Islam - Hamed Abdel-Samad - E-Book

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Hamed Abdel-Samad

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Beschreibung

Die Summa seines Denkens: Abdel-Samads bislang wichtigstes Buch Hamed Abdel-Samad analysiert die Geschichte des Islam, um zu zeigen, was Europa erwartet. Ob das mittelalterliche oder das aufgeklärte Europa, der Islam positionierte sich immer als Antithese. Er baute sein Reich auf den Trümmern des römischen und sah sich als der legitime Anführer der Welt. Der Machtverlust, der mit dem Ende des Osmanischen Reiches einherging, hat daran nichts geändert. Heute kommen Muslime nach Europa nicht mehr als Eroberer, sondern als meist friedliche Migranten, doch der Islamismus wandert mit ein und will sein Projekt in Europa vollenden. Abdel-Samad warnt eindringlich: »Wir müssen über den Islam wieder reden, denn von seiner Zukunft hängt auch die Zukunft Europas ab.«

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Über das Buch

Hamed Abdel-Samad analysiert die Geschichte des Islam, um zu zeigen, was Europa erwartet. Ob das mittelalterliche oder das aufgeklärte Europa, der Islam positionierte sich immer als Antithese. Er baute sein Reich auf den Trümmern des römischen Imperiums und sah sich als der legitime Anführer der Welt. Der Machtverlust, der mit dem Ende des Osmanischen Reiches einherging, hat daran nichts geändert. Heute kommen Muslime nach Europa nicht mehr als Eroberer, sondern als meist friedliche Migranten, doch der Islamismus wandert mit ein und will sein Projekt in Europa vollenden.

Abdel-Samad warnt eindringlich: »Wir müssen über den Islam wieder reden, denn von seiner Zukunft hängt auch die Zukunft Europas ab.«

Hamed Abdel-Samad

Islam

Eine kritische Geschichte

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Zeitstrahl zur Geschichte des Islam

570–632: Die Ära Mohameds

632–661: Die Ära der »rechtgeleiteten Kalifen«

661–750: Die Ära der Umayyaden

750–1258: Die Ära des Abbasiden-Kalifats

711–1492: Die Ära von al-Andalus

969–1171: Die Ära der Fatimiden

1095–1291: Die Kreuzzüge

1299–1922 Das Osmanische Reich

1744 – heute: Ära des Islamismus

Ära des Aufbruchs?

Kapitel 1 Von Byzanz nach Mekka: Der Einfluss des Oströmischen Reiches auf die Entstehung des Islam

Mekka und der arabische Polytheismus

Mekkas Aufstieg zum Handelszentrum

Byzanz und das »Jahr der Araber«

Wo steht die Wiege des Islam?

Grenzgänger zwischen den Kulturen

Der Einfluss der arabischen Poesie

Warum ausgerechnet Mohamed?

Vom Glauben zur Religion namens Islam

Kapitel 2 Von Mekka nach Medina: Die Geburt der Scharia aus dem Geist des Krieges

Vom Kriegsfürsten zum Staatsmann

Die Geburtsstunde der »islamischen Ökonomie«

Krieg, Scharia und Schleier

Der Koran in Medina

Kapitel 3 Von Medina nach Kufa: Die vier ermordeten Kalifen und das islamische Schisma

Ali und das Schiedsgericht

Kapitel 4 Von Kufa nach Damaskus: Die Umayyaden an der Macht

Johannes von Damaskus

Mythos Jerusalem

Mohameds Werk und ʿAbd al-Maliks Beitrag

Exkurs Von Delhi bis Marrakesch: Die Ausbreitung des Islam

Elf Ideen, sie zu einen

Kapitel 5 Von Damaskus nach Bagdad: Die Abbasiden und der Streit der Gelehrten um Glauben und Vernunft

Ibn Ishāq und der erste »Mohamed-Roman«

Die Konterrevolution gegen den klassischen Islam

Die Rechtsschule der Vernunft

Reformer im Sinne der Aufklärung?

Religionskritik und Philosophie als Ausdruck von »Irregeleitetheit«

Exkurs Der Sufismus oder die mystische Revolution einer Frau, die von den Männern vereinnahmt wurde

Der Sufismus zwischen Askese und sozialer Revolution

Die Religion der Liebe

Von der Randerscheinung zur Volksdroge

Taugt der Sufismus als Alternative zum orthodoxen Islam?

Kapitel 6 Von Bagdad nach Córdoba: Ein Musikmeister, zwei Kalifate und der Mythos von Al-Andalus

Das Exilreich der Umayyaden setzt kulturell neue Maßstäbe

Ein Hort der Toleranz?

Der puritanische Islam erobert Andalusien

Wie arabisch war die arabische Kultur? Und wie islamisch war sie?

