Inside Abacus und die verrückte Geschichte der Schweizer IT-Branche - Christoph Hugenschmidt - E-Book

Inside Abacus und die verrückte Geschichte der Schweizer IT-Branche E-Book

Christoph Hugenschmidt

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Beschreibung

Die drei HSG-Absolventen Claudio Hintermann, Eliano Ramelli und Thomas Köberl hatten keinen Plan, als sie 1985 die Software-Firma Abacus gründeten – ausser, dass sie nicht angestellt sein wollten. Sie und der später dazugestossene Daniel Senn zuckten mit den Schultern, als man sie im New-Economy-Hype zu Millionären machen wollte und legten sich immer wieder mit Behörden oder grossen Konzernen an. Ihr Fokus lag auf den Mitarbeitenden und auf gutem Essen, gutem Wein, tollen Partys und Kultur. Und darauf, die beste Software zu programmieren. In der zweiten Hälfte der 1980er- Jahre gab es in der Schweiz zahlreiche Firmen, die betriebswirtschaftliche Software entwickelten. Viele gingen unter. Auch multinationale Unternehmen wie Microsoft und SAP kündigten an, den Schweizer KMU-Markt zu erobern – und scheiterten.

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Inside Abacus und die verrückteGeschichte der Schweizer IT-Branche

Christoph Hugenschmidt

Inhalt

Prolog

Gier und Grössenwahn

«Eine Packung Fischstäbchen kostete 2.80»

Freitags Bier

Hilfe! Die Multis kommen!

Sackgassen, Irr- und Umwege

Geier, Gemeinden, Goldgruben … und der Neubau der Software

È un gruppo di pazzi

Das Prinzip Blätterteig – Eine Reportage von Lukas Tobler

«Jetzt sind sie zu weit gegangen»

Die neue Abacus

Epilog – Das Abacus-Geheimnis

Anhang

Prolog

26. August 2022: Die Parkplätze rings um den Abacus-Platz 1 in Wittenbach bei St. Gallen sind mit riesigen Autos vollgestopft und im Festzelt herrscht Gedränge. Pünktlich zum Start der Willkommensrede von Claudio Hintermann, Mitgründer und CEO von Abacus, beginnt Platzregen aufs Festzelt zu trommeln. Man hat keine Lust auf eine Rede, hinten beginnen die Gäste zu plaudern und versuchen, Regen und Rede zu übertönen. Hintermann bittet seinen Jugendfreund Eliano Ramelli auf die Bühne, spricht über antiautoritäre Erziehung und dass er eigentlich Lehrer hätte werden wollen, Ramelli ihn aber davon abgehalten habe. Ramelli ist der erste, der mit einem «Abacus Quiet Game Changer Award» inklusive einer Flasche eines seltenen Tequilas ausgezeichnet wird.

Die St. Galler Software-Firma steht im Sommer 2022 mitten in einem radikalen Umbruch. Die «neue Abacus» wird gebaut, Ramelli und Mitgründer Thomas Köberl ziehen sich in den Verwaltungsrat zurück, und man arbeitet daran, das Management neu aufzustellen. Hintermann hält mitten im Lärm des Regens und der schwatzhaften Gäste eine offene und persönliche Rede. Er spricht davon, wie Ramelli den ersten Partner (den Software-Unternehmer Beat Bussmann) an Land holte und dass die Geschäftsleitung von Abacus ohne Christian Huber, den Ramelli als Consigliere beizog, wohl schon lange auseinandergefallen wäre. Der nächste, der mit einer Flasche Tequila beschenkt wird, ist Abacus-Mitgründer Thomas Köberl («Für ihn ist Marketing Wahrheit»).

