Inside Fridays for Future - Benedikt Narodoslawsky - E-Book

Inside Fridays for Future E-Book

Benedikt Narodoslawsky

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Beschreibung

Kaum ein Land hat Greta Thunbergs Klimabewegung Fridays for Future stärker verändert als Österreich. Das Buch zeigt erstmals, wie die Klimaaktivisten in Österreich arbeiten, und lässt die Leser*innen dabei hinter die Kulissen blicken. Am Anfang war ein Mädchen, am Ende eine große politische Revolution. Fridays for Future haben in Österreich Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm geholt, die Klimakrise zum bestimmenden Thema in den Medien gemacht, die EU-Wahl und die Nationalratswahl entscheidend beeinflusst und damit die Republik auf den Kopf gestellt. Wie haben sie das geschafft? Monatelang begleitete der Journalist Benedikt Narodoslawsky die Bewegung, um herauszufinden, wer die Aktivistinnen und Aktivisten sind, wie sie arbeiten und was sie wollen. Für das Buch „Inside Fridays for Future“ nahm er an Demonstrationen und Organisationstreffen teil, interviewte mehr als fünfzig Gesprächspartner*innen , darunter die schwedische Gründerin Greta Thunberg und viele Aktivist*innen. Das Buch zeichnet nach, wie es möglich war, dass die Bewegung so schnell so groß werden konnte, und wie sie Europa und Österreich veränderte. „Inside Fridays for Future“ erzählt eine faszinierende Geschichte über den Umschwung von Hoffnungslosigkeit zum leidenschaftlichen Aktivismus, die Politisierung der Jugend in Zeiten des Smartphones und ist gleichzeitig ein Erklärbuch über die Klimakrise und ihre dramatischen Folgen.

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Seitenzahl: 361

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Sie wollen die Welt retten und entscheiden Wahlen. Sie pflügen die Medienlandschaft um und holen Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm. Fridays for Future veränderten Europa und rüttelten die Republik durch.

Wie haben sie das gemacht?

„Inside Fridays for Future“ lässt Sie in die Werkstatt der Aktivistinnen und Aktivisten blicken. Sie werden erfahren, wer die jungen Klimaschützerinnen und Klimaschützer sind, wie sie arbeiten und was sie wollen. Und Sie werden herausfinden, wie eine 15-jährige Schülerin in wenigen Monaten unabsichtlich eine Bewegung schaffen konnte, die Millionen Menschen auf die Straße bringt und damit Weltgeschichte schreibt.

© 2020 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: [email protected], W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-681-9

ISBN Kindle: 978-3-85439-682-6

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-666-6

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2020

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Geschichte über die Geschichte

Greta

Die Welt der Fridays

Anatomie eines Protests

Was die Bewegung bewegt

Wer sind die Fridays?

Das Netzwerk der Fridays

Die Arbeit der Aktivisten

Die Zukunft der Fridays

Anmerkungen

Danksagung

Der Autor

Die Geschichte über die Geschichte

Imagine no more crisis

It's easy if you try

No climate hell before us

Above a clean blue sky

Imagine all the people

Living a new way1

Vorwort

Ja, der Untertitel dieses Buches kommt auf den ersten Blick ein wenig großkotzig daher: „Die faszinierende Geschichte der Klimabewegung in Österreich“. Faszinierend, das ist ein sehr großes Wort. Ich möchte Ihnen beweisen, dass es in diesem Fall keine Übertreibung ist. Erlauben Sie mir deshalb zu Beginn ein paar persönliche Worte.

Im Juli 2018 ging ich für ein Jahr in Karenz, meine erste Tochter war gerade ein Jahr alt geworden. Bis dahin hatte ich bei jeder Gelegenheit versucht, auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Denn wenn es stimmt, was die Wissenschaft sagt, dräut uns allen ein verheerendes Problem. Das sollten die Menschen wissen.

Also schrieb ich über die Milliarden an Euro, die Österreich aufgrund der Klimakrise jedes Jahr verlieren wird. Aber es schien niemanden zu interessieren.

Ich berichtete über die Millionen Flüchtlinge, die aufgrund der Klimakrise ihre Heimat verlassen müssen. Es fand keine Beachtung.

Ich recherchierte die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise und zeigte, dass mittlerweile mehr Österreicher aufgrund der Hitze sterben als im Verkehr. Die Meldung versickerte in den Randspalten.

Ich kritisierte Österreichs fatale Klimapolitik in drastischen Worten. Die Kritik verpuffte.

Wenn die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten darin besteht, Probleme so zu beschreiben, dass sie Menschen aufrütteln, wenn es ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass diese Probleme auch gelöst werden, dann habe ich kläglich versagt. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich die ganze Zeit über falsch gemacht hatte. Geld, Flüchtlinge, Tote, politisches Scheitern – sind es nicht genau diese Themen, die die Menschen bewegen?

Mein Versagen war mir nicht peinlich, ich befand mich damit in bester Gesellschaft. Vielen ausgezeichneten Kollegen erging es ebenso.

Und nicht nur die kleine Umweltjournalismus-Blase in Österreich blieb weitgehend wirkungslos. Ganz andere Kaliber zündeten nicht. Der Papst hatte mit seiner Enzyklika „Laudato si’“ zum Klimaschutz gemahnt. UN-Generalsekretär António Guterres hielt einen flammenden Appell nach dem anderen. Hollywood-Star Leonardo DiCaprio nützte die wenigen Sekunden seiner Oscar-Rede dazu, um vor der Klimakrise zu warnen, und drehte wenig später die entsprechende Doku: „Before the Flood“.

All das änderte nichts. Jahr für Jahr nahmen die Treibhausgase in der Atmosphäre zu. Die Welt wurde heißer und heißer. Die Erde fieberte hoch, aber es ließ die Menschen kalt. Stell dir vor, es ist Weltuntergang und niemand geht hin. Ich beschloss, eine Pause einzulegen und mich meiner Familie zu widmen.

Genau einen Monat nachdem ich meine Karenz angetreten hatte, setzte sich in Stockholm ein 15-jähriges Mädchen vor das schwedische Parlament und bestreikte wegen der Klimapolitik ihres Landes die Schule. Während ich zuhause einem Kleinkind die Windeln wechselte, es fütterte und ihm danach die Essensreste aus seinen Haaren wusch, zettelte ein Teenager draußen in der Welt eine Revolution an. Davon bekam ich in den folgenden Monaten nichts mit. Gar nichts.

Das erste Mal auf den Namen Greta Thunberg stieß ich erst spät, nämlich kurz vor Weihnachten 2018. Auf der UN-Klimakonferenz im polnischen Kattowitz hatte die 15-Jährige eine Rede gehalten, die unter die Haut ging. Das Video davon hatte sich in den sozialen Netzwerken viral verbreitet.

Dass die Schwedin gerade dabei war, Österreich zu verändern, konnte damals niemand ahnen. Für mich blieb also alles beim Alten. Ende Jänner 2019 traf ich mich mit zwei Klimawissenschaftlern, um mich mit ihnen auszutauschen: Wie kann man das komplizierte Drama der Klimakrise journalistisch übersetzen? Was läuft da schief? Welche spannenden Themen könnte ich nach meiner Karenz angehen? Wir besprachen viel. Einer der Klimaforscher erzählte mir nebenbei, dass er vor wenigen Tagen auf eine interessante Facebook-Seite gestoßen sei: Thunbergs Fridays-for-Future-Bewegung demonstriere mittlerweile auch in Österreich. Er leitete mir den Termin weiter.

