Integrale Psychologie - Rainer Eggebrecht - E-Book

Integrale Psychologie E-Book

Rainer Eggebrecht

0,0

Beschreibung

In einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit besteht die Herausforderung darin, das große Ganze zu erfassen und zugleich das Wesentliche präzise wahrnehmen zu können. Dies ist ein Buch für den interessierten Laien und Profi. Es verbindet empirisch-wissenschaftliches Denken und geistige Erkenntnissuche zu einer ganzheitlich-integralen Sichtweise. Sie erfahren, wie Sie die Erkenntnisse unterschiedlicher kommunikationstheoretischer, psychologischer und spiritueller Richtungen zusammendenken und integrieren können, statt sich für eine Sichtweise zu entscheiden und die anderen zu verwerfen. Denn jeder Ansatz weist einen Wahrheitsaspekt auf, der aber schnell auch einseitig überbetont werden kann. Die klare und auf das Wesentliche konzentrierte Darstellung und die integrale Perspektive können Ihnen helfen, bewusster durch das 21. Jahrhundert zu navigieren und offener für tiefere Sinnfragen zu werden. Zahlreiche Selbstwahrnehmungsübungen aus der Gesprächstherapie und des Focusing vertiefen persönlichkeitsnah diese Erkenntnisse. Rainer Eggebrecht gibt mit diesem Buch Anregungen, wie es in Zeiten permanenten gesellschaftlichen Wandels und medial verunsichernder Überinformation weiterhin gelingen kann, unser immer komplexeres Leben mit schöpferischer Energie und Lebensfreude sinnvoll zu bewältigen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 133

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer Eggebrecht ist Gründer und Leiter des »Instituts für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie« (igf). Als Max-Planck-Stipendiat promovierte er über »Interkulturelle Kommunikation«. Seit 1990 bildet er Trainer, Coaches und Therapeuten in Gesprächstherapie und Wahrnehmungsschulung (Focusing) aus. An der Semmelweis-Universität Budapest lehrte er deutschsprachige Studenten der Medizin moderne Psychotherapieverfahren und Focusing. Er beriet renommierte Unternehmen, darunter Bertelsmann (als Mitbegründer des »100-Tage-Trainings für Führungskräfte«), Ritter Sport u. a.

Dr. Eggebrecht hat sein Ausbildungskonzept immer methodenoffener weiterentwickelt und vertritt heute eine kritisch-integrale Perspektive. Als offizieller Focusing-Koordinator für Deutschland leitet er Fortbildungen in integralem Denken und Focusing, Achtsamkeitsschulung und Entscheidungsfindung. Er wurde 2013 in die Liste der »Top Excellent Trainers« (Deutschland, Österreich, Schweiz) aufgenommen.

In diesem Buch verbindet er empirisch-wissenschaftliches Denken und geistig-spirituelle Erkenntnissuche zu einer ganzheitlich-integralen Sichtweise, um aktiv zur Förderung eines positiven empathischen Bewusstseins beizutragen.

Dieses Buch vereint unterschiedliche Spezialdisziplinen – auf das Wesentliche konzentriert – und zeigt Möglichkeiten auf, wie wir auch in Zeiten permanenter gesellschaftlicher Krisen und medialer Überinformation unser Leben mit schöpferischer Energie und Lebensfreude bewältigen können.

Der Autor wünscht Ihnen ein erkenntnisreiches, nachhaltiges und lebensbejahendes Lesevergnügen!

GLIEDERUNG

EINLEITUNG

Einleitende persönliche Anmerkungen

KAPITEL 1:

Kurze Darstellung der humanistischen Psychologie

KAPITEL 2:

Logische Erkenntnisse der Kommunikationspsychologie

Darstellung des Werte-Rechtecks

Das Vier-Ohren-Modell

KAPITEL 3:

Focusing – Vom vagen Gefühl zur klaren Empfindung

Focusing-Schritte im Überblick

Bewusstes Wahrnehmen von Körperlichkeit

KAPITEL 4:

Umgang mit Grenzen

KAPITEL 5:

Träume und Fantasien

KAPITEL 6:

Beziehungen und Beziehungsfantasien

KAPITEL 7:

Die Frage nach dem Sinn

KAPITEL 8:

Rolle und Teilpersönlichkeiten

KAPITEL 9:

Systemisches Denken

KAPITEL 10:

Entscheidungsfindung

oder: Focusing trifft Ignatius von Loyola

KAPITEL 11:

Ängste und Traumata

KAPITEL 12:

Psychoanalyse – kurzbiografische Anmerkungen zu Freud und Jung

KAPITEL 13:

Das Ich in der Psychologie

KAPITEL 14:

Spiritualität aus integraler Sicht

Wirkliche integrale Orientierung

KAPITEL 15:

Die Zeit

SCHLUSSWORT

ZUSATZ-KAPITEL:

Kurzdarstellung eines integralen Entwicklungsmodells (Spiral Dynamics) mit ausführlichem Selbsteinschätzungstest

EINLEITUNG

In diesem Buch werden wichtige psychologische Sichtweisen verständlich und auf das Wesentliche konzentriert dargestellt und in kleinen Übungen vertieft. Dabei blicken wir über den Tellerrand klassisch psychologischer Forschungsmethoden hinaus in eine lebenswürdige Zukunft, in der wissenschaftliche, psychologische und spirituelle Erkenntnisse integral zusammenwirken.

Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, unterschiedlichste Informationen auf einer individuellen wie kollektiven Ebene zusammenzufügen. Statt zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, berücksichtigen wir aus integraler Sichtweise, dass (fast) jeder Ansatz einen gewissen Wahrheitsaspekt aufweist, dieser aber oftmals einseitig übertrieben wird. Wir versuchen daher zu verstehen, wie diese Teilwahrheiten zusammenpassen und wie wir sie integrieren können, statt uns für eine Sichtweise zu entscheiden und die anderen zu verwerfen.

Wir stehen vor der Aufgabe, uns zu erinnern, dass unser Leben ein kreativer Ausdruck des Lebens als Ganzes ist. Schon die Antike unterschied verschiedene Sichtweisen von Wirklichkeit, die sich gegenseitig bedingen und zusammenwirken:

Das Wahre: Naturwissenschaft, Technik, messbare Daten.

Das Schöne: subjektives Erleben, Psychologie, Spiritualität.

Das Gute: Kultur, Sprache, Weltsicht, Ethik, Moral.

»Ich« (Selbsterleben), »Wir« (Kultur) und »Es« (Wissenschaft) stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander.

Systemische, soziologische und philosophische Facetten ermöglichen zudem ein tieferes integrales Verständnis unserer gesamten menschlichen »Körper-Geist-Seele«-Wirklichkeit.

Integrales Denken: Die Wissenschaft entdeckt zunehmend, dass das Universum verschränkt und verwoben ist auf eine Art und Weise, die wir rational nicht begreifen können. Moderne Astrophysik hat aufgezeigt, dass das Universum nur zu einem Sechstel (16 %) aus Materie besteht.

Fünf Sechstel (84 %) sind »dunkle Materie« (besser wäre: »unsichtbare Materie«!), die sich objektiver wissenschaftlicher Erklärung entzieht. Das Universum und die Wirklichkeit umfassen also wesentlich mehr, als es die materialistische Vorstellung nahelegt.

Es gibt Dimensionen der Wahrheit, die von den Naturwissenschaften nicht berührt werden können. Daher werden wir neben naturwissenschaftlich-quantitativen Methoden zunehmend auch qualitative Sichtweisen mitberücksichtigen. Wir sollten beide Perspektiven gleichzeitig wertschätzen!

Wenn wir eine gegenseitige Wechselwirkung zulassen, dann verwerfen wir nicht die Wissenschaft an sich, sondern erweitern ihre Perspektive und erhalten so ein besseres Verständnis der gesamten Wirklichkeit. Damit können wir unserem objektiven Geist, der Daten will, Genüge tun und zugleich unsere subjektiven Erfahrungen von Einheit und ganzheitlicher Wahrnehmung der Wirklichkeit integrieren. Eine solche erweiterte integrale Sichtweise ermöglicht einen Zugang zu Informationen über unsere Wirklichkeit, die wir nicht alleine durch unsere fünf Sinne gewinnen können.

Durch zunehmende Schulung eines Empfindens von Mitgefühl und Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, der Natur und dem Kosmos – ohne irgendeine Form von doktrinärer Ideologie –könnten wir bereits in jungen Jahren in der Erziehung und in den Schulen beginnen, eine Haltung zu kreieren, die beide Seiten dieses Verständnisses, das materialistische und das post-materialistische, auf eine wundersame Weise integriert.

Das Grundkonzept dieses Buches basiert auf dieser integral-umfassenden Anwendung.

Besonders betont werden hierbei die Grundhaltungen von Kongruenz, Akzeptanz und Empathie, wie sie von Carl Rogers (humanistische Psychologie) und seinem Nachfolger Eugene Gendlin (Focusing) klar formuliert wurden.

Wissenschaftlich-psychologische Erkenntnisse werden im Folgenden in ihren Grundzügen fundiert dargestellt, wobei die qualitativ-verstehende Komponente für die eigene Sinnfindung stets den umfassenderen Rahmen bildet.

Einleitende persönliche Anmerkungen

Als junger Max-Planck-Stipendiat lernte ich auf einem wissenschaftlichen Kongress in Bad Homburg den Quantenphysiker und alternativen Friedensnobelpreisträger Hans-Peter Dürr kennen, der den »Mut zur Unexaktheit« betonte: »Die Wirklichkeit ist noch unendlich offener als jede wissenschaftliche Erklärung – selbst als jede quantenphysikalische Erkenntnis.« Und: »Mit jedem Gedanken wird das Universum größer.«

Bei einer Podiumsdiskussion in Schloss Nymphenburg bestätigte mir Hans-Peter Dürr öffentlich, dass ein integral-offener Psychologieansatz durchaus den Forschungsergebnissen der Quantenphysik entspricht: Denn physikalisch gesehen sind die wahren Bausteine des Universums nicht Materie, sondern Energie und Information.

Und die wahren Bausteine der Wahrnehmung sind nicht unbewusste, irgendwie verdrängte Inhalte, sondern oft diffuse Befindlichkeiten, welche sich durch achtsame Wahrnehmung in einem kreativen Akt als Gefühle, Bilder, Gedanken und Körperempfindungen »explizieren« (= ausfalten) – also neu und sich verändernd im Bewusstsein entstehen.

So wie elektronenmikroskopische Untersuchungen das zu untersuchende Objekt beeinflussen und verändern, so beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir uns wahrnehmen, immer schon das Ergebnis!

Ich wünsche Ihnen eine interessante, anregende Lektüre!

Rainer Eggebrecht, im Frühjahr 2021

KAPITEL 1: Kurze Darstellung der humanistischen Psychologie

(Carl Rogers)

In jeder wissenschaftlichen und psychologischen Methode gibt es Techniken und Grundhaltungen. Diese Werte nennt man in der Philosophie »Axiome« – Grundüberzeugungen, auf die man sich geeinigt hat und die nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen. Unser Grundgesetz besteht aus Axiomen, zum Beispiel: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (wie weit dies tatsächlich voll umgesetzt wird, ist eine andere Frage). Axiome der Psychologie sind Einfühlung, Akzeptanz und Authentizität.

Carl Rogers, der Begründer der Klientenzentrierten Therapie (in Deutschland auch »Humanistische Psychologie« genannt), hat diese Grundwerte deutlich formuliert. In einem berühmt gewordenen Diskurs aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts standen sich zwei Auffassungen vom Menschen unversöhnlich gegenüber:

Skinner (der Begründer der Verhaltenstherapie) behauptete, der Mensch sei manipulierbar und damit »machbar«. Carl Rogers hingegen behauptete, der Mensch sei frei und autonom.

Doch statt zu fragen, welcher Ansatz richtig oder falsch ist, erkennen wir heute aus integraler Perspektive, dass jeder Ansatz wahr – aber nicht vollständig ist. Nun können wir herausfinden, wie die Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt sich für eine zu entscheiden und die andere zu verwerfen.

Carl Rogers betont, dass seelische Gesundheit eng mit einem Zustand der Kongruenz (Echtheit) verbunden ist: Wenn das Selbst-Konzept nicht mit der Erfahrung von Wirklichkeit übereinstimmt (Rogers nennt dies »organismische Erfahrung«), führt dies zu Inkongruenz und Spannungen. In erster Linie geht es darum, diese Grundhaltungen möglichst effektiv zu verwirklichen: Echtheit, nicht urteilende Wertschätzung (Akzeptanz) sowie Empathie – im Sinne von einfühlendem Verstehen und Erfassen des inneren Bezugsrahmens unseres Gegenübers. Die Art und Weise, wie Menschen sich erleben, wird als entscheidender Faktor des personzentrierten Ansatzes gesehen.

Echtheit (Kongruenz): Die erste Bedingung der personzentrierten Haltung ist Echtheit, Unverfälschtheit oder Kongruenz. Je mehr man in einer Beziehung man selbst ist, das heißt, keine professionelle Attitüde und keine persönliche Fassade zur Schau trägt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch unser Gegenüber versucht, sich so zu verhalten und damit auf konstruktive Weise zu wachsen.

Kongruenz erlaubt es, offen Gefühle und Einstellungen wahrzunehmen, die einen selbst bewegen, also Zugang zu dem zu haben, was innerlich in einem abläuft, und real als Person anwesend zu sein – was jedoch nicht bedeutet, dass man sich ständig mitteilt.

Ruth Cohn beschreibt dies treffend: »Nicht alles, was echt ist, muss ich sagen, aber was ich sage, sollte echt sein!« (mündliche Mitteilung).

Einfühlsames Verstehen (Empathie): Dies ist der zweite förderliche Aspekt – die Fähigkeit, Erlebnisse und Gefühle genau und sensibel zu erfassen. Diese Art des sensiblen, aktiven Zuhörens ist selten in unserem Leben. Wir glauben oft zuzuhören, aber es geschieht selten mit wirklichem Verständnis und echter Einfühlung. Nach Rogers ist diese ganz besondere Art des Zuhörens eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung, die es gibt.

Wertschätzen (Akzeptanz): Die dritte Voraussetzung ist das Akzeptieren (das Anerkennen dessen, was ist – auch wenn es uns stört). Akzeptieren bedeutet nicht, jede Äußerung oder Verhaltensweise unseres Gegenübers gutzuheißen oder zu billigen. Hier stößt man sowohl als Helfer wie auch als Privatperson an seine eigenen Grenzen, die man selbst akzeptieren und bestehen lassen muss.

Der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel: Die personorientierte Haltung, die auf diesen drei Bedingungen beruht, ist nichts Statisches, das man lernt und dann »hat«, sondern ein Ziel, das man in einem fortlaufenden Lernprozess immer wieder neu anstrebt.

Dadurch erfahren wir vielleicht auch, wie es ist, uns selbst zu transzendieren, und aktivieren unsere Fähigkeit, neue spirituelle Richtungen der menschlichen Entwicklung zu erschließen.

Kurze Wahrnehmungs- und Besinnungsübung:

Setzen Sie sich entspannt hin und lassen Sie einfühlsam – und ohne irgendeinen Leistungsanspruch – folgende Frage auf sich wirken:

Wer in meinem Leben hat mir mal wirklich zugehört?

Bleiben Sie ein oder zwei Minuten einfach offen in Ihrer Wahrnehmung – ganz gleich, welche Erinnerungen, Gedanken, Bilder, Gefühle oder Körperempfindungen entstehen.

Vielleicht ist es eine diffuse Mischung aus alledem – nehmen Sie einfach alles wahr.

KAPITEL 2: Logische Erkenntnisse der Kommunikationspsychologie

Die Kommunikationspsychologie wurde in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Paul Watzlawick und Friedemann Schulz von Thun einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Sie bietet logische Grundlagen zum Verständnis polar-gegensätzlicher Begrifflichkeiten und Kommunikationsstörungen – und ist damit auch für integrales Denken von Bedeutung.

Ein wichtiges Modell daraus ist das Werte-Rechteck.