Mir scheint, als wolle Hintermann der künftigen Abacus-Generation ins Gewissen reden: «Wir sind nicht erfolgreicher, wenn wir mehr Gewinn erwirtschaften, wir sind erfolgreicher, wenn wir damit etwas Neues erschaffen, das Nutzen bringt und Befriedigung für die, die es tun.» Er spricht davon, dass Abacus zu lange ruhige und bescheidene, aber sehr wertvolle Mitarbeitende ignoriert habe und verleiht deshalb – vom Hintergrundlärm mehr und mehr genervt – weitere «Quiet Game Changer Awards»: an Roland Kosovsky («schaut Programmierprobleme aus einem ganz anderen Winkel an»), Peter Spaar («weil auch du Abacus in mehrere Richtungen katapultiert hast»), Minas Manthos («der gesamtheitlich denkende Grieche, der Abacus auf eine ganz neue grossartige Reise bringt») und an Remo Inverardi («Meinen Fehltritt mit dem Kauf von SwissSign hast du zusammen mit Philipp Hug bravourös unter Kontrolle gebracht …»).

Nach der Rede mache ich mich im strömenden Regen auf die Suche nach etwas Essbarem und lande in einem Raum, in dem die Bands und Speaker verpflegt werden. Ich setze mich zu Daniel Senn (damals noch Entwicklungsleiter, heute Verwaltungsratspräsident) und Claudio Hintermann (heute Co-CEO). Es gibt St. Galler Bratwurst. Worüber sprechen die beiden? Über das ärgerliche Verhalten des Publikums? Über die Gäste und darüber, ob die wichtigen Leute gekommen sind? Über die Kosten für die Party? Über die Reorganisation der Firma? Nichts von all dem: Sie diskutieren darüber, welcher Metzger die beste St. Galler Wurst herstelle und ob Martin Benninger, Spitzenkoch im «Segreto» am Hauptsitz von Abacus, sie auch am richtigen Ort bestellt habe.

Dieses Buch handelt von der Software-Branche und von Abacus. Einer Firma, in der den Chefs die Qualität der Wurst wichtiger ist als ihr Ego und in der Wachstum und Geld nicht das Ziel sind. Und die deshalb gross und reich geworden ist.

Gier und Grössenwahn

Wie einige Personen in der Schweiz um die Jahrtausendwende mit Software sehr schnell sehr reich wurden und andere viel Geld verloren.

Am 25. November 1999 wurden die Aktien der Langenthaler Software-Firma Miracle1 zum ersten Mal am Börsenhandelsplatz SWX New Market gehandelt. Der Aktienkurs des kleinen Unternehmens entwickelte sich in den ersten zwei Tagen fulminant, alle wollten Miracle-Anteile kaufen: Der Preis des Wertpapiers stieg von 250 auf 429 Franken. Die Firma mit gerade einmal 180 Mitarbeitenden war Ende Woche 430 Millionen Franken wert – das war mehr als das Zehnfache des für 1999 geschätzten Umsatzes. Die Grossaktionäre waren auf einen Schlag reich geworden und sollten in den nächsten Monaten noch reicher werden. Fast die Hälfte der überhaupt handelbaren Miracle-Aktien wechselte in nur zwei Tagen den Besitzer. In der Wirtschaftszeitung Finanz und Wirtschaft (FuW) wurde nicht über Risiken oder die ziemlich fantastischen Umsatzprognosen der Firma geschrieben: Nein, das Blatt beklagte sich, dass Private bei der Zuteilung der neuen Aktien leer ausgegangen seien, da sich institutionelle Anleger (wie etwa Pensionskassen und Aktienfonds) den Löwenanteil gesichert hätten.

Miracle-Geschäftsführer und -Grossaktionär Peter Schüpbach2 legte im Kursfeuerwerk Pulver nach. Er sei erstaunt, über welches Fachwissen insbesondere Fondsverwalter in Frankfurt und London verfügten, sagte er der FuW. Übersetzt lautete die Botschaft: Beeilt euch beim Kauf unserer Aktien, sonst schnappen euch die kompetenten Investoren aus Frankfurt und London die besten Häppchen am Buffet der Börsenparty weg! Wer seinen Vermögensverwalter damals Miracle-Aktien ins Depot legen liess, erlebte eine wundersame Geldvermehrung.