Am 1. Februar 2019 besuchte ich meine erste FFF-Demonstration auf dem Wiener Heldenplatz. Es war kein Volksaufstand, eher ein engagiertes Demo-Grüppchen. Das war in meinen Augen nett, aber zu wenig. Am Abend des 11. März 2019 – vier Tage vor dem ersten globalen Klimastreik – traf sich eine bunte Runde von Umweltbewegten in einem Seminarraum im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Der Titel der Diskussion lautete „Klimakommunikation und die große Erzählung“. Die Frage, die uns alle umtrieb: Wie machen wir die Krise, die unsere Zukunft bedroht, zum entsprechend großen Thema?

Es waren die Tage, an denen die mediale Berichterstattung über die junge Klimabewegung auch in Österreich Fahrt aufgenommen hatte. Einer der Diskutanten ließ sich zu einem gewagten Vergleich hinreißen: Fridays for Future könnten die neue 1968er-Bewegung werden. Ich hielt das für absurd und widersprach ihm. Vor meinem geistigen Auge waren die Schwarzweißfotos der riesigen Studentenproteste von damals aufgetaucht. Und daneben das Demo-Grüppchen vom 1. Februar 2019, das etwas verloren auf dem Heldenplatz gestanden war.

Vier Tage später rieb ich mir genau an diesem Ort die Augen. Der Wiener Heldenplatz war voll. Und nicht nur dorthin war eine Menschenmasse geströmt. Auch in Bregenz, Innsbruck, Salzburg, Linz, Klagenfurt und Graz fluteten Tausende die Straßen und erhoben gegen die gescheiterte Klimapolitik ihre Stimme.

Am 31. Mai 2019 interviewte ich Greta Thunberg in der französischen Botschaft in Wien. Wir hatten nicht viel Zeit, es war kein großes Problem, weil das Mädchen nicht um den heißen Brei redete und druckreif sprach. Stärker als das Gespräch brannte sich aber eine Szene in mein Gedächtnis: Thunberg, wie sie am Fenster steht und auf den Wiener Schwarzenbergplatz hinunterblickt. Stumm sieht sie dabei zu, wie die Demonstranten die Straße erobern, den Autoverkehr lahmlegen und zu einem riesigen Menschenmeer anschwellen. Fünf Tage zuvor hatte die EU-Wahl stattgefunden, eine grüne Welle war über den Kontinent gerollt. Spätestens da war auch mir klar, dass dieser Teenager aus Schweden gerade Geschichte schreibt.

Als Schüler war Geschichte mein Lieblingsfach. Warum konnte Maria Theresia in einer Männerwelt als Frau die Thronfolge übernehmen und Kaiserin werden? Wie konnte der Schuss eines Mörders den Ersten Weltkrieg entzünden? Wodurch verhinderte der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow einen Atomkrieg? Weshalb sieht die Welt heute so aus, wie sie aussieht, und wie hat sich welche Entscheidung auf das Leben der einzelnen Menschen ausgewirkt? Solche Fragen faszinieren mich. Denn es sind oft kleine Entscheidungen, die den Lauf der Geschichte ändern.

Fast genau ein Jahr nachdem Greta Thunberg zum ersten Mal gestreikt hatte, kehrte ich an meinen Arbeitsplatz zurück. Es war vieles anders als zuvor und noch viel mehr in Bewegung. Im Sitzungszimmer der Falter-Redaktion, in dem links an der Wand alle Titelseiten der vergangenen zwölf Monate hängen, sah man so viele Cover übers Klima wie noch nie. Meine Kollegin Sibylle Hamann kam nicht mehr zu den Redaktionssitzungen. Sie hatte sich vom Feuer der Fridays anstecken lassen und kandidierte bei der bevorstehenden Wahl für die Grünen. Auf dem Weg zur Arbeit ging ich bald an Wahlplakaten vorbei, auf denen fast alle Parteien mit dem Thema Klimaschutz um Wählerstimmen rangen. Und schließlich war da noch der Kinderarzt meiner beiden Töchter, der mir erzählte, er könne nun nicht mehr in den Urlaub fliegen. Seine Tochter habe es ihm verboten.

Binnen eines Jahres brachten die Fridays zustande, was davor keinem Umweltaktivisten, keinem Wissenschaftler, keinem Journalisten, keinem Politiker und keinem Superstar gelungen war: die Klimakrise zum bestimmenden Thema im Land zu machen. Geld, Flüchtlinge, Tote, Politikversagen – wer konnte ahnen, dass der Schlüssel zur Aufmerksamkeit ein 15-jähriges Mädchen war, das die richtige Frage stellte: „Warum sollten wir für eine Zukunft lernen, die es schon bald nicht mehr geben wird, wenn niemand irgendetwas unternimmt, um diese Zukunft zu retten?“2

Die Fridays veränderten Europa. Und kaum ein Land auf dem Kontinent bekam das stärker zu spüren als Österreich. Wie haben sie das geschafft?

Das ist eine dieser Fragen der Geschichte, die mich faszinieren. Ich hatte das Privileg, die Antwort darauf diesmal nicht aus den Geschichtsbüchern erfahren zu müssen, sondern sie mir persönlich und unmittelbar zu erarbeiten. Nun habe ich selbst ein Geschichtsbuch geschrieben. Möglich gemacht haben das vor allem die Fridays, die sich in ihren Grundsätzen zu „transparenten und offenen Strukturen“ verpflichtet haben und mir dadurch Einblicke in ihre Maschinenräume gewährten.

Dank dieser Transparenz und Offenheit halten Sie nun das erste Buch über Fridays for Future Österreich in Ihren Händen. Dem Anspruch nach Vollständigkeit wird es nicht gerecht. Denn die junge Bewegung ist bunt und vielseitig, allein hierzulande gibt es rund dreißig Ortsgruppen. In den folgenden Kapiteln beleuchte ich vor allem jene, die zugleich am ältesten und am größten sind. Eine zentrale Rolle spielt darin Wien.

Damit Sie einen guten Überblick behalten, finden Sie im Text Seitenverweise, mit denen Sie durch die Kapitel navigieren können. Das Buch fußt im Wesentlichen auf eigenen Recherchen vor Ort und persönlichen Gesprächen. Jene Informationen, die aus anderen Quellen stammen, führe ich im Sinne der Transparenz in Endnoten an. Trotz dieses wissenschaftlichen Anstrichs bleibt es eine journalistische Arbeit. Und weil dieses Buch das Klima nicht schädigen soll, ist es das erste in der Geschichte des Falter Verlags, das klimapositiv gedruckt wurde. Das bedeutet, die klimaschädlichen Gase, die durch die Produktion entstanden sind, werden durch Investitionen in Klimaschutznahmen mehr als ausgeglichen.

Sie sehen schon: Die Fridays haben Österreich verändert. Im Kleinen wie im Großen. Auf den folgenden Seiten werden Sie erfahren, wie die Bewegung entstanden ist und wie sie so schnell wachsen konnte. Ich werde Ihnen wichtige Personen der Bewegung vorstellen, Sie werden die Unterstützer der Fridays kennenlernen und ihre Gegner hören. Sie werden erfahren, wogegen die Aktivisten kämpfen und wie sie arbeiten. Und ich erkläre Ihnen, wie es ihnen gelungen ist, die Republik auf den Kopf zu stellen.