Darstellung des Werte-Rechtecks

Menschliches Verhalten ist polar. Unsere kognitiven Denkstrukturen sind so angelegt, dass es von jeder Eigenschaft immer auch einen Gegenpol gibt: friedlich – konfliktfähig; großzügig – sparsam; ich-bezogen – sozial; alleine – zusammen usf.

Beispiel:

Erkenntnis 1: Wir denken in Gegensätzen.

Erkenntnis 2: Jede Polarität weist immer zwei Ausprägungen auf: eine positive und eine ins Negative übertriebene.

Erkenntnis 3: Eine Eigenschaft ist dann positiv, wenn sie noch einen Bezug zur Polarität aufweist (heller »Schatten«). Ansonsten neigt sie zur Übertreibung und gerät damit ins Minus, da ihr das Korrektiv der Gegenseite fehlt (dunkler »Schatten«).

Beispiel: Ja-Sagen ist nur dann positiv, wenn man bei Bedarf auch Nein sagen kann. Wenn Nein-Sagen »im (dunklen) Schatten liegt« – wenn man niemals Nein sagen kann, dann wird man ein Ja-Sager.

Ursachen für problematische Beziehungen liegen oft in zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen: Wird das Verhalten eines anderen für uns schwierig, so hängt dies oft mit unserem eigenen »Schatten« zusammen, d. h. diese Verhaltensweise ist uns fremd und wird daher leicht negativ überbewertet und abgewertet.

Der »Schatten« kann hellgrau bis tiefschwarz sein: je dunkler, umso weniger können wir noch etwas Positives darin wahrnehmen und übertreiben den eigenen Standpunkt auf unserer Werte-Rechteckseite. Wenn Sie kein Gespür mehr dafür haben, dass »alleine sein« auch ein positiver Wert ist, fehlt Ihnen das Korrektiv der Gegenseite und Sie übertreiben den Wunsch nach Zusammensein. Den Abgrenzungswunsch Ihres Partners können Sie dann nur mehr im Minus als Egozentrik interpretieren.

Die Entwicklungslinie liegt auf der Diagonale – von der negativen Übertreibung hin zum positiven Gegenpol:

Wenn Sie am anderen das Alleine-sein-Wollen stört, könnte es sein, dass Sie selbst sehr anlehnungsbedürftig sind. In diesem Fall sollten Sie sich fragen: Was kann ich tun, um meine Fähigkeit zum Alleine-Sein weiterzuentwickeln? (Ihren »Schatten« aufhellen, um wieder positiv teamfähig zu werden).

Übung: Entwickeln Sie nun Ihr eigenes Werte-Rechteck für die Frage: Welches Verhalten stört mich an anderen?

Dann fragen Sie sich, auf welcher Seite Sie eher beheimatet sind (ankreuzen). Stricheln Sie bitte die andere Seite »schattig« ein. Da Ihr Schatten bestimmt (!) nur hellgrau ist, fällt es Ihnen sicher nicht allzu schwer, Ihre Entwicklungsrichtung zur positiven Ausprägung Ihres »schattigen« Gegenpols zu erkennen und mit einem Pfeil einzuzeichnen.

Bei dunklem Schatten können Sie nur mehr das Minus der Polarität wahrnehmen. Homöopathisch ausgedrückt, könnte man auch so formulieren: Das, was Sie am anderen am meisten stört, benötigen Sie selbst in einer gesunden Dosis (den positiven Aspekt, der im »Schatten« liegt) – für Ihre eigene Weiterentwicklung.

Zu Beginn einer Beziehung ist Gegensätzlichkeit (Polarität) meistens sehr attraktiv: Sie verlieben sich wahrscheinlich nicht in jemanden, der die gleichen »Macken« hat wie Sie selbst –Sie verlieben sich in jemanden, der dort über Stärken verfügt, wo Sie selbst weniger Kompetenzen besitzen. So finden und ergänzen sich: der Ruhige und der Vielredner, der Lebensfrohe und der Verantwortungsvolle, der Durchsetzungsfähige und der Friedliche. Eigentlich müssten wir beim ersten Kennenlernen ehrlicherweise sagen:

»Ich habe hier ein schattiges Plätzchen neben mir – willst du es mir nicht aufhellen?«

In Paarberatungen frage ich manchmal zerstrittene Paare: »Was hat Ihnen an Ihrem Partner(in) gefallen, als Sie sie/ihn kennen gelernt haben? Meist ist das genau die Eigenschaft, die Sie heute stört (sie ist nur vom Plus ins Minus gerutscht). Das heißt: Sie lassen sich das Anderssein vom Partner gerne schenken – wenn diese Eigenschaft später aber gegen Sie gewendet wird, dann sehen Sie nur mehr den Ihnen fremden dunklen »Schatten« in seiner Minus-Ausprägung.

