab den Großartigen und verlangte ›Klarheit‹ von seinem Arzt, unter Männern. Als aber der ihm reinen Wein eingeschenkt hatte, fiel er zusammen und überließ sich tiefster Schwermut …«[6] Erst als Storms Bruder Emil, der selbst Arzt war, eine Scheinvisite durchführte und erklärte, die Magenbeschwerden seien harmloser Art, wurde Theodor Storm von fröhlich neuer Energie gepackt und schrieb seinen Schimmelreiter fertig.

Entwicklung eines Schlachtplans

Man bespricht nun mit mir die Therapiestrategie. Ein komplexer Schlachtplan für eine komplizierte Erkrankung mit diversen Varianten von Wenn und Aber. Alternativen beim Nicht-Ansprechen der zunächst ins Auge gefassten Behandlungsschiene und mögliches Fortsetzen einer anderen. Ich fühle mich interessiert, aber letztlich ohne tieferes Verständnis, als ob ich auf arte eine Dokumentation über den multidimensionalen Konflikt in Syrien anschaute, in dem höchst unterschiedliche Parteien und Interessenverbände (bei mir die verschiedenen Zellen im Knochenmark) mit- oder gegeneinander agieren und noch keiner weiß, wie es endet. Ich habe eine große Sehnsucht nach Einfachheit – auch wenn sie schmerzhaft und verletzend sein möge –, und bei der Entwicklung des Schlachtplans wird mir ziemlich bange, denn jedes Wenn und Aber enthält eine neue Ungewissheit.

 

Behandlungsstufe 1: Da bei mir in der Biopsie eine sehr hohe Infiltration des Knochenmarks mit den bösartigen Plasmazellen von etwa achtzig Prozent festgestellt wurde und das Knochenmark in der Produktion lebenswichtiger Zellen (rote und weiße Blutkörperchen, Blutplättchen) in bedrohlicher Weise behindert ist, soll zunächst in mehreren Behandlungszyklen durch eine Kombination von verschiedenen Chemotherapeutika (= zellwachstumshemmende Medikamente) die aggressive Besiedelung durch die schädlichen Zellverbände reduziert werden. Dies nennt man Induktionstherapie, da hiermit lediglich die Voraussetzungen für den endgültigen Angriff auf die Tumorzellen geschaffen werden. Um einen größtmöglichen Effekt gegen die malignen Gesellen zu erzielen und um das schon erheblich geschwächte Knochenmark nicht noch weiter zu schädigen (und damit schlimmstenfalls handlungsunfähig zu machen, was einer lebensbedrohlichen Katastrophe gleichkäme), werden Kombinationen verschiedenartiger Zytostatika eingesetzt mit dem Ziel, nachteilige Wirkungen solcher als Tabletten oder Infusion verabreichten Zellgifte zu reduzieren. Man kündigt mir an, dass diese Gratwanderung zwischen Erfolg und Verderben durch wiederholte Knochenmarkpunktionen kontrolliert werden muss.

Ich bin an dieser Stelle des Schlacht- und Strategieplans schon einigermaßen perplex, vor allem kommt nun das »Aber Nummer 1« ins Spiel: Sollten diese (moderat dosierten) Chemotherapeutika nicht ausreichen, um die Tumorzellen ausreichend zu reduzieren, muss auf eine härtere Gangart mit Wechsel auf schärfere Substanzen umgeschaltet werden, hierbei besteht natürlich die erhöhte Gefahr einer Schädigung des gesundes Restes. Sollte der erste Schritt hingegen klappen, dann geht es ja weiter, dann kommen wir zum Höhepunkt der Behandlung.

 

Behandlungsstufe 2: Sind die unerwünschten Zellen auf ca. dreißig Prozent reduziert, soll ihnen durch einen Generalangriff der Rest gegeben werden. Diese Attacke besteht aus der Verabreichung einer Chemotherapie, deren Dosis so hoch gewählt wird, dass möglichst alle im Körper verbliebenen Tumorzellen zerstört werden (Hochdosis-Chemotherapie). Der Kollateralschaden beim blutbildenden System im Knochenmark ist so groß, dass nach diesem Vernichtungsangriff eine akute Aufbauhilfe durch Blutstammzellen gegeben werden muss, sonst hätte es keine Chance, sich adäquat zu erholen. Blutstammzellen (hämatopoetische Stammzellen) sind kleine Wunderwerke der Natur. Sie sind der Ursprung aller Blutzelltypen. Durch Teilungen von Stammzellen bilden sich Tochterzellen, die verschiedene Wege der Differenzierung gehen und damit unterschiedliche spezialisierte Blutzelltypen produzieren. Blutstammzellen sind Kraftwerke im Mark der Knochen: Unter normalen Bedingungen produzieren sie jede Sekunde zum Beispiel ca. zwei Millionen rote Blutzellen (Erythrozyten), die das menschliche Gewebe und die Organe mit Sauerstoff versorgen. Um nach der Hochdosis-Chemotherapie eingesetzt werden zu können, müssen mir, dem späteren Empfänger, etwa ein halbes Jahr zuvor eigene Stammzellen entnommen werden (autologe Stammzelltransplantation: Spender und Empfänger sind dieselbe Person). Hierzu müssen die Stammzellen, die ja eigentlich im Knochenmark wohnen, durch besondere Medikamente in die Blutbahn gelockt werden, aus der sie dann in einer Wäsche (ähnlich dem Dialyseverfahren) herausgewaschen und gesammelt werden können. Durch ein spezielles Filterverfahren wird ermöglicht, böse Zellen aus dieser Sammlung herauszuhalten.

