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"WENN ER SIE NICHT HABEN KANN, DANN WIRD ES KEINER!" Kade Mitchell ist besessen von jemandem, den er verachtet. Stacey Rhodes, eine Schlange in der Haut eines Engels, ist all das, was er nicht vergessen kann – das Mädchen, das ihm das Herz gebrochen und ihn tief in die Dunkelheit der Unterwelt getrieben hat. Er hat sie jahrelang beobachtet. Er hat jeden getötet, der ihr zu nahe gekommen ist. Aber jetzt, wo ihm ein kurzer Moment der Freiheit von dem Leben, in dem er gefangen ist, gewährt wird, ist er wieder zu Hause und will sie wieder für sich beanspruchen, indem er alle Regeln bricht, die er sich je selbst auferlegt hat. Nicht einmal sein Hass kann die Anziehungskraft zwischen ihnen aufhalten. Aber er wird ihr nie verzeihen ... oder doch?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Leigh Rivers
Insatiable
Insatiable
© 2025 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Patricia Buchwald
Copyright © Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
»Insatiable (The Edge of Darkness)« by Leigh Rivers.
Korrektorat: Alexandra Gentara
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH
unter Verwendung von 123rf
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
Vermittelt durch die Agentur:
Two Daisy Media, LLC.
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für die braven Mädchen, die gerne im Dunkeln tanzen, während sie vom Teufel beobachtet werden.
Hinweis
Diese Trilogie kann als düsterer als der Abgrund der Hölle angesehen werden.
Insatiable enthält zahlreiche sexuelle Vorlieben wie Exhibitionismus, besitzergreifendes und toxisches Verhalten, Lob und Erniedrigung, Atemspiele, Waffenspiele, wahrscheinlich zu viele Handketten und Sex neben einer Leiche. Außerdem gibt es bildlich dargestellte sexuelle und gewalttätige Inhalte mit Erwähnungen von Vergewaltigungen, Schwangerschaftsverlust und Selbstmordversuch, aber es enthält auch weiteres potenziell triggerndes Material.
Eure geistige Gesundheit ist mir sehr wichtig. Ich empfehle den Leserinnen und Lesern dringend, diese Geschichte nicht fortzusetzen, wenn eine der aufgeführten Warnungen triggernd wirkt.
Ich hasse verdammte Menschen.
Vor allem Partys.
Es ist zwar mein fünfzehnter Geburtstag, aber das bedeutet nicht, dass ich an der Party teilnehme, wie meine Zwillingsschwester immer wieder darauf besteht. Ich mag es nicht, wenn man mir Aufmerksamkeit schenkt oder ich in Gruppen im Allgemeinen bin.
Mum hat mir gesagt, wir könnten gemeinsam feiern; das machen wir schon seit Jahren so. Aber scheiß drauf – ich hasse es. Und wenn ich den Song Single Ladies noch einmal höre, flippe ich aus. Die meisten Leute hier sind erst vierzehn und stehen auf Anime-Figuren, verflucht noch mal.
Ich musste in mein Zimmer flüchten, wie ich es immer tue.
Meine Zimmertür abzuschließen, ist zwingend notwendig, denn wenn einer von ihnen meiner Mutter sagt, dass ich auf dem Balkon rauche, ist es aus. Ewan, mein Stiefvater, hat mich letzte Woche beim Rauchen im Poolhaus erwischt und gesagt, wenn ich es noch einmal mache, wird er es ihr sagen.
Niemand will von dieser Frau angeschrien werden, von diesem furchterregenden Miststück.
Ich mag meine Privatsphäre, mein eigenes Zimmer, in dem ich ungestört bin. Ich habe meinen Schlüssel in das Loch gesteckt, den Riegel vorgelegt und einen Stuhl an die Tür gelehnt. Keine Chance, dass jemand meinen Frieden stört.
Ich würde meine Lunge lieber mit Rauch füllen.
Um ehrlich zu sein, fühle ich mich dabei seltsam. Die Leute mögen es toll finden, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, wenn sie einen Raum betreten, aber ich kann es nicht ausstehen. Ich möchte am liebsten unsichtbar sein. Mir wäre es lieber, wenn niemand mich oder meine Familiengeschichte kennen und nicht alles dafür tun würde, um mit mir zu reden.
Sie wollen gar nicht wissen, wer ich bin. Nicht wirklich.
Man sollte meinen, wenn man auf einem der größten Anwesen im Westen Schottlands lebt, hätten sie Mühe, mein Zimmer oder auch nur meinen Flügel zu finden, aber leider haben sie die nicht, und wenn noch mal jemand an meine Tür klopft, drücke ich eine Zigarette in seinem Auge aus.
Ich sollte auf die Party gehen, bevor Mum oder Ewan an die Tür klopfen und mich zusammenscheißen, aber ich kann mich nicht vom Balkon bewegen.
Weil ich völlig in Anspruch genommen werde.
Sie hat keine Ahnung, dass ich sie beobachte. Abseits der anderen, abseits der Party, sitzt ein Mädchen mit langen dunklen Haaren in einem kurzen schwarzen Kleid am Rand des Pools und hält die Füße ins Wasser. Irgendetwas an ihr fasziniert mich, daher behalte ich sie im Auge.
Ich beobachte gerne Menschen aus der Ferne. Ich studiere die Art und Weise, wie sie sich verhalten, ihre Mimik und Körpersprache in bestimmten Situationen, den Klang ihrer Stimmen. Ich bringe Menschen absichtlich in eine unangenehme Situation, nur um ihre Reaktionen zu sehen. Meine Lehrer beschweren sich ständig darüber bei meinen Eltern.
Meine Mutter sagt, ich solle damit aufhören, aber es ist ein guter Zeitvertreib und ein guter Versuch, Dinge zu verstehen, die mir nicht in den Schoß fallen.
Ich neige meinen Kopf zur Seite und starre das Mädchen fasziniert an.
Warum ist sie nicht auf der Party? Und wer zum Teufel ist sie? Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.
Ich kann nicht aufhören, sie anzuschauen – ich will auch gar nicht aufhören –, kann meinen Blick nicht abwenden, während sie in den Sternenhimmel starrt. Ihr muss sicher kalt sein. Der September ist verdammt baltisch.
Vielleicht sollte ich ihr meinen Kapuzenpulli hinunterbringen und …
Was? Halt die Klappe, Kade.
Ich drücke meine Zigarette aus und werfe sie in den Aschenbecher, der unter dem Balkongeländer versteckt ist, und behalte das geheimnisvolle Mädchen im Auge, während ich meine Turnschuhe anziehe.
Mum wird jeden Moment wegen dem Geburtstagskuchen zu mir kommen. Ich versuche, den Zigarettengeruch aus meinem Zimmer loszuwerden und überdecke ihn mit Lufterfrischer.
Mein Handy klingelt in meiner Tasche, und ich hole es schnell heraus, während ich mir die Zähne putze. Der Gruppenchat, den ich mit meinen beiden besten Freunden habe, erscheint. Dez ist angepisst, weil er nicht hier ist. Und Base fragt, ob ich auf eine richtige Party gehen will, gefolgt von russischen Wörtern, die ich nicht verstehe.
Bevor ich mit Ja antworten kann, höre ich Schritte.
Ich lasse die Schultern hängen. Jetzt geht’s los.
»Kade!«, brüllt Mum vor der Tür.
Ich verdrehe die Augen, stelle meine Zahnbürste zurück in den Becher und schalte das Display aus.
»Bist du da drin?«
Ich trete den Stuhl zur Seite und ziehe an der Klinke. »Ja.«
Als ich die Tür aufschwinge, blickt sie mich mit verschränkten Armen finster an und tippt mit dem Fuß auf den Boden. Sie ist kleiner als ich und hat blonde Haare, die nicht so dunkel sind wie meine. Ihre Augen sind meinen ähnlich, blau und schläfrig, aber ihre starren mich an, während ich sie gelangweilt ansehe.
»Hast du wieder geraucht? Ich kann es von der Treppe aus riechen.«
»Nein«, lüge ich, weiche ihr aus und mache mich auf den Weg die Wendeltreppe hinunter, die mein Stiefvater Ewan für mich entworfen hat.
»Deine Schwester hat nach dir gesucht. Du hast den Kuchen verpasst.«
Ich ziehe meine Kapuze hoch, ziehe die Schnüre fest und vergrabe meine Hände in der Vordertasche, während ich murre. Luciella war schon immer das goldene Kind, der Liebling, diejenige, die meiner Mutter und Ewan keine Probleme bereitet hat. Beide verehren den Boden, auf dem sie geht. Ich verstehe das. Ich bin nicht wie sie. Ich bin nicht wie meine Zwillingsschwester.
Luciella wäre mit dreizehn niemals beim Rauchen oder Trinken erwischt und schon gar nicht von der Polizei nach Hause gebracht worden, nachdem sie einen Beamten geschlagen hat.
Er hatte es verdient.
Ich bin sicher, jeder betrachtet mich als das schlimme Kind. Derjenige, vor dem die Familie bei Treffen Angst hat. Früher war es mir scheißegal und ich habe versucht, mich anzupassen, aber jetzt ziehe ich meine eigene Gesellschaft vor – ein Einzelgänger. Sie halten Abstand, und das tue ich auch.
Mum gibt sich aber Mühe, wahrscheinlich zu viel.
Sie glaubt, ich hätte nicht gehört, wie sie sich bei meinem Dad am Handy über meine »Stimmungsschwankungen« ausheulte und ihn anflehte, ihr im Umgang mit ihrem »gefühllosen« Teenagersohn zu helfen. Aber ich bin kein völlig gefühlloser Roboter. Ich sorge mich um Dez und Base und, wenn sie mir nicht gerade auf die Nerven geht, um Luciella. Ich sehe nur keinen Sinn darin, dumme Regeln zu befolgen oder über Gefühle zu reden, die ich nicht wirklich habe.
Es ist nichts falsch an dem, wer ich bin. Sogar Dad sagt mir, dass ich etwas Besonderes bin und dass ich nicht beleidigt darüber sein soll, wie andere mich sehen.
Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich versteht, aber er lebt Tausende von Kilometern entfernt in einer Psychiatrie – er hat zahlreiche Verbrechen begangen und gilt als zu gefährlich, um in der Öffentlichkeit zu leben.
Es ist verdammt vielversprechend für mich, dass er sich daran erinnert, sich mal genauso gefühlt zu haben wie ich.
Der berühmte Tobias Mitchell, amerikanischer Psychopath. Der wahnsinnige Killer, der alle Nachrichtensender der Welt in Beschlag nahm. Er wird als rücksichtslos und unberechenbar bezeichnet. Gefährlich. Eine Bedrohung für das Leben. Jetzt, wenn wir ihn in der Einrichtung besuchen, ist er ein fürsorglicher Vater, der alles wissen will, was in unserem Leben vor sich geht. Er versucht, sich so viel wie möglich einzubringen, und sieht meine Mutter an, als wäre sie die einzige Frau auf der Welt, voller Bewunderung.
Obwohl er versucht hat, sie umzubringen.
Ja. Er kann seinen Wahnsinn behalten, ich habe meinen eigenen.
Mein Stiefvater ist seit meiner Geburt in meinem Leben und tut, was er kann. Er nimmt mich zum Boxen mit und versucht so, eine Vater-Sohn-Bindung aufzubauen, wie er es bei meinem Stiefbruder Jason getan hat. Aber er ist jetzt erwachsen und hat sein eigenes Leben, und so scheint es, dass Ewan es nun bei mir versucht.
Ich nehme mir ein Glas Saft und gehe um den Tisch herum.
Einige Freundinnen meiner Schwester kichern und flüstern miteinander, während sie mich ganz offen beobachten, wodurch ich mich unwohl fühle. Das geheimnisvolle Mädchen vom Pool ist allerdings nicht hier.
Nicht, dass ich nach ihr suchen würde.
Ich dränge mich schnell durch die Menge und gehe nach draußen in den Garten. Das Licht der Scheinwerfer weist mir den Weg zum Poolhaus.
Als ich das Ende des Weges erreiche, werfe ich einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass mir niemand gefolgt ist, bevor ich weitergehe. Die Wellen des Wassers spiegeln sich in der Glastür des Poolhauses; ich lehne mich dagegen und hole eine Zigarette heraus.
Ich blicke auf den See hinaus, der Mond ruht gerade über den Munros in der Ferne. Das Anwesen ist von Wasser und grünen Wäldern umgeben, und das ist irgendwie entspannend.
Ich schließe die Augen, während das Nikotin meine Lunge verbrennt und in einer Rauchwolke entweicht.
Ein Plätschern lässt mich die Stirn runzeln und mir fällt fast die Zigarette aus dem Mund, als ich sehe, dass das geheimnisvolle Mädchen immer noch hier ist. Sie stützt sich auf ihre Ellbogen, chillt lässig am Rand des Pools und bewundert immer noch die Sterne am Himmel.
Eigentlich sollte ich keine Woge der Aufregung spüren, aber ich tue es.
Was soll ich tun? Mit ihr reden? Weggehen? Mich verstecken?
»Wer bist du?«, frage ich und nehme einen weiteren Zug, während ich auf sie zugehe.
Sie nimmt meine Existenz nicht zur Kenntnis, und ich möchte wirklich, dass sie mich ansieht. Ich versuche es noch einmal. »Hallo? Wer bist du?«
Ich mag es nicht, ignoriert zu werden, vor allem nicht von einer gewöhnlichen Person, die einem Geist mit Sommersprossen am ganzen Körper ähnelt. Normalerweise würde ich nicht versuchen, Kontakte zu knüpfen, aber das macht mich verdammt neugierig.
Von der Seite betrachtet, kann ich offen zugeben, dass sie hübsch ist. Der Gedanke haut mich um, denn ich habe noch nie jemanden als hübsch empfunden.
Ich nahm an, dass ich in dieser Hinsicht geschädigt wäre, aber da mir gefällt, wie sie aussieht, bin ich es vielleicht nicht. Es ist schwer, sie so zu studieren, wie ich andere studiere, aber ich bin mehr als glücklich, sie einfach nur … anzusehen.
Genervt über die Stille, schnaube ich. »Du solltest wieder reingehen. Hier draußen ist es zu kalt, Freckles.«
Ich ziehe eine Grimasse und schlage mir im Geiste auf den Schwanz. Freckles? Ernsthaft, Kade?
Immer noch Stille.
Wenn sie mich noch weiter so ignoriert, schubse ich sie in das verdammte Wasser.
Ich schüttle den Kopf.
Dann setze ich mich auf die Bank neben dem Sprungbrett und inhaliere Rauch, weil ich nicht weiß, warum ich die ganze Zeit rede. Ich rede nie. »Du gehst nicht auf meine Schule.«
Ich erstarre, als sie zu mir aufsieht, und verdammt noch mal, ihre Augen sind der Wahnsinn. Ich huste den Rest meines Rauches aus und stütze meine Ellbogen auf meinen Knien ab, als sie aufsteht, das Wasser von ihren Füßen schüttelt und ihre Schuhe anzieht.
Ich versteh’s nicht. Oder sie. Oder warum sie um den Pool herum auf mich zugeht.
Moment.
Sie kommt auf mich zu.
Ach du Scheiße. Was zum Teufel macht sie da? Hau ab.
Mir wird langsam der Atem aus meiner Lunge gerissen, als sie näher kommt. Ich glaube sogar, dass ich überhaupt nicht mehr atme.
Ihr Haar fließt in Locken über ihren Rücken, Sommersprossen bedecken ihre Haut, und diese Augen bringen mich verdammt noch mal um. Sie sind nicht blau, vielleicht ein helles Grün gemischt mit Silber, wie ein Wald im Winter.
Was zum Teufel ist los mit mir?
Sie setzt sich neben mich und nimmt mir die Zigarette von den Lippen, um sie dann zwischen ihre eigenen zu legen. Die Berührung ihrer Finger an meinen Lippen lässt mich nicht unwohl fühlen.
Ich versuche, nicht zu zeigen, wie sehr sie mich beeinflusst, indem ich wegschaue, aber mein Inneres schlägt Saltos.
Ich räuspere mich, während sie meine Zigarette raucht, als wäre es ihre eigene. Es weht ein Luftzug und verdammt, ich atme die süße Vanille ein – sie riecht gut.
Ich drehe meinen Kopf und beobachte sie, als sie sich zurücklehnt, das Ende der Zigarette leuchtet orange. Dann bläst sie eine Wolke über uns, mit geschlossenen Augen, während sich der Rauch in der Luft auflöst.
Ihre Augen öffnen sich, und jetzt sieht sie mich an. Ich kann nicht anders, als ihre Schönheit anzustarren.
Fuck.
Als sie fertig ist, steckt sie mir den Rest der Zigarette wieder in den Mund. Ihre Fingerspitzen streifen meine Lippen und senden einen Funken in meine Brust und ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Ich werfe den Stummel zur Seite.
»Mein Name ist Stacey.« Ihre Stimme ist sanft, ruhig und beruhigend. Das macht mich noch neugieriger. »Ich bin vor ein paar Monaten Luciellas Tanzkurs beigetreten.«
Ich würde gern sehen, wie sich ihr Körper bewegt, wenn sie in ihrem Element ist. Ich wette, ihre Bewegungen sind auch wunderschön.
Stopp!
Ich zünde mir noch eine Zigarette an, da sie meine fertig geraucht hat, und beobachte sie alle paar Sekunden, während wir schweigend dasitzen.
Stacey.
Das geheimnisvolle Mädchen hat einen Namen.
»Wie alt bist du?«, will ich von ihr wissen.
Sie lächelt mich an, und shit, noch nie hat mir das Lächeln von jemandem gefallen. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie schwach anlächle.
»Ich bin gerade fünfzehn geworden. Genau wie du.«
Genau wie du.
Diese drei Worte machen mich neugierig, mehr über sie zu erfahren.
Ihr Grinsen wird breiter, als ich summe, ein Grübchen bildet sich tief in ihrer Wange, und sie schaut weg und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Schmetterlinge, denke ich.
Ich frage mich, ob sie sie auch spürt?
Ich muss krank sein. Ich muss meine Mutter fragen, was zum Teufel mit mir los ist.
»Du klingst amerikanisch und schottisch«, sagt sie. »So wie Luciella.«
Wir haben viel Zeit in Amerika verbracht, um unseren Vater zu besuchen. Es war nur verständlich, dass wir im Laufe der Jahre den Akzent übernommen haben. Meiner ist viel stärker und tiefer.
Als ich höre, wie die Leute nach Stacey rufen, seufze ich, denn ich weiß, dass unser Treffen unterbrochen wird.
So gern ich auch hier sitzen und sie wie ein Widerling anstarren würde, muss ich gehen, bevor sie mich für einen Spinner hält, der einem Mädchen hinterherläuft, das ich nicht einmal kenne.
»Ich muss dich vorwarnen«, fange ich an und schnippe die Zigarette ins Gras, sobald ich den blonden Haarschopf meiner Schwester sehe. Ich kneife die Augen zusammen. Auch wenn ich die nächsten Worte, die meinen Mund verlassen, nicht sagen will, siegt meine Impulsivität. »Nur weil du die Freundin meiner Schwester bist, heißt das nicht, dass du mit mir reden darfst. Geh mir verdammt noch mal aus dem Weg.«
Als ich mich zum Gehen wende, lacht sie spöttisch.
»Witzig«, schnauzt sie zurück, und ich bleibe stehen, ziehe die Brauen zusammen und schaue über die Schulter zu ihr.
Sie schiebt die Hüfte vor und verschränkt die Arme. »Und süß. Ich wollte gerade genau dasselbe sagen. Also warum gehst du mir nicht einfach aus dem Weg, Kade?«
Ich mag es, wie mein Name auf ihrer Zunge klingt.
Ich lächle, weil ich diese Seite an ihr liebe. »Sonst was?«
Ach, fuck. Freckles ist noch viel niedlicher, wenn sie wütend ist.
Die Schmetterlinge spielen verrückt, und ich habe keine Ahnung, wie ich das Gefühl unterdrücken soll.
Sie stößt mich mit der Schulter an, und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als sie mit meiner Schwester davonmarschiert.
Ihr Duft schwebt noch in der Luft, ihr dunkles Haar fällt ihr über den Rücken, aber sie blickt weiter nach vorn und weigert sich, mir diesen letzten Blick zu schenken, den ich so verzweifelt suche – bis sie kurz davor ist, auf dem Weg zwischen den Bäumen zu verschwinden, als sie sich noch einmal umdreht und mir den Mittelfinger zeigt.
Verdammte Scheiße. Warum lächle ich?
Langsam und leise ziehe ich die Bettdecke weg und schiebe meine Beine zuerst aus dem Bett. Er rührt sich und greift über die Matratze, aber ich bin raus und auf den Beinen, bevor er mich berühren kann.
Mein Kleid und meine Unterwäsche liegen auf dem Boden verstreut, meine High Heels sind wahrscheinlich auf seiner Treppe oder im Wohnzimmer. Ein Tinder-Date, das im Pub begann, etwas, um mich zu beschäftigen. Nach ein paar Drinks und endlosem Flirten lud er mich hierher ein.
Ist es schlimm, dass ich mich nicht wirklich an seinen Namen erinnern kann? Er heißt entweder Bryan oder Byron. Sie klingen gleich. Ich muss sein Profil noch einmal überprüfen, bevor ich die App lösche.
Ich bemerke einige verpasste Anrufe von meiner besten Freundin Lu, einen von meiner anderen besten Freundin Tylar und mehrere Nachrichten von meinem Stiefbruder, der wissen will, wo ich mich herumtreibe.
Ich stöhne auf und reibe mir die Schläfen, um meine Kopfschmerzen zu lindern, dann öffne ich Luciellas Kontakt und schreibe ihr eine Nachricht.
Ich: Kannst du mich abholen? Ich bin in Branchton. Da gibt es eine Häuserreihe gegenüber einer Kirche. Kennst du den Ort?
Ich schleiche auf Zehenspitzen die Stufen hinunter, mit den High Heels und der Jacke in der Hand, bis ich unten ankomme und mich auf die unterste Stufe setze.
Mein Handy vibriert.
Lu: Schon unterwegs. Bin in fünf Minuten da.
Gott sei Dank.
Ich weiß, dass meine Freunde die Details hören wollen. Ich kann schon die hohen Aufschreie hören, wenn sie erfahren, dass ich endlich Sex hatte, nachdem ich monatelang nicht das geringste Interesse gezeigt habe.
Die letzte Person, mit der ich geschlafen habe, sagte mir, dass ich zwar ein hübsches Mädchen sei, er sich aber nicht mehr mit mir treffen könne. Seltsamerweise war er ein paar Tage später verschwunden und ist es immer noch.
Im Alter von einundzwanzig Jahren als hübsches Mädchen bezeichnet zu werden, nervte mich zu Tode.
Draußen ertönt eine Autohupe, und ich seufze erleichtert auf.
Luciellas Stiefvater hat ihr das Auto gekauft, weil sie an der Universität angenommen wurde. Ty plant, das Tanzstudio ihrer Familie zu übernehmen.
Ich versuche immer noch, mich selbst zu finden, und das ist auch okay so. Ich habe es nicht eilig, mein Leben in den Griff zu bekommen. Ich bin Tänzerin und Luftakrobatin, unterrichte an drei Abenden in der Woche Kinder und Erwachsene, und wir trainieren für Shows und Wettbewerbe.
Meine Mutter starb, als ich dreizehn war, und als mein Vater sich in Nora Fields verliebte, zog er mit uns in diese Stadt, um bei ihr und ihren beiden Jungs, Kyle und Chris, zu leben.
Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, aber Nora und ihre Söhne bestehen darauf, dass ich dort bleibe, bis ich genug Geld gespart habe, um auszuziehen; sie hat das gesamte Erbe, das eigentlich für mich bestimmt war, behalten.
Ich muss keine Miete zahlen, was gut ist, ungeachtet des absoluten Albtraums, in diesem Haus zu leben. Das heißt, ich kann mich auf meine Ziele konzentrieren.
Es ist schon fast Morgendämmerung, als ich vor die Tür trete. Der schwarze Audi R8, der auf mich wartet, lässt mich erstarren. Die getönten Scheiben verdecken den Fahrer, aber ich weiß genau, wer es ist, und die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, mein Herzschlag beschleunigt sich.
Die Felgen glänzen, als wären sie frisch poliert, und die Scheinwerfer blenden mich fast. Ich ziehe eine Grimasse und frage mich, ob ich mich umdrehen und weggehen kann.
Lu wird eine Ohrfeige bekommen, wenn ich sie später sehe.
Die Hupe ertönt erneut und lässt meine Schultern verkrampfen.
»Unglaublich«, murmle ich vor mich hin; sehe keine andere Möglichkeit, nach Hause zu kommen, da ein Uber ewig brauchen würde, um in diesen Teil der Stadt zu gelangen.
Mit High Heels, die an meiner Hand baumeln, unordentlichem Haar und einem nicht mehr ganz frischen Make-up macht sich Nervosität in mir breit. Von allen, die mich nach einem One-Night-Stand abholen könnten, ist er der Letzte, den ich sehen will.
In aller Ruhe mache ich mich auf den Weg zum Auto, öffne die Beifahrertür und lasse mich auf den Sitz fallen. Ich sehe ihn nicht an, sondern schaue nach vorn und werfe meine High Heels auf den Boden, während ich versuche, den Gurt anzulegen. Er rutscht mir zweimal aus den Händen und ich atme aus, als er endlich einrastet.
Ich versuche, den süchtig machenden Duft von Minze, Zigaretten und Tom Fords Noir zu ignorieren. Das gleiche Aftershave, das er seit Jahren benutzt. Ich versuche, ihn zu ignorieren, aber seine Anwesenheit ist überall, selbst nach zwei Jahren des Schweigens zwischen uns.
Ich verschränke die Arme vor mir und schaue ihn von der Seite an. »Lu hat gesagt, dass sie mich abholt.«
Er antwortet nicht und sieht gelangweilt aus, während er auf seinem Handy tippt und sich mit dem Ellbogen auf die lederne Mittelkonsole zwischen uns stützt. Er hat ein frisches Tattoo auf der Hand, das sie irgendwie noch aderiger aussehen lässt.
Ich schlucke und schaue schnell weg, bevor er bemerkt, wie ich meinen Blick über die neuen Tattoos auf seinem Körper schweifen lasse.
Mit gespreizten Knien, die Sporthosen zeigen seine Beine, lehnt er sich gegen den Fahrersitz und schreibt immer noch SMS. Mein finsterer Blick vertieft sich, als ich ihn dabei beobachte, wie er Nachrichten beantwortet, anstatt mich nach Hause zu fahren.
Er muss im Fitnessstudio des Anwesens trainiert haben. Sein Oberteil liegt eng an seiner Brust an, die straffen Muskeln sind noch geschwollen von der Trainingseinheit. Er hat sich eine Zigarette hinters Ohr geklemmt, und das gewellte schwarze Haar, das fast so dunkel ist wie seine Seele, fällt ihm in die Stirn.
Sein sonnengebräunter Teint lässt mich neben ihm wie ein Gespenst aussehen.
So gern ich auch sagen würde, dass ich alles über Kade Mitchell vergessen habe; ich bin eine schlechte Lügnerin.
Ich lasse das Fenster herunter und ignoriere das Frösteln, das mich überkommt, während ich versuche, zu verhindern, dass sein Geruch mein Urteilsvermögen trübt. Ja, Kade mag gut aussehend sein, eine Person, die einmal alle Kriterien für mich erfüllte, aber er ist der Zwillingsbruder meiner besten Freundin und absolut tabu.
Das weiß ich jetzt.
Das letzte Gespräch, das wir geführt haben, ist zwei Jahre her, seitdem hat er mir nicht einmal mehr in die Augen gesehen. Ich weiß, dass Lu ihn gezwungen haben muss, damit er mich abholt.
Er würde das nie freiwillig machen.
Verfluchte Luciella. Sie weiß, wie sehr wir uns nicht ausstehen können. Sie weiß, dass ich ihm aus dem Weg gehe, wann immer ich kann. Ich meine, sie weiß nicht genau, warum, aber trotzdem.
Nach fast drei Minuten, in denen leise Rockmusik spielt und er auf seinem Handy herumtippt, geht die Sonne auf. Ich spanne verärgert meinen Kiefer an, mein Blick huscht zwischen dem Lenkrad und dem Eingangstor des Hauses, das ich verlassen habe, hin und her.
»Hast du noch vor, zu fahren, oder willst du hier nur rumsitzen?«
Wie immer treffe ich auf Schweigen. Er klickt weiter auf seinem Display, und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln.
Ich versuche, nicht darauf zu achten, wie gut er aussieht, obwohl er die Reinkarnation des Teufels ist; wie weich seine Haut unter den düsteren schwarzen Tattoos wirkt. Er lächelt nicht oft, mit wem schreibt er also? Ärgerlicherweise schlägt mein verräterisches Herz schneller. Wer bringt ihn dazu, so zu grinsen?
Nein. Hör auf, Stacey. Wen interessiert es, wer ihn zum Lächeln bringt?
Ich kann nicht in diesem Auto bleiben. Ich muss hier raus.
»Ich rufe mir einen Uber«, sage ich und löse den Sicherheitsgurt, aber Kade hält ihn fest, bevor er sich aufrollen kann, und zieht ihn wortlos zurück. Die Augen immer noch auf das Display gerichtet. Er tippt mit einer Hand, die andere hält meinen Sicherheitsgurt fest, bis er schließlich das Display ausschaltet und das Auto wieder startet.
Der Motor vibriert unter uns, und ich werde in den Sitz zurückgedrückt, während er mit einer unglaublichen Geschwindigkeit beschleunigt.
Er dreht die Musik auf, und ich starre ihn an, seine schönen, harten Gesichtszüge, während seine silbrig-blauen Augen auf die Straße gerichtet sind. Schließlich fahre ich die Scheibe hoch, damit meine Haare nicht umherfliegen.
Ich öffne meine Nachrichten und sehe eine, die ich wohl verpasst habe.
Lu: Kade kommt stattdessen.
Ich: Ich hasse dich.
Sie antwortet sofort.
Lu: Sorry! Er hat gerade seinen Kumpel nach Hause gefahren. Bitte bringt euch nicht gegenseitig um.
Ich: Ich hasse dich wirklich.
Ich schalte mein Display aus, bleibe stumm und starre aus dem Fenster auf die vorbeirasenden Bäume. Mein Handy vibriert unkontrolliert in meiner Hand – eine Reihe von Nachrichten von meinem Stiefbruder.
NichtAntworten: Wo zum Teufel bist du?
NichtAntworten: Ich bin auf dem Weg nach Hause und du solltest besser dort sein.
NichtAntworten: Ich meine es ernst, Stacey.
Ich rolle mit den Augen und ignoriere ihn seufzend. Das wird mir noch leidtun, aber ich kann mich jetzt nicht mit ihm beschäftigen. Nicht, solange ich mit Kade fucking Mitchell in einem Auto sitze und versuche, nicht dieselbe verdammte Luft wie er zu atmen.
»Du hättest Nein zu Luciella sagen sollen«, sage ich schließlich, laut genug, dass er mich über die Musik hinweg hören kann.
Kades Kiefer spannt sich an, als er schneller fährt.
Ich schnaufe und stütze meinen Ellbogen ans Fenster, lege die flache Hand an meine Schläfe. »Ich hätte auf einen Uber gewartet oder wäre zu Fuß gegangen.«
Er antwortet mir nicht, wie ich es erwartet hatte.
Kade nimmt die Zigarette hinter seinem Ohr hervor, zündet sie an und wirft dann sein Feuerzeug in die Mittelkonsole zwischen uns.
Er leckt sich über die Lippen, seine verschlafenen Augen sind auf die Straße gerichtet, und ich beobachte seinen Mund, während er einen weiteren Zug nimmt.
Du bist ein Nichts. Du bist verdammt noch mal tot für mich.
Seine Stimme hallt in meinem Kopf nach, eine Erinnerung an das letzte Mal, als wir miteinander geredet haben. Worte, die er mir an den Kopf geworfen hat; Worte, die ich lieber vergessen würde. Ich wende meinen Blick von ihm ab und halte meine brennenden Augen auf die Außenwelt gerichtet, als er in meine Wohnsiedlung fährt.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng – alle Häuser brauchen Codes, um das Gelände zu betreten. Als ich aufwuchs, fragte mich Nora, ob ich zu meinem Geburtstag eine Übernachtung haben wolle, ob ich eine Party feiern wolle oder irgendetwas, das meine Freunde hierherbringt, aber ich sagte immer nein.
Ich wollte nicht, dass einer von ihnen in die Nähe des Monsters kommt, das in diesen Mauern lebt.
Kade bleibt vor dem größten Haus stehen – drei Stockwerke aus weißem Backstein und ungenutzte Pferdeställe auf der Rückseite. Ein leerer Pool und verwildertes Unkraut lassen es unheimlich aussehen.
Er stellt den Motor ab und schnippt die Zigarette aus dem Fenster, ohne sich zu mir umzudrehen. Dann tippt er mit dem Finger auf seinen Schoß, der Muskel in seinem Kiefer spannt sich an.
Sag etwas, will ich rufen. Schrei mich an. Irgendetwas!
Ich wende meinen Blick von ihm ab und seufze, während ich nach meinen High Heels greife. Während ich meinen Sicherheitsgurt löse, sage ich nichts, und ich bleibe auch still, als ich die Tür öffne und aus dem Auto steige.
Ich erreiche das Tor und bin bereit, meinen Code einzugeben, als ich höre, wie der Motor wieder anspringt. Ich werfe einen Blick über meine Schulter, und unsere Blicke treffen sich wie ein Donnerschlag. Eine Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut aus, ein elektrisiertes Kribbeln rast durch meine Venen. Seine Augen sind genauso elektrisierend wie in meiner Erinnerung, aber es steckt noch etwas anderes dahinter.
Etwas Dunkles, das früher noch nicht da war.
»Danke«, flüstere ich. »Fürs nach Hause fahren.«
Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, er könnte tatsächlich etwas erwidern. Stattdessen sieht er mich langsam von oben bis unten an, nimmt meinen Post-Sex-Look in sich auf, und wendet dann kopfschüttelnd den Blick von mir ab.
Er ist enttäuscht.
Kade zündet sich noch eine Zigarette an und dreht seine Rockmusik so laut auf, dass meine Stieffamilie davon wach werden könnte. Dann braust er davon, ohne mir einen weiteren Blick zu schenken. Ja. Er verachtet mich immer noch.
Und nach dem, was ich ihm angetan habe, hat er auch allen Grund dazu.
Ich mache mich schnell auf den Weg in mein Schlafzimmer im obersten Stockwerk des Anwesens und atme erleichtert auf, als ich die Tür hinter mir schließe. Dann lehne ich mich mit dem Rücken an das Holz und schließe die Augen.
Meine Augen brennen, ich kämpfe mit den Tränen, die ich nicht fließen lassen will.
Das erste Mal, dass ich dieses Gefühl hatte, dieses überwältigende Gefühl, war damals, als wir uns kennenlernten. Er hatte mich am Pool seines Anwesens gestört.
Ich erinnere mich daran, wie er mich ansah, und wie sich eine Wärme in meiner Brust bildete. Seine Augen waren voller Leben. Wir hatten zusammen eine Zigarette geraucht, in seliger, angenehmer Stille, bevor er sich in ein Arschloch verwandelte.
Jahrelang hatte ich versucht, ihn zu ignorieren. Aber die Nähe des Zwillingsbruders meiner besten Freundin war kaum zu ertragen – die Anziehungskraft zwischen uns war einfach zu stark.
Bis zu jener Nacht, in der sich alles änderte.
Seitdem ist Kade Mitchell der gebrochene Schatten in meinem Leben, und das ist allein meine Schuld.
Meine High Heels fallen auf den Boden und ich lecke mir über die Lippen, erinnere mich an eine Zeit, in der ich es getan habe und dabei Minze und schwachen Tabak schmecken konnte.
Ich schüttle den Kopf und verdränge die einzelnen Tränen, die mir über die Wange laufen.
Ohne das Licht einzuschalten, ziehe ich mein Kleid aus, öffne meinen BH und will gerade meine Unterwäsche ausziehen. Doch bevor ich irgendetwas anderes tun kann, packt mich ein fester Griff an der Kehle, wodurch mir ein ersticktes Keuchen entweicht, als die Person mich von der Tür wegstößt und auf die Matratze wirft.
Die Luft strömt durch den Aufprall in einem erstickten Husten aus meiner Lunge. Hinter meinen Augen baut sich Druck auf, als sie sich ängstlich öffnen und Chris – meinen bösen und verblendeten Stiefbruder – über mir sehen.
Ich versuche, seine Arme so fest wie möglich zu schlagen, damit er seinen schmerzhaften Griff löst, doch das führt nur dazu, dass er noch fester zudrückt, sich auf mich herabsenkt und meinen fast nackten Körper zwischen sich und dem Bett zerquetscht.
»Wer zum Teufel war das?«
Ich liebe es, im Dunkeln zu tanzen.
Wenn ich von einem Gemetzel umgeben bin, was oft der Fall ist, ist es friedlich – eine Flucht. Ich genieße es, geistig aus dem Leben zu verschwinden, auch wenn es nur für einen Moment ist.
Manchmal schließe ich die Augen und blende alles aus, während sich mein Körper um den Reifen bewegt oder die Seidenbänder sich um meine Gliedmaßen wickeln, während ich in der Luft hänge. Normalerweise lasse ich mich nach der Hälfte meiner Choreographie einfach treiben, wobei ich den Kopf im Takt wiege und mir ein schweigendes Publikum vorstelle, das seine Augen nicht von mir abwenden kann.
Es wird Musik gespielt, die Richtung hängt dabei ganz von meiner Stimmung ab. Ich rede mir ein, dass Angst und unnötige Stimmen nicht existieren. Dass sie nichts weiter als leere Gedanken sind, die verzweifelt versuchen, meine Ruhe zu zerstören. Bei jedem Akkord werden die schwarzen Ranken um mein Herz schrumpfen.
Es gab eine Zeit, in der eine Person es schaffte, dass ich diese Seite von mir ignorierte. Ich half ihm mit seiner eigenen Dunkelheit, und er ließ mich lebendig fühlen, unterstützte mich mit zärtlichen Berührungen und Worten, gestohlenen Küssen und Nächten in seinem Bett, wenn niemand davon wusste. Ich war glücklich.
Ich dachte, ich sei sicher. Ich dachte, ich sei frei.
Bis ich es nicht mehr war.
Aber die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Nichts, was ein bisschen Musik nicht vorläufig reparieren könnte.
Spiracle von Flower Face hallt durch das Studio, in dem ich tanze, seit ich ein Teenager war. Wann immer ich diesen Song höre, denke ich an ihn.
Ich weiß noch, wie ich mich fühlte, als ich Lu auf dem Sofa gegenübersaß. Nervös. Feuer und Flamme.
Ich wünschte, ich wäre mutig genug gewesen, ihn zu berühren. Seine Hand war meiner so nahe, und ich forderte mich selbst heraus, sie zu nehmen, seine Handfläche in meiner zu spüren, zu erfahren, wie weich sie war, aber ich hatte Angst vor seiner Ablehnung.
Er hasste es, wenn man ihn berührte – dann zuckte er zusammen und sah aus, als ob er Schmerzen hätte. Dann streifte sein kleiner Finger meinen unter der Decke, die wir uns teilten, die Augen auf den Fernseher gerichtet, und ich unterdrückte ein Lächeln.
Von da an ging es richtig los. Es war keine Mutprobe – es war echt.
Das Studio ist leer, wie immer, wenn der Unterricht vorbei ist. Die bunten LED-Lichter sind gedimmt, aber manchmal schalte ich sie auch ganz aus. Es ist entspannend, meinen Geist von dieser Welt abzuschalten und in meiner eigenen zu sein – meine Achse verschiebt sich, und alles bleibt stehen, während ich tanze.
Aber in ein paar Stunden wird Chris mich abholen, und dann wird alles zusammenbrechen – und ich werde mich wieder an meine wahre Realität erinnern.
Die Musik bricht ab und ich halte inne, halte mich am Reifen fest, während ich kopfüber in der Luft hänge, ein Bein eingehakt, um mich zu stabilisieren. Ich richte meine zusammengekniffenen Augen auf das Display meines Handys – die Nachricht, die erschien, hat mein Lied und die Bluetooth-Verbindung unterbrochen.
Ich lasse mich auf die Matte fallen und ziehe den Dutt fest, während ich auf die andere Seite des Raumes gehe; meine nackten Füße klatschen auf den Boden. Ich lehne mich an die voll verspiegelte Wand und öffne die Nachrichten in unserem Gruppenchat.
Lu: Meine Mum und Ewan sind gerade gegangen. Ich glaube, Kade und seine Freunde gehen aus, sodass wir das ganze Anwesen für die Party für uns allein haben werden.
Ty: Ich bin noch bei meiner Tante. Bin aber gleich da!
Ihre Mum und ihr Stiefvater Ewan fliegen für ein paar Wochen nach Amerika, um sich mit dem Therapeuten ihres leiblichen Vaters zu treffen, damit er möglichen Freigang bekommt. Aber bisher sind alle seine Anträge abgelehnt worden.
Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemals Zeit außerhalb der Anstalt verbringen darf. Er ist furchterregend. Ich habe einmal mit ihm telefoniert, während Lu aus dem Bad eilte, und allein seine Stimme jagte mir Schauer durch den Körper. Er kannte meinen Namen und warnte mich davor, seinem Sohn etwas anzutun, als wäre ich das Monster.
Seine Stimme war so tief und gefährlich, dass ich ehrlich gesagt ohnmächtig werden würde, wenn ich ihn jemals treffen würde. So sehr sein Sohn ihm auch ähnelt, vor Tobias Mitchell würde ich einfach nur davonlaufen.
Er ist ein diagnostizierter Psychopath. Ein Mörder.
Nachdem ich geantwortet habe, dass ich es kaum noch erwarten kann, schicke ich Chris schnell eine SMS, in der ich ihm mitteile, dass er sich nicht die Mühe machen und mich abholen muss. Ich habe das Kleid dabei, das ich heute Abend tragen werde und ich kann auch bei Lu duschen. Mein Stiefbruder wird bestimmt angepisst sein, aber er ist immer sauer auf mich.
Ein paar Tage, nachdem Kade mich zu Hause abgesetzt hatte, flehte ich ihn an, mich freizulassen, und log, dass Luciella mich nach Hause gefahren hätte.
Ich habe Concealer aufgetragen, um die schwachen blauen Flecken zu verbergen, die er auf mir hinterlassen hat.
Ich verbinde mein Bluetooth wieder mit den Lautsprechern, die den Saal umgeben, starte das Lied erneut und betrachte mein verschwitztes Aussehen im Spiegel.
Als mein Blick auf meine Brust fällt, starre ich auf die kleine Narbe auf meinem Brustbein, lila und tief. So sehr meine Brüste sie auch verbergen, sie ist da. Deswegen hat Chris mit einem Schlüssel in meine Haut geritzt – um andere davon abzuhalten, das zu berühren, was er für sein Eigentum hält.
Er brachte mich dazu, Nora anzulügen und zu sagen, ich hätte es selbst getan, und sie glaubte mir. Sie wollte, dass ich einen Therapeuten aufsuche, weil sie dachte, ich würde mir etwas antun.
Nein. Dein Sohn ist einfach ein verdammtes Monster, Nora.
Ich fahre mit den Fingern an den Titanstangen entlang. Sieben davon sind in der Halle verteilt, in der Mitte hängt ein Reifen von der Decke, und hinten hängen tiefrosa Seidenbänder. Im nächsten Raum gibt es eine riesige Tanzfläche für die Kinder.
Tylars Familie gehört das Gebäude und sie hatte schon seit einem Jahr Pläne, in etwas Größeres zu expandieren, war aber mit ihrem Studium beschäftigt, während ihre Eltern an einem Projekt in Rom arbeiteten.
Ich wickle die Seide um mein Handgelenk, bekomme einen guten Halt in dem Stoff, dann mache ich dasselbe mit meinem Fuß und ziehe mich daran hoch. Ich drehe mich kopfüber, der Stoff wickelt sich um meine Oberschenkel und hält mein Gewicht sicher, während ich schnell meine Haare richte.
Dann lasse ich mich von der Musik auf ein lyrisches Abenteuer mitnehmen und nutze meine Flexibilität und meinen Rhythmus, um die perfekte Choreografie zu entwerfen, die ich beim Festival der Gruselnacht an Halloween verwenden kann.
Als das Lied zu Ende ist, läuft mir der Schweiß über die Haut, und meine Glieder schmerzen vom ständigen Ziehen und Zerren an der Seide. Ich drehe mich noch einmal kopfüber, lasse mich in einer Grätsche nieder und ziehe mein Top aus, um meinen Sport-BH zu enthüllen.
Doch als sich das Material am Haken verheddert, beginne ich mich langsam zu drehen und mein ganzer Körper erstarrt – da ist jemand, der mich beobachtet.
»Chris!«, schnauze ich. »Du darfst hier nicht rein!«
Mein Stiefbruder zuckt mit den Schultern, während ich mich entwirre und mich auf den Boden fallen lasse.
Ich sehe ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Was zum Teufel machst du hier?«
Er grinst und zwingt mich, einen Schritt zurückzutreten, während er einen Schritt nach vorn macht und seinen Blick auf meine Brust fallen lässt. »Du weißt, dass ich dich gerne beobachte.«
Ein unangenehmer Schauer durchfährt mich, die Galle steigt mir in die Kehle. »Ich sagte doch, ich gehe zu meiner Freundin.«
»Ich werde dich fahren. Ich akzeptiere kein Nein als Antwort.«
»Du musst mich nicht fahren.«
Chris hebt seine Hand und ich weiche instinktiv zurück, bevor er die Haarsträhnen berühren kann, die mir ins Gesicht gefallen sind.
»Du wirst tun, was ich sage, kleine Schwester«, sagt er. »Es sei denn, du willst, dass ich dich wieder in mein Zimmer sperre. Vielleicht kette ich dich dieses Mal an mein Bett?«
Ich erbleiche. »Nein.«
Er lächelt. »Ich fahre dich.«
Ich schlucke und nicke, mit dem Wissen, dass ich bei Chris nicht gewinnen kann.
Ich drehe ihm den Rücken zu und gehe in die Richtung der kleinen Umkleidekabine, während ich mir mein Top überwerfe. Ich fühle mich immer noch viel zu entblößt, um in seiner Nähe zu sein. Nachdem ich meine Socken und Schuhe angezogen und mein Gesicht mit einem Handtuch abgewischt habe, werfe ich mir einen Kapuzenpulli über und ziehe meinen Mantel über die Arme.
Er wird versuchen, mich dazu zu bringen, heute Abend abzusagen, aber das kann er sich sparen.
Wenn ich nachgeben würde, würde er sich nicht nur mächtig fühlen, sondern Lu würde mir auch die Hölle heißmachen. Die zweite Feier zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ist schon so lange geplant.
Ein Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken. »Beeil dich verdammt noch mal, bevor ich dich selbst fertig mache.«
Ich schnaube leise und schüttle den Kopf, während ich mir den Riemen meiner Tasche über die Schulter schiebe und ihn ignoriere, als ich die Tür aufschwinge und versuche, an ihm vorbeizugehen.
Er hält mich am Handgelenk fest und zieht mich zurück, drückt mich an seine Brust und presst seinen Mund auf mein Ohr. »Zieh keine Show ab.« Chris dreht meinen starren Körper in seine Richtung und streichelt meine Arme. »Ich habe mich gut benommen, Stacey. Hör auf, mich zu verärgern, indem du dich wie ein Kind benimmst.«
»Ich habe nicht …«
Seine rauen, unerwünschten Hände bringen mich zum Schweigen, als sie mit festem Griff zu meinen Schultern hinaufwandern. Seine Daumen fahren dort über die leichten Blutergüsse, bevor sie meinen Hals umschließen. »Was habe ich dir darüber gesagt, mir Widerworte zu geben? Willst du mich wütend machen?«
Er saugt an seiner Unterlippe und kaut darauf herum, während seine Augen mein Gesicht scannen und auf eine bissige Erwiderung warten, damit er einen Grund hat, mich auf den Boden zu werfen oder mir in die Wange zu beißen.
Mein Rücken stößt gegen die Wand und die Spiegel daran erzittern. Sein Körper presst sich gegen meinen und ich beiße die Zähne zusammen, um gegen den Ekel anzukämpfen, und balle die Fäuste an meinen Seiten.
»So hübsch und aufsässig«, murmelt er und schiebt sein Knie zwischen meine Beine, um sie zu öffnen. Seine flache Hand wandert meine Seite hinauf. »Weißt du noch, was mit bösen kleinen Mädchen wie dir passiert?«
»Lass mich verdammt noch mal los, Chris«, warne ich ihn und stoße gegen seine Brust, schaffe es aber nicht, ihn von mir wegzuschieben.
Er grinst. Der Bastard liebt es, wenn ich wütend werde. Ich spüre seine Erregung an mir und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildet.
Chris war so zu mir, seit ich vor Jahren in die Familie kam. Ich habe versucht, es meinem Vater zu sagen, als er an dem Tag, an dem wir eingezogen sind, in meine Dusche gestürmt ist und mir seinen Mund aufgezwungen hat. Mein Vater weigerte sich, mir zuzuhören, als ich ihm erzählte, dass der vier Jahre ältere Junge mich bei zahlreichen Gelegenheiten beim Ausziehen beobachtet hatte, als ich erst vierzehn war.
Nope. Ich war offenbar eine jugendliche Unruhestifterin, die nach dem Tod ihrer Mutter rebellierte.
Chris hat mich bei zahlreichen Gelegenheiten geküsst, mitten in einem Streit. Aber jedes Mal habe ich meine Lippen zusammengepresst – so fest, dass es mir wehtat –, um die Zunge abzuwehren, die sich in meinen Mund zu drängen versuchte, während ich gegen ihn ankämpfte.
Soweit ich weiß, haben wir noch nie gefickt. Aber er hat mich unter Drogen gesetzt. Mich geschlagen. Hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe einmal versucht zu fliehen, aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Er wurde immer gewalttätiger.
Ich habe das Gefühl, dass es keine Möglichkeit gibt, jemandem wie Chris Fields zu entkommen, aber eines Tages, sobald ich einen guten Plan habe, werde ich es schaffen.
Seine Lippen teilen sich; wahrscheinlich will er gerade beschreiben, wie laut ich nach ihm schreien werde, aber ein Geräusch hinter uns unterbricht ihn.
Zum Glück öffnet sich die Studiotür, woraufhin er sich ruckartig entfernt und ich endlich aufatmen kann.
Tylar steht mit offenem Mund und zusammengezogenen Brauen in der Eingangshalle und schaut verwirrt zwischen uns beiden hin und her. »Ähm … Wer bist du?«, fragt sie Chris und ich schließe die Augen in der Hoffnung, dass er sich nicht mit seinem richtigen Namen vorstellt.
»Nur für Mitglieder.« Sie zeigt auf das Schild an der Wand, tritt zur Seite, öffnet die Tür weiter und sagt ihm leise, dass er sich verpissen soll.
Ich will sie dafür umarmen.
»Natürlich«, erwidert Chris, schaut mich an, wirbelt seinen Autoschlüssel am Finger herum und leckt sich über die Lippen.
Er lehnt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Warte nur, bis du nach Hause kommst, kleine Schwester.«
Ich starre ihn an und warte darauf, dass er geht.
Bevor Chris sich von mir abwendet, wird sein Lächeln schwächer. »Benimm dich.«
Tylar zieht eine Braue hoch, sobald er weg ist. »Wer zum Teufel war das?«
Mein persönlicher schlimmster Albtraum. Der Stiefbruder, von dem du nichts weißt.
Um meiner selbst und meiner Freunde willen habe ich seine Identität geheim gehalten und gebe mein Bestes, damit das auch so bleibt.
Mein älterer Stiefbruder Kyle ist ein Engel. Er liebt mich, wie es sich für einen Bruder gehört. Und dann gibt es noch Christopher …
»Nur so ein Typ«, lüge ich nach Strich und Faden, schalte die Lautsprecher aus und die Hauptbeleuchtung an, um das farbverändernde Licht zu löschen. »Ich dachte, du bist bei deiner Tante?«
»Meine Mutter will, dass ich Geld auf die Bank bringe«, sagt sie, öffnet einen kleinen Schrank in der Ecke des Flurs und schließt den Safe auf. Sie zählt die Scheine, etwa achthundert Pfund, und schiebt den Stapel in ihre Handtasche.
