Krieg oder Frieden - Hamed Abdel-Samad - E-Book

Krieg oder Frieden E-Book

Hamed Abdel-Samad

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Beschreibung

Ursachen, Chancen und Gefahren des Umbruchs im Nahen Osten
Hamed Abdel-Samad war während des Umsturzes im Frühjahr in Ägypten und anderen arabischen Staaten. Er analysiert die arabische Revolution, die wie ein Erdbeben eine Weltregion erzittern ließ. Er zeichnet Ursachen und Verlauf nach und skizziert zwei Szenarien, die die europäischen Länder einmal als wirtschaftlichen Gewinner, einmal als bedrohten Verlierer der neuen Strukturen im Nahen Osten erscheinen lassen. Seine engagierte Warnung lautet: Das Schlimmste, was der Westen jetzt tun kann, ist, die Entwicklung zu verschlafen.
Hamed Abdel-Samad gilt derzeit als einer der wichtigsten Kenner des Landes. Auch zum aktuellen Konflikt in Ägypten liefert er wesentliche Hintergrundinformationen in seinem Buch. Ein zentrales Kapitel dreht sich um das problematische Verhältnis von Kopten und Muslimen.
»Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad ist eines der Gesichter der Revolution: als Interviewpartner von ARD und ZDF, als Zeitzeuge und als Sympathisant von Menschen, die sich nicht länger mit Armut, Unterdrückung und Gewalt abfinden wollen.« SWR

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Hamed Abdel-Samad

Krieg oder Frieden

Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Knaur e-books

Für alle Frauen und Männer, die ihr Leben oder Augenlicht verloren haben, damit ihr Heimatland in eine bessere Zukunft blicken kann

Für meine Mutter, die mich immer vor Teilnahme an Demonstrationen gewarnt hat und sich dennoch sehr über den Sturz Mubaraks freute

Für meinen jüngeren Bruder, Mahmoud, der bei den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz am Kopf schwer verletzt wurde und Monate danach eine der ersten Fabriken im neuen Ägypten gegründet hat

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Als die Welt sich veränderte

Was kann ich über die arabische Revolution schreiben?

Was kann jemand, der von einem Tsunami überrollt wurde, über die Natur der Flut, ihre Entstehung und ihre Folgen schreiben? Wenn ich davon berichte, was ich in Ägypten, Marokko und anderen islamischen Ländern gesehen und erlebt habe, was ich gehört, erfahren, recherchiert habe, so kommt mir meine Schilderung bisweilen vor wie eine riesige Menge von Mosaiksteinen, die sich noch nicht zu einem lückenlosen Bild zusammenfügen lassen.

Weil wir das Wesen auch dieser arabischen Revolution so schnell wie möglich begreifen wollen, neigen wir dazu, sie mit anderen Revolutionen zu vergleichen. Ist sie die Revolution der Hungrigen gegen die dekadenten Monarchen wie die Französische Revolution? Ist sie eine Kettenreaktion bürgerlicher und nationaler Aufstände wie der europäische Frühling von 1848? Ist sie die verspätete 68er-Bewegung gegen die Generation der Väter? Ist sie vielleicht eine arabische Version der iranischen Revolution von 1979? Kommt zunächst der Ruf nach Freiheit, und dann greifen die bärtigen Islamisten nach der Macht? Oder sind die Aufstände des Jahres 2011 eher mit den Umbrüchen in Ost-Mittel- und Osteuropa zwischen 1989 und 1991 zu vergleichen? Und wenn schon, mit welchem 1989 vergleichen wir: mit der demokratischen Transformation in Osteuropa oder mit der Stagnation und der Rückkehr der Diktatur im neuen Gewand in den ehemaligen zentralasiatischen sowjetischen Republiken nach dem Zusammenbruch des Kommunismus? Aus meiner Sicht ist die arabische Revolution eine Mischung aus all diesen Revolutionen und zugleich anders als jede von ihnen. Auch davon handelt dieses Buch.

 

Als meine Maschine Ende Januar 2011 Richtung Kairo abhob, war die Maschine meiner Frau längst in Osaka gelandet. Keiner von uns beiden konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass wir bald Zeugen zweier gewaltiger Erschütterungen sein würden, die nicht nur unsere beiden Heimatländer, sondern die ganze Welt erzittern lassen würden. Wenige Stunden nach meiner Ankunft in Kairo am 27. Januar hat das Regime Mubaraks aus Angst vor Großdemonstrationen alle Internet- und Mobilfunkverbindungen gekappt. Es schien, als wollte der Diktator sein Volk als Geisel nehmen. In den Tagen danach versuchte meine Frau vergeblich, mich zu erreichen. Sie war immer in Angst um mich, gleichgültig wann ich nach Kairo flog, denn sie wusste, dass meine kritischen Bücher, die auch auf Arabisch erhältlich sind, über den Islam und über das Regime Mubaraks mich dort in Schwierigkeiten bringen könnten.