Nicht nur Miracle sorgte für ein Börsenwunder. Auch die Wertpapiere einer Firma namens Fantastic machten die Inhaber reich. Fantastic, 1996 in Zug gegründet, entwickelte Software für die Verbreitung von Medieninhalten über damals noch eher exotische Breitbandnetze. Im September 1999 wurde Fantastic von der US-Grossbank Goldman Sachs an den «Neuen Markt» in Frankfurt gebracht. Der Aktienkurs des kleinen, eigentlich verlustreichen Unternehmens ging durch die Decke. Schon im November 1999 hatte Fantastic einen theoretischen Wert von 2,6 Milliarden Franken, im Februar 2000 waren es bereits 6,3 Milliarden. Firmengründer Peter Ohnemus3 war über Nacht zum Milliardär geworden. Im März 2000 war Fantastic an der Börse mehr wert als die Swissair und die Ems-Chemie zusammen. Finn Canonica, damals Journalist bei der Tages-Anzeiger-Beilage Magazin, beschrieb in einer grossen Reportage die Fantastic-Leute als «zukünftige Digerati» und «Internetadlige», welche «die Terminologie beherrschten».

Während Miracle wenigstens real existierenden Software-Code und eine lange Geschichte als Business-Software-Hersteller vorzuweisen hatte, war das Angebot von Fantastic dürftiger. «Es war ein aufgebohrtes FTP» schrieb mir ein ehemaliger Mitarbeiter im Frühling 2022 salopp. FTP (File Transfer Protocol) steht für ein in den 1980er-Jahren entwickeltes weitverbreitetes Protokoll für die Übertragung von Dateien via Internet.

Noch weniger hatte ein Start-up namens Think Tools anzubieten. Die Zürcher Firma, hinter der der Münchner Philosoph Albrecht A. C. von Müller4 steckte, hatte nach eigenen Angaben «ein PC-basiertes Set von Methoden und Instrumenten entwickelt, welches politische, wirtschaftliche und andere Entscheidungsträger bei der Bewältigung von komplexen Fragestellungen unterstützen» sollte, schrieb die FuW blumig. Von Müller stellte sein «Problemanalyse- und Entscheidungshilfeprogramm» (Zitat aus dem Wirtschaftsmagazin Bilanz) 1997 am World Economic Forum (WEF) in Davos vor. Er gewann unter anderem WEF-Gründer Klaus Schwab als Investor und Kunden sowie Alt-Bundesrat Flavio Cotti als Verwaltungsrat. Think Tools wurde in der Wirtschaftspresse als Allheilmittel für Manager angepriesen. Von Müller empfange «Topshots» im schicken Antibes, schrieb die Bilanz am 1. September 1999. Und dann: «Vor solcher Kulisse führt er die übers Wochenende eingeflogenen Konzernvorstände in lockerer Workshop-Atmosphäre an die Lösung strategischer Knacknüsse heran. In der Regel genügen schon zwei, drei intensive Sitzungen, um selbst hochkomplexe Fragestellungen mit verschiedenen, voneinander abhängigen Einflussgrössen zur Entscheidungsreife zu bringen.» Kein Wunder, war der Börsengang ein Erfolg. Zum Handelsstart am 24. März 2000 stieg der Kurs der Think-Tools-Aktien vom Ausgabepreis von 270 Franken auf 1050 Franken. Die Firma war damit theoretisch 2,5 Milliarden Franken wert, und der Philosoph von Müller wurde innerhalb eines Tages zum Milliardär und Medienstar. Im Juni 2000 bejubelte die Presse den nächsten Promi-User der Kleinstfirma. Der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder habe die Software auf seinen Rechner geladen, meldete das Nachrichtenmagazin Spiegel.