Bitte folgen Sie mir auf diese historische Reise. Ich verspreche Ihnen: Sie ist faszinierend.

Greta

Greta sitzt vorm Parlament –

weil sie die Gefahr erkennt!

Das Mädchen

Greta Thunberg weint. Sie weint in der Schule, sie weint in den Pausen, im Bett, immer. „Unsere Tochter verschwindet in eine Art Dunkelheit und hört quasi auf zu funktionieren“, beschreibt ihre Mutter die Zeit, in der Greta in die fünfte Klasse kommt.

Keine Lust mehr. Kein Klavier mehr, kein Lachen, kein Mucks. Die Elfjährige wird still. Die Lehrer wissen auch nicht weiter. Wenn sie anrufen, muss der Vater seine Tochter wieder vom Unterricht abholen.1 Viel weiß man über dieses Kind in dieser Zeit, denn seine Mutter hat ein Buch über die Familie geschrieben. Gretas Mutter, Malena Ernman, ist in Schweden ein Promi. 2009 steht sie auf der Bühne in der Moskauer Olympiahalle und singt für ihr Heimatland das Lied „La Voix“ beim Eurovision Song Contest.2 Man sah eine glückliche junge Frau, die zu Popklängen ihre Opernstimme in lichte Höhen trieb, die Bühne vom gleißenden Scheinwerferlicht ganz in Weiß getaucht. Ihre Erscheinung im blütenweißen Kleid, mit ihrem strohblonden, wallenden Haar und dem strahlenden Lachen, wirkte auf die Zuschauer wie das Bild eines Engels, der einen gerade im Himmel in Empfang nimmt.3 Dieses inszenierte Bild ist genau das Gegenteil dessen, was sich wenige Jahre später in den eigenen vier Wänden der Sängerin zusammenbrauen sollte: die Hölle.

„Szenen aus dem Herzen“, das Buch der Opernsängerin Malena Ernman, ist die Geschichte einer Familie, die an den Rand des Wahnsinns kommt. Der wichtigste Grund dafür: ihre Tochter Greta.

Mit elf Jahren hört Greta nicht nur mit dem Klavierspielen auf, sie isst auch nicht mehr. Das Mädchen landet in der Notaufnahme des Stockholmer Zentrums für Essstörungen. Zuhause wird nun jede Mahlzeit mitgeschrieben, dazu die Zeit, die Greta dafür braucht. Auf einem weißen DIN-A3-Bogen an der Wand notiert die Mutter: „Frühstück: 1/3 Banane. Zeit: 53 Minuten“.

Die Lage spitzt sich in den nächsten Monaten zu. Greta bleibt dem Unterricht fern, es droht eine Einweisung ins Sachsska-Kinderkrankenhaus in Stockholm. Es ist mehr als nur kompliziert. Wenn der Vater Gnocchi kocht, müssen sie eine bestimmte Konsistenz haben, sonst isst sie seine Tochter nicht. Liegen zu viele Gnocchi auf dem Teller, isst Greta sie auch nicht. Liegen wiederum zu wenige da, isst sie zwangsläufig zu wenig. Deshalb zählen die Eltern die einzelnen Gnocchi genau ab, bevor sie sie ihrer Tochter servieren. Wenn alles gut geht, dauert das trotzdem ewig.

„Greta sortiert die Gnocchi. Sie dreht sie hin und her. Sie drückt auf ihnen herum“, schreibt die Mutter. „Und dann fängt sie wieder von vorne an. Nach zwanzig Minuten beginnt sie zu essen. Sie lutscht und kaut winzig kleine Bissen. Es geht langsam.“ Für fünf Gnocchi braucht sie schließlich zwei Stunden und 10 Minuten.

Die Eltern versuchen sie in diesen Monaten zum Essen zu bringen, mit Strenge, mit Humor, mit Bestechung, mit Drohungen, sie flehen, sie betteln, sie weinen. Als sie extra für sie Zimtschnecken backen, die das Mädchen früher immer gern aß, und Greta auch diese verweigert, reißt den Eltern der Geduldsfaden. Sie schreien ihre elfjährige Tochter an: „Iss endlich! Du musst essen, verstehst du? Du musst essen, sonst stirbst du!“ Greta isst nicht, sie bekommt ihre erste Angstattacke. „Sie stößt einen abgrundtiefen Schrei aus, der über vierzig Minuten anhält“, erinnert sich die Mutter in dem Buch.

Innerhalb von zwei Monaten verliert das ohnehin schon zierliche Mädchen zehn Kilo, ihre Körpertemperatur sinkt, Puls und Blutdruck sind außerhalb der Norm. Greta sammelt Fehlstunde um Fehlstunde, die Klasse besteht sie trotzdem, weil ihr eine engagierte Lehrerin Nachhilfe gibt. Glaubt man ihren Eltern, hat Greta ein fotografisches Gedächtnis, merkt sich schon als Kind alle Hauptstädte der Welt, kann sie auch rückwärts aussprechen und in weniger als einer Minute alle Elemente des Periodensystems aufzählen.

Aber mit Gretas Art können ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nicht umgehen. Sie verhalte sich sonderbar, rede zu leise, grüße nie. Das Mädchen kann keinen Smalltalk führen und spricht nur so viel wie nötig, es ist unbeliebt und bekommt das brutal zu spüren. In der Klasse wird Greta ausgegrenzt, auf dem Schulhof geschlagen. Wenn sie sich auf dem Mädchenklo versteckt und weint, holt sie die Pausenaufsicht und bringt sie in den Schulhof zurück. Das Mobbing nimmt kein Ende. Selbst als sie zur Schulabschlussfeier vor den Weihnachtsferien mit ihrem Vater auftaucht, zeigen ihre Klassenkolleginnen und -kollegen auf sie und lachen sie aus. „Ich will keine Freunde“, sagt sie ihren verzweifelten Eltern, „Freunde sind Kinder, und alle Kinder sind gemein.“

Bald steht fest: Das elfjährige Mädchen leidet unter einer Depression. Die Ärzte verschreiben ihr Sertralin, ein Antidepressivum. Die Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik BUP stellen eine weitere Diagnose: Asperger-Syndrom, hochfunktionaler Autismus, Zwangsstörungen.4 Das Asperger-Syndrom zählt zu den so genannten Autismus-Spektrum-Störungen. Menschen mit Asperger-Syndrom sehen die Welt durch eine spezielle Brille. Es fällt ihnen schwer, mehrere Eindrücke gleichzeitig zu verarbeiten, sich in Menschen einzufühlen oder sich anzupassen. Aber wenn sie sich auf etwas Bestimmtes konzentrieren, nehmen sie oft mehr wahr als andere Menschen und haben mitunter „spezielle, manchmal besonders hervorragende Eigenschaften. In ihrem – meist eingegrenzten Interessengebiet – können sie Herausragendes leisten“, erklärt das Öffentliche Gesundheitsportal Österreichs, eine unabhängige und qualitätsgeprüfte Informationsseite über Erkrankungen.