Tagelang demonstrierten wir auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak und sein Regime. Am 11. Februar wurde unser Kampf für Freiheit mit dem Abdanken des Pharaos gekrönt, und ganz Ägypten befand sich im Freudentaumel. Genau einen Monat später, am 11. März, war ich wieder in Kairo, und meine Frau war immer noch in Japan. An diesem Tag schockte das größte Erdbeben der jüngeren Geschichte die Insel, es folgten unmittelbar ein gewaltiger Tsunami und die Atomkatastrophe von Fukushima. Nun war ich es, der vergeblich versuchte, den anderen zu erreichen. Telefonleitungen und Internetverbindungen waren in Japan ausgefallen. Meine ägyptischen Eltern pflegten mich und meine Frau immer vor einem längeren Aufenthalt in Japan zu warnen. Zu gefährlich sei das Land wegen der vielen Erdbeben.

Zwei Wochen später, meine Frau und ich waren heil in Deutschland eingetroffen, erlebten wir hier den Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg, der das alte bundesrepublikanische Parteiengefüge nicht weniger erschütterte als das Erdbeben Japan. Seither frage ich mich, was die Ereignisse von Kairo, Fukushima und Stuttgart gemeinsam haben. Was sind die Themen, die diese extrem unterschiedlichen Orte verbinden? Sind es Energie, Kommunikation, Informationspolitik, Freiheit und Zukunftsängste?

 

Wir leben in einer Zeit, in der die globale Tektonik in Bewegung ist. Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Erschütterungen auf allen Kontinenten. Wir kommen kaum nach mit unserer zerstreuten, meist von Besorgnis geprägten Aufmerksamkeit. Was wir wahrnehmen, ist oft nur der Bruchteil eines Ereignisses, bevor wir uns bald einer anderen dramatischen Szene in einer anderen Region der Welt zuwenden. Das Jahr 2011 wird ohne Zweifel als eines der ereignisreichsten in die jüngere Geschichte eingehen, ähnlich wie die Jahre 1968 und 1989. Aber zum ersten Mal stehen nicht Europa oder die USA im Mittelpunkt des Geschehens, sondern nur am Rande. Noch am Rande!

 

Viele in Europa haben die Erschütterung des arabischen Erdbebens zwar gespürt, aber die Zeichen, die von der anderen Seite des Mittelmeers kommen, noch nicht verstanden und reagieren entweder ängstlich oder gleichgültig. Bis vor wenigen Monaten beklagten wir die Ungleichzeitigkeit und die Asymmetrie, die die Beziehungen zwischen Europa und den arabischen Staaten bestimmt haben. Fast immer waren die Araber langsamer und weniger flexibel im Umgang mit den rasanten Entwicklungen der Welt. Nun erlebten wir, dass die Araber, die wir gern als Globalisierungsverlierer bezeichnet haben, sich der Instrumente der Globalisierung bedienten, um auf die Höhe der Zeit zu kommen. Während manche Europäer auf Facebook Gruppen mit dem Titel »Facebook sucks« einzurichteten, um ihre Bedenken über die Datenschutzlücken im sozialen Netzwerk zum Ausdruck zu bringen oder um ihre Solidarität mit einem ehemaligen Verteidigungsminister kundzutun, umarmten die jungen Araber die westliche Erfindung dankend und jagten mit ihrer Hilfe ihre Diktatoren aus dem Amt. Die jungen Menschen in Ägypten, Tunesien und Syrien betrachteten Facebook als Fenster zur Welt und befreiten sich dadurch vom offiziellen Wissen, das ihnen die herrschenden Eliten durch Schulbücher und staatliche Medien vermittelt haben. Europa reagierte jedoch langsam und verkrampft auf die letzten Erschütterungen, und viele wollten und wollen anscheinend ihre alten Araber wiederhaben, wenn nicht mit Bart, Vorderladerflinte und Kamel, dann gerne mit Bart, Leopard 2 und einem SUV aus deutscher Produktion.

Der Weg zu den zahlreichen Tahrir-Plätzen in den arabischen Städten war kein Spaziergang für die Frauen und Männer, die gegen die Diktaturen demonstrierten. Sie wurden täglich mit Gummigeschossen, mit Tränengas, aber auch mit scharfer Munition beschossen. Im Jemen, in Syrien und Libyen haben die Machthaber mit Kanonen auf sie gefeuert und Kampfflugzeuge Bomben auf sie werfen lassen. Jeder, der nach Freiheit rief, setzte sein Leben aufs Spiel; jeder wusste, die Schüsse können ihn treffen, und trotzdem nahm mit der Brutalität der Staatsmacht auch die Entschlossenheit der Demonstranten zu, den Diktator zu stürzen. Mut und Ausdauer reichen als Erklärung nicht aus, sondern auch der Durst nach Freiheit und das Gefühl, dass das, wonach man sich immer gesehnt hatte, in greifbarer Nähe scheint, spielen eine Rolle. Diese jungen Frauen und Männer riskierten ihr Leben, nicht um den Märtyrertod zu finden, sondern um freier und besser zu leben. Zum ersten Mal gingen sie auf die Straße, nicht um gegen Phantomfeinde und Sündenböcke, sondern um gegen die wahren Gründe ihrer Misere zu demonstrieren. Nicht Israel, den USA oder dem Mohamed-Karikaturisten galt die Wut der Rebellen, sondern den eigenen Diktaturen. Die demonstrierenden Massen skandierten in diesem Frühling des Jahres 2011 nicht wie bislang so oft »Tod Amerika«, sondern »Gerechtigkeit, Würde und Freiheit«.

