Inszenierte Peoplefotografie - Jamari Lior - E-Book

Inszenierte Peoplefotografie E-Book

Jamari Lior

4,8

Beschreibung

Dieses Buch gewährt einen Blick über die Schulter unterschiedlichster Fotokünstler: Fotografen, Maskenbildner, Bodypainter, Bildbearbeiter und einem Tattoomodell - und stellt ihre zum Teil völlig konträren Arbeitsweisen vor. Allen gemeinsam oder ist die Leidenschaft für die inszenierte Fotografie von Menschen - und die persönliche Bekanntschaft mit der Autorin, die und ihren Arbeitsstil live erlebt hat, sei es als Model oder als Fotografin. Nach einer Kurzvorstellung beschreibt die Autorin den jeweils typischen Arbeitsprozess des Fotokünstlers. Sie führt vor, wie sie sich Anregungen holen, Ideen entwickeln, ein Team zusammenstellen und Requisiten beschaffen. Sie erfahren, worauf beim Fototermin geachtet wird und welche Grundidee das Shooting oder die Bildbearbeitung leitet. Textboxen geben Ihnen allgemeine Ratschläge für die praktische Arbeit an die Hand, die stilistischen Besonderheiten der Fotografen werden am Ende eines jeden Kapitels resümierend auf den Punkt gebracht. Die Kapiteleinführungen beleuchten die kulturanthropologische Seite der vorgestellten Stilrichtungen und erläutern, was jeweils ihren besonderen Reiz ausmacht. Folgende Stilrichtungen werden von einem oder mehreren Fotokünstlern repräsentiert: - Tableau Vivant - Die "alten Meister" unter den Fotografen - Classical - Gestaltung mit Formen und Licht - Painted Phantasies - Bunte Haut und Fotos - Nostalgia - Vergangenes, Romantisches und Verklärtes - Beauty & Fashion - Wie aus dem Modemagazin - Dark Art - Düster, skurril und scary - Burlesque - Zirkus der Sonderbarkeiten - Fetisch - Mit Devianz und Disziplin - Pure - Einfaches in komplizierten Zeiten - Movie Art - Teaser fürs Kopfkino

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Jamari Lior stand zunächst selbst bei zahlreichen Shootings als Model vor der Kamera und wechselte dann die Perspektive. Als promovierte Medienethnologin betrachtet sie die theoretische Seite der Fotografie, als freiberufliche Fotografin beherrscht sie die praktisch-gestalterische Seite der inszenierten Menschenfotografie. Sie unterrichtet medienbezogene Themen an verschiedenen Institutionen. Zuletzt hat sie die Bücher »Modelfotograf werden« und »Besondere Techniken der Modelfotografie« sowie die DVD »Praxistraining Fotografie: Posing« veröffentlicht.

Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+:

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Inszenierte Peoplefotografie

Modelle, Kostüme, Posen und Sets – Menschen konzeptuell in Szene gesetzt

Jamari Lior

Dr. Jamari [email protected]

Lektorat: Rudolf Krahm

Copy-Editing: Alexander Reischert, Redaktion ALUANLayout: Just in Print, BonnHerstellung: Susanne BröckelmannUmschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.deDruck und Bindung: Himmer AG, Augsburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar..

ISBN:

Buch 978-3-86490-131-7

PDF 978-3-86491-591-8

ePub 978-3-86491-592-5

1. Auflage 2015

Copyright © 2015 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.

Wenn nicht anders angegeben, wurden die Fotos von der Autorin (Vorwort, Einleitung, Kapitel über Dorothée Hartmann, Punthip Schramm und Tattoomodell Miss Ivi) aufgenommen. Die Fotos in den Kapiteln und Galerien, die Fotografen und ihre Arbeiten vorstellen, wurden freundlicherweise von diesen für die vorliegende Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden von den Autoren mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Herausgeber noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buchs stehen.

In diesem Buch werden eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet. Auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen.

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Vorwort

Ein einziger ausgewählter Moment ist es, den wir als Foto präsentiert sehen – aber welche Geschichte dahintersteckt, ob es zufällig oder minutiös geplant zu dem Bild gekommen ist, ob sich die Idee aus der Lebensgeschichte des Fotografen oder des Models entwickelt hat oder spontan aus der Situation heraus, welche Requisiten organisiert und welche Posen ausprobiert wurden, wie das Casting stattfand, ob dem Foto oder der Bearbeitung der größere Stellenwert eingeräumt wird – all das bleibt dem Rezipienten verborgen.