Jemand, der eine Zwangsstörung hat, wird hingegen von immer wiederkehrenden Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen geplagt und kann ihnen nicht entkommen. Eine Zwangshandlung wäre, wenn man sich so lange die Hände waschen muss, bis sie wund sind. Oder so lange kontrolliert, ob man die Tür tatsächlich abgesperrt hat, bis man zu spät zur Arbeit kommt. Ein Zwangsgedanke wiederum wäre etwa die Vorstellung, sich überall mit Krankheiten anzustecken, oder umgekehrt, selbst irgendjemandem zu schaden.

„Zwangserkrankte erleben das Zwangsverhalten oft als Vorbeugung gegen etwas, das ihnen oder anderen Schaden bringen könnte“, informiert das Öffentliche Gesundheitsportal Österreichs, „im Hintergrund kann sich während einer Therapie herausstellen, dass der Zwang ein reales Ereignis oder eine ernsthafte Bedrohung als Ursprung hat.“5

Die Zerstörung der Umwelt hat Greta in Angst versetzt. Als sie etwa acht Jahre alt ist, hört sie erstmals vom Klimawandel, den die Menschen verursacht hätten.6 Einen Film, den eine Lehrerin im Unterricht zeigt, wird Greta später immer wieder als Schlüsselmoment beschreiben.7 „Wir sahen fürchterliche Bilder von toten Tieren mit Plastik in ihren Bäuchen und auch von schmelzenden Polkappen“, erzählt Thunberg. „Ich musste weinen und auch meine Klassenkameraden waren traurig.“8 Für die anderen Schüler geht das Leben nach der Unterrichtsstunde weiter wie bisher. Greta verändert ihr Leben. Später wird sie einmal sagen, ihre damalige Depression habe eine Menge mit der Umwelt und dem Klima zu tun gehabt.9 Greta steigert sich in das Umweltthema hinein, immer stärker rückt dabei die Klimakrise in ihren Fokus. Sie liest Schulbücher und Artikel, schaut sich Dokumentationen an, fragt ihre Eltern, wenn sie etwas nicht versteht. So lange, bis sie sich ein Bild gemacht hat.

Schließlich beginnt sie, zuhause immer das Licht auszuschalten. „Das war der erste Schritt“, sagt Thunberg.10 Sie geht weiter, verzichtet auf Fleisch und Milchprodukte, kauft keine neuen Sachen mehr, weigert sich zu fliegen. Sie ändert sich, „um mir selbst in die Augen schauen zu können“.11 Sie beginnt, mit ihren Eltern über die Themen zu sprechen. Als ihr Vater mit Gretas Schwester Beata aus dem Urlaub von Sardinien zurückkehrt, hält sie ihm vor: „Ihr habt gerade einen CO2-Ausstoß in Höhe von 2,7 Tonnen verursacht. Das entspricht der Jahresemission von fünf Einwohnern des Senegal.“12 Am Frühstückstisch schilt Greta ihre Mutter: „Ihr Promis seid für die Umwelt ungefähr das, was der Rechtspopulist Jimmie Åkesson für die multikulturelle Gesellschaft ist.“13

Im Internet legt sich die junge Umweltschützerin mit Unbekannten an; sie hat einige Antworten auf Schwedisch und Englisch vorformuliert. „Greta hat sich auf einem ihrer Tierschutzaccounts auf Instagram eingeloggt und befeuert ihre Lieblingsfeinde mit ihren Lieblingsargumenten. Klimaleugner. Technikoptimisten und besonders Veganer, die regelmäßig weite Flugreisen unternehmen, um die Welt mit neuen exotischen Rezepten zu retten“, erzählt ihre Mutter. „Sie sieht zufrieden aus.“ Wird sie von ihren Gegnern geblockt, jubelt sie.14

Greta bleibt hartnäckig, auch ihren Eltern gegenüber. Sie versuchen sie anfangs zu beruhigen, sie solle sich keine Sorgen machen, irgendjemand werde in der Zukunft schon etwas erfinden, die Menschen werden das schon unter Kontrolle bringen. Aber Greta hat sich eingelesen, sie kennt den Stand der Wissenschaft, der das Argument ihrer Eltern widerlegt. Sie zeigt ihnen Artikel und Diagramme. Und sie redet so lange, bis sie sich schuldig fühlen. Wie könnten sie für Menschenrechte eintreten, wenn sie ihrer Generation die Zukunft stehlen. Das trifft die Eltern, die sich für ein Miteinander engagieren und eine syrische Familie bei sich beherbergen.15 „Greta hat uns ständig herausgefordert“, erzählt ihr Vater Svante Thunberg später. „Sie hatte alles gelesen, die ganze Wissenschaft studiert. Irgendwann gingen uns die Argumente aus.“16 Die Eltern beginnen selbst, ihre klimaschädlichen Lebensgewohnheiten zu ändern. Ihr Vater ernährt sich vegan, ihre Mutter versucht es ihm gleichzutun, beide hören auf zu fliegen.17

Für die Opernsängerin, die für ihre Auftritte zu den großen Opernhäusern dieser Welt jettete, bedeutet das das Ende ihrer internationalen Karriere. Im März 2016 singt sie in Wien noch ein Konzert, fliegt zurück und bleibt seither auf dem Boden.18 Später wird ihre Tochter erzählen, ihre Mutter mache jetzt Musicals, sie hätte zwar die Karriere ändern müssen, aber das sei nicht so etwas Großes.19 Sie sieht die Dinge schwarz oder weiß, man lebe entweder nachhaltig oder nicht, „ein bisschen nachhaltig“ gebe es nicht.20 Dennoch hinterlässt das Verhalten der Eltern deutliche Spuren im Leben ihrer Tochter. „Ich sah, dass ich Leute dazu bringen konnte, sich zu ändern“, sagt Greta rückblickend. „Greta war so glücklich. Weil wir zuhörten. Und reagierten. Ihre Worte machten einen Unterschied. Sie wurde gesehen“, erzählen die Eltern. Greta entflieht der Ohnmacht und Depression einen wichtigen Schritt weit.21

Ihre Eltern leben nicht nur nachhaltig, sie gehen weiter. Ihre Mutter, die berühmte Sängerin Malena Ernman, setzt sich in ihrem Land öffentlich für Klimaschutz ein. Gemeinsam mit anderen schwedischen Prominenten – darunter der Biathlon-Olympiasieger Björn Ferrydem, der Politologe Staffan Lindberg und der Meteorologe Martin Hedberg – veröffentlicht sie im Jahr 2017 einen Artikel in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Thema: Warum sie künftig aufs Fliegen verzichten.22

Auch Tochter Greta verfasst einen Artikel über die Umwelt und reicht ihn bei einem Schreibwettbewerb von Svenska Dagbladet ein, eine der wichtigsten Zeitungen Schwedens. Im Mai 2018 wird er als einer der Siegerbeiträge veröffentlicht. Daraufhin wird ein Umweltaktivist auf sie aufmerksam, der junge Leute versammelt hat, um etwas gegen die Klimakrise zu tun. Greta nimmt an Telefonkonferenzen mit dieser Gruppe teil, sie besprechen, wie sie auf die Klimakrise aufmerksam machen können.