Viele im Westen scheinen in Bezug auf die Umwälzungen in der Welt kein Risiko eingehen zu wollen. Viele an den Frieden gewöhnte, satte Europäer jenseits der 40 schienen es nicht zu begreifen, dass Freiheit kein Nebenprodukt des Wohlstands ist, sondern ein Zustand, den man nur erreichen und vor allem sichern kann, indem man sich immer und immer wieder darum bemüht. Freiheit kann niemals bedeuten, dass alles beim Alten bleibt, sondern vielmehr, dass man es wagen muss, sich gegen alle Formen der Ausgrenzung, der Bevormundung, der Unterdrückung zu wehren, im äußersten Notfall auch, indem man sein Leben riskiert. Wie reagierte Europa auf die Revolutionen in Nordafrika? Überwiegend mit Sorgen und Angst. Und es ist zwar nicht schön, aber verständlich, dass die dringlichste Sorge der Europäer der Erdölversorgung galt, dann den Flüchtlingsströmen, freilich nicht den Flüchtlingen, die zu Hunderten im Mittelmeer ertranken, und schließlich galt die Sorge dem möglichen Aufstieg des Islamismus.

Aber Angst ist bekanntlich nicht der beste Ratgeber, auch nicht in unruhigen Zeiten. Selbstverständlich bergen die Umbrüche in den arabischen Staaten keine Sicherheit, dass sich dort tatsächlich Demokratie und Freiheit durchsetzen. Ein Erdbeben mag alte Häuser zum Einsturz bringen, garantiert allerdings nicht, dass an ihrer Stelle neue, bessere Häuser entstehen. Aber das Ende der Diktatur ist die Voraussetzung für einen staatlichen und gesellschaftlichen Neuaufbau in der arabischen Welt. Blicken wir auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satelliten, so stellen wir fest, dass Osteuropa nur durch die Beseitigung des kommunistischen Erbes und das Wachsen eines neuen Bewusstseins den schwierigen Weg in die Demokratie antreten konnte. Dies schafften die Osteuropäer nicht nur aus eigener Kraft, sondern auch mit massiver Unterstützung des Westens vor, während und nach dem Umbruch. Heute sind einige ehemals kommunistische Staaten Mitglieder der Europäischen Union und wichtige Motoren des wirtschaftlichen Wachstums auf dem alten Kontinent.

Nicht geschafft haben den Weg in die Demokratie Staaten wie Weißrussland, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan, die nach dem Ende des Kommunismus in politische Lethargie verfallen sind und kaum neue demokratische Strukturen aufbauen konnten. Bald konnten dort auch die alten Eliten wieder an die Macht kommen, weil das demokratische Bewusstsein in diesen Staaten weder durch Bildung noch durch eine neue, demokratische Wirtschaftspolitik gefördert wurde.

Die arabische Welt kann viel von der europäischen Erfahrung und dem Transformationsprozess lernen. Dafür müssen die Menschen begreifen, dass der Sturz der Diktatur erst der Anfang eines langen Weges ist. Ein demokratisches Bewusstsein kann nur wachsen, wenn die Diktatur auch in den Köpfen, in den Schulen und in den patriarchalischen Familienstrukturen eliminiert wird. Die Revolution gegen alte Rollenbilder, gegen die unversöhnlichen religiösen Denkmuster ist deshalb sogar noch wichtiger als die Entmachtung der Despoten. Das Machtvakuum darf nicht durch eine neue Form der Bevormundung im Namen der Nation oder der Religion gefüllt werden. In Ländern wie Ägypten, Tunesien, Jordanien und Marokko, wo es eine kurze friedliche Revolution oder eine sanfte Reformbewegung gab, ist es möglich, die neugeborene Zivilgesellschaft zu stärken und demokratische Infrastrukturen aufzubauen. Im Jemen und in Libyen, wo sich die Kämpfe in die Länge gezogen und weite Teile der Bevölkerung militarisiert haben, wird es schwierig, Konflikte plötzlich demokratisch zu lösen. Der viel beschworene Kampf der Kulturen, der zwischen Orient und Okzident ablaufen sollte, findet nun innerhalb der arabischen Welt statt – zwischen den Kräften, die Öffnung und Modernisierung anstreben, und jenen, die für Selbstverherrlichung und archaische Weltbilder stehen.

Hier in Europa kann man sich nicht so recht von Herzen freuen über die unerwarteten Entwicklungen in Nordafrika und im Vorderen Orient. Es mag daran liegen, dass viele Europäer mittlerweile des Themas Islam, der unendlichen Debatten über Migration, Integration und islamistischen Terrorismus, müde geworden sind. Viele Europäer, auch ihre Regierungen, schauen in den Rückspiegel und meinen zu sehen, was die Zukunft bringen wird: Fanatismus, Gewalt und Masseneinwanderung. Niemand kann garantieren, dass dieses Szenario nicht eintreten wird. Es ist in der Tat eine Frage von Krieg oder Frieden. Aber die Konfrontation als die wahrscheinlichste Variante zu sehen, beschleunigt sie und erhöht die Mauer, die ohnehin hoch genug ist. Langfristig kann sich Europa aber weder eine neutrale noch eine skeptische Haltung gegenüber den Entwicklungen jenseits des Mittelmeers leisten. Nur echte, ernstgemeinte Investitionen, nicht bloß Almosen, können Europa vor den Gefahren eines ausufernden Umbruchs in der arabischen Welt schützen und dem alten Kontinent, der so sehr auf Energielieferungen, Absatzmärkte und zunehmend auch auf Arbeitskräfte angewiesen ist, sogar eine neue wirtschaftliche Perspektive bieten.

Was für die Türkei als zu wenig gilt, kann für Länder wie Ägypten, Marokko und Tunesien die Rettung sein: eine privilegierte Partnerschaft mit der EU. Ein umfassender Marshallplan für Nordafrika muss her. Dies sollte mit der aktiven Mitarbeit europäischer Politiker und Geldinstitutionen beginnen, um die geschmuggelten Milliarden der gestürzten Diktatoren in die jeweiligen Länder zurückzuführen. Die Gelder könnten auch über rasch aufgelegte Beschäftigungsprojekte der arbeitslosen Jugend zugutekommen. Langfristig ist eine europäische Hilfe für den Aufbau demokratischer Strukturen unerlässlich. Die Schulung der Polizei, die Neufassung der Lehrpläne und Schulbücher und die Ausbildung von Technikern und Ingenieuren sind nur einige Beispiele. Mit klugen, frühzeitigen und engagierten Investitionen kann Europa nicht nur neue, billige Produktionsstandorte schaffen, um mit China Schritt zu halten, sondern auch beim Aufbau einer Arbeitermittelschicht in diesen Ländern helfen, die wiederum einen Absatzmarkt für europäische Produkte darstellen könnte.

Angesichts der gigantischen Herausforderungen an die Energiepolitik – nach Fukushima und im Angesicht der Klimakatastrophe – kann eine enge Kooperation im Bereich der Solarenergie beiden Seiten des Mittelmeers eine blühende Zukunft eröffnen. Die eine Seite hat die Sonne, die andere das Know-how. Die eine Seite benötigt saubere Energie, die andere kann diese liefern. Auch Agrartechnologie und Tourismusbranche bergen noch zahlreiche Möglichkeiten für Investitionen. Jeder neu geschaffene Arbeitsplatz ist eine neu geschaffene Zukunft für einen jungen, motivierten Menschen in einem arabischen Land. Kaum jemand, der in seiner Heimat eine Zukunftschance sieht, wird diese gegen eine lebensgefährliche Bootspassage übers Mittelmeer und eine ungewisse Existenz als illegaler Einwanderer oder Asylbewerber eintauschen. Wer einen Arbeitsplatz hat und in seiner Heimat bleibt, kann zur Hebung des Wohlstands und zur Schaffung einer Zivilgesellschaft beitragen.

Und wenn der alte und in seiner Bevölkerung zusehends überalterte Kontinent Europa auf gut ausgebildete Arbeitskräfte zurückgreifen möchte, könnte er diese in den arabischen Ländern anwerben. All dies mag angesichts der Spannungen, die zwischen Europa und der arabischen Welt seit Generationen herrschen, als Phantastereien erscheinen, aber es ist viel realistischer, als man denkt. Es ist so realistisch wie die Notwendigkeit, aus der diese Überlegung hervorgehen, denn die Alternative dazu wird sehr bitter für beide Seiten sein.

Noch nie waren beide Seiten des Mittelmeers so sehr aufeinander angewiesen wie heute. Wenn nämlich die herrschende Asymmetrie und wechselseitige Abneigung nicht abgebaut werden und beide nicht mehr für Versöhnung und Kooperation unternehmen, drohen beide Seiten des Mittelmeers, Europa und die arabischen Staaten, zu scheitern. Der alte Kontinent wird an seine demographischen und wirtschaftlichen Grenzen stoßen und implodieren, und die arabische Welt wird, sollte der Umbruch nicht in Demokratie und Wohlstand münden, nicht nur zu Lethargie und Selbstzerfleischung zurückkehren, sondern förmlich explodieren. Das Erwachsenwerden von jungen, frustrierten Massen ohne Perspektiven kann in Wellen der Gewalt münden, die politisch nicht mehr zu kontrollieren sind.

Man sollte sich jedoch davor hüten, Europa im Namen der Gefahren, die entstehen könnten, zu erpressen, um mehr Hilfe für Nordafrika bereitzustellen. Denn diese Hilfe soll nicht in der Form von Almosen oder Schutzgeld erfolgen, sondern als eine langfristige Investition, die auch der europäischen Wirtschaft lebenswichtige Perspektiven eröffnen könnte.

Die arabische Revolution birgt nicht nur für die Menschen in Nordafrika und im Nahen Osten, sondern auch für den Westen, zumal für Europa, grundsätzlich zwei Optionen: eine Chance und eine Gefahr. Für die europäischen Staaten kommt es nun darauf an, ob, wie und wann sie das Richtige tun: Verharrt man weiter in einer Haltung, die wohl mit Lippenbekenntnissen die Partei der Demonstranten ergreift, aber weiterhin mit den alten Eliten Geschäfte macht und ihnen sogar Waffen liefert, oder stellt man sich auf die Seite der Demokraten und unterstützt sie dabei, zivile Strukturen zu schaffen? Beendet Europa die ökonomische Apartheid und betreibt endlich fairen Handel mit Nordafrika, oder setzt es nach wie vor auf eine fragwürdige Wirtschafts- und Energiepolitik? Nimmt Europa Abstand von Waffengeschäften mit Diktatoren und dubiosen Vereinbarungen mit Warlords? Wechselt Europa in die Facebook-Diplomatie, oder bleibt es im Öl-Zeitalter stecken? Das sind die zentralen Fragen, die Deutschland und seine Nachbarländer gemeinsam beantworten müssen.

Aber die arabischen Staaten sind nicht nur Gegenstand der Geschichte, ihre Menschen haben bewiesen, dass sie Geschichte schreiben können. Deshalb ist es an ihnen, diese Herausforderungen mit Blick auf eine offene, chancenreiche Zukunft zu beantworten: Schaffen es die Araber, sich von den alten Identitätsmustern und der Erziehung zu Hass und Selbstverherrlichung zu lösen? Gibt man seine alten Feindbilder zugunsten einer auf Respekt und gegenseitigem Interesse basierenden Partnerschaft auf? Ebnet man den Frauen einen Weg in die Mitte der Gesellschaft, damit sie dort als gleichberechtigte Bürgerinnen ein selbstbestimmtes Leben führen können?

Wenn sich Europa nicht als zu alt und unflexibel und die arabische Welt nicht als zu stur und dogmatisch erweisen, dann darf man hoffen!

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Meine arabische Revolution

Es ist Freitag, der 28. Januar. Bis 13:30 Uhr war es ein Freitag wie jeder andere in Kairo. Was danach kam, ist Geschichte. 300 Meter trennen uns vom Tahrir-Platz. Die längsten 300 Meter der Welt. Unzählige Demonstranten sind um mich. Wir rufen: »Das Volk will das Regime stürzen«, und drängen in Richtung des Platzes der Befreiung, des Tahrir-Platzes im Herzen der Stadt. Vor uns eine Phalanx von Sicherheitssoldaten, die schwarz gekleidet sind. Ausgerüstet mit Helmen, Gasmasken, Schlagstöcken und Schusswaffen versuchen sie, uns zurückzudrängen. Ununterbrochen feuern sie Tränengasgranaten und Gummigeschosse auf uns ab. Schlägerbanden in Zivil lauern uns in den Nebenstraßen des Tahrir-Platzes auf.

Was mache ich hier? Ich bin kein Straßenkämpfer.

Was ist meine Funktion? Ich weiß es nicht.

Meine Rolle ist vermutlich die gleiche Rolle wie die der meisten anderen Demonstranten. Wie diese unzähligen, meist jungen ägyptischen Frauen und Männer bin ich vor allem gekommen, um die Zahl der Demonstranten um eine Person zu vergrößern. Mehr nicht. Wir wollen mehr werden. Eine wachsende Menge. Eine kritische Masse. Wie alle anderen habe ich ein einziges Ziel: Freiheit für mein Land.

Der Rauch liegt schwer in der Luft, Schüsse peitschen, die Schreie der Verletzten gellen, aber immer wieder übertönt der gemeinsame Schrei nach dem Sturz des Regimes alles andere. Uns treibt die Hoffnung weiter, dass heute ein entscheidender Tag in der Geschichte Ägyptens sein wird.

 

Als ich die Flugtickets von Berlin nach Kairo buchte, wusste ich nicht, dass ich Teil einer Revolution sein werde. Ich hielt die ganze Geschichte für einen Witz. Das erste Mal las ich auf Facebook von der geplanten Revolution. Ich kam in der zweiten Januarwoche von einer Reise zurück und sah, dass viele meiner ägyptischen Freunde ihre Facebook-Profilbilder geändert hatten. Dort sah man nun eine tunesische Flagge, auf der stand: »Die Antwort lautet Tunesien.« Ich hielt es anfangs für ein neues Spiel, doch einige Freunde, ernsthafte Intellektuelle, hatten den gleichen Status. Ich wechselte zu der Seite von »We are Khalid Said«, wo ich seit mehreren Monaten Mitglied bin. Die Seite wurde gegründet, um gegen die Ermordung des jungen Bloggers Khalid Said durch zwei Polizisten in Alexandria im Sommer 2010 zu protestieren. Obwohl die Gründer dieser Seite anonym blieben, hatte sie bereits nach wenigen Wochen mehrere hunderttausend Anhänger. Der geheimnisvolle Administrator der Seite prangerte die Gewalt der Polizei in Ägypten an und rief zu friedlichen Demonstrationen gegen das Innenministerium auf. Nachdem mein letztes Buch, »Der Untergang der islamischen Welt«, im Oktober 2010 in Ägypten erschienen war, empfahl mir ein Freund, dem meine Thesen zu düster schienen, die Seite von Khalid Said zu besichtigen, und sagte: »Glaub mir, in Ägypten bewegt sich was!« Ich war schon seit dem Sommer Mitglied dieser Seite, besuchte sie aber nicht regelmäßig. Ehrlich gesagt hielt ich nicht viel von ihr, obwohl ich bereits in meinem letzten Buch über Facebook geschrieben hatte, diese Internetplattform sei der größte Häretiker und der größte Demokrat der islamischen Welt, weil sie das Wissensmonopol des Staates gebrochen und die Informationen für alle zugänglich gemacht hatte. Schon wenige Monate nach der Gründung des Online-Netzwerkes hatte Ägypten die meisten Nutzer nach den USA. Vor allem nach der Einführung der arabischen Version von Facebook 2009 stieg die Zahl der ägyptischen Nutzer rapide an.

Überall in den islamischen Staaten sind viele junge Menschen internetsüchtig. Sie chatten über Religion und Politik, schauen Pornos, hören sich die Musik von Beyoncé, aber auch die Botschaften von Osama Bin Laden an. Ich hatte im »Untergang der islamischen Welt« von Bloggern und Internetaktivisten berichtet, die die Macht des Regimes in Frage stellten und seine kriminellen Methoden ans Licht brachten. Aber die Seite von Khalid Said erschien mir als zu pubertär. Gelegentlich verfolgte ich die Diskussionen, doch mir schien, dass sowohl der Administrator als auch die meisten Diskutanten eher naiv seien und kaum politisches Bewusstsein besaßen. Meist drehte sich der Austausch um die Frage, wie am besten gegen die Willkür der Polizei zu protestieren sei. Manche schlugen vor, auf Banknoten »Nein zu Folter« zu schreiben, damit die Botschaft mehr Menschen erreichen könnte. Andere wollten an Polizisten Facebook-Meldungen senden, um sie zu einem gewaltlosen Umgang mit Zivilisten aufzufordern. Der Administrator, der sich offensichtlich in allen Internettricks auskennt, machte 200 Accounts von ägyptischen Polizisten ausfindig und stellte sie den Hunderttausenden Mitgliedern der Seite zur Verfügung. In der Folge entwickelte sich eine üble Schlammschlacht im Netz mit Beschimpfungen und Drohungen.

Auch die Form der früheren Demonstrationen, worauf sich die Teilnehmer der Seite verständigten, mutete mich seltsam an. Junge Frauen und Männer trugen einheitlich schwarze T-Shirts, hielten einen Koran und eine Bibel in der Hand und stellten sich nebeneinander an der Promenade in Alexandria auf, das Gesicht dem Mittelmeer, den Rücken der Straße zugewandt, ohne Plakate und ohne zu sagen, wogegen sie demonstrierten oder wofür sie standen. Es sind nur ein paar Teenager, die sich im Netz ihre Zeit vertreiben, dachte ich. Ein großer Irrtum, wie sich später herausstellte. Die Proteste galten immer nur der Gewalt der Polizei, es ging nicht um die Wahlfälschung, nicht um die korrupte Nationalpartei, nicht um Mubaraks Alleinherrschaft und seine Pläne, seinem Sohn die Macht zu übergeben. Der Betreiber der Seite öffnete sie keinem anderen Thema außer dem der Polizei – eine kluge Taktik?

Um den mysteriösen Satz, »Die Antwort lautet Tunesien«, zu verstehen, besuchte ich die Seite von Khalid Said und erfuhr dort von den Demonstrationen in Tunesien, die durch die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers namens Bouazizi entfesselt worden waren. Die ägyptische Internetgemeinde zog Vergleiche zwischen der Geschichte von Bouazizi und der von Khalid Said und diskutierte mit zunehmendem Engagement die Frage, warum es eine Revolution in Tunesien, aber keine in Ägypten gebe, obwohl am Nil die herrschende Ungerechtigkeit und die Willkür der Polizei gravierender seien. Die gleiche Diskussion war bereits vor anderthalb Jahren geführt worden, als im Iran die grüne Revolution gegen Ahmadinedschad ausgebrochen war. Auch ich habe damals in einer ägyptischen Zeitung einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel »Warum gibt es eine Revolution in Iran, aber keine in Ägypten?«. Die Antwort auf diese Frage kannte fast jeder in meinem Heimatland. Die Ägypter sind viel zu herrschaftstreu und viel zu geduldig, oder wie es ein Charakter aus einem modernen ägyptischen Film schön beschrieb: Die gesamte ägyptische Bevölkerung hält sich an der Hand der Regierung fest, wie sich ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter festhält, auch wenn diese Mutter unmoralisch ist.

Anders als in Tunesien konnte in Ägypten jeder die Regierung und gelegentlich sogar Mubarak selbst in den Medien kritisieren. Korruption und Ungerechtigkeit waren in den letzten Jahren die beliebtesten Themen in den Medien, aber die Thematisierung dieser Probleme führte eigentlich zu keiner sichtbaren Veränderung der politischen und sozialen Realität. Mubarak und sein Regime ließen die Kritik als Ventil für die frustrierte Bevölkerung zu, getreu dem auch in Deutschland bekannten Motto: Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Beide, Herrscher und Untertanen, gingen davon aus, dass die Ägypter niemals aufstehen würden, ganz gleich, was passierte. Dies führte dazu, dass die regierende Nationalpartei die Parlamentswahlen im November 2010 in einer offensichtlichen und dreisten Art und Weise fälschte und sich mehr als 95 Prozent aller Sitze sicherte. Wahlfälschung sei nicht die geeignete Bezeichnung dafür, meinte Ägyptens berühmtester Schriftsteller Alaa Al-Aswani, denn Fälschung ist eine Kunst, eine kluge Täuschung, aber das, was geschah, war ein bewaffneter Diebstahl gewesen, den jeder hatte sehen können. Oppositionelle waren durch Schlägerbanden der Nationalpartei daran gehindert worden, zu den Wahllokalen zu gelangen, andere Wahllokale waren in Brand gesetzt worden, und Beamte hatten die Wahlzettel vor laufender Kamera zugunsten der regierenden Partei ausgefüllt. Danach schien es, als sei es das Schicksal Ägyptens, dass die Sphinx über die Wüste herrschte und die Mubarak-Dynastie über den Nil.

Doch die Umwälzungen in Tunesien haben all denen von uns, die hoffnungsfroh oder zähneknirschend an die Unveränderlichkeit der Zustände in Ägypten glaubten, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Besonders nachdem Tunesiens Präsident Ben Ali das Land fluchtartig verlassen musste, spürten viele Ägypter einen Hauch von Hoffnung, aber doch auch eine kleine Kränkung, denn die stolzen Ägypter waren ein wenig verstimmt, dass die Veränderung im kleinen Tunesien und nicht im bevölkerungsreichsten arabischen Land, in Ägypten, losging. Immerhin waren die wichtigsten Entscheidungen der arabischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten immer in Kairo getroffen worden. Die Araber nannten Ägypten nicht nur »die große Schwester«, sondern »die Mutter der Welt«. Einige bezeichnen das Land am Nil seit geraumer Zeit allerdings als »die Großmutter der Welt«, da es zunehmend an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung in der Region verlor und reichen Ölstaaten wie Saudi-Arabien oder sogar kleinen Emiraten wie Katar hatte weichen müssen.

»Die Tunesier sind nicht besser als wir«, schrieben einige auf den unterschiedlichsten Internetplattformen. Und auch die Khalid-Said-Seite wurde plötzlich extrem politisiert. Auf einmal war die Rede nicht mehr von einer Demonstration, sondern von einer Revolution. Ein Poster wurde entworfen, und auf vielen Seiten wurden Ideen gesammelt. Noch politischer war immer die Seite der Gruppe 6. April, die schon 2008 zum ersten Generalstreik in Ägypten aufgerufen hatte. Dort übernahm der Administrator den Aufruf zur Rebellion. In den Foren wurde heftig über den Ablauf und die Ziele der Proteste diskutiert, man dachte an einen Anti-Polizei-Marsch am Tag der Polizei, dem 25. Januar. Einige schlugen den 28. Januar vor, da an einem arbeitsfreien Freitag mehr Demonstranten zu mobilisieren seien. Bald einigte man sich, am 25. Januar gegen die Polizei zu demonstrieren und den Feiertag drei Tage später zu einem »Freitag des Zorns« zu ernennen. Noch war vom Sturz des Diktators keine Rede. Brot, Freiheit und Menschenwürde wurden als zentrale Forderungen formuliert. Ich konnte trotzdem das Gefühl nicht loswerden, dass es sich hier um ein paar Jugendliche handelt, die im Netz Revolution spielen. Trotzdem war erkennbar, dass das Regime nervös wurde. Am 15. Januar stand in der Regierungszeitung »Akhbar Al-Youm« diese Schlagzeile: »Präsident Ben Ali verlässt Tunesien. Ziel unbekannt«. Und darunter, wesentlich größer: »Ägypten steigt auf. Internationale Experten bestätigen: Mubarak erzielte für die Ägypter die höchste Wachstumsrate.« Mehrere ägyptische Politiker betonten aufgeregt, dass weder Ägypten mit Tunesien noch Ben Ali mit Mubarak zu vergleichen seien. Eine Armee von regierungsfreundlichen Internetaktivisten überflutete die Seiten, die zur Revolution aufriefen, mit demotivierenden Kommentaren wie »Träumt weiter«, »Nichts könnt ihr erreichen«. Andere warnten vor schweren Unruhen, Krawallen und Zerstörungen.

 

Ich hatte ohnehin beabsichtigt, im Februar nach Ägypten zu reisen, weil ich für ein neues Buch recherchierte. Doch als ich von der geplanten Revolution hörte, wollte ich dabei sein – obwohl ich es nach wie vor für einen Scherz hielt. Ein Scherz auch deswegen, weil man nicht nur den Tag, sondern auch die Uhrzeit des Revolutionsbeginns festgelegt hatte. Am 25. Januar sollte es um Punkt 14 Uhr losgehen. Für einen Scherz hielt ich es also nicht nur, weil die Ägypter nicht gerade für ihre Pünktlichkeit bekannt sind, sondern auch, weil man eine Revolution nicht im Voraus ankündigt, und in einem Polizeistaat schon gar nicht. Dachte ich zumindest. Aber was wusste ich schon von Revolutionen? Denn sollte etwas in Ägypten noch effizient funktionieren, so waren es die Sicherheitsapparate. Für den 25. Januar konnte ich allerdings keinen direkten Flug bekommen. Ich flog deshalb über Istanbul nach Kairo und traf am Mittag des 27. Januar ein.

Nun lande ich also in Kairo mit meinem deutschen Pass. Als gebürtiger Ägypter brauche ich kein Visum. Ich bin hier geboren und groß geworden. Ein Beamter nimmt mich am Flughafen unter die Lupe. »Sind Sie Schriftsteller?« Er weiß Bescheid. Was ich in Ägypten wolle, fragt er. Diesmal scheint das Regime besonders misstrauisch zu sein. Seit zwei Tagen wird bereits gegen das Regime protestiert, doch die Demonstranten werden schon am ersten Tag mit Tränengas und Wasserwerfern vom Tahrir-Platz vertrieben. Seitdem gab es nur sporadische Proteste. Auf den Straßen nehme ich nichts Ungewöhnliches wahr, das Leben scheint seinen normalen Gang zu gehen. Wo ist die Revolution? Bin ich zu spät gekommen? Meine Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Die Ägypter gehen in Scharen auf die Straße, wenn es um einen äußeren Feind geht, aber eben nicht für die eigene Sache. Bisher haben in Ägypten, vor allem in Kairo, immer dieselben linken Intellektuellen gegen die Herrschaft von Mubarak oder die Muslimbrüder gegen die Inhaftierung ihrer Führungskräfte demonstriert. Mehr als 200, 400 Leute waren eigentlich selten auf der Straße. Zu großen Demonstrationen kam es in Ägypten nur, wenn es um Proteste gegen den Westen ging. Zum Beispiel, nachdem die Ägypterin Marwa El-Sherbini im Sommer 2009 von einem verrückten Russlanddeutschen in Dresden ermordet worden war. Und natürlich gab es gewaltige Demonstrationen gegen die Mohamed-Karikaturen. Aber vorgestern sollen mehr als 20 000 Demonstranten auf dem Tahrir-Platz gewesen sein. Wo sind sie heute? Meine Landsleute haben einfach keinen langen Atem, denke ich. Doch abends treffen Nachrichten aus der Hafenstadt Suez ein. Dort soll es zu Großdemonstrationen und zahlreichen Todesopfern gekommen sein. Morgen ist der »Freitag des Zorns«. Vielleicht wagen sich wieder ein paar tausend in Kairo auf die Straße.

Freitag, der 28. Januar 2011

Ich wohne in einem netten Hotel in der Innenstadt von Kairo. Nachmittags wollen sich die Demonstranten alle auf dem zentralen Tahrir-Platz treffen. Der Ort wird seit Tagen über Twitter und Facebook gepostet – das hat sich auch auf den Straßen herumgesprochen, wie ich zwischenzeitlich bemerkt habe. Das Internet spielt in diesen Tagen eine große Rolle, immerhin 20 Prozent der Ägypter haben Zugang zum Netz, die anderen werden mündlich informiert. Doch seit gestern Abend funktioniert das Internet nicht mehr.