Dieses Buch stellt ganz unterschiedliche Charaktere vor mit zum Teil völlig konträren Arbeitsweisen. Allen gemeinsam ist die Leidenschaft für die inszenierte Menschenfotografie – und meine persönliche Bekanntschaft. Mit allen habe ich schon zusammengearbeitet und ihren Arbeitsstil live erlebt ... und alle haben mich auf ganz unterschiedliche Weise beeindruckt.

Wie können Sie nun dieses Buch lesen?

› Sie können es als Geschichten über Künstler betrachten, als biografische Abrisse. Meine Idee zu diesem Buch resultierte aus zahlreichen Mails von (angehenden) Fotografen, die »mir mal über die Schulter schauen« wollten. Organisatorisch ist der »Schulterblick« für mich wie für viele meiner Kollegen schlecht realisierbar, aber manchmal fragte ich nach, was man sich davon verspreche. Einen Einblick in eine Arbeitsweise, die vielleicht der eigenen entspricht, eventuell überraschend anders ist, einen möglicherweise anderen Umgang mit den Modellen, eine womöglich andere Sichtweise, antwortete man mir. Nun habe ich das Glück, mit vielen spannenden Künstlern persönlich gearbeitet zu haben – und daher kann ich den Blick über ganz verschiedene Schultern anbieten.

› Durch diesen Blick können Sie sich inspirieren lassen zu neuen Themen und Arbeitsweisen, Sie können sich einen bestimmten Künstler oder sukzessive mehrere vornehmen und versuchen, gleich einer Fingerübung in dem jeweiligen Stil zu arbeiten, oder auch kapitelweise schauen, wie sich ein eigener Stil zu einem Thema wie »Tableau vivant« oder »Classical« entwickeln lässt. Hierfür gebe ich Ihnen in jedem Kapitel einige Tipps.

› Sie können das Buch aber auch als Sammlung semiotischer Bildanalysen verstehen. Ihre Arbeitsweise kann dies dahingehend beeinflussen, dass Sie Gestaltungselemente und Inhalt anders planen. Aber auch post factum vermag Ihnen eine neue Sichtweise zu helfen, sich selbst, die eigene Arbeitsweise und Ästhetik besser zu verstehen und Ihre Bilder besser verkaufen zu können.

› Übrigens: Die Kapitel bauen nicht aufeinander auf. Sie sind also frei, Ihre eigene Reihenfolge zu kreieren. Die vorgestellten Künstler in ihrem vollständigen Werk zu erfassen ist nahezu unmöglich; ich fokussiere mich hier auf eine kleine, möglichst typische Auswahl.

Myself

Gestatten, Jamari Lior.

Mein Weg zur Fotografie verlief über einen Umweg von vielen tausend Kilometern. Zu Beginn meines Studiums verbrachte ich ein Jahr in Südindien, einer Gegend, die mich schon seit meiner Kindheit fasziniert hatte. In meiner Nachbarschaft dort lebte die weltbekannte Bharata Natyam-Tänzerin Anita Ratnam. Tanzen war damals eine meiner Leidenschaften, sodass ich mir eines Tages ein Herz nahm und mich bei der Dame vorstellte. Ich sollte vortanzen, dann wurde telefoniert, dann noch einmal – und schon wurde mir eine Rolle in einem jener indischer Kinofilme angeboten, bei denen Tanz recht bedeutsam ist. Vom Film geriet ich geradewegs in eine Modelagentur. Bis zu dem Zeitpunkt sah ich das eher als kulturelle Erfahrung, als Chance, ein weiteres Gesicht Indiens kennenzulernen als Kontrastprogramm zu den Kinderheimen, in denen ich zuvor Sozialpraktika absolviert hatte. Bald schon fing ich aber auch richtig Feuer für die Fotografie und der indische Hintergrund prägte meine Vorstellung von Ästhetik und Inszenierung: In indischer Kunst geht es oft darum, ein Gefühl zu vermitteln. Götter oder mythologische Figuren werden meist absolut darstellt, in einer statischen Pose oder einem für sie typischen Szenario, versehen mit bedeutungsträchtigen und klar zuzuordnenden Attributen. So versteckt sich in jeder Darstellung eine ganze Geschichte. Mein Faible für die semiotische Bildanalyse hat u. a. hier seinen Anfang genommen.