Es gibt mehrere Vorschläge, eine Demonstration, einen Marsch, eine Art Schulstreik. Also so etwas in der Art, wie es gerade im März in den USA passiert ist.23 Dort verließen, genau einen Monat nachdem ein 19-Jähriger an seiner ehemaligen Schule in Parkland im US-Bundesstaat Florida ein Blutbad angerichtet hatte, zehntausende amerikanische Schüler im ganzen Land ihre Klassenzimmer und blieben dem Unterricht für 17 Minuten fern – eine Minute für jedes der 17 Opfer. Die Schüler demonstrierten damit für strengere Waffengesetze und gegen die US-Politik, die bei diesem Thema untätig blieb.24

Von allen Ideen gefällt Greta jene eines Schulstreiks fürs Klima am besten. Sie will auch andere in der Gruppe davon überzeugen. Aber die winken ab, sie glauben, ein Protestmarsch habe mehr Erfolg. Greta ist anderer Meinung. Sie nimmt an keinen Telefonkonferenzen mehr teil und schmiedet den Plan alleine weiter. Ihre Eltern versuchen es ihr auszureden.25 Die Mutter überlegt, ihr den Streik zu verbieten, und zweifelt daran, ob Greta ihren Plan wirklich umsetzt. Aber Greta argumentiert, ein Protest reiche nicht mehr, es brauche eine Art zivilen Ungehorsams. Die Verletzung der Schulpflicht als bewusster Akt des Widerstands.

Während der Vorbereitung treffen Greta und ihre Eltern die schwedischen Klimaforscher Kevin Anderson und Isak Stoddard im Institut für Geowissenschaften CEMUS auf dem Campus der Universität Uppsala. Sie kennen einander seit dem Artikel gegen das Fliegen. Gretas Eltern erzählen den Wissenschaftlern, dass Greta sie zu Klimaschützern machte. Ihre Tochter wolle, wenn im August die Schule wieder losgehe, bis zur schwedischen Parlamentswahl vor dem Parlament streiken, drei Wochen lang. Die Wissenschaftler sprechen dem Mädchen Mut zu und loben es. „In Gretas Augen tritt ein Leuchten, und ich habe das Gefühl, genau in diesem Moment entsteht etwas in ihr. Ausgelöst durch das Gefühl, gesehen und gehört zu werden, in einem Zusammenhang, der ihr etwas bedeutet“, schreibt ihre Mutter in dem Buch, das die Geschichte der Familie bis kurz vor dem Schulstreik erzählt.26

Je näher der Termin rückt, desto besser geht es Greta. Die Eltern sehen die positive Stimmung und beschließen, ihre Tochter zu unterstützen. Mit dem Vater besorgt sich Greta ein Stück übriggebliebenes Sperrholz aus dem Baumarkt, sie malen es weiß an, Greta pinselt drei Worte drauf, die sie schon längst im Kopf hat.27

Am Montag, dem 20. August 2018, marschiert die 15-jährige Greta, ein Zopf links, ein Zopf rechts, kariertes Hemd, blaue Weste, Hose mit Leopardenmuster, blaue Turnschuhe, ins Zentrum der schwedischen Hauptstadt, auf den Mynttorget-Platz. Sie setzt sich auf den gepflasterten Boden und lehnt sich mit dem Rücken an die Mauern des Reichstags, des schwedischen Parlaments,28 rechts neben sich ihre rote Trinkflasche und der lila Rucksack, links neben ihr lehnt an der Mauer ihr weißes, selbst gebasteltes Schild. „Skolstrejk för klimatet“ steht darauf, „Schulstreik fürs Klima“.

Vor ihr liegt ein weißer A4-Zettel, beschwert mit einem Stein. Es ist ein Erklärtext für die Passanten: „Wir Kinder tun ja meist nicht das, was ihr sagt, was wir tun sollen. Wir machen, was ihr macht. Und da ihr Erwachsenen auf meine Zukunft scheißt, mache ich das auch. Ich heiße Greta und gehe in die 9. Klasse. Und ich mache den Schulstreik für das Klima bis zum Wahltag.“29

Das Mädchen und die Menge

Wie konnte sich der Schulstreik eines Mädchens zu einem Klimaprotest mit Millionen Demonstrierenden auf der ganzen Welt auswachsen? Greta Thunberg zufolge ist das alles eher zufällig passiert. „Ich habe eigentlich nichts erwartet, ich habe nur gedacht, ich werde tun, was ich tun kann, um Aufmerksamkeit für die Klimakrise zu bekommen. Und wenn ich das tue, schreiben Medien vielleicht darüber und Leute beginnen, darüber zu reden“, sagt Greta, „ich habe es nicht gemacht, um eine Bewegung zu schaffen.“30

Gretas Schulstreik wirkte wie ein Funke für ein Thema, das von Jahr zu Jahr explosiver wurde: Die Folgen der Klimakrise waren immer spürbarer, die Vorhersagen der Klimaforscher immer dramatischer geworden. Thunberg setzte mit ihrer Aktion eine Aufmerksamkeitsspirale in Gang, die sowohl Social Media als auch klassische Medien weiter ankurbelten. Gleichzeitig war die Verlagerung des Protests vom Internet auf die Straße von vornherein vollzogen, weil Greta ihren Protest parallel an beiden dieser Orte begonnen hatte. Damit machte sie sich selbst zum Vorbild für alle, die ihr folgen wollten. Um im Detail nachzuvollziehen, wie der Schneeball zur Lawine wurde, begeben wir uns zurück an den Anfang.

20. August 2018, die 15-jährige Greta setzt sich vor das schwedische Parlament und beginnt damit ihren dreiwöchigen Streik. Umgehend macht sie ihren Protest auf Twitter31 und Instagram32 öffentlich. Einer der Ersten, die an diesem Tag die Kunde des Klimastreiks verbreiten, ist Ingmar Rentzhog. Der Unternehmer gründete ein soziales Netzwerk namens „We don’t have time“, das Klimaschützer zusammenbringen will.33 „Er sprach mit mir und machte Fotos, die er auf Facebook postete“, erzählt Thunberg.34 Die Starthilfe des Unternehmers wird ihr später noch gehörig Probleme bereiten (siehe Seite 133 ff.). Rasch verbreitet sich die Nachricht über das Mädchen vor dem Parlament in den sozialen Netzwerken. Es dauert nur wenige Stunden, bis das schwedische Boulevardblatt Aftonbladet auf die 15-Jährige aufmerksam wird und ein Kamerateam vorbeischickt. Noch am selben Tag erscheint der erste Artikel über den Schulstreik.35

Schon in den ersten Tagen fordert Greta Thunberg Gleichgesinnte auf Twitter auf, sich ihrem Klimastreik anzuschließen. Wer nicht in Stockholm wohne, solle sich einfach vor das Rathaus in ihrem/seinem Heimatort setzen und ein Foto in den Social Media posten. Wer ihre Social-Media-Beiträge aus den ersten Tagen ihres Protests durchforstet, kann dabei zuschauen, wie die Gruppe wächst. Am zweiten Tag des Streiks sitzt am frühen Vormittag schon ein Junge neben ihr.36 „Ich war sehr überrascht, ich habe nicht mit dieser Reaktion gerechnet“, sagt Greta. „Aber es war auch ein großer Schritt, denn von eins zu zwei ist immer der härteste und der größte Schritt. Sobald man diesen Schritt durchlaufen hat, ist man nicht mehr weit davon entfernt, eine Bewegung zu schaffen.“37 Am späten Vormittag sind weitere fünf Mädchen und zwei Frauen dazugekommen. Greta, auch das sieht man auf den Bildern dieser Tage, sitzt meist am Rand der Gruppe. Selbst wenn die anderen sie einkreisen, wirkt sie mittendrin alleine.