Ein Software-Winzling geht an die Börse

Selbst ein kleiner Player wie die Stanser Firma Winpeak mit gerade mal dreissig Mitarbeitenden und einer einfachen betriebswirtschaftlichen PC-Lösung namens WinOffice konnte den grossen Fischzug wagen. WinOffice spielte im Schweizer Markt für Business-Software zu diesem Zeitpunkt keine grosse Rolle. So wurde WinOffice in einer Umfrage von Demoscope 1998 zum Einsatz von betriebswirtschaftlichen Lösungen nicht unter den Top 6 aufgeführt. Im April 1999 holte man mit Daniel J. Schwarzenbach5 einen redegewandten und sehr selbstbewussten Chef, baute mithilfe der Zürcher Kantonalbank eine Holding-Struktur auf, gab sich einen neuen, nach Internet und E-Commerce riechenden Namen (Complet-e) und gestaltete schöne PowerPoint-Präsentationen. Den Journalistinnen und Journalisten an der Pressekonferenz zum bevorstehenden Börsengang im folgenden Oktober übergab man im teuren Sportrucksack einen dicken Ordner voller eindrücklicher Grafiken. Schwarzenbach verkündete, Complet-e könne nach dem Börsengang in drei Jahren den Umsatz von 2,5 Millionen auf 80 Millionen Franken steigern und bis dahin auch Geld verdienen. In ganz Europa gebe es 2,5 Millionen Kundinnen und Kunden, und man wolle die Nummer drei im europäischen Markt werden. Solche Projektionen waren völlig unrealistisch, denn gerade betriebswirtschaftliche Software unterscheidet sich von Land zu Land massiv, und der Aufwand, sie zu lokalisieren, ist gigantisch. Doch das fiel der anwesenden Wirtschaftspresse nicht weiter auf. Auch ich, seit wenigen Monaten als einziger Angestellter mit dem hochtrabenden Titel «Chefredaktor» der Zeitschrift IT Reseller, getraute mich nicht zu rufen: «Aber der Kaiser hat ja keine Kleider an». Das wohlwollende Interesse der erfahrenen Journalisten der grossen Medien und der Wirtschaftspresse sowie die teuer verpackten Präsentationen schüchterten mich ein. Wenigstens betitelte ich meine Story nicht mit «Ein programmierter Börsenerfolg», wie die Wirtschaftszeitung Cash, sondern vorsichtig-skeptisch: «Daniel Schwarzenbachs hochfliegende Pläne».

«The Internet changes everything»

Der kollektive Wahn des beginnenden Jahrtausends, als selbst honorige Schweizer Pensionskassenverwalter in Firmen investierten, die Miracle, Fantastic, Think Tools und Complet-e hiessen, war durch eine eigentlich richtige Einschätzung ausgelöst worden: Das aufstrebende Internet würde die Art und Weise, wie wir kommunizieren, Freunde finden, Waren und Dienstleistungen ver- und einkaufen, kurz: die Art und Weise, wie wir leben und wirtschaften, grundsätzlich verändern. So ist es auch gekommen – allerdings später und langsamer, als man im New-Economy-Hype fantasierte. Man glaubte damals, es gehe darum, möglichst schnell möglichst grosse Claims in goldreichen Gegenden respektive in Technologien, die mit dem Internet zu tun haben, abzustecken.6 Nur zu gern kaufte man Glücksrittern, Fantasten oder auch einfach Betrügern solche Claims respektive die Aktien von Firmen ab, die etwas mit dem Internet zu tun hatten. Die meisten sind unterdessen gescheitert, wenngleich einige hochprofitable Tech-Giganten wie Amazon, Google oder Tencent aus dieser Goldgräberzeit stammen.

Wer immer im New-Economy-Boom mitmachen wollte, musste sein Produkt oder seine Dienstleistungen mit dem Internet in Verbindung bringen. Jede Pressekonferenz internationaler IT-Firmen, an die ich damals eingeflogen wurde, begann mit der inbrünstig hervorgebrachten Erkenntnis des oder der CEO: «The Internet changes everything». Der Server-Hersteller Sun Microsystems gab sich den heute etwas irre anmutenden Slogan «We are the dot in Dotcom». Entsprechend lautete die Standardfrage der Journalistinnen und Journalisten der Wirtschaftspresse an Pressekonferenzen von Schweizer Software-Herstellern: «Und wann geht Ihr an die Börse?»

Banken, Berater und Beteiligungsfirmen gaben sich bis zum Platzen der New-Economy-Blase bei den Schweizer Software-Unternehmen buchstäblich die Klinke in die Hand. Schliesslich gab es bei Börsengängen und Firmenverkäufen viel zu verdienen, und wer als Bank von Internet-Fantasien profitieren wollte, konnte sich mit einem Börsengang am damals neu gegründeten und nur kurz existierenden SWX New Market profilieren.