Jetzt kündigt sich bereits das »Aber Nummer 2« an: Sollte die »Ernte« an Stammzellen – ein technisch aufwendiges und komplexes Verfahren – bei mir nicht ausreichen, müssen passende Stammzellen eines anderen Spenders gefunden werden (allogene Stammzelltransplantation vom Fremdspender). Ich bin »nur« Anästhesist und Intensivmediziner, aber selbst ich weiß, dass die Transplantation fremder Stammzellen mit einem ziemlich hohen Risiko an Abstoßung und lebensbedrohlicher Infektion verknüpft ist. Ich bin fasziniert und geschockt zugleich. Die hoch entwickelte Medizin mit einem perfekt ausgeklügelten Plan als Ergebnis jahrzehntelanger Forschung stellt ein Überleben in Aussicht, das vor zwanzig Jahren nicht vorstellbar war – faszinierend! Die etwas verschämt und beiläufig eingestreuten Aber machen mir jedoch klar, dass nichts selbstverständlich ist von diesen Verheißungen und dass auch – oder vielleicht gerade – unsere Spitzenmedizin keine Erfolgsgarantie geben kann.

 

Behandlungsstufe 3: Ein durchschlagender Erfolg der Behandlungsstufe 2 wird statistisch betrachtet mit ca. fünfzig Prozent angegeben, als »durchschlagend« wird eine komplette Verdrängung der Tumorzellen angesehen, die über mehrere Jahre anhalten kann. Aha! »Über mehrere Jahre« – das hört sich auch nicht nach einem Befreiungsschlag an!

Wenn ich mit gewisser Naivität gedacht hatte, das Böse in meinem Knochenmark wäre nach der Behandlung ausgerottet und ich hätte meine innere Ruhe wieder, wurde ich bitter enttäuscht. »Aber Nummer 3«: Eine Rückkehr der Tumorzellen oder ein Wiedererstarken des Tumors im Lauf der Jahre kommt bei fast allen Patienten vor, mal früher (nach zwei bis drei Jahren), mal später (nach zehn bis zwanzig Jahren). Für diesen Fall – in Abhängigkeit von meinem körperlichen Zustand und der Heftigkeit des Wiederauftretens – gäbe es noch eine Behandlungsstrategie. Meine Gesprächspartner bitten um Verständnis, dass man dies jetzt nicht auch noch ausführlich darstellen möchte (ist ja eh sehr unwahrscheinlich).

Das Gefühl, einer interessanten, aber irgendwie auch abstrakten arte-Doku zuzuschauen, ist sehr schnell verflogen. Nach dieser Strategieentwicklung inklusive mehrerer Aber dreht sich alles im Kopf, ich oszilliere zwischen Hoffnung, Ungläubigkeit, Verzweiflung und einer nicht recht begründbaren Euphorie.

»Wird schon wieder«: Aufmunterungen 4.0

Am Ende meines Gesprächs mit dem Chefarzt ist es erst einmal mit meiner Souveränität und Kraft dahin. Ich falle zwar nicht – wie Theodor Storm – in mich zusammen, aber Machtlosigkeit, Schwäche und Angst kriechen in mir hoch, leiblich spürbar durch Schwindel. Eine Wut mischt sich dazu, eine unklare Wut auf das Schicksal. Sigmund Freud schrieb im Leiden seiner Krebserkrankung 1933 an Arnold Zweig: »Alles herum ist trüb und zum Ersticken dumpf. Die Wut speichert sich auf und zehrt am Gehäuse. Wenn man etwas Befreiendes tun könnte.«[7]

Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit als Tugend des guten Arztes – ja, aber zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen (portionierten) Zuteilung. Die Kontroverse unter Medizinern und Palliativärzten darüber, ob eine barmherzige Lüge oder die Wahrheit dem (unheilbar) Kranken gegenüber moralisch angemessen sei, ist so alt wie die Heilkunde selbst. Während man lange Zeit die Vermeidung der Wahrheit zum Credo erhob, um den am Lebensende angelangten Schwerkranken zu schonen, ist heute die zunehmende Meinung: