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Hamed Abdel-Samad

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Beschreibung

Millionen Muslime sind in den vergangenen Jahrzehnten als Gastarbeiter überwiegend aus der Türkei, als Flüchtlinge aus Syrien und anderen Staaten des Nahen Ostens nach Deutschland gekommen. Hamed Abdel-Samad rechnet ab mit der Politik, die die Integration zu lange konterkariert und der Muslime, die sich in Parallelgesellschaften verbarrikadiert haben. Deutsch-Türken unterstützen Erdogan, in Europa geborene Muslime verüben Terroranschläge. Hamed Abdel-Samad prangert die integrationsverhindernden Elemente der islamischen Kultur an. Er rechnet aber auch mit europäischen Integrationslügen ab. Denn wer jahrzehntelang von "Gastarbeitern" spricht, der verweigert Integrationsangebote – und darf sich nicht über Parallelgesellschaften wundern. Wer die Augen verschließt vor kulturellen, mentalitären und religiösen Unterschieden, der muss in seinem Bemühen scheitern. Abdel-Samad formuliert einen Forderungskatalog an Politik und Gesellschaft, denn am Thema Integration wird sich die Zukunft Deutschlands entscheiden.

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Hamed Abdel-Samad

Integration

Ein Protokoll des Scheiterns

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die drängendste Frage unserer Zeit: Wie kann Integration gelingen?

Deutsch-Türken unterstützen Erdogan, in Europa geborene Muslime verüben Terroranschläge. Hamed Abdel-Samad prangert die integrationsverhindernden Elemente der islamischen Kultur an. Er rechnet aber auch mit europäischen Integrationslügen ab. Denn wer jahrzehntelang von »Gastarbeitern« spricht, der verweigert Integrationsangebote – und darf sich nicht über Parallelgesellschaften wundern. Wer die Augen verschließt vor kulturellen, mentalitären und religiösen Unterschieden, der muss in seinem Bemühen scheitern.

Dieses Buch klärt auf über die wichtigsten Argumente in der Integrationsdebatte: - Wie umgehen mit Integrationsverweigerern? - Kann echte Integration überhaupt gelingen? - Was hilft im Kampf gegen Parallelgesellschaften und Terrorideologien? - Was muss sich politisch ändern in Deutschland?

Abdel-Samad, der führende Islamexperte Deutschlands, formuliert einen Forderungskatalog an Politik und Gesellschaft, denn am Thema Integration wird sich die Zukunft unseres Zusammenlebens entscheiden.

Inhaltsübersicht

MottoEinführung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelSegregation und die Macht des KollektivsAngst und Misstrauen»Integration bedeutet oft, dass man jemandem wehtut«»Wenn ihr uns die Tür vor der Nase zuhaut, dann treten wir sie eben ein«Deutsche und Türken – eine Geschichte mit vielen KränkungenGeneralverdacht und Verschwörungstheorien5. KapitelWillkommenskultur einmal andersVon Nestbeschmutzern und »Onkel-Tom-Muslimen«Wir sind die Parallelgesellschaft»Sie wollte wie eine Deutsche leben«6. KapitelWenn die vermeintliche Freiheit zum Zwang für die anderen wirdBarbie trägt jetzt Hijab7. KapitelKultur und Wertesysteme der Herkunftsgesellschaft bestimmen auch das Leben in der neuen Heimat»Sexualität ist der große Elefant im Raum der Integration«»Das System züchtet Feinde der Demokratie heran«Islamunterricht – Gefahr oder Chance?8. KapitelIn der RadikalisierungsfalleNeosalafismus und AngstpädagogikIslam und Islamismus – verschiedene Schichten ein und derselben Ideologie?Brief an einen jungen Muslim …9. KapitelVon tödlichen Identitäten und rückwärtsgewandten UtopienIdentitätskonflikte, Aus- und AbgrenzungWie die Globalisierung radikalen Kräften in die Hände spielt10. KapitelMuslimische Migranten zwischen drei Rassismen11. KapitelZwischen Hoffnung, Angst und ErnüchterungHelfer, die nicht helfenAntisemitismus oder Antizionismus?Wie Extremisten die erhoffte Freiheit bedrohenDie AfD als Chance für Flüchtlinge?Flüchtlinge als Chance für Deutschland?12. KapitelMein Appell an …13. KapitelDie UtopieDie DystopieAnhangDank
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»Man kann die Realität ignorieren,

aber man kann nicht die Konsequenzen

der ignorierten Realität ignorieren.«

 

Ayn Rand

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Einführung

Das Märchen von der gelungenen Integration

Der Begriff Integration ist abgeleitet vom lateinischen integrare, das »erneuern«, »ergänzen« oder »geistig auffrischen« meint. Im Lexikon findet man zwei Hauptdefinitionen für Integration. Erstens: Integration bezeichnet einen Vorgang, dass jemand bewusst durch bestimmte Maßnahmen dafür sorgt, dass jemand anders ein Teil einer Gruppe wird. Und zweitens: die Herstellung oder Vervollständigung einer Einheit.

In diesen beiden Erklärungen schimmern bereits die Fallstricke durch, über die eine Gesellschaft beim Thema Integration stolpern kann. Nach Definition eins sollen der Staat und die Gesellschaft mit Maßnahmen und Engagement die Aufnahme anderer in die Gemeinschaft vorantreiben. Knackpunkt eins: Welche Maßnahmen müssen hierfür ergriffen werden? Knackpunkt zwei: Integration ist keine Einbahnstraße, der andere muss auch aufgenommen werden wollen. Will er das nicht, aus welchen Gründen auch immer, können der Staat und die Mehrheitsgesellschaft tun, was sie wollen, ohne einen Erfolg zu erzielen.

Nach Definition zwei meint Integration die Herstellung oder Komplettierung einer Einheit. Welche Einheit ist damit gemeint? Es gibt nicht die Gesellschaft oder die Deutschen, es gibt eine Gemeinschaft von Individuen, die in den Grenzen dieses Landes zusammenlebt und im Idealfall seine Werte, die Verfassung und das Grundgesetz achtet. Ist das die Einheit, der Grundkonsens, auf den man sich mit den Neuankömmlingen und alteingesessenen Migranten verständigt? Geht es um eine Art Verfassungspatriotismus? Oder geht es um mehr, um eine »Leitkultur« gar, die die anderen nicht nur zu respektieren haben, sondern sogar annehmen sollen, unter Aufgabe ihrer eigenen? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ im Mai 2010 in einer Rede in Köln keinen Zweifel daran, was er von einer solchen Anpassung hält: »Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie sollten sich dessen bewusst sein«,[1] wetterte er vor begeisterten Anhängern.

Der Begriff »Leitkultur« stammt aus dem Jahr 1996. Damals erschien ein Artikel des Politologen Bassam Tibi in der Wochenzeitung Das Parlament, einem Organ der Bundeszentrale für politische Bildung. Tibi sprach von einer europäischen Leitkultur, beruhend auf westlich-liberalen Wertevorstellungen. Zwei Jahre später präzisierte er: »Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.«[2] Seitdem poppt der Begriff immer wieder auf, zuletzt bei der aktuellen Integration der Flüchtlinge, die seit 2015 verstärkt nach Deutschland strömen. Allerdings wurde der Begriff inzwischen längst gekapert und um Elemente erweitert, die über Tibis Grundgedanken weit hinausgehen. Der Begriff dient der sogenannten Neuen Rechten als Steilvorlage gegen Vielfalt und Multikulti, Politiker aus konservativen Kreisen dehnen ihn aus auf das Christentum, die Begriffe Heimat und Patriotismus sowie Nationalsymbole wie Fahne und Hymne. Die politische Linke und Teile der Medien stören sich an der Hierarchie, die der Begriff »Leit-Kultur« impliziere, an der vermeintlichen Überlegenheit einer Kultur gegenüber einer anderen. Der eigentliche Kerngedanke Tibis von einer europäischen Leitidee als identitätsstiftendes Moment ist in der teils hysterisch und unsachlich geführten Debatte längst verloren gegangen.

Doch wenn wir selbst nicht wissen, wofür wir stehen, was wir meinen, wenn wir von gelungener Integration sprechen, wie sollen wir dann die richtigen Maßnahmen ergreifen, die richtigen Forderungen stellen, einen Erfolg oder Misserfolg messen können?

Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab eine heftige, zum Teil emotionale Debatte über dieses Thema ausgelöst, die bis heute andauert und dennoch keine klaren Ergebnisse hervorgebracht hat. Der ehemalige Finanzsenator von Berlin geriet wegen seiner Thesen öffentlich ins Kreuzfeuer, die Bevölkerung war gespalten. Die einen bejubelten ihn, weil er ihren dumpfen Ängsten eine Stimme verlieh. Die anderen verteufelten ihn, weil sie befürchteten, er würde die Geister aus der deutschen Vergangenheit wieder heraufbeschwören.

In der Folge erschienen zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Thema Integration, allerdings mit widersprüchlichen Ergebnissen. So kam eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2016 zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der hier lebenden Muslime die Scharia über das Grundgesetz stellen würde. Über 13 Prozent würden sogar stark fundamentalistische Züge aufweisen. Der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans, der eine Studie mit Muslimen aus sechs europäischen Staaten durchführte, kam zu ähnlichen Ergebnissen. Drei Viertel der Befragten gaben an, es gebe nur eine mögliche Auslegung des Korans (womit einer Liberalisierung oder einem aufgeklärten Islam bereits der Garaus gemacht wird), außerdem waren 45 Prozent überzeugt, dass der Westen den Islam zerstören wolle. Beide Studien wurden von einigen Migrationsforschern und Islamvertretern als einseitig kritisiert. So wurde Koopmans vorgehalten, er habe nur muslimische Migranten befragt, nicht aber Vergleichsgruppen aus anderen Herkunftsländern. Auch würde er den Nährboden für Rassismus bereiten, da er aufgrund seiner Untersuchungen glaube, dass sich Muslime schlechter integrieren würden als andere Migrantengruppen (ohne diese befragt zu haben). Diese Reaktion kommt häufig beinahe reflexartig und erschwert einen nüchternen Blick auf die Fakten. Es geht nicht darum, eine Gruppe zu diskreditieren oder an den Pranger der Integrationsverweigerung zu stellen. Aber wer sich scheut, tatsächlich vorhandene Auffälligkeiten zu thematisieren, wird auch keine Lösungen für die schwärenden Probleme finden.

Kurz vor den Bundestagswahlen 2017 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie mit dem Titel »Muslime in Europa: integriert, aber nicht akzeptiert?«, die wieder ganz andere Ergebnisse präsentierte: Muslime seien sehr viel besser integriert als vermutet, 96 Prozent fühlten sich mit Deutschland »verbunden«. Hier wurden sowohl der Zeitpunkt der Veröffentlichung kritisiert als auch die Art der Fragestellungen zu den Themenbereichen Bildung und Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Freizeitkontakten und Identifikation mit dem Aufnahmeland. Einige monierten, dass mit dieser Studie der Eindruck erweckt worden sei, sie sei politisch motiviert gewesen, mit dem Zweck, die Wähler kurz vor den Wahlen mit positiven Integrationsmeldungen zu beruhigen, damit sie keine Protestparteien wählen. Anders als die eher kritischen Studien und Bücher zum Thema Integration stieß diese Studie aber auf eine breite Akzeptanz in Wissenschaft und Politik, obwohl etwa die Erhebungen über die Erwerbstätigkeit von Muslimen von den Zahlen der Agentur für Arbeit deutlich abweichen und obwohl sie wichtige Fragen wie die zu Fundamentalismus oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau ausklammerte.

Eine dreiteilige Studienreihe des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung mit dem Titel »Deutschland postmigrantisch« schließlich versuchte, die oben genannten Kritikpunkte zu umschiffen. Hier wurden nicht nur Muslime befragt, sondern generell Menschen mit Migrationshintergrund, also auch EU-Bürger, Russlanddeutsche, Asiaten und so weiter. Gefragt wurde nach den Themen Gesellschaft, Religion und Identität. Das Ergebnis: Menschen mit Migrationshintergrund identifizieren sich fast genauso mit Deutschland wie Herkunftsdeutsche.

Was fängt man nun mit all diesen Daten an? Reichen sie aus, um darüber Auskunft zu geben, ob Migranten in Deutschland gut integriert sind oder nicht? Reicht das Erlernen oder Beherrschen der deutschen Sprache, um Teil der deutschen Kultur zu sein? Helfen uns anonymisierte Telefonbefragungen und Fragebögen, um die Geisteshaltung von Migranten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu ermitteln, oder brauchen wir da andere Parameter? Und reden wir überhaupt von allen Migranten oder nur von einer bestimmten Gruppe, wenn es um die Frage nach gelungener oder gescheiterter Integration geht?

Tatsächlich wird die Integrationsdebatte dominiert von einer Gruppe, als seien Menschen mit Migrationshintergrund eine homogene Masse: Annähernd bei jedem Artikel zum Thema Migration oder Integration taucht das Bild eines bärtigen Muslims oder einer verschleierten Muslima auf, obwohl die meisten Migranten in den letzten Jahrzehnten keine Muslime waren und obwohl die meisten muslimischen Frauen in Deutschland kein Kopftuch tragen. Es gibt eine Islamkonferenz, aber keine Buddhisten-, Hindu- oder Atheistenkonferenz. Es gibt Präventions- und Deradikalisierungsprojekte nur für junge Muslime. Wenn es Streit gibt an Schulen und Universitäten über Gebetsräume, Essen, Sport, Schwimm- und Religionsunterricht, geht es um Muslime. Warum hören wir nur selten von Problemen, wenn es um Schüler mit griechischen, vietnamesischen oder portugiesischen Wurzeln geht? Spricht daraus nicht eigentlich ein Generalverdacht gegen alle Muslime? Haben Italiener, Portugiesen, Griechen, Chinesen und Vietnamesen, säkulare Exil-Iraner und Aleviten andere Maßnahmen in Anspruch genommen, um sich hier gut zu integrieren?

Das Problem ist, dass über Integration nur da geredet wird, wo sie fehlt, beziehungsweise da, wo sie fehlgeschlagen ist. Millionen von Migranten haben sich im Laufe der Jahrzehnte durch Eigenleistungen und ohne staatliche Maßnahmen in dieses Land integriert. Über diese Migranten redet man nicht. Sie haben Deutschland reicher und bunter gemacht, sie haben ihre Persönlichkeit eingebracht und zur Entwicklung dieses Landes beigetragen. Weil sie ihre mitgebrachte Religion und Kultur als einen Teil ihres Selbst verstanden haben, als Ergänzung zur bestehenden, nicht aber als maßgebliches Kriterium ihrer Identität.

Selbstverständlich haben sich auch viele Muslime in Deutschland durch Eigenleistung und Engagement integriert. Doch, siehe oben, über sie redet man nicht. Gleichwohl werden sie mit einverleibt, wenn es um das Scheitern von Integration geht, um Parallelgesellschaften, Gewalt, religiösen Fanatismus. Diese positiven Beispiele verschwinden hinter jenen, deren Integration schiefgelaufen ist oder die sich bewusst gegen ein Einfügen in die Mehrheitsgesellschaft entschieden haben.

Die gut integrierten Muslime haben all das, was sie in dieser Gesellschaft erreicht haben, nicht geschafft wegen des Islam und auch nicht wegen der politischen Aufwertung der Islamverbände. Sondern weil sie auf vielen verschiedenen Ebenen ganz individuelle Entscheidungen getroffen haben. Gescheitert ist aus meiner Sicht dagegen der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integrieren, durch Institutionalisierung des Islam, durch Religionsunterricht oder durch Staatsverträge mit den konservativen Islamverbänden. Der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integrieren, hat jedoch zwei Schönheitsfehler: Es gibt nicht die Muslime; leider fallen die konservativen stärker auf und sind lauter, deshalb bestimmen sie nicht nur den Diskurs, sondern auch das Bild, das weite Teile der Gesellschaft von Muslimen haben. Die Konzentration auf sie stärkt Integrationsverweigerer und wertet die Kultur des Patriarchats politisch auf. Gleichzeitig wird es für die hiesigen Gegner der Integration leichter, all jene zu ignorieren, die sich längst als Teil dieses Landes verstehen. Hinzu kommt, dass der Staat bei den oben genannten Maßnahmen den Fehler machte, die Integrationsbemühungen zu islamisieren und damit letztlich die Gegner der Integration auf muslimischer Seite zu Wächtern des Integrationsprozesses zu machen. Nicht das Individuum wurde in seinen Rechten und Kompetenzen bestärkt, sondern das religiöse und patriarchalische Kollektiv, das dem Individuum eigentlich im Wege steht. Hat man ein Problem mit muslimischen Schülern, die sich danebenbenehmen und ihre Lehrerinnen nicht respektieren, so holt man Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund in die Schule, um diese Schüler zu disziplinieren. Hat man ein Problem mit arabisch- und türkischstämmigen Straftätern, so engagiert man mehr Polizisten mit arabischem und türkischem Hintergrund, um die Jungs zu disziplinieren. Hat man ein Problem mit Flüchtlingen, die aus muslimischen Ländern kommen, so überlässt man sie den konservativen Islamverbänden und Moscheevereinen, die sich dieser Menschen nur zu gerne annehmen.

An diesen drei Beispielen wird klar, dass der Staat das Problem nur verlagert, indem er nach Lösungen innerhalb des patriarchalischen Systems sucht, das ja für das Scheitern der Integration mitverantwortlich ist. Denn wenn der Schüler eine Lehrerin nur respektieren kann, wenn sie die gleiche Herkunft und Religion wie er hat, signalisiert der Staat letztlich, dass eine Lehrerin ohne einen solchen Hintergrund nicht respektiert werden muss. Wenn der Staat nicht imstande ist, einen Polizisten mit der notwendigen Autorität auszustatten, sondern diese zusätzlich mit einer religiösen oder ethnischen Autorität zu verstärken versucht, ist das eine Bankrotterklärung an die Idee des Gemeinwesens. Wenn ein Straftäter einen Polizisten nur respektieren kann, weil er eine bestimmte Religion oder Ethnie hat, nicht aber, weil er den Staat repräsentiert, dann legitimiert und vertieft der Staat dadurch die Clanstrukturen und die Parallelgesellschaften.

Überspitzt formuliert könnte man sagen: Nach all den Bemühungen, Konferenzen und Integrationsprojekten sind vor allem der politische Islam und die Kultur des Patriarchats in Deutschland gut integriert, und das mit staatlicher und kirchlicher Unterstützung. Integration kann aus meiner Sicht aber nur gelingen, wenn das Individuum sich vom Würgegriff des Kollektivs befreit und seinen eigenen Weg in die freie Gesellschaft beschreitet. Sie kann nur gelingen, wenn der Einzelne alle moralischen und gesellschaftlichen Mauern zwischen sich und der Gastgesellschaft eliminiert und sich ohne Wenn und Aber mit seiner neuen Heimat und deren Werten identifiziert. Geschieht das nicht, findet keine Integration statt, selbst wenn uns das manche Studie glauben machen will.

Diese vorbehaltlose Identifikation scheint besonders Menschen mit muslimischem Background schwerzufallen. Verglichen mit früheren Generationen gibt es zwar eine positive Entwicklung in den Bereichen Bildung und Arbeit. Immer mehr junge Muslime machen Abitur; immer mehr durchlaufen eine Ausbildung und haben gute Jobs oder machen sich selbstständig. Dass sich hier Fortschritte feststellen lassen, liegt jedoch eigentlich in der Natur der Sache: Die Eltern und Großeltern dieser jungen Menschen kamen einst als Gastarbeiter mit geringer Bildung und Qualifikation nach Deutschland, sie übernahmen einfache Jobs, mit denen sie sich ein besseres Auskommen sichern konnten als in der alten Heimat. Eine positive Bildungsentwicklung und damit bessere Aufstiegschancen sind für die nachfolgenden Generationen zwangsläufig gegeben, allein schon aufgrund der Schulpflicht. Verglichen mit der Bildungsentwicklung der autochthonen Deutschen und anderer Migrantengruppen sind diese Schritte bei Muslimen jedoch deutlich kleiner: In Statistiken liegen Schulabbrecher mit muslimischem Hintergrund vorne, weniger als 60 Prozent schaffen den Hauptschulabschluss, nur 5 Prozent einen akademischen Abschluss.[3]

Eine fundierte (Aus-)Bildung, Sprachkompetenz, ein Studienplatz oder ein guter Job sind wichtige Voraussetzungen, aber keine ausreichenden Belege für eine gelungene Integration. Denn sie sagen nichts darüber aus, ob jemand die westlichen Werte ablehnt oder gar verachtet. Mohammed Atta, der Anführer der Hamburger Gruppe, die für den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 verantwortlich war, erfüllte in Sachen Bildung alle Voraussetzungen für eine perfekte Integration und war dennoch ein brutaler Mörder, der die westliche Zivilisation nicht nur verachtete, sondern sie vernichten wollte. Ebenso wie die anderen 19 Attentäter auch und manche jener, die seitdem in Europa in die Fußstapfen dieser mörderischen Fundamentalisten getreten sind. Sie waren Angehörige der zweiten und dritten Generation, geboren und aufgewachsen in westlichen Ländern. Und auch die vielen jungen Menschen mit türkischen Wurzeln, die sich 2016 in Köln versammelten, um dem autoritären Staatspräsidenten Erdoğan zu huldigen, und für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei demonstrierten, waren nicht unbedingt sozial schwache, gesellschaftlich »abgehängte« oder gar ungebildete Türken. Es war ein Querschnitt durch alle Schichten, der sich da versammelt hatte. Was mich vor allem irritierte, waren die vielen Jungen, die sich ausgezeichnet artikulieren konnten. Sie sind hier aufgewachsen, sie leben hier und genießen die Vorzüge der Freiheit und der Demokratie und votieren dennoch für ein Referendum in der Türkei, welches das Land zurück zum autoritären Einmann- und Einparteiensystem katapultiert! Sie beklagen sich, wenn sie von den deutschen Medien als Minderheit nicht fair behandelt werden, und stimmen dennoch für einen Mann, der kurdische Parlamentarier und westliche Journalisten einsperren lässt und sie als »Terroristen« bezeichnet, nur weil sie seiner Linie nicht folgen. Die wenigsten haben vor, in die Türkei zu ziehen, die mit ihrer Hilfe in ein autoritäres System verwandelt werden konnte. Während in der Türkei das Ergebnis denkbar knapp ausfiel, stimmten in Deutschland 63 Prozent mit »Ja«. Knapp die Hälfte der hier lebenden Wahlbeteiligten gab die Stimme ab – es waren ganz offensichtlich vor allem jene, die bis heute die Grundprinzipien von Demokratie und (Meinungs-)Freiheit nicht verinnerlicht haben. Sie werden weiterhin in Deutschland leben und sich darüber beschweren, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert oder ausgegrenzt werden.

In diesem Land herrscht eigentlich Konsens darüber, dass die Würde des Menschen, nicht nur die der eigenen Gruppe, unantastbar ist. Es herrscht Konsens über Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Meinungsfreiheit. Wie kann man hier gut integriert sein und diese Werte dennoch mit Füßen treten oder auch nur infrage stellen?

Viele, die Erdoğan in Köln zujubelten, waren »Produkte« unseres Bildungssystems. Spätestens als ich einem deutsch-türkischen Akademiker bei einer Podiumsdiskussion in der Bundeszentrale für politische Bildung zuhörte, wie er Adorno und Horkheimer zitierte, um zu beweisen, dass Erdoğan mit seinem Vorgehen in der Türkei recht hatte, stellte ich mir die Frage: Was ist bei uns so schiefgelaufen, dass unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem Menschen hervorbringt, die die Instrumente der Aufklärung benutzen, um die Aufklärung rückgängig zu machen?

Integration besteht nicht nur aus Bildung, Sprache und Arbeit. Es gibt eine Matrix von vier Feldern: strukturelle Integration, kulturelle Integration, soziale Integration sowie emotional-affektive beziehungsweise identifikative Integration. Wer nur die Erfolge auf dem ersten Feld preist und von gelungener Integration spricht, erzählt den Menschen in diesem Land ein Märchen. Nur wenn Erfolge auf allen vier Gebieten verzeichnet werden können, ist eine Integration wirklich gelungen. Wer sich mit diesem Land nicht identifiziert und die mitgebrachte Kultur (die häufig die der Eltern und Großeltern ist) als bessere Alternative betrachtet, will sich nicht integrieren. Wer immer neue Angebote an Migranten macht, aber nicht weiß, was man von Migranten erwarten darf, schafft keine Integration, sondern eine Integrationsindustrie, die viele Zwecke hat, aber nicht automatisch zu einer gelungenen Integration führt. Kurz, es geht um die vielfach bemühte Formulierung vom Fördern und Fordern: Wer nur Appelle an Migranten und Flüchtlinge sendet, aber keine Steuerungs-, Kontroll- und Sanktionierungsmechanismen hat, wird nicht ernst genommen. Wer Neuzugewanderten nicht schon an der Pforte ehrlich sagt, dass sie sich nur gut integrieren können, wenn sie auf Teile ihrer mitgebrachten Kultur verzichten, vor allem auf jene, die die hiesige Kultur verachten und ablehnen, lügt sich letztlich selbst in die Tasche.

Wir wissen mittlerweile, was wir Migranten anbieten können, aber wir wissen nicht, was wir von ihnen erwarten dürfen und wie wir die Erfüllung unserer Erwartungen messen können. Weder das Bildungs- noch das Justizsystem noch die anderen staatlichen Organe und Behörden haben dafür den Willen, geschweige denn die Kapazität. Deshalb ist es viel leichter, eine Studie durch Fragebögen oder anonymisierte Telefonbefragung zu organisieren, die beweist, dass alles ganz gut läuft oder wenigstens halb so schlimm ist! Statt den politischen Islam und das Patriarchat effektiv zu bekämpfen, rollt man ebendiesem politischen Islam den roten Teppich aus und festigt das Patriarchat durch den Rückzug der Staatsgewalt aus Migrantenvierteln und durch faule Kompromisse an den Schulen. Statt mehr für die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu tun, rehabilitiert man das Kopftuch als angebliches Zeichen der Toleranz, Diversität und Selbstbestimmung. Statt die vielen Probleme des Islam ehrlich anzusprechen, setzen Politiker hilflose Behauptungen in die Welt wie »Der Islam gehört zu Deutschland« oder »Wir schaffen das«. Menschen mit muslimischem Glauben, die die hiesige Gesellschaft respektieren, gehören zu Deutschland. Und ja, wir können das schaffen, aber kaum jemand hat den Mut, zu sagen, was es braucht, damit Integration tatsächlich gelingt.

Die Diskussion ist vielfach geprägt von Maulkörben. Die Politik und die exportorientierte Wirtschaft wollen arabische Investoren nicht verärgern. Die verkrampfte Streitkultur, der moralische Zeigefinger, die Demagogie von links und rechts verhindern ebenfalls eine kritische Debatte über Islam und Integration. Viele Muslime halten kritische Töne schnell für Rassismus und Ausdruck von Islamophobie und reagieren beleidigt oder diskursunfähig. Und die Mehrheitsgesellschaft an sich hat nach wie vor Probleme, selbst Migranten mit einem deutschen Pass als Deutsche zu betrachten. Es gibt Alltagsdiskriminierungen, die sehr weit reichen. Das belegt unter anderem eine Studie der Universität Linz aus dem Jahr 2016. Verschiedene fiktive Bewerbungen waren an 1500 deutsche Unternehmen geschickt worden, alle mit dem gleichen Lebenslauf, dem gleichen Foto, der gleichen Qualifikation, die für das jeweilige Jobangebot gefordert war, nur die Namen der Bewerberinnen wechselten: »Sandra Bauer« wurde in 18,8 Prozent der Fälle eingeladen, »Meyrem Öztürk« dagegen nur in 13,5 Prozent. Trug »Meyrem« auf dem Bild ein Kopftuch, sank die Rate auf 4,2 Prozent. Je höher die ausgeschriebene Position war, umso stärker war die Diskriminierung.[4]

 

Integration ist keine Einbahnstraße, beide Seiten müssen etwas dafür tun – und beide müssen es wollen. Aufseiten der Migranten, vor allem aufseiten der Muslime, setzt Integration Verweigerung voraus. Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Ich meine damit Folgendes: Wenn man sich in eine offene, freie Gesellschaft wie die deutsche integrieren will, muss man sich weigern, Teil von unfreien, undemokratischen Strukturen zu bleiben. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass man zwei völlig unterschiedliche, sich in bedeutenden Teilen sogar ausschließende Wertesysteme konfliktfrei zu einer Deckungsgleichheit bringen könnte. Multikulturalität und Hybridität, also die Mischung von zwei eigentlich getrennten Systemen, können nur Früchte tragen, wenn sich Menschen mit Migrationshintergrund von jenen Teilen ihrer Kultur trennen, die die Konfrontation mit der anderen Kultur fördern, und wenn sie die Vermischung als Bereicherung für ihre Identität auffassen und nicht mit einem Verlust derselben gleichsetzen. Integration bedeutet Entscheidung. Ent-Scheidung bedeutet ein Ende der Zerrissenheit. Das aber setzt Freiheit voraus. Eine patriarchale Kultur, die auf Ehre und Gehorsam setzt, räumt dem Individuum diese Freiheit nicht ein. Die Mainstream-Theologie des Islam und die Stammesmentalität zwingen Muslime dazu, sich entweder als Muslim oder als Europäer zu definieren. Integration bedeutet deshalb eine klare Positionierung gegen diese Theologie und dieses Patriarchat. Wer das auf der einen Seite nicht fordert und wer das auf der anderen Seite nicht umsetzt, betreibt Augenwischerei, denn zwischen Freiheit und Unfreiheit gibt es keinen Mittelweg. Auch deshalb glaube ich nicht an kollektive Integration. Vor allem nicht von Menschen, die ihre Individualität dem Kollektiv opfern. Man kann nicht ganze Gruppen auf einen Sitz integrieren, sondern nur Individuen, indem man ihnen den Weg aufzeigt, wie sie sich vom Zwang des Kollektivs emanzipieren können und wie sie ohne Diskriminierung oder Marginalisierung am Wohlstand und der Kultur der Mehrheitsgesellschaft als freie Bürger teilhaben können.

Integration ist kein Zustand, den man im Hier und Jetzt durch Fragebögen oder Statistiken messen kann, sondern ein langer, komplizierter Prozess, den man nur durch Langzeitbeobachtungen und ehrliche Analysen nachzeichnen kann. Ich werde versuchen, genau das in den folgenden Kapiteln zu tun. Zunächst anhand meiner eigenen Integrationsgeschichte in Deutschland, dann anhand der Geschichte, die mit der Ankunft der ersten Gastarbeiter begann und mit dem Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Ich möchte hier nicht nur aufzeigen, was schiefgelaufen ist – seitens des Staates und seitens der Migranten selbst –, sondern auch hervorheben, was gut läuft und was noch getan werden muss, um die Schieflage in manchen Bereichen zu korrigieren. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch als ausgestreckte Hand betrachtet wird, als Anstoß für eine offene Debatte über die Zukunft Deutschlands. Und ich hoffe, dass man, anders als bei vielen anderen kritischen Büchern zum Thema Integration, sachlich und konstruktiv über die Thesen und Vorschläge diskutieren wird, statt mit der üblichen Abwehrhaltung oder gegenseitigen Beschuldigungen zu reagieren. Wir haben ein ernsthaftes Problem, und es muss in unserem Interesse liegen, dass wir alle daran arbeiten, es zu lösen. Um nicht eine weitere Generation von jungen Migrantenkindern zu verlieren und um die freiheitlich-demokratischen Werte und die innere Sicherheit im Land nicht noch weiter zu gefährden.

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Wie ist es wirklich um die Integration bestellt?Forschung und gefühlte Wahrheit

Früher war die Forschung eine Autorität. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien wurden in der Regel von der Bevölkerung akzeptiert, und die Medien hatten die Aufgabe, die Wissenschaft für das Volk durch Vereinfachung zugänglicher zu machen. Nur Wissenschaftler, die ähnliche Qualifikationen wie die Verfasser einer Studie hatten, waren imstande, deren Ergebnisse anzufechten oder zu korrigieren. Heute entwickelt sich die Wissenschaft immer mehr zu einer Glaubenssache, vor allem wenn es um drei Themen geht: Islam, Migration und Klimawandel. Je nachdem, was man selbst glaubt oder erwartet, werden Studien herangezogen, die die eigene Sicht bestätigen.

Diese »confirmation bias« prägt seit Jahren auch die Integrationsdebatte. Und durch das Aufkommen der neuen Medien, bei denen man sich ausschließlich in »Echokammern« bewegen kann, die die eigene Meinung unterstützen, hat sich das noch einmal verstärkt. Als Laie findet man sich kaum zurecht in diesem Dickicht aus Studien, die mal dem eigenen Bauchgefühl oder den persönlichen Erfahrungen entsprechen, mal etwas ganz anderes präsentieren. Die Medien spielen längst nicht mehr nur die Rolle des Vermittlers, sondern oft die des Schiedsrichters. Sie ordnen ein und bewerten und scheuen sich auch nicht, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Dazu kommt – ich erwähnte es bereits in der Einleitung –, dass viele Studien zum Thema Integration einander widersprechen. Während die eine davon ausgeht, dass die Mehrheit der Muslime die Scharia höher schätzt als das Grundgesetz, behauptet die andere, Muslime seien mehrheitlich Verfassungspatrioten. So kommt eine Studie der Universität Münster aus dem Jahr 2016 mit dem Titel »Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland« zu dem Ergebnis, dass fast ein Drittel der hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln der Aussage zustimmen, Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohamed anstreben. Der Aussage »Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe« stimmen sogar 47 Prozent der Befragten zu. 36 Prozent sind darüber hinaus überzeugt, dass nur der Islam in der Lage sei, die Probleme unserer Zeit zu lösen.

Nach Aussage der Münsteraner Forscher haben jene Befragten, die allen drei Aussagen zustimmten, ein »umfassendes und verfestigtes islamisch-fundamentalistisches Weltbild«. Ihr Anteil liegt bei 13 Prozent. 86 Prozent der Mitglieder der zweiten und dritten Generation denken laut Studie, man solle selbstbewusst zur eigenen Herkunft stehen; eine Aussage, der unter den Befragten der ersten Generation interessanterweise nur 67 Prozent zustimmten.

Auf der anderen Seite kommt jene Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2017 zu dem Ergebnis, dass 96 Prozent der hier lebenden Muslime eine tiefe Verbundenheit zu Deutschland verspürten. Sie würden sich hier nicht nur wohlfühlen, sondern seien auch auf dem Arbeitsmarkt integriert. Rund 60 Prozent würden in Vollzeit arbeiten, 20 Prozent in Teilzeit, die Erwerblosenquote gleiche sich jener der »Biodeutschen« an. Damit stehe Deutschland – verglichen mit der Schweiz, Österreich, Frankreich und Großbritannien – hinsichtlich der gelungenen Arbeitsmarktintegration an der Spitze.

Das wäre ein großer Erfolg, würden nicht die neuesten verfügbaren Statistiken der Bundesagentur für Arbeit wieder anderes vermelden. Demnach war im Dezember 2016 der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund unter den Arbeitslosen mit 43 Prozent überproportional hoch. Unter den 4,3 Millionen »erwerbsfähigen Leistungsberechtigten« – dazu zählen zum Beispiel auch Hartz-IV-Aufstocker – liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund noch höher, nämlich bei 52,6 Prozent. Zur Einordnung: Der Bevölkerungsanteil der Muslime insgesamt liegt bei lediglich rund sechs Prozent.

Die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Ergebnissen dieser Studien und die eingangs erwähnte Kritik an ihnen (etwa die Konzentration auf nur einen Aspekt, wie etwa den Arbeitsmarkt, und die Ausklammerung wichtiger Bereiche wie Fragen zu Fundamentalismus, Sexualität, Gleichberechtigung etc.) zeigen ein grundlegendes Problem der Empirie, vor allem wenn es um emotionale Themen geht. Und kaum etwas ist emotional aufgeladener als Integration.

Als ich vor 15 Jahren eine Studie über die Radikalisierung von jungen Muslimen in der Fremde machen wollte, begann ich damit, Fragebögen an arabische Studenten und Kinder der zweiten Generation von Migranten in Deutschland und Frankreich zu verteilen. Auf den Bögen standen Fragen zum Grad der Religiosität, zu westlichen Werten, der Scharia, Geschlechterrollen, Diskriminierung, Dschihad und Kalifat. Beim Sichten der Antworten wurde mir klar, dass sie die Realität nicht wirklich abbildeten. Erstens hatten längst nicht alle, denen ich die Fragebögen geschickt hatte, darauf geantwortet. Nicht weil sie keine Zeit gehabt hätten, sondern weil sie die Motive meiner Studie infrage stellten. Ihre Skepsis galt allen Forschern, die zum Thema Islam arbeiteten. Es war kurz nach dem 11. September, und unter den Muslimen herrschte große Verunsicherung. Einige hatten Angst, dass die Studie in Wirklichkeit im Auftrag der Geheimdienste durchgeführt würde und dass sie in einen Konflikt mit der Justiz geraten könnten, wenn sie ihre wahre Einstellung offenbaren würden. Zweitens hatten jene, die man tatsächlich als Fanatiker hätte bezeichnen können, kein Interesse daran, ihre Ansichten zu artikulieren und zu Papier zu bringen. Und so blieben drittens am Ende die weltoffenen Muslime, die nichts zu verbergen hatten, und diejenigen, die die Fragen eher »vorsichtig« beantworteten. Mit anderen Worten: Das, was nicht gesagt worden war, war deutlich mehr als das, was ich schließlich in Händen hielt.

Ich hätte dennoch die Fragebögen nach den üblichen Standards der Feldforschung auswerten und die Studie veröffentlichen können, und sie wäre wissenschaftlich einwandfrei gewesen. Die Studie hätte das durch den Anschlag auf das World Trade Center reichlich angekratzte Image der Muslime in Deutschland vielleicht ein wenig verbessert, aber die wahre Stimmungslage hätte sie nicht abgebildet. Zu viel war nicht gesagt worden.

Also entschied ich mich, in Zukunft auf Fragebögen zu verzichten und stattdessen das Gespräch direkt zu suchen. Das ist mitunter etwas mühsam, denn es dauert, ein Vertrauensverhältnis zu den Interviewpartnern zu entwickeln und in ihre Gedankenwelt vorzudringen. Viele wussten zu Beginn unserer Gespräche oft nicht, wo sie stehen. Erst im Laufe der Zeit haben sie ihre Position definieren oder präzisieren können. Das merkte ich auch daran, dass ich bei den erneuten Treffen »alte« Fragen noch einmal stellte. Bei vielen entdeckte ich Unterschiede zwischen den früheren und den späteren Aussagen. Die späteren Aussagen waren häufig weniger konform oder erwartbar, sie offenbarten eher eine kritische Haltung, teils auch eine radikalere.

Auch für dieses Buch führte ich zahlreiche Interviews nicht nur mit Migranten, sondern auch mit Flüchtlingen aus dem Irak und aus Syrien. Da sie aus Polizeistaaten kommen, in denen die Menschen ständig von den Geheimdiensten beobachtet werden, hatten viele von ihnen Angst, dass ihre Aussagen Einfluss auf ihr Asylverfahren haben könnten. Deshalb begannen sie unsere Gespräche oft mit einer Lobeshymne auf Deutschland, die Kanzlerin und die großen Errungenschaften der Demokratie und der Freiheit. Erst als ihnen klar wurde, dass sie keine Repressalien zu befürchten haben und ich ihre Äußerungen nur für mein Buch verwenden würde, wurden sie mutiger und erzählten offener von ihren Schwierigkeiten und ihren Einstellungen. Auch hier gab es eine Entwicklung von Gespräch zu Gespräch. Einer, der im ersten Interview sagte, er sei einzig wegen der Demokratie nach Deutschland gekommen, sagte einige Wochen später im Gruppengespräch: »Ehrlich gesagt, wenn es für mich in Deutschland keine Sozialhilfe gibt, werde ich schon morgen nach Aleppo zurückkehren.«

Der Mensch ist nicht statisch. Er bewegt sich und verändert sich ständig, passt sich an neue Gegebenheiten an. Die klassische Wissenschaft arbeitet mit fixen Kategorien und Methoden, wie sie in den Naturwissenschaften ganz selbstverständlich sind. Empfindungen und Geisteshaltungen kann man aber nicht so leicht erfassen und kategorisieren. Es sind immer nur Momentaufnahmen, Schnappschüsse, nicht das eine allumfassende Bild. Vor allem dann nicht, wenn es um hochemotionale Themen geht, bei denen es eine klare Asymmetrie zwischen dem Fragenden und dem Befragten gibt. Führt man sich die gegenseitige Skepsis und Polarisierung vor Augen, die den Diskurs um Migration, Integration und Islam momentan prägen, so kann fast jede Frage als eine Provokation oder eine Unterstellung verstanden werden. Es ist kein Wunder, dass viele Migranten, die zu Studienzwecken befragt werden, mit Ablehnung reagieren oder telefonische bzw. schriftliche Fragen taktisch beantworten. Hinzu kommt, dass man mit der Art und der Reihenfolge der Fragestellung Einfluss auf das Ergebnis nehmen kann: Wenn ich will, dass der Befragte etwas Positives über den Dschihad sagt, stelle ich die ersten Fragen zu den Kreuzzügen, dem Kolonialismus oder der dramatischen Lage der Muslime in Palästina, Syrien oder Burma. Im Anschluss daran muss ich die Dschihad-Frage zum Beispiel so formulieren: »Würden Sie in den Dschihad ziehen, um den unterdrückten Muslimen weltweit zu helfen?« Dann ist mir eine hohe Zustimmungsquote garantiert. Will ich eine niedrige Zustimmungsquote erreichen, dann muss ich zunächst Fragen stellen zu den Gräueltaten und den unschuldigen Opfern des IS-Terrors.

Nach dem gleichen Prinzip kann man mit Fragen über westliche Werte verfahren. Wenn ich jemanden frage, ob er/sie sich diskriminiert fühlt oder ob er/sie das Gefühl hat, dass die Deutschen die islamischen Werte nicht akzeptieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Mehrheit dem zustimmen würde. Wenn ich ihn/sie aber unverblümt frage, ob er/sie die deutschen Werte akzeptiert, ist der Befragte fast genötigt, diese Frage zu bejahen. Denn wie kann man sich über etwas beschweren – dass die Deutschen seine Werte nicht akzeptieren –, wenn man umgekehrt die Werte der Deutschen nicht akzeptiert?

Ein etwas anderes Bild wird man erhalten, wenn man die Frage nach den Werten präzisiert und beispielsweise nach dem Umgang der Deutschen mit Alkohol, Sexualität und Homosexualität fragt. Die Zustimmungsrate wird fallen. Gleiches wird man feststellen, wenn man wissen will, ob der Befragte die persönliche Freiheit und die Meinungsfreiheit als ein hohes Gut erachtet oder nicht. Die meisten Muslime dürften diese Frage mit »Ja« beantworten. Fragt man aber, ob die eigene Tochter einen Freund oder Sex vor der Ehe haben darf (persönliche Freiheit) oder ob man den Propheten Mohamed kritisieren oder zum Gegenstand von Satire machen darf (Meinungsfreiheit), werden die Zustimmungsraten in den Keller rauschen.

 

Sie sehen schon, es ist nicht so einfach, wenn es darum geht, mithilfe von empirischen Studien das Gelingen oder Scheitern von Integration zu messen. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, ist es aus meiner Sicht notwendig, andere Parameter mit einzubeziehen. Welche das sein sollen, auf diese Frage hat die Sozialwissenschaft klare Antworten. In Berlin bin ich mit Naika Foroutan verabredet, der stellvertretenden Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Sie erklärt mir, dass Integration in den Sozialwissenschaften üblicherweise auf vier Ebenen gemessen wird:

 

Auf der strukturellen Ebene, die aus Bildungs-, Arbeitsmarktdaten und weiteren strukturellen Daten etwa zur Gesundheit besteht.

Auf der kulturellen Ebene, die sogenannte Signifikanten umfasst wie Fragen zum Kopftuch, zur Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht oder zur Sprachkompetenz.

Auf der sozialen Ebene, wo sich Integration zum Beispiel durch die Anzahl von Freundschaften, Vereinsmitgliedschaften und weitere Außenkontakte wie das Verhältnis zu Nachbarn bemessen lässt.

Und schließlich auf der identifikativen Ebene, mit der die emotionale Verbundenheit mit bzw. die Zugehörigkeitsgefühle zu einem Land bewertet werden.

Seit dem Jahr 2006 werden diese Integrationsdaten explizit für Muslime zusammengetragen. Foroutan ist der Meinung, dass mit Ausnahme der emotionalen Verbundenheit auf allen Feldern empirisch Fortschritte und Erfolge nachgewiesen worden seien. Allerdings halte sich die Überzeugung, dass die Integration von Migranten, vor allem von Muslimen, stagnieren oder gar zurückgehen würde, hartnäckig. Für Foroutan ist das ein Beleg dafür, »dass es bei der Integrationsdebatte nicht allein um Integration geht. Sondern auch um gängige Narrative, die sich aus der etablierten Vorstellung speisen, Muslime gehörten nicht zu Deutschland. Als sichtbare Minderheit gehören sie somit trotz Staatsbürgerschaft – mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft – nicht zum nationalen Narrativ, sondern werden als religiöse Minderheit außerhalb des Kollektivs platziert.«

Diese Sichtweise sieht sie durch die Erhebung ihrer Studie »Deutschland postmigrantisch« bestätigt. Trotz einer generellen Modernisierung in der Wahrnehmung werde Deutschsein vonseiten der Mehrheitsgesellschaft nach wie vor als etwas Exklusives gesehen: So denken 37 Prozent der Deutschen nach wie vor, dass deutsche Vorfahren wichtig seien, um als deutsch zu gelten. Das bedeutet, dass Menschen, die in Deutschland geboren wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, Deutsch sprechen und sich deutsch fühlen, trotzdem nicht als deutsch angesehen werden, wenn ihre Eltern oder Großeltern als Migranten nach Deutschland kamen.

 

Lange unterhalte ich mich mit Foroutan über die Voraussetzungen einer gelungenen Integration und darüber, was zuerst kommen sollte: die Annahme der Kultur und der Werte des »Gastlandes« oder die strukturelle Integration im Bildungs- und Arbeitssektor. Die Assimilationstheoretiker würden von einem liberalen Denken ausgehen, das die Eigenverantwortung betont. »Erst musst du dich kulturell und sozial integrieren, dann hast du Zugang zu den Strukturen. Das heißt, erst musst du die Sprache beherrschen, die Kultur und Werte der Aufnahmegesellschaft annehmen, dann hast du auch bessere Chancen in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Das ist theoretisch nachvollziehbar. Aber für Foroutan reicht das nicht. »Du kannst dich mit dem Land so stark identifizieren, wie du willst, aber wenn du keine Arbeit hast, bist du nicht gut integriert«, meint sie. Denn nicht alle sind Selbstmotivatoren, die alleine den Weg in die Strukturen finden. Nicht alle sind neugierig und gehen auf andere zu. »Aber wenn sie dann Arbeit finden, bekommen sie die Möglichkeit, mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren. Sie lernen dadurch neue Freunde kennen, was ihnen wiederum das Erlernen der Sprache erleichtert. Mit anderen Worten: Über die Struktur kommst du zur Kultur.«

Für die Migrationsforscherin spielt es letztlich keine Rolle, auf welchem Weg man das Ziel erreicht. Hauptsache, man geht los. An der Debatte stört sie, dass sie sich zu sehr auf die negativen Beispiele konzentriert: »Berlin-Neukölln und Duisburg-Marxloh sind nicht prototypisch für Deutschland. Rheinland-Pfalz ist prototypisch. Und in Frankfurt, Nürnberg und Augsburg leben prozentual gesehen mehr Migranten als in Berlin. Gleiches gilt für München und Stuttgart, doch dort wird anders über das Thema Integration gesprochen, weil schlicht ein größeres Angebot an Arbeitsplätzen vorhanden ist.«

Es stimmt natürlich, dass da, wo es bessere Aufstiegschancen und mehr Arbeitsplätze gibt, die Aussicht auf Integration besser ist. Dennoch sind Stuttgart, München, Nürnberg und Augsburg ebenso wenig wie Rheinland-Pfalz sorgenfrei, wenn es um die Integration von Muslimen geht. Ein Arbeitsplatz löst ein Problem, aber, wie wir noch sehen werden, gibt es eine Vielzahl, die zu bewältigen ist.

Foroutan will sich mehr auf das Positive konzentrieren. Nicht nur bei den Migranten, sondern auch bei den Deutschen. »Das Land und seine Bewohner entwickeln sich. Und Krisen mobilisieren Kräfte, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte. Anfang September 2015 dominierten die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof die Medien. Geflüchtete Menschen wurden unter Applaus begrüßt, es zeigte sich eine überwältigende Willkommensbereitschaft. Aus Ungarn angereist, wurden die Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Wasser und Babywindeln von Münchner Bürgerinnen und Bürgern empfangen – es gab emotional überwältigende Aktionen von helfenden Menschen, die viele in ihrem Deutschlandbild überraschte. Und wer hätte gedacht, dass konservative Rentner neben Antifa-Leuten stehen würden und gemeinsam arbeiteten?«

Die Migrationsforscherin verbreitet einen ansteckenden Optimismus, wenn es um die Zukunft von Integration geht. Sie glaubt, dass die positiven Strukturdaten sich auch weiterhin positiv entwickeln werden. Auch das Bewusstsein in der Gesellschaft, dass diskriminierende Strukturen im Endeffekt der Gesamtgesellschaft schaden, wird ihrer Meinung nach zunehmen. »Früher hat man von Schülern mit Migrationshintergrund automatisch weniger erwartet in der Annahme, die Eltern seien nicht bildungsorientiert, und ohne deren Unterstützung könnten die Kinder das sowieso nicht schaffen. Dahinter steckt nicht unbedingt Diskriminierung, sondern eine Fehleinschätzung, mit der auch Kinder ohne Migrationshintergrund, aber aus sozial schwachen Schichten zu kämpfen haben. Das sind systematische Verzerrungseffekte, die nicht ohne Folgen bleiben. Diese Kinder erreichen tatsächlich schlechtere Ergebnisse, weil sie nicht rechtzeitig gefördert wurden.«