So wird aus der liebevoll-temperamentvollen Partnerin, die Ihr Leben eines eher ruhigen Zeitgenossen angenehm in Schwung bringt, irgendwann eine hysterisch-nervige Frau, die Türen knallt und launisch ist. Umgekehrt wird der ruhige, in sich ruhende, beständige Partner, der wie ein Fels in der Brandung zuverlässig Sicherheit vermittelt, zum gefühlskalten Klotz. Und die Partnerin sagt verzweifelt: »Was muss ich noch alles gegen die Wand werfen, damit der Kerl endlich reagiert?«

Fazit: In Konfliktsituationen handelt es sich oft um die gleiche Polarität, die zu Beginn einer Beziehung so faszinierte. Mit dieser Erkenntnis könnten Sie fair zu Ihrem Partner sagen: »Ich liebe dich und dein Temperament. Aber wenn du Tassen an die Wand wirfst, ist das für mich so unglaublich fremd, dass ich mich völlig zurückziehe und nichts mehr sagen kann.«

Beim Werte-Rechteck gibt es noch eine zweite Variante. Nicht nur gegensätzliche Eigenschaften, auch starke Ähnlichkeiten können Probleme verursachen. Im Positiven verstehen Sie sich wortlos mit jemandem, der Ihnen sehr ähnlich ist.

In Konfliktsituationen kann es aber dazu kommen, dass Sie das gleiche Verhalten bei sich selbst als positiv bewerten, dem anderen aber das Minus zuweisen.

Bei jemandem, der Ihnen sehr ähnlich ist und der die gleichen Tricks und Strategien anwendet, die Sie selbst nur zu gut kennen, kann es daher leicht zu Konkurrenz und Abwertung kommen: »Ich bin ja schon selbstbewusst, aber der andere, der ist wirklich arrogant!« Oder: »Ich bin ja weiß Gott charmant, aber die neue Mitarbeiterin – wie die sich beim Chef einschmeichelt!«

Es ist im kommunikativen Miteinander sinnvoll, sich auch dieser Beurteilungsfalle bewusst zu werden. Die Entwicklungslinie bei Ähnlichkeit geht (für beide!) zur anderen Rechteckseite in den positiven Schattenbereich. Sie sollten sich dem arroganten Gesprächspartner gegenüber etwas toleranter und »bescheidener« verhalten, um nicht in einem Machtkampf selbst zur Arroganz abzugleiten.

Fazit: Starke Unterschiede wie starke Ähnlichkeit haben im Positiven eine hohe Faszination, in Konfliktsituationen kommt es aber leicht zu Missverständnissen. Diese Kenntnisse werden – wenn es um Macht und Durchsetzung geht – häufig auch sprachmanipulatorisch eingesetzt: Wir selbst haben Aufklärungsflugzeuge, der Gegner hingegen Spionageflugzeuge. Wir haben Freiheits- oder Widerstandskämpfer, die Gegner sind Terroristen.

In Firmen-Annoncen werden durchsetzungsfähige (»rücksichtslose«) und hochmotivierte (»strapazierfähige«) Mitarbeiter gesucht.

Und Reisebüros werben für »die schönsten Wochen des Jahres« (= träge und faul sein). Sprache lässt sich sehr geschickt für eigene Interessen manipulieren.

Die Kunst guter Politik, Psychologie und Philosophie besteht darin, Polaritäten als einseitig-subjektive Wirklichkeitsdeutungen zu erkennen, Sprachmanipulationen aufzuzeigen und aus einem größeren verstehenden Blickwinkel Gegensätze einzubinden und zu relativieren.