Ab in den Papierkorb

Dass Abacus, schon damals mit Abstand die Nummer eins im Schweizer KMU-Software-Markt, noch heute existiert, hat viel damit zu tun, dass man sich in St. Gallen vom Internet-Hype nur wenig beeindrucken liess. «Claudio murmelte jeweils ‹schon wieder einer›, zeigte mir den Brief der Bank, des Beraters oder der Investment-Firma und schmiss ihn dann in den Papierkorb. Wir hätten Abacus jede Woche verkaufen können», sagte mir Daniel Senn, ehemaliger Entwicklungsleiter, heute Verwaltungsratspräsident und einer der vier Grossaktionäre von Abacus. Die vier Abacus-Besitzer, Claudio Hintermann, Daniel Senn, Eliano Ramelli und Thomas Köberl hielten nichts von einem Börsengang und hatten schon gar keine Lust, ihre Firma zu verkaufen.

Warum haben alle vier der Versuchung, schnell sehr reich zu werden, widerstanden? Oder die Lockrufe von Investoren ignoriert, die ihnen versprachen, mithilfe ihres Geldes international expandieren und andere Firmen aufkaufen zu können und so eine europäische Software-Grösse zu werden? Die vier Besitzer haben sich nicht nur gegen solche Angebote entschieden, sondern – wie sie und ihr ganzes Umfeld einhellig bestätigen – sich für solche Angebote nicht einmal interessiert. Die Briefe landeten im Papierkorb, Kontaktversuche wurden ignoriert.

«Es gab viele Anfragen und Angebote. Aber wir haben nie auch nur darüber diskutiert. Denn wir wussten, dass wir nach einem Börsengang nicht mehr so arbeiten konnten, wie wir es wollten. Auch wenn wir die Firma verkauft hätten, hätten wir nicht mehr tun können, was wir wollten. Und hätten deshalb gehen müssen. Was hätten wir dann machen sollen?» erzählte Eliano Ramelli. Bei Abacus habe man die Produkte von Miracle sehr wohl gekannt. «Aber als die Miracle-Leute sagten, dass sie an die Börse gingen, verstanden wir es nicht», so der langjährige Abacus-Finanzchef. Als der Börsenkurs des kleineren Konkurrenten Ende November 1999 von 240 auf 430 Franken stieg, sei er erschrocken. Ihn habe gestört, dass die ersten, die einstiegen, wie bei einem Schneeballsystem, viel Geld verdienten, während die, die zuletzt kamen, ihr Geld verloren.

Auch Abacus-CEO Claudio Hintermann ärgert sich noch heute über die Personen, die Miracle an die Börse brachten: «Alle wussten, dass es ein Bschiss ist. Auch die Banken, die Miracle an die Börse brachten, wussten es.» Und begründet gleich wie sein Jugendfreund Ramelli, warum er und seine Kollegen nie auch nur daran gedacht hatten, die Firma zu verkaufen. «Was hätten wir tun sollen, wenn wir Abacus verkauft hätten? Wir konnten ja nichts anderes.» Entscheidend aber war, dass es auch nach den ersten 15 Jahren noch Spass machte, als eigene Herren und Meister Abacus gedeihen zu sehen. Daniel Senn erzählt es so: «Wir waren wie eine Familie. Und diese wollten wir behalten. Natürlich brauchten wir alle Geld. Aber wir waren ja auch nicht arm. Ich hatte ein Haus, ein Auto und meine Familie. Ich konnte es mir leisten, mit der ganzen Familie drei Wochen durch die USA zu reisen. Eine Jacht auf dem Mittelmeer wollte keiner von uns.»

Dennis Strassmann, Support Projektverwaltung, bei Abacus seit November 2022

Weniger einfach machte es sich Thomas Köberl. Köberl gehört zu den drei ursprünglichen Gründern und war seit den ersten Tagen der Firma für das Marketing und damit für die Aussenwahrnehmung von Abacus verantwortlich. «Als Miracle die neue Software-Version mit Pauken und Trompeten und der Unterstützung von Uni-Professoren ankündigte, machte das einen gewaltigen Eindruck auf mich. Wir schauten schon ein bisschen neidisch nach Langenthal. Zumindest mich beeindruckte es. Miracle schaffte es ja bis in die TV-Nachrichten.»