An ihrem dritten Streiktag gibt die Jugendliche der anwachsenden Gruppe eine erste Leitlinie vor. Es handle sich bei den Demonstrierenden um eine Initiative, die von politischen Parteien völlig unabhängig sei. „Alle sind willkommen. Alle Altersgruppen.“ Am selben Tag streikt der erste Lehrer mit. Am vierten Tag sind es mehr als dreißig Leute, darunter zwei Frauen mit Kinderwagen, auf ihrem Zettel vor ihnen steht mit Farbstiften „Föräldrar för barnens framtid“ geschrieben, „Eltern für die Zukunft der Kinder“.

Währenddessen melden sich die ersten internationalen Journalisten von CNN und Euronews. Schwedische Journalisten haben sie zu dem Zeitpunkt schon längst vor Ort aufgesucht. Die Bilanz der ersten Streikwoche: Interviews mit mindestens sechs großen schwedischen Tageszeitungen sowie dem Schwedischen und dem Dänischen Rundfunk.38 Mehrere Politiker, darunter zwei schwedische Parteichefs, kommen vorbei, um mit dem Mädchen zu sprechen.39

Gretas klare, harte Worte treffen einen Nerv in heißen politischen Zeiten. Die Wahl zum schwedischen Parlament steht in wenigen Wochen an und der Sommer 2018 ist ein Sommer der Extreme. Weltweit, aber vor allem auch in Schweden.

Wochenlang ist dort der Regen ausgeblieben, der Sommer ist außergewöhnlich trocken und außergewöhnlich heiß. Durch die Hitze wüten im ganzen Land Waldbrände historischer Dimension. Dörfer müssen evakuiert werden.40 Die Lage ist so verheerend, dass die Regierung Teile der Wälder mit Kampfflugzeugen bombardieren lässt. Einem Militärsprecher zufolge soll die Druckwelle der Explosion die Flammen löschen.41 Einen Monat bevor sich Thunberg vors Parlament setzt, musste Schweden andere Länder um Hilfe bitten, weil es den Flächenbränden nicht Herr wurde. Das bringt auch die Regierung unter Druck.42

Die EU-Kommission vermeldet schließlich, dass Schweden mit 360 Helfern, sieben Flugzeugen, sechs Hubschraubern und 67 Fahrzeugen im Kampf gegen die Waldbrände unterstützt worden sei. Das ist bis dahin die größte europäische Zivilschutzoperation des Jahrzehnts, die größte personelle Unterstützung im Kampf gegen Waldbrände überhaupt. Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, Christos Stylianides, ist selbst ins Katastrophengebiet gereist und erklärt: „Die verheerenden Waldbrände in Schweden haben erneut den Einfluss des Klimawandels hervorgehoben und gezeigt, dass wir uns einer neuen Realität stellen müssen.“43

Rasant wie Feuer breitet sich auch die Bewegung aus. Aktivisten aus dem ganzen Land schließen sich Thunbergs Aufruf an, sie streiken in Göteborg, Malmö, Umeå and Örebro.44 Neun Tage nach dem ersten Streiktag gibt Norwegens größte Jugend-Umweltschutzorganisation Natur og Ungdom bekannt: „Nächsten Freitag werden wir in Solidarität mit Greta Thunberg einen Schulstreik organisieren“.45 Ausländische Medien berichten über Greta, der britische Guardian46, das deutsche ZDF47, der niederländische Rundfunk NOS48. Die junge Schwedin fügt dem Hashtag #klimatstrejk, den sie seit 20. August 2018 für ihre Social-Media-Postings verwendet, ab 2. September den internationalen Hashtag #climatestrike hinzu.

Am 4. September 2018 schwappt die Protestwelle in die Niederlande über, dort demonstriert „in Solidarität mit Greta Thunberg“ eine kleine Gruppe von jungen Mitgliedern der Tierpartei vor dem Parlamentsgebäude in Den Haag.

Am 7. September geht schließlich die erste Demo in Oslo über die Bühne.49 Es sind bislang überall nur kleine Menschenansammlungen, aber der Protest wird international. Am selben Freitag, an dem in Oslo Menschen auf die Straße gehen, endet Gretas dreiwöchiger Schulstreik. Am Samstag – dem Tag vor der schwedischen Parlamentswahl – nimmt sie am „Klima-Marsch“ teil, einer Kampagne der amerikanischen Organisation People’s Climate Movement, die von San Francisco ausgeht und seit 2014 weltweit zigtausende Menschen auf die Straßen bringt.50 Der Protest richtet sich gegen die Staatenlenker, die die Klimakrise ignorieren.51 Bei der Veranstaltung in Stockholm spricht auch Thunberg, die binnen dreier Wochen zur lokalen Berühmtheit wurde. Es ist ihre erste öffentliche Rede.52

Sie hält sie auf Englisch und liest vom Zettel ab. Unter großem Jubel des Publikums verkündet die 15-Jährige, dass sie ihren Schulstreik fortsetzen werde. Sie wolle von nun an jeden Freitag vor dem schwedischen Parlament demonstrieren, bis ihr Land eine nachhaltige Klimapolitik sichergestellt habe.

„Die Erwachsenen haben uns im Stich gelassen. Und da die meisten von ihnen, einschließlich der Presse und der Politiker, die Situation weiterhin ignorieren, müssen wir es selbst in die Hand nehmen. Ab heute“, sagt Thunberg. „Jeder ist willkommen. Jeder wird gebraucht. Bitte macht mit!“53 Den Text ihrer Rede stellt sie noch am selben Tag auf Twitter.

Die Nachricht endet mit zwei neuen Hashtags: #FridaysForFuture #FFF.54

Das Mädchen und die Masse

31. Mai 2019. Da steht sie nun, im prächtigen Großen Saal der französischen Botschaft in Wien, abgewetzte Laufschuhe, zerknittertes Hemd, knetet mit den Fingern ihren Zopf. Sie blickt so stoisch durch das Balkonfenster hinunter auf den Schwarzenbergplatz, als hätte der Massenauflauf dort unten gar nichts mit ihr zu tun.

Greta Thunberg, mittlerweile 16 Jahre alt, international bekannte Klimaaktivistin mit Asperger-Syndrom, beobachtet, wie immer mehr Menschen zur Bühne strömen, auf der sie bald die Abschlussrede halten wird. Wenige Minuten zuvor war sie selbst noch mit den Demonstrierenden marschiert, ganz vorne, gleich hinter den Bannerträgern. „Wir streiken bis ihr handelt“, stand darauf in Großbuchstaben geschrieben. Unter ihren Arm hatte sie ihr Schild geklemmt, „Skolstrejk för klimatet“.

Um sie herum marschierten österreichische Aktivisten, die die Aufgabe hatten, sie mit einer eigenen Technik vor Fremden abzuschirmen, etwa vor lästigen Journalisten oder Selfie-Jägern. „Wir nehmen die Zukunft jetzt in unsere Hand“, skandierte die Menge. Greta Thunberg marschierte in der Mitte, versuchte die Lippen zum deutschsprachigen Schlachtruf mitzubewegen, blieb aber leise und trotz ihrer Prominenz unscheinbar.55

Während die Demonstrierenden unten am Schwarzenbergplatz ihren Protest weiter skandieren, stehen für Thunberg in der französischen Botschaft nebenan noch zwei Interviewtermine auf dem Programm. Der Zeitplan ist straff. Thunberg wirkt nicht so, als hätte sie Stress, sie blickt auf die Demo da draußen wie andere ins Feuer. „35.000?“, fragt sie irgendwann leise. Dann lächelt sie.