Zurück in Deutschland führten weitere Zufälle dazu, dass ich mich immer häufiger vor der Kamera wiederfand. Nicht nur die Fotografie faszinierte mich, sondern auch die so unterschiedlichen Menschen, die ich über die Fotografie kennenlernte, die Künstler, mit denen ich zusammenarbeiten durfte.

Eine seltsame Stimmung geht von dieser Location aus; sie findet sich in mehreren Spannungsfeldern: Die zahlreichen Verstrebungen der Fenster lassen Gitterstäbe assoziieren wie bei einem großen Vogelkäfig, andererseits könnten das wilde Wasser, welches an das offene Meer denken lässt, die fliegenden Vögel und der durch das Kleid wehende Wind auch für die Freiheit stehen. Die Vögel könnten wie bei dem Hitchcock-Film, DEM Horror-Klassiker, Grusel symbolisieren, andererseits fliegen sie in einer Location, die von ihren Farben her eher freundlich wirkt. Und der Mensch, ich selbst? Führt mein Weg ins Wasser oder in die Luft?

Neben dem Modeln schloss ich mein Studium der Medienwissenschaft, Ethnologie und Psychologie ab und promovierte mit einem fotobezogenen Thema in Medienanthropologie. Seither kombiniere ich die praktische und die theoretische Seite: Mittlerweile findet man mich hinter der Kamera beim Fotografieren von Inszenierungen oder auf Reisen; außerdem gebe ich Foto-Coachings und -Workshops und unterrichte regelmäßig an Akademien und an der Universität Trier. Aufgrund dieser Basis ist es mir wichtig, nicht nur intuitiv zu arbeiten, nicht nur gerne Bilder anzuschauen, sondern auch zu verstehen, warum welches Motiv oder Bild etwas Besonderes besitzt, warum bestimmte Themen und Trends in der Fotografie auftauchen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

01 Tableau Vivant – Die »alten Meister« unter den Fotografen

Dietmar Ritter

Peter Kemp

Mister Ez

02 Classical – Gestaltung mit Formen und Licht

Jürgen Isberner

Rainer Gillessen

03 Painted Phantasies – Bunte Haut und Fotos

Peter und Petra Tronser

Metamorphosen

Tattoomodell Miss Ivi

04 Nostalgia – Vergangenes, Romantisches und Verklärtes

Dorothée Hartmann

Pierre Leszczyk

05 Beauty & Fashion – Wie aus dem Modemagazin

Klaus Huber

06 Dark Art – Düster, skurril und scary

Dieter Schumann

Heile Mania

Brownz

07 Burlesque – Zirkus der Sonderbarkeiten

Punthip Schramm

08 Fetisch – Mit Devianz und Disziplin

Magic Zyks

Marcus Gloger

09 Pure – Einfaches in komplizierten Zeiten

Andreas Puhl

Uli Allgaier

10 Movie Art – Teaser fürs Kopfkino

Calvin Hollywood

Nachwort

Dank

Einleitung

Was sagt uns dieses Foto?

»... Werke voller verschleierter und damit umso stärkerer Erotik«, schloss ein junger Kunstgeschichte-Professor seine Rede zu einer meiner Vernissagen ab. Die beiden Modelle, die mich zur Vernissage begleitet hatten, schauten verwirrt. Die ganze Rede hatte das Thema »Erotik« behandelt und der Professor sah unglaublich viel davon in meinen in dieser Ausstellung völlig aktfreien Fotos. Das war jedoch keineswegs meine Intention mit diesen Fotos gewesen – für mich ging es eher um Bilder, die auf den ersten Blick recht niedlich sind, vielleicht sogar als »kitschig« beschrieben werden könnten, auf den zweiten Blick aber oft einen sanft ironischen Twist beinhalten: Bilder wie »Die Vögel« (siehe S. vii), auf dem man ein harmonisch-romantisches Szenario entdecken, den Raum aber ebenso als surreal mit den vielen Gitterlinien der Fenster als Käfig begreifen kann. Trotz der Pastelltöne identifiziert man die Szene als leicht gruselig, wie es schon der Titel, die Anspielung auf den berühmten Hitchcock-Film, nahelegt.

Jedem Rezipienten sei es natürlich gestattet, seine Interpretation ins Bild zu legen – aber bei besagter Vernissage habe ich dann meine eigene zumindest auch in den Raum gestellt.

Erstaunlicherweise sind, wie mir in Gesprächen mit Kollegen oft aufgefallen ist, vielen Künstlern die eigenen Motive und Motivationen gar nicht bewusst. »Wozu auch«, mag man denken: »Wer selbst kreativ sein kann, muss keine Werke analysieren können.« Oder man sagt sich: »Wenn mein Bild gut ist, was kümmert mich das Warum?« Dies soll ein Plädoyer dafür sein, dass das Warum doch wichtig ist.

Die Bildanalyse, sei es von eigenen oder fremden Bildern, hilft dem Praktiker, eigene Stärken zu erkennen und auszuarbeiten, neue Ideen zu bekommen und die eigenen Bilder bei Kunden und Interessenten besser zu vermarkten. Sprechen Sie für Ihr Bild und lassen Sie es nicht für sich sprechen – denn möglicherweise findet es nicht die richtigen Worte für jeden und in jeder Situation!

Dem Kunstinteressierten hilft die Bildanalyse, spannende Werke zu identifizieren und die Bilderwelt um sich herum besser zu verstehen. Letztlich hat man dann mehr Genuss aus Bildern gezogen, wenn man nicht nur die Oberfläche würdigen, sondern tiefer in das Bild eindringen kann. Es ist vergleichbar mit Songs: Ich erinnere mich noch daran, wie mir als Jugendliche manch fremdsprachliche Lieder gefallen haben, deren Texte ich jedoch (noch) nicht verstehen konnte. Oft habe ich dann recherchiert, genauer hingehört und nach Übersetzungen und Originaltexten gesucht – mal mit dem Resultat, dass mich ein Song etwas enttäuscht hat, weil ich den Text langweilig fand und die Reime aufdringlich – und mal konnte ich den Song später umso mehr schätzen, weil ich ganz neue Botschaften entdeckte oder weil mir die Musikalischeren in meiner Familie Hinweise auf interessante Dur-Moll-Übergänge oder Taktarten gegeben hatten.

»Lipstick-Madonna« – der Schein ist die neue Religion. Doch wie das mit dem Glauben, der Unsicherheit so ist, schmerzt auch diese. Zudem haftet ihr etwas Heidnisches an, eine leichte Vampir-Assoziation ...

Bildanalyse für unsere Zwecke ist keineswegs schwierig oder langwierig – und eigentlich braucht es dafür auch kaum neue Begriffe. Ein paar kurze Grundlagen möchte ich aber doch einführen. Ein zentrales Begriffspaar geht zurück auf die Linguistik, in der man den Wortlaut und die Wortbedeutung unterscheiden kann. Ähnlich ist es auch in der visuellen Welt: Es gibt ein Bild, das Bezeichnende bzw. das Signifikant, und etwas, für das dieses Bild steht, das Bezeichnete bzw. das Signifikat. Das Bild einer stark tätowierten Frau kann z. B. Signifikant sein für Freigeist, das Bild eines klassischen Boudoirs kann für Nostalgie stehen.

Weiter lassen sich verschiedene Interpretationsebenen unterscheiden. Die erste Ebene eines Bildes erschließt sich meist sehr schnell, intuitiv und fast interkulturell – z. B. sieht man auf einem Bild eine Frau, dann noch einen blauen Umhang, ein Kind und um beide herum Wolken. Mit der Basis seiner kulturellen Prägung, aufgrund von Zeitgeist und individuellem Geschmack kann man festhalten, ob es sich um eine hübsche Frau handelt, ob sie freundlich wirkt oder nicht. Man kann den Umhang betrachten und darauf schließen, dass er, versehen mit besonderer Dekoration, Signifikant für Luxus sein könnte. Diese Ebene, die sich für einzelne Zeichen und deren Bedeutungen interessiert, nennt man Semantik.

Eine ausgewogene Harmonie zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die ihren Ausdruck auch in der geschlossenen Endform erlangt ... oder ein versteckt provokantes Bild, auf dem die typisch »westliche« Frau zwei dunkelhäutige Boytoys hält – ein Statement zur weiblichen Emanzipation –, oder die Studie einer zarte Frau, die doppelt beschützt werden muss ... oder doch einfach nur eine Formenstudie?

