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Sie hat ihn verraten, jetzt will er sich an seiner Pflegeschwester rächen. Sie ist seine Obsession, seit er sie das erste Mal gesehen hat. Nachdem sie ihn für Jahre ins Gefängnis gebracht hat, ist er nun frei, und lässt sie nicht mehr aus den Augen.Ann Halloween kann er sich nicht länger in den Schatten verstecken. Alles, was ihm bleibt, ist ihr Herz, selbst wenn er es sich selbst nehmen muss.
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Leigh Rivers
Little Stranger
Übersetzt von Kida Meyer und Sandra Bernstein
Little Stranger
© 2025 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Kida Meyer und Sandra Bernstein
Copyright © Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
»Little Stranger: THE WEB of SILENCE DUET
(A Dark Taboo Romance)« by Leigh Rivers.
Korrektorat: Sandra Bernstein
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
Vermittelt durch die Agentur:
Two Daisy Media, LLC.
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Teil der SCHÖCHE Verlagsgruppe GmbH
Wenn ein maskierter Fremder einen Schraubenzieher an deine Kehle drückt und dir sagt, dass du laufen sollst, was würdest du tun?
Lass dich von Teil Eins nicht täuschen – dieses Buch ist eines der dunkelsten, die ich je geschrieben habe, und enthält eine Menge triggernder Inhalte, die manche Leser*innen als verstörend empfinden könnten.
Wenn dunkle und tabulose Bücher nichts für dich sind, dann verzichte lieber auf dieses. Wirklich, wenn irgendetwas von dem Aufgelisteten dich triggert, bitte ich dich, an dieser Stelle aufzuhören, an deine psychische Gesundheit zu denken und dieses Buch dorthin zurückzulegen, wo du es gefunden hast – in die Höllengrube.
Die Protagonist*innen sind Pflegegeschwister, nicht blutsverwandt, wachsen aber zusammen auf.
Wenn du dich mit schwerer Somnophilie, einvernehmlichem Nicht-Konsens, zweifelhaftem Konsens, Drogen, Brandmarken, Würgen, Sex auf einem sterbenden Körper, mit anderen Kinks wie dem Bruder-Schwester-Kink, Messerspielen, Primal Play, Spielen mit Blut, Schmerz, Schraubenzieher, Angst, Breeding, Analsex und dem Spiel mit Spinnen wohlfühlst, dann wartet Malachi Vize – mein neuer stummer Lieblingspsychopath – auf dich.
Olivia
Mommy hält meine Hand, während ich in meinen glitzernden pinkfarbenen Ballerinas auf und ab hüpfe. Es ist total laut im Flughafen. Viele Leute laufen herum, die meisten schleppen Koffer mit sich. Und alle wollen in das große Flugzeug einsteigen!
»Ist er schon da?«, frage ich mit einem breiten Grinsen, ziehe an Mommys Hand und hüpfe weiter.
»Noch nicht, Schatz«, antwortet sie und schaut zu meinem Daddy. Er ist wohl nicht so aufgeregt wie Mommy und ich, aber ich habe sie heute Morgen reden hören, und er freut sich genauso sehr, ihn endlich kennenzulernen.
Meinen neuen Bruder. Er ist ein Jahr älter als ich, und meine Eltern haben gesagt, dass er misshandelt wurde. Das Wort haben sie auch benutzt, als sie mich adoptiert haben.
Daddy legt eine Hand auf meinen Kopf, um mich vom Hüpfen abzuhalten. Es gefällt ihm nicht, wenn ich das mache. Normalerweise schlägt er mir dann auf den Po und schickt mich in mein Zimmer.
»Sei nicht so aufgedreht. Versprichst du uns, dein bestes Benehmen an den Tag zu legen, Engelchen?«
Ich nicke begeistert und hebe grinsend meinen kleinen Finger. »Versprochen.«
Er hakt seinen kleinen Finger nicht bei mir ein, also lasse ich die Hand wieder sinken und schmolle.
Aber dann quiekt meine Mommy und beugt sich zu mir. »Schatz, da ist er! Dein neuer Bruder. Erinnerst du dich noch, als Daddy und ich dich von diesem bösen Ort gerettet haben? Jetzt haben wir ihn auch gerettet!«
Ein Junge kommt uns mit einer Plastiktüte entgegen – wo ist denn sein Koffer? Er ist viel größer als ich, hat schwarze Haare und strahlend blaue Augen – genau wie meine Lieblingspuppe.
Die Dame, die seine Hand hält, verdreht die Augen und formt: »Viel Glück!«, mit ihren Lippen, während sie Mommy und Daddy einige Papiere überreicht. »Unterschreiben Sie hier. Auf der letzten Seite geht es noch um den Therapeuten – bitte bewahren Sie die Unterlagen auf und scannen sie ein, sobald Sie alles gelesen haben und damit einverstanden sind, dass er alle Sitzungen besucht.«
Daddy schnaubt. »Bist du dir hierbei ganz sicher? Hast du seinen Bericht überhaupt gelesen?«
Er schaut zu Mommy, die ihn mit verengten Augen ansieht.
»Ja, Jamieson. Du warst doch derjenige, der mich auf seinen Fall aufmerksam gemacht hat. Also setz jetzt mal ein Lächeln auf, sonst mache ich das hier alleine.«
Daddy lächelt.
Ich zupfe an dem Tüll des Prinzessinnenkleids, das ich angezogen habe, um ihn zu überraschen. Ich will, dass er genauso glücklich ist wie ich, aber er grinst nicht und klatscht auch nicht in die Hände. Er sieht … traurig aus. Mommy sagte, dass ich sie immer fröhlich mache, wenn ich mit ihr spreche, also trete ich vor.
»Hi!«, sage ich mit einem riesigen Grinsen. »Mein Name ist Olivia. Ich bin sieben!« Ich halte sieben Finger hoch. »Findest du, ich sehe aus wie eine Prinzessin?« Ich deute auf mein Kleid.
Der Junge starrt mich an und kommt einen Schritt näher, sodass ich zu ihm aufschauen muss. Er ist wie der Feuerwehrmann, der mich aus dem brennenden Haus geholt hat – ein großer, wandelnder Menschenturm!
Warum sagt er denn nicht Hallo? Gefällt ihm mein Kleid nicht?
Anstatt zu sprechen, neigt er den Kopf ein wenig – und sieht mich fest an.
Mein Lächeln verblasst. »Gefällt dir mein Kleid nicht?« Es ist pink und glitzert, damit es zu den Schleifen in meinem Haar passt. Mommy hat mich sogar etwas von dem fruchtigen Lipgloss auftragen lassen, der meine Lippen wie Sterne funkeln lässt.
Er macht etwas mit seinen Händen, die ich mit verengten Augen beobachte, bevor ich mich an Mommy wende. Sie unterhält sich noch mit der Dame, und mein Daddy ist gerade dabei, die Papiere zu unterschreiben. Als ich mich dem Jungen zuwende, macht er wieder diese Sache mit seinen Händen.
»War es gruselig im Flugzeug? Ich muss immer weinen, wenn es erst ganz schnell wird und dann in den Himmel steigt! Daddy will immer, dass wir fliegen. Er ist jetzt auch dein Daddy!«
Er starrt mich einfach nur an, dann hebt er die Hand zu seinem Nacken und spielt mit seinen schwarzen Locken.
Ich will mich meinen Eltern zuwenden und schnappe nach Luft, als der Junge mein Handgelenk greift und meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zieht. Er bewegt die Hände und ich blinzle ihn an.
Verwirrt neige ich den Kopf, genau wie er es vor einer Minute getan hat, wodurch mir die braunen Haare in die Augen fallen.
Er zeigt auf die Drehtüren und bietet mir seine Hand an. Mommy und Daddy reden immer noch mit der Dame, also lasse ich zu, dass er mich an die Hand nimmt, und gemeinsam rennen wir auf die Tür zu. Vielleicht will er Verstecken spielen? Ich bin wirklich gut im Finden und entdecke selbst immer großartige Verstecke. Ich kichere, während meine Ballerinas über den Boden klackern und meine Haare wie wild herumfliegen.
Als ich in dem anderen Haus war, haben die Mädchen und Jungen auch immer Spiele gespielt – die Jungs haben uns gejagt, und wenn wir erwischt wurden, mussten wir ins Gefängnis. Wir waren so viele. Ich hatte ganz viele Freunde! Aber dann haben Mommy und Daddy mich entdeckt und mich in ihr Zuhause gebracht.
Es ist so groß, und meine Mommy sagte, dass ich einen Hund zum Geburtstag bekommen könnte, wenn ich mich benehme. Das wird mein erster Geburtstag bei ihnen, und ich kann es kaum erwarten, mein allererstes Geschenk überhaupt zu bekommen.
»Wohin gehen wir?«, frage ich, als er mich weiter durch den Flughafen zieht und wir mit Leuten zusammenstoßen, die viel größer sind als wir. Meine Füße verheddern sich und ich quietsche, als ich nach vorn stolpere, aber der Junge fängt mich auf und zieht mich zurück auf die Beine.
Wir laufen weiter, und ich muss wieder laut lachen. Bei einer Tür bleibt der Junge stehen und schaut sich um, dann zieht er mich an seine Seite. Ich schnappe nach Luft und will zurückweichen, als ich sehe, dass wir in einer Toilette voller Jungs sind.
Er greift nach mir, damit ich ihn ansehe, und macht wieder diese Bewegungen mit den Händen, bevor er auf sich selbst zeigt. Als ich immer noch keine Ahnung habe, was er macht, zeigt er auf seinen Mund und schüttelt den Kopf – dann zeigt er auf meinen Mund und nickt.
»Du kannst nicht sprechen?«
Wieder schüttelt er den Kopf, und meine Augen werden groß. »Das ist okay. Ich konnte auch ganz, ganz lange nicht sprechen! Ich bringe es dir bei.«
Genervt verdreht er die Augen. Wie unhöflich!
Er zeigt auf mich, dann legt er seine Hand auf seine Brust, und in seinen Augen liegt etwas Gruseliges, als er näher auf mich zukommt; ich will zurück zu unseren Eltern. Aber bevor ich fragen kann, was er da macht, oder wirklich laut schreien kann, stößt Daddy die Tür auf und Mommy hebt mich in ihre Arme.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst brav sein!«, schreit Daddy mich an.
Ich schließe die Augen und warte darauf, dass er noch weiter schreit, doch das tut er nicht.
»Und du«, zischt er dem Jungen zu. »Das war dein erster Fehltritt, junger Mann. Noch zwei, und dein Arsch wandert direkt in das nächste neue Zuhause. Du bist jetzt Malachi Vize, und die Vizes tanzen nicht aus der Reihe, also gewöhn dich lieber daran.«
Meine Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. Ich bin auch eine Vize. Wir haben vor nichts Angst.
Außer vor Spinnen – die finde ich echt gruselig.
Der Junge lässt den Kopf hängen und seine Faust vor der Brust kreisen.
»Er sagt, dass es ihm leidtut, Schatz«, flüstert Mommy mir zu. »Er kommuniziert über Gebärdensprache.«
»Was ist das? Das will ich auch können!«
Sie kichert und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich bringe es dir bei. Wir werden es allen im Haus beibringen.«
»Auch dem Personal?«
Sie nickt und steckt eine Strähne hinter mein Ohr. »Ja. Wir sorgen dafür, dass die Köche, Dienstmädchen und das Sicherheitspersonal Gebärdensprache verstehen. Malachi soll sich bei uns zu Hause wohlfühlen. Er ist jetzt einer von uns.«
Meine neue Mommy ist nett. Sie schreit mich nie an oder macht mir Angst, so wie Daddy. Sie flechtet mir immer die Haare und bemalt meine Nägel mit Nagellack und singt mit mir, wenn wir Auto fahren.
Ich mag meine Mommy.
Im Auto sitzt Malachi neben mir und starrt mich die gesamte Fahrt über an. Er ist ein bisschen seltsam und macht mich auch ein bisschen nervös. Trotzdem lächle ich ihn an, aber er neigt nur den Kopf, als würde er mich studieren. Immer wieder schaut er auf meine Haare. Vielleicht gefallen ihm meine Schleifen?
Als wir mein Zimmer erreichen – das Zimmer, das wir uns jetzt teilen, weil Mommy denkt, es wäre der beste Weg, eine Bindung aufzubauen –, setzt er sich auf das Bett gegenüber von meinem und beobachtet mich, während ich ihm mein neues Puppenhaus zeige. Er lacht nicht, als ich einen Scherz mache oder meine Barbie mit ihm sprechen lasse, und als ich ihm eine von meinen Puppen gebe, damit er mit ihr spielen kann, zieht er ihr den Kopf ab. Meine Augen werden groß.
»Nein!«, rufe ich und entreiße sie ihm. »Das darfst du nicht machen, Malachi!«
Er zeigt auf mich, dann legt er die flache Hand an seine Brust.
»Was bedeutet das?«, frage ich, stecke der Puppe den Kopf wieder auf und verstecke sie im Holzhaus. »Kannst du mir das beibringen?«
Er schmunzelt nur, dann greift er nach einer Strähne von meinem Haar und reibt es zwischen den Fingern.
»Riech mal dran. Es duftet nach Erdbeeren!«
Er führt die Strähne an seine Nase und atmet mit geschlossenen Augen tief ein. Dann zieht er mich plötzlich in eine Umarmung, und ich erstarre. Es ist eine feste Umarmung. Er hält meinen Hinterkopf, drückt mich an seine Brust und schnuppert weiter an meinem Haar. Ich kichere, als er mit seinen Fingern hindurch fährt.
Dann löst er sich von mir und macht wieder etwas mit seinen Händen. Ich schnappe mir ein Blatt Papier und reiche ihm eine Packung Buntstifte. »Kannst du schreiben? Wenn nicht, kann ich dir das auch beibringen.«
Ich sehe zu, wie er sich einen schwarzen Stift nimmt und ein Wort aufschreibt, das gar keinen Sinn ergibt.
Meins.
»Und wenn du diese beiden Tasten zusammen drückst, dann kommt das dabei raus.« Das Klavier erklingt, während meine Lehrerin mir beibringt, wie man »Happy Birthday« spielt. Sie unterrichtet mich seit zwei Wochen, und ich habe sie gebeten, mir dieses Lied beizubringen, damit ich es Malachi vorspielen kann.
Er ist heute zwölf geworden, aber er will keine Party und keinen Familienausflug. Wenn überhaupt, dann wirkt er eher traurig. Nach meinen Umarmungen fühlt er sich für gewöhnlich besser, oder wenn ich neben ihm im Bett liege und wir zusammen Filme anschauen, aber als ich ihm das vorhin vorgeschlagen habe, hat er Nein gesagt.
Na ja, er hat »Nein« gebärdet, weil er immer noch nicht spricht. Mom sagte, dass seine Stummheit selektiv sei – er hat sich dazu entschlossen, nicht mehr zu sprechen, und hat das seit seinem fünften Lebensjahr auch nicht mehr getan. Ich bin mir nicht sicher, warum; mein Dad meinte, er würde es mir erklären, wenn ich älter bin. Manchmal, wenn wir im Bett oder in dem Zelt liegen, das wir im Wohnzimmer aufbauen, versuche ich, ihm ein Wort zu entlocken oder ihn auszutricksen, damit er redet, doch das macht ihn nur wütend – wenn ich das mache, ignoriert er mich tagelang. Meine Freunde finden ihn komisch, weil er nicht spricht oder lacht, wenn er sich mit mir unterhält, aber ich sage ihnen, dass sie den Mund halten sollen.
Wir teilen uns immer noch ein Zimmer. Mom wollte, dass er in sein eigenes zieht, aber er hat sie angefleht, bleiben zu dürfen. Er fürchtet sich vor der Dunkelheit, und manchmal schläft er neben mir ein. Ich glaube, Dad gefällt das nicht besonders. Neulich hatte Malachi sogar ein blaues Auge, als er aus seinem Büro kam.
Als Malachi hereinkommt, schaue ich von dem Klavier auf. Er trägt einen schwarzen Hoodie und hat die Kapuze aufgesetzt, die beinahe all seine schwarzen Locken verdeckt. Er setzt sich auf das Sofa vor dem Klavier und sieht mir zu, bis ich meinen Unterricht beendet habe.
Dann steht meine Lehrerin auf, um mit Mom zu sprechen, irgendwas mit einer Terminverschiebung, und sie fangen an zu diskutieren. Ich höre sie über Malachis Geburtstag reden, und dass mein Dad nicht hier sein wird, weil er absichtlich länger arbeitet.
Malachi kommt und setzt sich neben mir auf den Hocker. Dann gebärdet er: Bringst du es mir bei?
Er beobachtet meine Finger, während ich ihm vorspiele, was ich gerade gelernt habe, und seine Augen erhellen sich, als er das Lied erkennt. Grinsend zucke ich mit den Schultern. »Happy Birthday«, sage ich leise. »Das sollte eine Überraschung werden.«
Er gebärdet: Danke, dann deutet er wieder auf das Klavier. Spiel.
Diesmal vermassle ich es, und er lacht lautlos über mich, bis ich schnaube und beleidigt meine Arme verschränke – dann drückt er die Tasten vor sich, die höheren Töne, und ich habe Mühe, nicht über seine schrecklichen Spielkünste zu kichern.
»Gefällt dir mein Geschenk? Mom hat mir geholfen, es auszusuchen.«
Er nickt, dann gibt er mir einen Kuss auf die Wange und gebärdet: Danke.
Ich drehe meinen Kopf und deute auf die andere Wange. Er küsst auch sie, dann zeige ich auf meine Stirn, und auch die küsst er. Als ich auf meine Nase zeige, küsst er mich plötzlich auf die Lippen, und ich erstarre.
Ich weiche zurück und schaue ihn mit großen Augen an. »Mom hat gesagt, dass ich mich nicht von Jungs küssen lassen darf! Du bist ein Junge!«
Ich bin dein Bruder, deshalb darf ich das.
»Wirklich?«
Er nickt, seine Augen funkeln. Er betrachtet mich noch eine Weile, bevor er sich umdreht und wieder auf dem Klavier herumklimpert.
Ich werfe einen Blick über die Schulter und entdecke Mom im Türrahmen. Sie sieht besorgt aus und hält Malachis Geburtstagskuchen in den Händen – die Kerzen darauf tropfen bereits.
Später in der Nacht kommt Dad nach Hause und zerrt Malachi aus dem Bett. Als ich fragen will, was los ist, schreit er mich an, dass ich weiterschlafen soll.
Als Malachi Stunden später zurück in unser Zimmer kommt, zittert er sichtbar und gestikuliert eine Entschuldigung. Ich umarme ihn, bis er wieder einschläft.
Ich bürste mir vor dem Spiegel die Haare, binde sie zu einem Pferdeschwanz zurück, damit sie mir nicht ins Gesicht fallen, und trage etwas Mascara auf, bevor ich nach meinem Lieblingslipgloss suche. Wenn ich mich nicht beeile, komme ich zu spät zum Cheerleader-Training, und als ihr Captain muss ich verantwortungsbewusst und mindestens zwanzig Minuten vor allen anderen da sein.
Mein Schminktisch wackelt, als ich die kleine Schublade zuschlage und dann ein tiefes, genervtes Seufzen ausstoße. »Wo bist du nur?«, murmle ich und sehe noch einmal in meiner Schminktasche nach. Ich ziehe die Schultasche über den Boden und lasse den Blick durch mein Zimmer schweifen. Als ich mich gerade hinunterbeuge, um in meiner Schultasche nachzusehen, klopft es an der Tür. Malachi steht im Türrahmen, in seiner Hand hält er meinen Lipgloss.
»Warum hast du den?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Dann wird meine Miene weicher. »Hab ich ihn wieder in der Küche liegen lassen?«
Er nickt, tritt leise ein und schließt die Tür hinter sich. Dann wirft er mir meinen Lipgloss zu und nimmt seine Cap ab, bevor er sie falsch herum wieder aufsetzt, um sein lockiges Haar zu zähmen.
Im Laufe des letzten Jahres hat Malachi sich von einem Jungen in einen jungen Mann verwandelt. Obwohl er erst siebzehn ist, sieht er schon aus wie zwanzig mit seinem markanten Kinn, den langen Wimpern und den strahlenden, diamantähnlichen blauen Augen. Langsam bekommt er Muskeln, die sogar unter seiner Kleidung zu sehen sind, und er geht gerne joggen. Einmal hat er mir erzählt, es würde ihm helfen, den Kopf freizubekommen.
Manchmal gehen wir auch zusammen laufen. Wir hören immer dieselbe Musik – für gewöhnlich Taylor Swift, wenn ich aussuche, oder Bad Omens, wenn er es tut –, dann sitzen wir am See und beobachten den Sonnenaufgang, bevor wir zurück nach Hause gehen und uns für die Schule vorbereiten.
Alle meine Freundinnen wollen ihn küssen. Er ist der ruhige, mysteriöse Malachi Vize, von dem jede ein Stückchen abbekommen will. Das macht mich ganz krank – besonders, wenn sie sich in unserem Gruppenchat detailliert über Dinge unterhalten, die ich lieber nicht lesen würde. Er ist nicht beliebt. Er ist der »stumme Freak«, trotzdem tuscheln sie hinter seinem Rücken, weil sie zu viel Angst haben, ihm irgendwas ins Gesicht zu sagen.
Malachi lehnt sich zu mir und schnuppert wie immer an meinem Haar, dann setzt er sich auf mein Bett und gebärdet: Wohin gehst du?
»Abigail veranstaltet eine Pyjama-Party. Dad hat mir erlaubt, hinzugehen.«
Seine Augen verdunkeln sich ein wenig und sein Kiefer verspannt sich.
Das macht er oft.
»Ziehst du auch noch los?«, frage ich ihn, und er schüttelt den Kopf.
Mit Losziehen meine ich, mit dem Motorrad fahren, das Mom ihm zu seinem siebzehnten Geburtstag gekauft hat. Er fährt damit wie ein Irrer, und er glaubt, unsere Eltern wüssten nicht, dass er raucht, aber wir alle riechen den Rauch, der ständig aus seinem Zimmer auf der anderen Seite der Vize-Villa kommt.
Mom hat ihn in sein eigenes Zimmer ziehen lassen, nachdem er mich vor ihren Augen auf die Lippen geküsst hat. Es war ein ganz unschuldiger Kuss. Wir hatten gerade ein Brettspiel gewonnen und gefeiert. Offenbar jedoch auf die falsche Art und Weise.
Mit anzusehen, wie sie seine Seite des Zimmers leerräumten, war der schlimmste Tag meines Lebens – und wahrscheinlich auch seiner. Ich habe mich nie einsam gefühlt, seit Mom und Dad mich adoptiert haben; Malachi war ja immer hier und leistete mir Gesellschaft, besonders in stürmischen Nächten.
Jetzt sind meine Albträume zurückgekehrt, und manchmal, wenn ich deswegen kaum noch Luft bekomme, schleiche ich mich in sein Zimmer. Er weist mich nie ab – er vermisst es auch, sich das Zimmer mit mir zu teilen.
Wir hatten unsere Betten näher zusammengeschoben und Händchen gehalten, und manchmal saß er auch auf meiner Bettkante, bis ich einschlief. Er ist so ein fürsorglicher Bruder. Stellt immer sicher, dass es mir gut geht. Auch Jahre später noch hasse ich es, dass sein Zimmer auf der anderen Seite des Hauses ist.
Bleib, gebärdet er. Schau einen Film mit mir.
»Ich habe schon zugesagt. Wir können uns morgen Abend einen Film anschauen«, sage ich, trage den Lipgloss auf und mache einen Kussmund vor dem Spiegel an meinem Schminktisch. Dann schmolle ich ihn im Spiegelbild an. »Oh, wird mein großer Bruder mich etwa vermissen?«
Er steht von meinem Bett auf und ich schnappe nach Luft, als er in mein Haar greift und meinen Kopf zurückzieht. Dann legt er seine andere Hand auf meine Wange und streicht mit dem Daumen über den klebrigen Gloss auf meinem Mund.
Mein Bruder zieht meine Unterlippe runter und beobachtet, wie sie wieder nach oben schnellt. Er sieht aus wie … hypnotisiert?
Und aus irgendeinem Grund stecke ich ebenfalls in einer Trance fest, als er um mein Kinn greift und so fest an meinem Haar zieht, dass ich keuchen muss. Doch ich wehre mich nicht gegen ihn oder sage, dass er aufhören soll. Ein Teil von mir will sogar, dass er fester zieht – will, dass er … keine Ahnung, was.
Was passiert hier gerade?
Er lässt von mir ab und weicht zurück, seine Brust hebt und senkt sich, als hätte er Mühe, sich zu beherrschen. Malachi starrt auf seinen Daumen, auf dem mein Lipgloss schimmert, dann auf meine zerzausten Haare.
Mein Atem geht schwer, als ich mir über den Mund wische. Mein Herz rast, während ich versuche, meine Gefühle zu verstehen. Und warum ich so rot geworden bin.
Malachi rollt meinen Stuhl zurück vor den Schminktisch, wo er meine Bürste nimmt, meinen Haargummi löst und dann meine Haare bürstet, als wäre nichts passiert.
Drei Tage später schnippelt Mom gerade Gemüse, als ich die Küche betrete. Im Radio läuft leise Musik, zu der sie mitsummt. Dad ist bei der Arbeit, wie immer. Wenn er nicht bis zum Hals in Papierkram steckt, hat er eine Telefonkonferenz oder ist vor Gericht, um irgendeinen Verrückten zu vertreten, der keine lebenslängliche Strafe dafür bekommen will, sechs Menschen in einer Nacht ermordet zu haben.
Die Vizes sind berühmt für ihre Fälle, die für gewöhnlich die Nachrichten und Social-Media-Plattformen auf der ganzen Welt beherrschen. Dad ist Strafverteidiger und meine Mom ist Richterin. Doch seit sie Malachi und mich adoptiert hat, arbeitet sie weniger und malt viel in ihrem Atelier, während wir in der Schule sind.
Ich erinnere mich nicht an viel aus meinem Leben, bevor ich hierhergekommen bin, aber ich weiß noch, wie sich mein Körper angefühlt hat, wenn ich tagelang nichts zu essen bekommen habe; wenn meine drogenabhängige Mutter zuließ, dass Männer im Haus ein und aus gingen; wie mein kleiner Bruder als Baby ewig lange geschrien hat. Er lag tagelang in seinem Bettchen, bevor das Jugendamt hereingeplatzt kam und uns entdeckte. Da hielt ich noch seinen bereits verwesenden Körper in den Armen.
Während ich mich immer und immer wieder dafür entschuldigt habe, ihn nicht gerettet zu haben, wurde ich in die Notaufnahme gebracht, und eine Woche später stellten sich mir die Vizes vor und sagten, dass sie sicherstellen würden, dass ich nie wieder hungern müsste.
Sie haben ihr Wort gehalten.
Obwohl mein Dad mir Angst macht, liebe ich ihn. Zu Malachi ist er grob und er flucht wie ein Seemann, aber er bemüht sich, ruhiger zu werden. Er trinkt keinen Alkohol mehr und ist sowieso ständig beschäftigt. Ich kann nicht behaupten, dass er Malachi genauso behandelt wie mich. Der einzige Grund, weshalb mein Bruder immer noch unter diesem Dach wohnt, ist, weil Mom und ich ihn lieben und er Teil unserer Familie ist.
Besagter Bruder betritt gerade hinter mir die Küche. Seine Schulter streift meine, dann wuschelt er sich durchs Haar, wirft einen Blick in den Kühlschrank und nimmt den Orangensaft heraus. Sein Blick huscht erst zu Mom, dann zu mir, und in seinen Augen funkelt etwas.
Neulich Nacht war ich bei meiner Freundin; ich hatte mich rausgeschlichen, als alle geschlafen haben. Doch anstatt durch mein eigenes Fenster zu klettern, bin ich durch das von Malachis Zimmer geklettert.
Aber das ist unter Geschwistern ganz normal, richtig?
»Ich glaube, ich hasse dich.«
Malachi sieht beleidigt aus, als er den Laden verlässt, in dem er soeben seine Arachnide gekauft hat. Er drückt die Schachtel mit den Löchern fest an seine Brust, während ich mein Auto aufschließe. Als er die Pappschachtel auf den Rücksitz stellt, verziehe ich das Gesicht.
Sie wackelt leicht, und ich schüttle den Kopf. »Nein, ich glaube es nicht mehr. Ich hasse dich wirklich. Wenn du sie wieder zurückbringst, werde ich dir deinen Status als großer Bruder vielleicht doch nicht entziehen.«
Sei nicht so ängstlich.
»Nein. Fick dich. Wieso musstest du ausgerechnet eine Vogelspinne kaufen? Es gab so viele niedliche Tiere da drin. Als du gesagt hast, dass du ein Haustier haben willst, dachte ich an ein Kätzchen oder einen verdammten Hund!«
Mein Bruder schaut mich aus verengten Augen an, also verdrehe ich meine und lasse den Motor an, um uns nach Hause zu fahren. Unsere Eltern werden noch unterwegs sein – sie haben irgendein Meeting wegen eines neuen Pflegekindes, das möglicherweise bald auch hier leben könnte.
Ich hoffe, es ist nicht noch ein Bruder. Ich liebe Malachi, aber manchmal kann er ganz schön anstrengend sein, besonders mit seiner besitzergreifenden Art. Sie offenbarte sich zum ersten Mal, als ich gerade sechzehn geworden war und zu Pyjamapartys, Mädelstagen oder auch nur ins Gym ging. Jedes einzelne Mal bombardierte er mein Handy mit Nachrichten, da er natürlich nicht einfach anrufen kann, weil er immer noch nicht spricht.
Einmal, als Abbi und ich uns bei ihr zu Hause betrunken haben, habe ich ihn angerufen, in den Hörer gelallt und ihm meinen Standort geschickt, bevor ich mein Handy verloren habe, und er hat mich stundenlang auf seinem Motorrad gesucht.
Als er gezwungen war, aufzugeben und nach Hause zu fahren, fand er mich schlafend in seinem Bett vor. Am nächsten Morgen wachte ich mit dem Kopf auf seiner Brust auf – unsere Glieder waren schrecklich verknotet –, und das Teufelchen auf meiner Schulter flüsterte mir zu, dass ich noch bleiben sollte. Doch ich wusste, dass es falsch war, daher schlich ich mich schnell raus und ging in mein Zimmer.
Noch so einen im Haus zu haben, würde mich irre machen. Ich liebe ihn, wirklich, aber manchmal habe ich seltsame Gedanken, was ihn betrifft. Wenn meine Finger zwischen meine Oberschenkel gleiten oder wenn ich jemand anderen küsse … Es ist peinlich, wie oft ich sein Gesicht in Gedanken vor mir sehe, wenn ich einen Orgasmus habe.
Dann muss ich mich zum Frühstück oder Mittagessen oder Abendessen mit ihm und unseren Eltern an einen Tisch setzen und so tun, als hätte ich es mir nicht gerade mit den Gedanken an meinen Bruder selbst besorgt.
»Ich muss noch tanken«, sage ich, als ich bemerke, dass der Treibstoff ausgeht. Bei der nächsten Tankstelle biege ich ab, werfe einen Blick über meine Schulter auf die Schachtel und frage mich, ob er es bemerken würde, wenn ich sie aus Versehen auf dem Dach eines anderen Autos zurücklasse.
Bei Spinnen bekomme ich Gänsehaut. Kleine, die über den Fußboden laufen, von der Decke hängen oder einem über das Gesicht kriechen, während man schläft, sind schon schlimm genug, aber das haarige Ding in dieser Box ist nicht einfach nur eine kleine Spinne – sie ist riesig, rot und schwarz und haarig, und sieht aus, als könnte sie mich fressen.
Regen prasselt auf den Boden und bildet Pfützen, während ich mit dem Tankdeckel kämpfe – irgendwann dreht Malachi ihn für mich auf und setzt sich auf die Motorhaube. Mit verschränkten Armen starrt er mich an, und ich verenge die Augen. »Was?«
Du trägst keinen Lipgloss.
Ich reibe meine Lippen aneinander – ich trage den roten Lippenstift, den ich mir vor ein paar Tagen gekauft habe. »Der hier gefällt mir besser.«
Finde ich nicht. Du siehst aus wie eine Nutte.
Ich schlage ihm auf den Arm und er lacht stumm.
»Mom will, dass ich mir einen festen Freund suche, weil ich offenbar einen Mann brauche, der auf mich aufpasst.« Ich verdrehe die Augen. »Sie will mich unbedingt mit diesem Freak Parker verkuppeln.«
Malachis Augen verfinstern sich, sein Kiefer zuckt. Du bist erst achtzehn.
Ich lache. »Sag ihr das!« Ich drehe den Tankdeckel wieder zu und tätschele seine Schulter. »Du solltest dich glücklich schätzen, dass Dad Männer für stark genug hält, sonst würdest du auch noch gezwungen werden, jung zu heiraten.«
Bevor ich mich von ihm zurückziehen kann, schnappt er sich mein Handgelenk, lässt es jedoch wieder los, um zu gebärden. Nein, du wirst nicht heiraten.
Ich seufze. »Ich würde dir raten, dich diesbezüglich nicht mit unseren Eltern anzulegen. Nach ihren Traditionen muss ich rein und unschuldig bleiben, bis ich verheiratet bin, während du tun kannst, was du willst. Genieß einfach deine Freiheit.«
Bevor er antworten kann – dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, ist er stinksauer –, wende ich mich ab, verweigere ihm damit die Kommunikation, und gehe hinein, um zu bezahlen und ein paar Snacks zu holen.
Während ich in der Schlange warte, lässt mich ein Tippen auf meiner Schulter zusammenzucken und herumwirbeln, wobei mir die Chipstüten auf den Boden fallen. Wir beide gehen in die Hocke, um sie aufzuheben, und meine Hände landen auf seinen. Ich hebe den Blick und entdecke Adam, der im Matheunterricht neben mir gesessen hat und mich jetzt anlächelt.
Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen. Er ist von der Schule gegangen und verschwunden, was eine Überraschung war, da er einer der besten Sportler war. Er war klug und – wenn ich das so sagen darf – ziemlich attraktiv.
Eine Stimme in meinem Kopf schreit mich an, dass ich mir einfach die Chips schnappen und verschwinden sollte, doch wir unterhalten uns fast zehn Minuten, während der Kassierer wartet und sich sogar einmischt, als wir darüber reden, wie schlecht das Wetter derzeit für einen Juni ist. Dann ertönt die Klingel über der Tür, und Malachi stürmt herein.
Seine Augen sind starr auf den Jungen gerichtet, mit dem ich mich gerade unterhalte, und er sieht wütend aus.
Nein. Er ist vollkommen außer sich. »Oh, tut mir leid. Ich habe mich nur noch kurz mit –«
Er rammt Adams Kopf mit so viel Kraft gegen die Wand, dass mir das laute Knacken einen Schauer über den Rücken jagt. Einmal, zweimal, dreimal. Das Blut spritzt, bis Adam schlaff auf den Boden fällt. Meine Augen weiten sich, kein Laut kommt mir über die Lippen, während der Kassierer losrennt, um die Polizei zu rufen.
Malachis Nasenflügel blähen sich, dann wendet er sich mir zu, greift um mein Kinn und gebärdet: Nein.
»Ich habe gar nichts gemacht«, hauche ich. »Warum … warum hast du das getan?« Mein Blick fällt auf den bewusstlosen Adam, Blut sickert aus einer Wunde an seinem Kopf, dann schaue ich wieder hoch. »Malachi …«
Er schüttelt den Kopf, senkt seinen brodelnden Blick auf Adam, der sich jetzt wieder regt und versucht, sich aufzurappeln. Dann schnappt er sich mein Handgelenk und zerrt mich aus der Tankstelle.
Er schubst mich ins Auto und schlägt die Tür zu. Wie erstarrt beobachte ich, wie er sich hinters Lenkrad setzt. Er gebärdet etwas, doch ich sehe es nicht. Mein Herz rast, als er ein Schnauben ausstößt und dann vom Gelände der Tankstelle fährt.
Er bringt uns nach Hause und ich sitze schweigend da, während mein Blick immer wieder zu seiner rechten Hand huscht, mit der er gerade Adam angegriffen hat. Zitternd umklammert er das Lenkrad, und als ich sehe, wie sehr die Adern an seinen Armen hervortreten, schnappe ich nach Luft und spüre plötzlich ein Gefühl zwischen meinen Beinen, das dort definitiv nicht sein sollte.
Es sollte mich nicht antörnen, zuzusehen, wie er jemanden angreift. Seine Gewalttätigkeit sollte bestraft werden. Ich sollte ihn für das, was er gerade getan hat, anschreien; stattdessen stelle ich mir vor, wie er mich festhält und mich …
»Warum hast du das getan?«, frage ich und bemühe mich, ruhig und gefasst zu klingen.
Doch ich versage. Warum klingt meine Stimme so kratzig und bedürftig?
Und warum ist mein Höschen total nass?
Krank. Einfach nur krank, krank, krank. Und beschämend.
Malachi ignoriert mich und fährt noch schneller.
»Er war ein Schulfreund. Er ist mir zufällig begegnet und wir haben uns nur unterhalten. Er war kein Arschloch oder so was.«
Halt den Mund, gebärdet er.
Mein Blick wird finster und ich verschränke die Arme. »Jetzt werden es die Cops auf dich abgesehen haben, und Dad wird stinksauer sein, und dann wird sich Mom mit ihm streiten. Setz mich einfach bei Abbi ab.«
Nein.
»Malachi. Bring mich zu Abbi, sonst schreie ich.«
Er schaut zu mir, tritt das Gaspedal durch und gebärdet: Dann schrei.
Kopfschüttelnd schaue ich aus dem Fenster. Er bringt mich nicht zu meiner Freundin, sondern fährt direkt nach Hause. Sobald er in der Garage anhält, stoße ich die Tür auf und renne in mein Zimmer.
Mom und Dad kommen etwa zur selben Zeit nach Hause, wie die Polizisten eintreffen und sie darüber informieren, dass Adam keine Anzeige erstatten möchte. Malachi wirkt die ganze Zeit über unbeeindruckt, während er mit gespreizten Beinen auf seinem Stuhl sitzt und irgendeinen Punkt an der Wand fixiert.