35.000. So viele Menschen haben laut den österreichischen Fridays-for-Future-Organisatoren beim so genannten „Greta-Streik“ in Wien gegen die versagende Klimapolitik demonstriert. Die Polizei schätzt die Zahl auf 5000. Fest steht, es waren sehr viele. Einiges ist passiert in den vergangenen neun Monaten, seit sich Thunberg alleine vor den schwedischen Reichstag setzte. Sie traf den UN-Generalsekretär, den Papst, den EU-Kommissionspräsidenten. Sie wurde zur Schwedin des Jahres gewählt, zierte das Cover des Time Magazine, wurde für den Friedensnobelpreis nominiert.

Am 30. November 2018, drei Monate nach dem ersten Streiktag, war der Protest in eine Massenbewegung gekippt. Während die Solidaritätsdemos in Europa eher aus Grüppchen bestanden, ziehen auf der anderen Seite des Planeten tausende australische Schüler auf die Straßen von Sydney, Melbourne und Brisbane. Lautstark protestieren sie im Kohleland Australien für das Klima.56 In den Tagen zuvor war eine Hitzewelle über den Kontinent gerollt, im australischen Queensland wüteten rund 200 Buschbrände, tausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen.57 Gleichzeitig hatte ein großer Bergwerkskonzern angekündigt, ein großes Kohleprojekt voranzutreiben.

Schon Tage vor der großen Demo waren Schüler vor das australische Parlament gezogen und verlangten Antworten von Premierminister Scott Morrison, der gerade frisch ins Amt gekommen war. Der hatte die Stimmung weiter aufgeheizt, indem er den Schülern ausgerichtet hatte, sie sollten sich „stärker aufs Lernen“ und „weniger auf Aktivismus konzentrieren“, er lehne es ab, wenn „Schulen in Parlamente verwandelt werden“.58

Für Thunberg sind diese Proteste auf der anderen Seite der Erde ein Wendepunkt. „Wir waren davor nicht so viele. Australien öffnete viele Türen“, sagt Thunberg. „Und dann haben sie in Deutschland, Belgien und in zahllosen anderen Ländern mitgemacht. Dann ist es einfach eskaliert.“

Je größer der Protest wird, desto größer wird die Aufmerksamkeit. Je größer die Aufmerksamkeit, desto bekannter wird Thunberg. Sie spricht auf der UN-Klimakonferenz im polnischen Kattowitz, auf dem Weltwirtschaftsforum im Schweizer Davos, vor Mitgliedern des Europäischen Parlaments in Brüssel. Sie trägt ihre Reden leise und ernst vor. Das junge, zerbrechliche Mädchen, das den Mächtigen in glasklarer Sprache die Leviten liest, entwickelt eine eigene Kraft. Ihre Worte verbreiten sich viral über die sozialen Netzwerke, sie sind so eindringlich, dass in Deutschland im Frühsommer ein Buch mit ihren gesammelten Reden von Anfang September 2018 bis Ende März 2019 erscheint.

Thunbergs Sätze werden zu geflügelten Worten. „Ihr sagt, ihr liebt eure Kinder über alles. Und trotzdem stehlt ihr ihnen ihre Zukunft“ (Kattowitz). „Unser Haus steht in Flammen.“/„Ich will, dass ihr in Panik geratet“ (Davos). „Stellen Sie sich einfach hinter die Wissenschaft“ (Brüssel).59 Sie finden sich bald auf den selbstgebastelten Schildern junger Demonstranten wieder. „Our house is on fire“, „You are stealing our future“, „Unite behind the science“.

„Ich habe gelernt, dass man nie zu klein dafür ist, einen Unterschied zu machen“, steht auf dem Schild von Eylül, die mit tausenden anderen am Wiener Heldenplatz protestiert, wo der Wiener Greta-Streik seinen Ausgang nimmt. Es ist ein Zitat aus Thunbergs Rede beim UN-Klimagipfel in Kattowitz. Eylül kam schon zur ersten großen weltweiten Demo im März 2019, aber weniger wegen des Klimas, eher wegen der Freunde. Dort hörte sie von Thunberg. „Ich habe mir gedacht, eine Person kann viel erreichen“, sagt Eylül, „Greta war eine Inspiration für mich.“ Noch am selben Tag recherchierte Eylül im Internet über die Klimakrise. Jetzt, zwei Monate später, sagt Eylül, 15 Jahre alt, inmitten der Demo-Masse: „Die CO2-Steuer interessiert mich sehr.“ Sie hat schulfrei, sie ist trotzdem hier.

Nur ein paar Meter hinter Eylül steht Lina, elf Jahre alt. Sie hat die Schwedin in einer Nachrichtensendung für Kinder gesehen. „Greta hat alle ermutigt, etwas für den Klimaschutz zu tun“, sagt Lina. Auf ihrem Schild steht: „Greta, du machst uns stark“.

Der Demozug, der sich vom Heldenplatz über den Ring zum Schwarzenbergplatz schiebt, ist eindrucksvoll. Thunberg hat aus einer Ein-Mädchen-Demo eine globale Ökologiebewegung gemacht, die die Klimakrise auf die politische Agenda hievte und junge Menschen für Politik begeistert. Auch in Österreich.

Da steht sie nun im zweiten Stock der französischen Botschaft, im Großen Saal. Dem Tross, der sie begleitet, entkommt sie leise und unauffällig. Sie steht nun beim anderen Fenster, allein. Thunberg blickt noch immer stoisch hinunter auf die Menschen, die zum Schwarzenbergplatz strömen, in ihren Händen Schilder wie „Great Greater Greta“ und „Wir sind mit Marvel, Harry Potter und Star Wars aufgewachsen. Natürlich schlagen wir zurück“.

Bewegt sie das? Greta Thunberg sagt wie immer nur so viel, wie sie sagen muss. Sie sagt: „Ja.“

Die Marke Greta

Sein Hinterteil ist honigfarben, er hat weder Augen noch Flügel und er ist kleiner als ein Millimeter. Der Käfer heißt Nelloptodes gretae, das gretae steht für Greta. „Ich habe diesen Namen gewählt, weil ich von der Arbeit der jungen Aktivistin sehr beeindruckt bin und ihren herausragenden Beitrag zur Sensibilisierung für Umweltfragen würdigen wollte“, erklärt der Entdecker des Käfers, Michael Darby.60

Eine Designagentur bietet eine neue Schriftart kostenlos zum Download an, die „Greta Grotesk“. Sie wurde aus den Buchstaben von Gretas Schild „Skolstrejk för klimatet“ entwickelt. Der Erfinder der Schrift erklärt, es habe ihn bewegt, wie viele Menschen dieses Mädchen inspiriert habe. Eines habe ihn gewundert: „Da gibt es dieses ikonische Stück visueller Kommunikation – und keinem fällt so richtig auf, wie zentral dieses Design für die Bewegung ist.“61