Auf einer zweiten Ebene kann man darüber hinausgehend ein tieferes Verständnis entwickeln: Aufgrund des Arrangements und eines – vermutlich auch vom Künstler angenommenen – kulturellen Vorwissens erkennt man, dass es sich um eine typische Darstellung der heiligen Maria handelt. Die Ebene, die die Zusammenstellung betrachtet, nennt man Syntax. Hier gibt es bestimmte Möglichkeiten ähnlich denen der Sprache: Man kann Elemente parallel arrangieren und damit inhaltlich parallel setzen, etwa ein Mädchen und eine Blume, oder in Opposition zueinander, etwa eine Blume und eine Müllhalde oder ein Schwarzweißbild und darüber eine knallpinke Schrift. Der Fokus des Rezipienten kann geleitet werden durch eine besondere Satzstellung oder Ausschmückung bzw. auf visueller Ebene durch eine Vignette, dunkler, heller oder unschärfer werdende Ränder oder eine besondere Farbigkeit wie beim Colorkey, wo ein wichtiges Element farbig, meist in Rot dargestellt wird und der Rest entsättigt oder schwarzweiß. Die Syntax betrachtet also die Beziehungen zwischen den Zeichen.

Die dritte Ebene ist die Pragmatik. Sie rückt die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichennutzer in den Mittelpunkt, indem sie fragt, wozu das Bild entstanden ist. Soll es provozierend wirken oder harmonisch? Ist es eine Parodie auf ein anderes Werk? Um dies zu beantworten, ist wiederum der kulturelle Kontext wichtig, oft aber auch die politische, religiöse etc. Haltung des Künstlers oder Auftraggebers – gleich ob es sich um ein werbetreibendes Unternehmen handelt oder, wie zumeist in früheren Jahrhunderten, um reiche adlige Auftraggeber oder um die Kirche.

Die Natur ist tot, das Kleid ein Skelett, doch das Model thront über all dem – ist es die Göttin des Todes? Oder die Vorbotin des Frühlings?

Wo entsteht letztlich das Bild? Es geschieht keinesfalls nur vor der Kamera oder am PC, sondern im Kopf des Rezipienten – und das können gute Fotografen bereits bei der Planung und Umsetzung ihrer Arbeit berücksichtigen.

© Dietmar Ritter

01

Tableau Vivant – Die »alten Meister« unter den Fotografen

Fotografie in den Fußstapfen der Malerei – hier sieht man inhaltlich verdichtete Werke, die sich in ihrer Ästhetik, den Requisiten, den Posings und dem Arrangement an den alten Meistern orientieren. Oft bringen sie aber auch Brüche in Form von Zeitsprüngen ein, von modernen Elementen, die dem Betrachter vor Augen führen, dass es sich um das Medium der Fotografie handelt.

»Tableau vivant« bedeutet »lebendes Bild«; es sind Produkte einer Synthese aus Malerei und Fotografie, die sich geschichtlich schon früh etabliert hat: Fotografen fanden Anregungen bei der Malerei, Maler arrangierten Posen und arbeiteten mithilfe von Fotos, wählten oft berühmte Daguerreotypien als Vorbild1. Frühe fotografische Tableaus wirken entsprechend oft wie Gemälde, denen genaue Überlegungen bezüglich Bildaufbau, Posing, Requisite und Bildaussage zugrunde liegen. Diese enge Verwandtschaft liegt in zwei Faktoren begründet: Zunächst konnte die frühe Fotografie einfach nicht die Belichtungszeiten nutzen, die für spontanere Augenblicke nötig sind. Außerdem war nicht klar, wie man die damals neue Technik der Fotografie verorten sollte – war es nur Spielerei, war es Dokumentation oder sollte man die Fotografie in die Tradition der Kunst einordnen? Letzteres versuchte manch früher Fotograf zu etablieren, indem er mit einem aus der Malerei vertrauten Bildvokabular – bestimmten Symbolen, Haltungen, Lichtsetzungen etc. – arbeitete.

Auch bei heutigen fotografischen Tableaus wird – vom Künstler bewusst oder unbewusst eingesetzt – oft mit Formen und Symbolen gespielt, welche sich auf die »alten Meister« der Malerei beziehen, die sich im kollektiven Gedächtnis befinden, so etwa die Vermeer-Adaptionen bei Peter Kemp.

Im Folgenden sei ein kurzer Überblick über die für Tableaus typischerweise Pate stehenden Epochen gegeben:

In der Romanik, etwa von 950–1250, wurden meist Bibelszenen als Motive gewählt. Diese Darstellungen enthalten zahlreiche symbolische Anspielungen und sind dabei nicht sehr naturalistisch gestaltet. Individuelle Gesichtszüge spielten noch keine Rolle und entgegen den Gesetzen der Optik wird das besonders groß dargestellt, was als wichtig hervorgehoben werden soll. Auch in der darauffolgenden Gotik (1140—1500) herrschte noch immer die sogenannte Bedeutungsperspektive vor. Der inhaltliche Hauptfokus lag weiterhin auf der christlichen Religion.