Völlig unbeeinflusst vom New-Economy-Hype blieben die Sankt Galler dann doch nicht. Im Februar 2000 kündigte Abacus an der ersten Pressekonferenz der Firma überhaupt eine eigene E-Commerce-Lösung an: AbaShop. AbaShop funktionierte nur in Zusammenhang mit der Auftragsbearbeitung und der Fakturierungslösung AbaWorX. Der Entschluss, Abacus-Software für die neue, verheissungsvolle Internet-Welt zu machen, war offensichtlich in grösster Eile gefasst worden. Nicolas Guillet, einer der Entwickler der ersten Stunde bei Abacus, erzählt: «Claudio berief in aller Eile eine Pressekonferenz ein, und wir hatten sechs Wochen Zeit, um an der Pressekonferenz etwas präsentieren zu können. Wir brauchten dann Jahre, um die Software aufzuräumen.»

Miracles Absturz

Allzu lange musste Köberl nicht nach Langenthal schauen. Schon im Dezember 1999 brachen die ersten Miracle-Kunden ihre Projekte ab. Im März 2000 beklagten sich weitere Kunden über fehlende Funktionen. Miracle musste Entwicklungsprojekte stoppen, um mit mehr Personal die Kernlösung ausbessern zu können. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Unternehmen an der Börse noch mit über einer Milliarde Franken bewertet. Kurz darauf stürzte der Börsenkurs um 36 Prozent ab. Das Unternehmen baute rasch eine internationale Organisation auf, machte in den ersten drei Monaten des Jahres 2000 aber nur noch einen Umsatz von 6,9 Millionen Franken und verbrannte dabei 16,6 Millionen. Der Aktienkurs fiel weiter.

Im Juli kündigte der weltweit tätige Baumaschinenhersteller und Miracle-Kunde Ammann eine Klage gegen den Software-Hersteller an. Das war der eigentliche Todesstoss: Nur acht Monate nach dem Börsengang musste sich Miracle auf die Suche nach frischem Geld machen und fand es bei Credit Suisse First Boston. Die Grossbank hatte die Langenthaler bereits an die Börse gebracht. Doch nichts half mehr. Schon am 26. Oktober 2000 war der Spuk (fast) vorbei. Der Verwaltungsrat beschloss, das Unternehmen zu liquidieren und 318 Mitarbeitende zu entlassen.

Erstaunlich an der ganzen Sache war, wie gut es den Miracle-Exponenten gelungen war, Medien und Finanzwirtschaft für ihre Software zu begeistern. Miracle hatte argumentiert, ihre Software sei «objektorientiert» und sie hätten einen technologischen Vorsprung zur Konkurrenz von eineinhalb bis zwei Jahren. Die Fantasie angeregt hatte sicherlich auch der immer wieder gern wiederholte Hinweis, man arbeite mit einem «Gluschkow-Institut für Kybernetik» in Kiew zusammen. So jubelte der Wirtschaftsjournalist Rüdi Steiner, der sich als ehemaliger Journalist der Zeitschrift Computerworld durchaus mit Technologie auskannte, wenige Tage vor dem Börsengang in der Handelszeitung: «Die Neufassung (der Miracle-Software), die seit Ende 1997 verfügbar ist, ist die erste Unternehmenslösung, die durchgängig objektorientiert ist. Im Klartext heisst dies: Die Software besteht aus zahlreichen Kleinstprogrammen (sogenannten Objekten). Diese nehmen jeweils eine Funktion wahr. Der gewünschte Funktionsumfang lässt sich damit – ähnlich einem Blumenarrangement oder einem Früchtekorb – vom Kunden dynamisch festlegen. Das Schweizer Gewächs unterscheidet sich damit wesentlich von den monolithisch gebauten ERP- Systemen führender Anbieter wie Baan, JD Edwards, Oracle, Peoplesoft oder SAP.»