»Das war aber nicht dieser Bryan-Typ, oder? Ich erinnere mich, dass du ihn anders beschrieben hast. Der hier war heiß. Ich stehe auf das Lächeln und die zotteligen blonden Haare. Außerdem ist er groß.«
Ich schnaube und rümpfe die Nase darüber, dass sie Chris heiß nennt. In meinen Augen ist er nichts anderes als vulgär. »Nein. Das war er nicht.«
»Na ja, wer auch immer das war, behaltet es bitte im Schlafzimmer«, sagt sie und neigt den Kopf zur Tür. »Komm mit. Ich kann dich zu Lu mitnehmen.«
Während der Fahrt zählt Tylar die Regeln des Studios auf, und ich starre aus dem Fenster, während ich zustimmende Laute von mir gebe. Aber als sie mir erzählt, dass in Branchton gerade ein Haus brennt, sehe ich sie mit zusammengekniffenen Brauen an. Es gibt keine Verletzten, aber offenbar wurde der Hausbesitzer grün und blau geprügelt.
Der Name wurde noch nicht bekannt gegeben.
Mein Handy vibriert und als ich nach unten schaue, verdrehe ich die Augen. Die übliche Drohung. Eine, die mir früher eine Gänsehaut über den Rücken jagte und mir Angst machte, nach Hause zu kommen. Aber jetzt ist es einfach nur noch Routine von ihm.
NichtAntworten: Sei ein braves Mädchen heute Abend.
Ich knurre wütend das Display an und meine Finger bewegen sich, bevor ich sie aufhalten kann.
Ich: Lass mich in Ruhe.
Die Fahrt zu Luciella führt am See vorbei, Bäume säumen die Straße. Wir halten an den elektrischen Toren des extravaganten Anwesens, das ich immer noch atemberaubend finde. Tylar sagt mir, dass sie in ein paar Stunden zu uns stoßen wird, bevor sie losfährt.
Sobald sie weg ist, klingle ich an der Tür und die beiden Hunde fangen wie verrückt an zu bellen, was mich zum Lächeln bringt.
Sobald die Tür aufschwingt, vergeht mir das Lächeln und ich bin unter Kades finsterem Blick gefangen. Darin steckt so viel Hass und Verrat. Wenn ich mich nicht irre, würde er mich lieber unter dem Lenkrad seines Motorrads als auf seiner Türschwelle sehen.
Seine beiden Dobermänner Milo und Hopper, die normalerweise mit ihm an der Universität sind, schnüffeln an meinen Beinen und Händen und werden ganz aufgeregt, als sie meinen Duft erkennen.
Anstatt mich mit eingezogenem Schwanz zu ducken oder vor ihrem Besitzer zurückzuweichen, gehe ich in die Knie und kümmere mich um die Hunde, während ich ihn mit einem ebenso grimmigen Blick bedenke.
Er bricht den Blickkontakt zuerst ab und dreht mir seinen großen, muskulösen Rücken zu, dann pfeift er, dass die Hunde ihm folgen sollen. Er trägt einen Kapuzenpulli, eine umgekehrte Cap, um sein wirres Haar zu verbergen, und hat eine Bierflasche in der Hand. Ich vermute, er geht heute Abend nicht aus.
Ich rolle mit den Augen und murmle leise: »Na toll«, während ich die Tür hinter mir schließe.
Das wird lustig.
»Wenn ich das rote Kleid trage, kann ich morgen kein rotes Oberteil anziehen«, sagt Lu und drückt abwechselnd zwei Kleiderbügel an ihre Brust. »Aber das blaue ist ein bisschen kurz.«
»Dann zieh ein anderes an. Du hast doch genug Kleider«, erwidere ich, während ich mir die Nägel lackiere, mit einem Handtuch um mich gewickelt und nassen Haaren auf dem Rücken. Ich liege auf dem Bauch auf ihrem Bett, während sie sich alle fünf Minuten darüber aufregt, was sie anziehen soll.
»Aber ich möchte das rote Kleid tragen.«
»Dann trag es«, antworte ich, drehe den Nagellack zu und puste auf meine Nägel.
»Du bist mir gerade keine Hilfe, Stacey!«, erwidert sie verärgert und wirft beide Kleiderbügel auf den Boden. »Ich kann kein Rot tragen. Ich trage schon morgen ein rotes Oberteil.«
Meine beste Freundin ist manchmal nicht zu ertragen.
»Ach ja, ich wollte dir noch sagen, dass Kade und die anderen heute Abend nicht ausgehen werden. Sie haben ihre Pläne abgesagt, als Dez ihnen sagte, dass ich eine Party schmeiße.«
»Ich weiß«, entgegne ich, ohne von meinem Display aufzublicken, und starre auf die nervigen Nachrichten von Chris, die ich unbeantwortet gelassen habe.
Irgendwann werde ich ihm antworten müssen, denn wenn ich es nicht tue, wird er hierherkommen, und das ist das Letzte, was ich gerade brauche.
Wenn ich nach Hause komme, werde ich ihm ausweichen. Es gibt fünf Räume, die er von außen nicht öffnen kann; ich kenne mich mit den Verstecken auf dem Anwesen gut aus.
Eines Tages werde ich frei sein. Aber ich schätze, das ist derselbe Tag, an dem ich ihm die Kehle durchschneide, denn ich bin mir nicht sicher, ob ihn irgendetwas außer dem Tod aufhalten wird, bis ich ganz ihm gehöre.
Bei dem Gedanken, Chris nachzugeben, wird mir schlecht.
Lu wirft mir ein Paar aufgerollte Socken ins Gesicht. »Hast du mich gehört?«
»Was hast du gesagt?«
Sie seufzt. »Ich weiß, du bist kein Fan von Kade und seinen Freunden. Ich hoffe, sie bleiben weg, damit du nicht gehst.«
Ich schnaube. Sie kennt mich zu gut, aber ich würde nicht gehen, weil ich sie nicht ausstehen kann – ich kann nur die Blicke nicht ertragen, die er mir zuwirft. »Hast du ihm gesagt, er soll auf seiner Seite des Anwesens bleiben?«
»Gott, ja. Ich glaube nicht, dass ich Base und sein ständiges Bedürfnis, über Sex zu reden, ertragen kann. Wenn sie wieder eine Orgie veranstalten, bringe ich sie alle um.«
»Du warst nicht einmal da«, sage ich. »Du hast es ja nicht miterlebt.«
»Ich saß auf dem Sofa, auf dem Base zwei Tage später gevögelt hat«, murmelt sie.
Ich kichere und versuche, die Erinnerung loszuwerden, als wäre ich nicht dort gewesen, ohne dass meine beste Freundin davon wusste. Tylar wollte Dez im Poolhaus ausspionieren, weil sie immer noch in ihn verknallt war. Sie bat mich, sie zu begleiten, und da ich natürlich einen Blick auf Kade erhaschen wollte, willigte ich ein. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.
Wir betraten das Gebäude und erstarrten auf der Stelle, während vor uns eine regelrechte Sexorgie mit lauter Musik stattfand.
Base, der russische Erbe eines ganzen Imperiums, der seine Augen nie von Luciella abwendet, schnupfte gerade Koks von ein paar Titten, während er einen geblasen bekam.
Dez wurde gerade von jemandem geritten und erstarrte, als er Tylar sah.
Kade warf mir einen finsteren Blick zu, als er seinen Platz hinter einer Blondine einnahm, die sich nackt über einen Billardtisch beugte und seinen Gürtel mit einer Langsamkeit öffnete, die mich mit den Zähnen knirschen ließ.
Er löste seinen Blick nicht von mir, als er in sie eindrang.
Die pure Wut spürte ich erst, als er dabei auch noch grinste.
Bastard.
»Ich glaube, Base versucht nur, deine Aufmerksamkeit zu erregen«, sage ich. »Um dich eifersüchtig zu machen oder so. Das versucht er schon seit Jahren bei dir.«
Ein dunkler Schatten legt sich über Lus Gesicht. »Tja, er kann damit aufhören. So wie Dez und Tylar auch damit aufgehört haben. So was geht nie gut aus.«
Ty und Dez hatten mal etwas miteinander; Lu fand es heraus und drehte durch und erklärte, dass keiner ihrer Freunde in die Nähe von Kades kleinem Trio kommen sollte. So sehr ich auch versuchte, ihr zu sagen, sie solle sich beruhigen und dass sie harmlos seien, beendete Ty die Sache mit ihm.
Und ich weiß, dass es sie und Dez verletzt hat, als sie es tat.
Tylar und die anderen kommen eine Stunde später an und die Nacht beginnt, als wir im Kreis stehen und Shots trinken, die in meiner Brust brennen.
Zum Glück ist dieses Haus groß genug, sodass Kades kleine Zusammenkunft im Vergleich zu der Party, die Lu schmeißt, nicht existent ist. Und da der Alkohol langsam durch meine Adern fließt, fragt sich ein Teil von mir, ob sie viele Mädchen einladen werden.