In der Renaissance (1420–1600) begann man mit Ölfarben zu malen und die Perspektiven und Proportionen genauer zu erfassen, letztere mit Bezug auf die klassische antike Kunst. Die Personen werden vor allem in der Hochrenaissance meist idealisiert gezeigt.

Im Barock (ca. 1600–1720) sieht man häufig dynamischere Darstellungen. Die Ausstattung ist prächtig, die Figuren üppig und die Komposition lebt vom Spiel mit Licht und Schatten. Neben Portraits wurden auch Stillleben, Landschaftsbilder, Genre-Gemälde und Bilder mit historischen oder mythologischen Themen geschaffen. Typisch bei vielen dieser Spielarten ist der starke Einsatz von Metaphern, somit zählt das Barock zu einer der favorisierten Epochen für Tableaus.

Der Begriff »Rokoko«, der die Kunst von etwa 1730–1770/80 bezeichnet, leitet sich ab von Rocaille, einer asymmetrischen Muschelform, die als Ornamentmotiv beliebt war. Die im Barock noch wichtige Symmetrie wird im Rokoko in den Hintergrund gerückt. Rokoko-Gemälde wirken verspielt und leicht, oft geht es um erotische Themen.

Der Klassizismus (1770–1840) kann als gegenteilige Bewegung aufgefasst werden: Er wendet sich wieder einfachen Linienführungen zu und orientiert sich an antiken Vorbildern. Inhaltlich wählt er eher ernste Themen, oft mit patriotischen Aspekten.

Das Biedermeier (1815–1848), zurückgehend auf die literarische Figur des spießbürgerlichen Gottlieb Biedermaier, wird als deutsche Unterepoche betrachtet, welche Genre-, Landschafts- und Portraitthemen bietet und die Flucht ins private Idyll darstellt. Religiöse oder historische Motive fehlen weitgehend. Der Begriff Romantik (1800–1840) bezieht sich auf Schriften in romanischen Sprachen als Gegensatz zum zuvor typischen Latein. In den Volkssprachen wurden jetzt »Romane« geschrieben, Emotionen dabei zentral thematisiert. Man wandte sich ab von den klassischen Vorbildern und konzentrierte sich auch in der Malerei auf die Gefühle des Künstlers. Das individuelle Empfinden rückt in den Vordergrund. Die Maler verließen dafür das Atelier und malten auch unter freiem Himmel. Auch die viktorianische Kunst und die Präraffaeliten um 1840 beschäftigten sich mit der Natur.

Spätere Epochen wie Impressionismus, Kubismus und Dadaismus können natürlich auch Pate stehen für Tableaus, tendenziell wird der Begriff aber eher auf die sogenannten »alten Meister« fokussiert.

Beim Erstellen eines Tableaus orientieren sich manche Künstler sehr eng an ihren historischen Vorbildern. So kann man auf allgemein bekannte, im kollektiven Gedächtnis präsente Werke zurückgreifen und sich dadurch deren Assoziationskraft zunutze machen. Ebenso lässt sich auch mit den Stilelementen der Epochen arbeiten, etwa solchen, die typischerweise bestimmte Emotionen hervorrufen oder auf bestimmte Situationen verweisen.

Warum sollte man Tableaus fotografieren? Der Fotograf stellt sich mit dieser Wahl in die Tradition der alten Meister und etabliert die Fotografie, die ein riesiges Feld von wissenschaftlicher Visualisierung über private Dokumentation bis hin zur Werbung umfasst, für sich als Kunst. Traditionsreiche Motive, deren Erkennen er voraussetzen darf, kann er neu interpretieren. Zudem hängt dem Tableau oft ein Hauch von Nostalgie an: Es basiert auf vergangenen Zeiten, meist auf jenen, bevor die Kunst abstrakt wurde, bevor Readymades als Kunst deklariert wurden – also Zeiten, die überschaubarer wirken und verständlicher. Mit dieser Basis kann der Fotograf nicht nur Nostalgie vermitteln, sondern auch effektvoll Brüche – moderne Elemente, Ironie – in die Tableaus einbringen.

Dietmar Ritter