«Die Idee von Miracle XRP war sehr attraktiv», sagte mir auch Dieter Fischer, der damals als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz an vielen Software-Projekten beteiligt war. Denn anstatt ein riesiges Komplettsystem, das doch nie ganz gepasst hätte, zu kaufen und über Jahre im Betrieb einzuführen, hätte man mit einem kleinen Teil beginnen können. Obwohl er das Konzept überzeugend fand, empfahl Fischer Miracle nie zum Kauf, da erfolgreiche Referenzprojekte fehlten.

In Wirklichkeit war Miracle XRP zwar modern, aber nicht fertig – was man in Langenthal durchaus wusste. Denn Miracle hatte 1998 unter anderen den heute renommierten Business-Software-Spezialisten Eric Scherer, der damals eben sein Studium an der ETH Zürich abgeschlossen hatte, mit einer Studie beauftragt. Scherer sollte die neue Software von Miracle mit den wichtigsten Konkurrenten wie SAP vergleichen. Er sollte dabei herausfinden, wie viele Anforderungen von drei oder vier Branchen Miracle im Vergleich zur Software der Konkurenz erfüllte. Und er sollte einschätzen, wie gross das Marktpotenzial von Miracle war.

Das Ergebnis war ernüchternd: Während Marktführer wie SAP bis zu neunzig Prozent der Kundenprozesse im Standard abdecken konnten, waren es bei Miracle bloss 35 bis 40 Prozent. Anforderungen einer Branche abzudecken, ist Knochenarbeit für Berater und Programmierer – mag die Lösung technologisch noch so modern und flexibel sein. Denn man muss genau verstehen, wie eine Branche funktioniert und diese Prozesse in der Lösung abbilden. Mit den von Miracle eingeplanten Programmierkapazitäten hätten die Langenthaler drei bis acht Jahre gebraucht, bis sie auf das funktionale Niveau der Konkurrenz gekommen wären. Auch das von Scherer berechnete Marktpotenzial war massiv kleiner, als es von Miracle und der begleitenden Bank später angegeben wurde. Miracle schickte darum die Anwälte vor, die durchsetzten, dass die Autoren der Studie ihre Exemplare vernichteten und ihre Erkenntnisse geheim hielten. Erst im Sommer 2022, über zwanzig Jahre nach dem Untergang von Miracle, erzählte mir Scherer die Geschichte bei einem Mittagessen in Zürich.

Miracle war in eine Falle getappt. Weil die Software nicht fertig war, musste man bei allen Kunden mittels Einzellösungen Probleme beheben. Nach dem Börsengang musste zudem rasch Umsatz generiert werden, während gleichzeitig die Erstkunden immer unzufriedener wurden. Die Börsenkotierung geriet zum Nachteil, denn die sehr kritisch gewordene Presse schaute nun genauer hin. Der Absturz war nicht mehr aufzuhalten.

Fantastic, Complet-e und Think Tools gehen ebenfalls unter

Im März 2000 platzte in den USA die Dotcom-Blase.7 Die Kurse der Internet- und Software-Fantasten gerieten auch in der Schweiz und in Deutschland unter Druck. Fantastic erreichte weder Umsatz- noch Gewinnziele, und die Aktien verloren rasch und immer schneller an Wert. Anfang November 2000 sass Fantastic noch auf einem schönen Eigenkapital von 100 Millionen Franken, das bis Dezember 2003 jedoch dahinschwand. Dann wurde das Unternehmen liquidiert – pro Aktie blieb noch etwa ein Eurocent übrig.

Complet-e hielt sich auch nicht länger als Miracle: Schon am Sonntag vor dem Börsengang am 25. Oktober 1999 enthüllte die SonntagsZeitung, dass Finanzjongleure, die zuvor schon einmal mit einem Pommes-Frites-Automaten gescheitert waren, in die Sache verwickelt seien. Mehr noch: Eine Tochterfirma namens Runsoft, die WinOffice seit Jahren programmiert hatte, war massiv überschuldet. Der Börsenstart misslang, Complet-e kündigte eine Klage gegen die SonntagsZeitung an. Es blieb jedoch bei der Ankündigung. Im März 2000 übernahm Complet-e einen ähnlich kleinen deutschen Software-Hersteller namens Mention. Nur wenige Monate später verliessen Daniel J. Schwarzenbach und sein Finanzchef das Boot. Und schon Anfang September 2000 musste die Firma Massenentlassungen und eine Sanierung ankündigen. Im November 2000 stand Complet-e am Rande des Konkurses und wurde von der Beratungsfirma Pragmatica8 übernommen. Die Software selbst überlebte: Unter dem Namen Winoffice Prime wurde sie – nun wieder in Privatbesitz – weiterentwickelt und ist heute eine mittelgrosse Schweizer Business-Lösung für KMU.