Die Musik ist so laut, dass mir die Ohren klingeln. Jemand hat Stroboskoplichter mitgebracht. Das Blinken lässt die Körper beim Tanzen zucken.
Mein Handy vibriert, und ich zögere.
NichtAntworten: Wenn du nicht antwortest, komme ich dich holen, mit wem auch immer du gerade vögelst.
Ich verdrehe die Augen und murmle: »Arschloch.«
»Wer zum Teufel ist das?«, fragt Tylar mit gerunzelten Brauen und blickt mir über die Schulter.
Ich stecke mein Handy in meinen BH und zucke mit den Achseln, während ich ihr das Glas abnehme und den widerlich, stark Drink darin hinunterkippe.
»Hey, du Schlampe!« Aber sie lächelt, als jemand sie von mir weg auf die provisorische Tanzfläche zieht.
Ich mache mich auf den Weg zum Badezimmer im ersten Stock. Meine Sicht ist durch die Stroboskope etwas verwirrt, als ich mich erleichtere und mich dann gegen das Waschbecken lehne.
Ich starre auf mein Handy, das neben dem Waschbecken liegt. Vielleicht lasse ich es aus Versehen ins Wasser fallen? Mache es kaputt? Trete aufs Display, sodass die Nachrichten unleserlich werden?
NichtAntworten: Ich werde ihm den Kiefer brechen. Du gehörst mir.
Ich schnaube über die SMS. Täglich, stündlich, wünsche ich mir, ich könnte meinen Stiefbruder im Schlaf erwürgen, ohne dass er denkt, ich würde versuchen, es sexuell zu machen.
Ich: Kannst du damit aufhören? Ich bin auf der Party meiner Freundin. Und ich gehöre nicht dir. Ich bin deine verdammte Stiefschwester, du kranker Freak.
NichtAntworten: Ich komme dich holen.
Wut steigt in mir auf, als ich mein Handy schnell ausschalte.
Es ist doch ganz sicher falsch, dass er mich so sehr will?
Ich eile nach oben in Lus Zimmer und werfe das Handy auf ihr Bett. Ich weiß, ich sollte tun, was er sagt, um die Misshandlung zu stoppen, aber ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich will mich wehren.
Als ich wieder nach unten komme, sind die meisten meiner Freunde in die Hauptküche gegangen. Einige sitzen auf dem Tresen, andere an der Frühstückstheke, während sie zwei Leute hypen, die auf dem Boden sitzen, wo sie alle sehen können. Sie spreizt ihre Beine und reibt sich an seinem …
Oh.
Meine Augen weiten sich, als ich sehe, wie er ihren Nippel in den Mund nimmt, ihre Brust packt, während er leckt und saugt, als wäre er am Verhungern. Ihr Kleid rutscht über ihren Hintern, wo seine andere Hand liegt und sie auf sich bewegt.
Ein Mädchen aus Lus Collegekurs bleibt in der Tür stehen und ihr Kinn fällt fast auf den Boden. »Ihr wisst schon, dass wir euch sehen können, oder?«, fragt sie die beiden, aber sie winken ab, während sie sich weiter küssen und aneinander reiben.
»Die werden hier gleich einfach …«
»Scheiße, ja!«, bestätigt jemand, als sie um Worte ringt.
Luciella kommt herein. »Auf gar keinen Fall! Das ist die Küche meiner Mutter, verdammt noch mal!«
Ich nippe weiter an meinem Drink, Schulter an Schulter mit Ty, während wir zusehen, wie sie aufstehen und aus der Küche verschwinden. Das Mädchen kichert, als er ihr auf den Hintern schlägt und fragt, wo die Gästezimmer sind.
Lu schiebt mit verschränkten Armen die Hüfte vor und tippt mit dem Fuß. »Es gibt über dreißig. Such dir eins aus.«
Jemand sagt ihr, dass in der Eingangshalle eine Lampe zerbrochen ist, und sie seufzt, bevor sie verschwindet.
»So eine Spielverderberin«, sagt eine Stimme hinter uns.
Ty stöhnt auf, als sie merkt, dass es Dez ist.
»Du wolltest doch zuschauen, oder?«
»Gevögelt werden«, erwidert sie, ohne sich umzudrehen. »Geh zurück auf die andere Seite des Hauses, wo du hingehörst, bevor Lu dich mit mir reden sieht.«
»Aber wir sind wegen des kostenlosen Alkohols und der hübschen Mädels hier. Wird Satans Zwilling uns das auch ruinieren?«
Tylars Lider flattern, als Dez seine Stimme zu einem Flüstern senkt. Sie ignoriert, was auch immer er zu ihr sagt, aber ich sehe, wie sie errötet, und eine seiner Hände ergreift ihre Hüfte und zieht sie an sich. »Wenn ich meine Hand unter dein Kleid schieben würde, wäre deine Fotze dann schon nass bei der Erinnerung, wie es sich angefühlt hat, auf jede erdenkliche Weise von mir gefickt zu werden?«
Ich räuspere mich, sauge an meinem Strohhalm und wende den Blick ab.
»Hör auf«, sagt sie, aber ihre Stimme klingt atemlos.
Er knurrt. »Neulich hast du mir nicht gesagt, dass ich aufhören soll.«
Er kann offensichtlich nicht sehen, wie verzweifelt Ty aussieht. Sie lässt ihn abblitzen und stürmt davon. Dez lacht nur und nimmt einen Schluck von seinem Bier, seine Augen finden meine.
Ich starre ihn an. »Warum musstest du das tun?«
Er hat es nicht gut verkraftet, dass sie mit ihm Schluss gemacht hat, und ärgert sie ständig, weil er weiß, dass es sie verrückt macht. Er schreibt andauernd SMS und ruft an, und da Tylar Tylar ist, antwortet sie.
»Sie liebt es«, erwidert er und nimmt noch einen Schluck von seinem Bier.
Ich ziehe eine Braue hoch und nicke meiner zurückweichender Freundin zu. »Oh, offensichtlich.«
Dez zwinkert mir grinsend zu und zieht sich auf den Tresen hoch. Bevor ich mich auf die Suche nach Tylar machen kann, um sie zu trösten, wirft Dez einen Blick über meine Schulter. »Willst du noch ein Bier, Kade?«
Ich erstarre.
Er muss nicken, denn sein Freund reicht ihm eine Flasche über meine Schulter hinweg. Wärme strahlt gegen meinen Rücken, als Kade die Flasche entgegennimmt, die Knöchel blutig und aufgeschnitten. Ich halte den Atem an und versuche, meine verräterischen Hormone zu ignorieren, während Hitze meinen Rücken hinauf kriecht. Ich kann ihn riechen, den Duft seines Aftershaves und das Shampoo, das er für sein Haar benutzt. Es ist berauschend, Erinnerungen überschwemmen mich, wie meine Finger in sein welliges Haar geschlungen sind, der Duft seines Kissens, der Klang seines Lachens, wenn ich furchtbar schief singe.
Immer noch dicht hinter mir, summt er nur, und das tiefe Grollen geht direkt von meiner Brust zwischen meine Beine und kribbelt den ganzen Weg hinunter wie ein Feuerwerk. Meine Wangen sind wahrscheinlich rot. So nah war ich ihm schon lange nicht mehr. Der Alkohol betäubt meinen gesunden Menschenverstand, denn mein Körper sollte nicht auf diese Weise reagieren.
Fühlt er genauso wie ich im Moment? Juckt es ihn, mich zu packen und in ein unbesetztes Zimmer zu zerren? Wahrscheinlich nicht, denn er hasst mich abgrundtief.
Dez wirft einen Blick auf eine große, langbeinige Rothaarige, die hereinkommt, und neigt den Kopf zu ihr. »Hast du die nicht letzte Nacht gefickt?«
Ich verschwinde, bevor ich Kades Antwort hören kann.
»Ich könnte dich den ganzen Tag anschauen, weißt du das?«
»Sei nicht so romantisch, Kade – ich könnte sonst auf falsche Gedanken kommen.«
Ein leises Lachen, und … »Noch etwas, das du mir beigebracht hast, Freckles. Geh heute Nacht nicht nach Hause. Bleib bei mir.«
Ich nicke und er drückt mich auf die Matratze, schiebt meine Beine auseinander …
Nein. Ich weigere mich, zu dieser Erinnerung zurückzukehren, zu dem Moment, als ich wusste, was er mir bedeutet.
Zu diesem Zeitpunkt bedeutete er mir alles.
Und ich habe ihn verloren.
Als ich irgendwann aufhöre zu tanzen und mich neben meine Freunde setze, kann ich aufatmen. Sie tratschen, spielen Never Have I Ever, wobei ich den meisten Fragen ausweiche, wenn es um unsere ersten Male geht, und trinken dann die restlichen Shots, die auf dem Tisch stehen.