Er bekommt eine Verwarnung – er soll sein bestes Verhalten an den Tag legen und sich Hilfe suchen.
Moms Augen sind feucht und sie schaut immer wieder zu Malachi, als würde sie auf eine Erklärung hoffen, doch er fummelt nur an seinem Feuerzeug herum und ignoriert sie.
»Was zur Hölle stimmt denn nicht mit dir?«, brüllt Dad ihn an. »Du hast Glück, dass er uns keine Probleme macht, sonst würdest du unsere Familie jetzt dastehen lassen wie eine verfluchte Schande!«
Mom strafft ihre Schultern. »Adams Familie sagte, dass sie unter gewissen Bedingungen keine Strafanzeige stellen würden.«
»Was für Bedingungen?«, frage ich, und sie schenkt mir ein warmherziges Lächeln.
»Nur eine. Wir werden Olivia und Adam einander versprechen.«
Malachis Hand ballt sich zur Faust, und Dads Augen werden groß.
»Ich dachte, es gäbe bereits ein Arrangement mit Parker?«
Mom zuckt mit den Schultern. »Es ist immer gut, sich mehr als eine Option offenzuhalten, Jamieson.«
»Und wie viele Optionen planst du, unserer Tochter noch freizuhalten, Jennifer?«
Wenn sie sich so mit ihren Vornamen ansprechen, stehen sie für gewöhnlich kurz vor einer Explosion. Ich schlucke und lasse den Blick in meinen Schoß sinken. Scham durchflutet mich, während sie sich streiten.
Dann spüre ich einen leichten Tritt an meinem Schienbein, hebe den Blick und sehe, wie Malachi mich anstarrt. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, und während unsere Eltern sich streiten, gebärdet er: Ich bringe jeden um, der dich anrührt.
Ich glaube ihm.
Aber das hier ist seine Schuld.
Die Streiterei geht weiter, doch er kümmert sich nicht darum. Er zuckt nicht einmal zusammen, als Dad frustriert den Tisch umwirft. Mom schreit ihn an, und während die Dinge immer weiter eskalieren und sie einen Wettbewerb starten, wer von ihnen am lautesten schreien kann, deutet Malachi zur Tür und wir schlüpfen beide hinaus.
»Danke«, fauche ich und löse mich von seiner Hand, die auf meinem unteren Rücken liegt und mich in Richtung der großen Treppe geschoben hat. »Deinetwegen wird Mom mich jetzt zwingen, auch noch mit ihm auszugehen. Ich hoffe, du bist stolz auf dich, großer Bruder.« Damit wende ich mich von ihm ab und stürme in mein Zimmer.
»Bist du wach, mein Schatz?«
Ich stelle den Fernseher auf Pause und setze mich auf. »Ja. Komm rein.«
Meine Mom öffnet die Tür und schließt sie leise hinter sich, ihre Augen sind verquollen. Dad und sie haben einen regelrechten Krieg geführt, und offensichtlich hat sie bis vor Kurzem geweint.
»Geht es dir gut?«, frage ich. »Ihr habt euch stundenlang gestritten.«
»Dein Vater war nicht begeistert davon, dass du mit diesem Jungen ausgehen sollst. Aber es war die Bedingung von Adams Eltern, damit sie Malachi nicht anzeigen.«
Ich presse die Lippen zusammen. »Damit er nicht angezeigt wird, muss ich also mit jemandem ausgehen. Das ist Erpressung, und ehrlich gesagt widert es mich an, dass du dem zugestimmt hast.«
»Wenn du es nicht tust, wird Malachi große Probleme bekommen.«
Als ich sie nur finster anstarre, fügt sie hinzu: »Weißt du, warum dein Bruder das heute getan hat?«
Ich schüttle den Kopf und antworte: »Nein. Ich habe mich nur mit Adam unterhalten. Er wollte mir nicht verraten, warum er es getan hat.«
Sie seufzt und setzt sich auf meine Bettkante, wo sie sich mit beiden Händen durch die Haare fährt – Dads Haare sind inzwischen weißer als weiß, aber ihre blonden Strähnen sind noch dicht und ohne einen Hauch von Grau.
»Er redet nicht mit uns. Das macht er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr – nicht mal, als ich ihn angefleht habe, mit mir zu kommunizieren. Er starrt einfach durch mich hindurch. Aber mit dir redet er.«
Ich hebe die Schultern. »Ja. So nahe stehen wir uns.«
»Vergib mir die Frage, aber du musst mir die Wahrheit sagen, Schatz. Hat er dich jemals … verletzt?«
Meine Augen weiten sich und ich richte mich noch weiter auf. »Was? Nein! Warum sollte er das tun?«
»Malachi ist nicht wie wir, Olivia. Ich bin mir nicht sicher, warum wir dachten, wir könnten mit jemandem wie ihm umgehen. Er hat so viele Probleme und … Ich weiß auch nicht. Seine kontrollierenden und besitzergreifenden Tendenzen dir gegenüber sind gefährlich. Sogar wenn dein Vater dir einen Kuss auf die Stirn gibt, funkelt Malachi ihn an, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden. Er weigert sich, mit einem Therapeuten zu sprechen und rührt keine Medikamente an, und ich befürchte, dass er eigentlich beides wirklich braucht.«
»Warum sollte er das brauchen?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe, dann presst sie die Lippen zusammen. »Malachi hat viele … Probleme. Neben den Traumata, die er erlitten hat und die seinen Mutismus ausgelöst haben, bevor er zu uns kam, ist er psychisch nicht gesund. Hast du schon mal von APS gehört?«
»Klar, aber Malachi ist doch kein Psychopath oder so was. Er ist nur stumm und hat Temperament.«