Es sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass aus dem Mädchen eine Ikone wurde. Sie inspiriert nicht nur Aktivisten, die ihre Zitate auf Schilder schreiben oder „Zöpfchen an die Macht“ fordern. Sie ist auch Muse für Künstler. Im Istanbuler Bezirk Kadıköy malen die Street Artists Mr. Dheo und Pariz One ein überdimensionales Thunberg-Porträt auf die Wand eines mehrstöckigen Hauses.62 Film- und Fernsehstars hofieren sie. Ellen DeGeneres fühlt sich geehrt, die „erstaunliche Greta Thunberg“ zu treffen63, Leonardo DiCaprio bezeichnet sie als „eine Führerin unserer Zeit“64, Jane Fonda erklärt, sie sei von Thunberg inspiriert worden.65 Die Schauspielerin zog nach Washington, D.C., um dort mehrere Monate lang jeden Freitag vor dem US-Senat für mehr Klimaschutz zu streiken. Weil das verboten ist, wurde sie regelmäßig von der Polizei in Handschellen abgeführt.66 Dem prominenten Protest schlossen sich unter anderen auch die Schauspielerinnen Rosanna Arquette und Catherine Keener sowie der Seriendarsteller Sam Waterston67 an, die sich allesamt ebenfalls verhaften ließen.68

Musiker remixen die Reden von Greta, sie werden mit Elektronik, Techno oder Death Metal unterlegt69. Den zwanzig Jahre alten Hit „Right Here, Right Now“ des DJs Fat Boy Slim kombiniert jemand mit Greta Thunbergs gleichlautenden Textpassage „Right here, right now“ aus ihrer Rede in New York. Fat Boy Slim gefällt das so gut, dass er die neue Version seines Hits selbst auf einem Konzert spielt.70

Greta, die Ikone, wird zu etwas, zu dem Ikonen immer werden: zum Konsumartikel. Das Mädchen, das sich aus Klimaschutzgründen kein neues Gewand mehr kauft und daher immer dieselben Sachen trägt, entwickelt sich zur Marke. Daraus schlagen findige Geschäftsleute Kapital. Ein Grafiker erstellt die kostenpflichtige Vektorgrafik „Greta Braids“, mit der man sein eigenes Gesicht mit Greta-Zöpfen versehen kann, „um sich mit der jungen Klimaaktivistin zu identifizieren und den Klimawandel zu bekämpfen“.71

Es gibt Greta-Sticker um 2,95 Euro72, das Thunberg-Häferl um acht Pfund73 und das T-Shirt mit dem aufgedruckten Greta-Zitat „You are never too small to make a difference“ um 13,99 US-Dollar.74 Ihr Konterfei findet sich als Leinwandbild, auf Wanduhren oder kuscheligen Fleece-Decken.75 Auch der Büchermarkt kommt in Schwung. Das Kinderbuch „Greta and the Giants“ handelt von einem kleinen Mädchen in einem wunderschönen Wald, das von Riesen bedroht wird, und ist „inspiriert von Greta Thunbergs Einsatz, die Welt zu retten“.76 Das Buch „Greta’s story“ wiederum ist ein Buch für junge Erwachsene und zeichnet ihren Schulstreik nach.77 Ihre gesammelten Reden sind mittlerweile in verschiedenen Ausgaben erschienen.78

Greta hat einen Hype ausgelöst, der sie in wenigen Monaten berühmter machte als ihre Mutter. Aber sie wirkt nicht wie ein Star. Thunbergs Person fasziniert auch deshalb, weil sie jedes Klischee bricht. Eine 16-Jährige, die aussieht wie ein Kind, aber spricht wie eine Erwachsene. Ein Megastar, der so unscheinbar ist, dass er auf dem Weg zur Bühne selbst von seinen Fans nicht gesehen wird, aber auf der Bühne alles überstrahlt. Ein Symbol für ihre Generation, die gleichzeitig so anders ist als das typische Bild dieser Jugend. Ein junges Mädchen, das sich nicht wie andere Influencerinnen dabei filmt, wie es sich schminkt und hübsch macht, sondern das verzichtet und in alten Klamotten auftritt. Vor der Kamera rappt sie nicht, spielt keine Videospiele, treibt keinen Schabernack. Stattdessen spricht Thunberg über CO2-Emissionen, Rückkopplungsschleifen und Kipppunkte, sie zitiert Klimaforscher und Studien. Trotzdem erreicht sie in den sozialen Netzwerken Millionen Fans.

Wer dem schüchternen Mädchen die Hand gibt, spürt keinen Druck in seinen Fingern, wer mit Greta spricht, hört sie kaum. Doch ihre Worte treffen wie leise Pfeile. So wie beim R20 Austrian World Summit 2019, wenige Tage vor dem Greta-Streik in Wien. „Zu lange sind Machthaber damit davongekommen, unsere Zukunft zu stehlen, um sie für Profite zu verkaufen“, sagte Thunberg in der Wiener Hofburg. „Aber wir jungen Leute wachen auf. Und wir versprechen, wir werden euch nicht mehr damit davonkommen lassen.“ Dann setzte sich das Mädchen in die erste Reihe und wirkte so, als wollte es sich unsichtbar machen, während sich das Publikum hinter ihm zum Applaus von seinen Sitzen erhob.

Selten schien die Macht dieser Kombination aus rhetorischem Wunderkind und Verletzlichkeit größer als beim R20-Gipfel, als sie neben Arnold Schwarzenegger auftrat, diesem Gerät von einem Mann, fast 1,90 Meter groß, Stiernacken, Hände so groß wie Flossen. Am Vortag war das Bild um die Welt gegangen, der gealterte Actionstar legt seine Hände schützend auf die schmalen Schultern des Mädchens, zwei Köpfe kleiner als er. „Ich muss zugeben, dass ich von diesem Star beeindruckt war.“ Das schrieb Schwarzenegger über Thunberg. Nicht Thunberg über Schwarzenegger.

Die Verhältnisse scheinen sich umgekehrt zu haben. Schwarzenegger, der schon seit Jahren mit coolen Actionsprüchen gegen die Klimakrise ankämpft, stand plötzlich hinter Greta, fast wie im Schatten dieser kleinen Person. Thunberg sieht nicht aus wie eine Actionheldin, die den Weltuntergang alleine verhindern kann. Dieses zierliche, blasse Mädchen mit dem geflochtenen Zopf wirkt wie die Fleisch gewordene Unschuld. Es gibt der Opfergeneration in Zeiten der Klimakrise ein Gesicht. Ein Gesicht, das die Medien brauchen.

Making Greta great

Wer verstehen wollte, wie der Hype um Greta Thunberg entstanden war, der konnte das im Sommer 2019 noch einmal live beobachten. Denn ihre Geschichte wiederholte sich auf einem anderen Kontinent jenseits des Atlantiks. UN-Generalsekretär António Guterres hatte den UN-Klimagipfel in New York ins Leben gerufen, um die globalen Bemühungen im Kampf gegen die Klimakrise schneller voranzutreiben.79 Thunberg war eingeladen. Aber da sie aus Klimagründen nicht fliegt, schipperte sie zwei Wochen lang als Stargast auf der Rennyacht Malizia II über den Atlantik.80

Europäische Medien berichteten ausführlich und kontrovers über die Segelreise der Klima-Ikone (siehe auch Seite 136), in den USA hatte Thunberg hingegen längst noch nicht diesen Bekanntheitsgrad. „Fast wirkt es so, als wäre sie ein Popstar, der Amerika erobern will“, schrieb der deutsche Spiegel