Am spektakulärsten scheiterte das Unternehmen Think Tools des «Vordenkers der Topshots» (Bilanz) Albrecht A. C. von Müller. Am 24. März 2000 – exakt drei Tage, bevor der US-Technologie-Index seinen Höhepunkt vor dem Absturz erreichte – wurden die Aktien der Software für «innovatives Wissensmanagement» zum ersten Mal an der Börse gehandelt. Nach dem ersten Tag hatte die Firma ihren theoretischen Wert mit über 2,5 Milliarden Franken fast verdreifacht. Der Höhenflug hielt – trotz Dotcom-Crash in den USA – bis Ende des Jahres an. Kein Wunder: Die Nachrichten waren auch zu gut. Die Bank Vontobel, die Think Tools an die Börse gebracht hatte, verkündete, sie wolle ihre neue künftige Internet-Bank mithilfe von Think Tools bauen. Ende August nannte das Unternehmen das Pentagon als neuen Kunden. Ab 2001 ging es dann aber stetig bergab und die Presse wurde kritischer. Vontobel gab ihr Internet-Bank-Projekt wieder auf und Think Tools vermeldete wenig später einen riesigen Verlust. Chefs und Strategie wurden ausgewechselt, die Verluste blieben. Aktionäre drohten mit Klagen und weitere Kunden liessen die «Denkwerkzeuge» fallen. Im Sommer 2001 kaufte Think Tools Aktien der geprellten Investoren zu einem tiefen Preis zurück. Spektakulär dabei: 2001 verdienten Verwaltungsrat und Geschäftsleitung mehr als die Firma Umsatz gemacht hatte. Das Ende kam im Mai 2004, als Think Tools vom Zuger Computer- und Druckerhändler RedIT übernommen wurde, der so billig zu einer Börsenkotierung kam. Der Deal brachte RedIT jedoch kein Glück – heute ist RedIT wieder ein normaler IT-Dienstleister in Privatbesitz.

Der Retter aus der Innerschweiz

Die Ankündigung vom 26. Oktober 2000, Miracle zu liquidieren, war noch nicht das Ende. Denn es folgte der Auftritt des umtriebigen Vorzeigeunternehmers und späteren Nationalrats Otto Ineichen9 als Retter. Anfang November kündigte Ineichen die Nachfolgefirma New Miracle an, die die Software-Rechte und die Kundschaft von Miracle übernehmen werde. Mit an Bord war der ehemalige Schindler-Manager und Schweizer Botschafter in China, Ueli Sigg. Im Hintergrund beteiligt, so dargelegt in einer hellsichtigen Story von Daniela Decurtins im Tages-Anzeiger, sei auch die Surseer Software-Firma Bison10 gewesen. Bison sei an der Lösung und vor allem an den Software-Entwicklern von Miracle interessiert gewesen.

«Ineichen führte sich als Retter der Software-Industrie auf», so Martin Riedener, damals Mitglied der Abacus-Geschäftsleitung. «Er lud uns nach Langenthal ein. Claudio, Daniel, Thomas und ich fuhren hin. Er sagte uns, wir müssten jetzt Farbe bekennen und Miracle retten, sprich: investieren. Sonst sei der Ruf der ganzen Software-Branche dahin. Nach einer halben Stunde Diskussion sagte er, er müsse jetzt wieder nach Bern, regieren gehen, und verschwand», erzählte mir Riedener weiter. Für Abacus hatte sich die Sache mit der Reise nach Langenthal erledigt – für die Schweizer Software-Branche ging sie noch weiter.