Kapitel 7 Von Harran nach Damaskus: Das Ende der Blütezeit des Islam und der Aufstieg der Orthodoxie

Das Ende der islamischen Zivilisation

Ibn Taimīyas Doktrin der Loyalität und Loslösung

Kapitel 8 Von Clermont nach Jerusalem: Die Kreuzzüge und das islamische Europa-Trauma

Der »Vater Europas«

Die Vorgeschichte der Kreuzzüge

Das Konzil von Clermont

Überblick über den Verlauf der Kreuzzüge und wichtige Ereignisse

Eine Frage der Perspektive

Kapitel 9 Von Konstantinopel nach Wien: Die Osmanen und das europäische Islam-Trauma

Der Aufstieg der Osmanen

Der Verrat, der den Sturm auf Konstantinopel möglich machte

Europas Antwort auf die Belagerung von Wien

Der »kranke Mann am Bosporus«

Europas falsche Allianzen

Kapitel 10 Von Paris nach Alexandria: Der Kolonialismus und seine Wirkung auf den Islam

Islamisches Erwachen und Revolution der Jugend

Kapitel 11 Von Ismailia nach München: Die Geburt des Islamismus aus dem Bauch der Niederlage

Salafismus und Panislamismus

Islamismus und Faschismus

Die drei Vordenker des modernen Islamismus

Sunnitischer und schiitischer Islamismus: eine Hassliebe

Das islamistische Netzwerk in Europa

Terror im Geiste der Vordenker

Kapitel 12 Von Lessing zu Rifaʾa at-Tahtawi: Die Aufklärung und der Islam

Der Mythos von der islamischen Aufklärung

Ein Spitzel an der Seine

Kapitel 13 Von Prometheus zu Adorno: Was bedeutet Aufklärung?

Ist der Islam doch reformierbar?

Eine Frage der Mentalität?

Die Mauern einreißen

Fazit Deutschland und der Islam: Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Anhang

Literaturverzeichnis

Vorwort

Es ist vier Jahre her, dass der Deutsche Kulturrat eine Talkshow-Pause forderte, weil die Demokratie vermeintlich in Gefahr sei. Die Medien sollten sich eine Art Schweigegelübde in Sachen Islam auferlegen. Auslöser war eine Sendung von Sandra Maischberger gewesen, mit dem Thema »Die Islamdebatte – wo endet die Toleranz?« Die Ausstrahlung hatte 2018 eine heftige Diskussion in den sozialen Netzwerken ausgelöst, woraufhin der Kulturrat sich zu dieser drastischen Forderung hinreißen ließ.

Dabei war schon in den Jahren davor die deutsche Debattenkultur rund um das Thema Islam fast zum Erliegen gekommen. Die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Folgen, die gesellschaftliche Polarisierung, die Angst vor dem islamistischen Terror einerseits und vor dem Aufstieg der Rechten andererseits, dazu der wachsende Einfluss der linken Identitätspolitik in den Medien, in der Politik und in der akademischen Welt hatten eine ehrliche und faire Debatte über den Islam, seine Geschichte und seine Zukunft in Deutschland erschwert. Die Parteien der Mitte verzichteten 2017 darauf, Themen wie Migration und die Bekämpfung des Terrors im Namen Allahs zu Schwerpunkten ihres Wahlkampfes zu machen, obwohl gerade das viele Deutsche umtrieb. Von dieser Leerstelle profitierte nur die AfD, die als einzige Partei Migration zum Hauptthema ihrer Kampagne machte. Mit Erfolg: Die AfD konnte bei der Bundestagswahl mit 12,6 Prozent ihr Ergebnis aus dem Jahr 2013 fast verdreifachen.

Und jetzt also eine selbst auferlegte Talkshow-Pause. Um die Demokratie nicht zu gefährden. Die Frage ist nur: Welche Demokratie, die diesen Namen auch verdient, sollte auf kontroverse Debatten verzichten, zugunsten einer inszenierten, brüchigen Harmonie? Welche Gefahr sollte durch Religionskritik entstehen? Und welche Ängste würden verschwinden, wenn man Themen, die für diese Ängste mitverantwortlich sind, totschweigt?

Sandra Maischberger antwortete im Nachgang der Sendung in einem Gastbeitrag in der ZEIT zu Recht: »Wer aus Angst vor einem falschen Wort gleich die Debatte vermeiden will, überlässt erst recht denen die Bühne, die diese Angst (…) zu nutzen wissen.« Die von vielen Menschen als »historisch empfundene Herausforderung« durch die Flüchtlingswelle sei keineswegs vorüber, sie stelle vielmehr »die Eckpfeiler unserer alten Gesellschaftsordnung infrage. Deshalb streiten wir«, so Maischberger. Auch wenn, wie sie in ihrem Beitrag selbstkritisch einräumte, dass in ihrer Sendung zu »wenig über den politischen Islam und zu viel über kulturelle Alltagsprobleme diskutiert« worden sei.[1]

Die Talkshows pausierten zwar seitdem nicht, aber es gab so gut wie keine mediale oder politische Debatte mehr zum Thema Islam. Die Forderung des Kulturrates und die Reaktionen darauf passten gut in eine Atmosphäre, in der sich eine woke, politisch korrekte Anti-Rassismus-Bewegung zunehmend Gehör verschafft. Es ist eine Bewegung, die die Geschichte des »weißen Mannes« rückwirkend verurteilt – in Teilen definitiv zu Recht –, aber dabei manchmal über das Ziel hinausschießt. Indem sie den Diskursraum verengt, künstlich immer mehr Tabuthemen schafft und die Grenzen des Sagbaren so weit verschiebt, dass manche den Eindruck haben, sie könnten nicht mehr sagen, was sie denken – aus Angst, plötzlich auf der falschen, der politisch rechts gerichteten Seite zu stehen. Es ist eine Bewegung, die sich kritisch mit »White Supremacy« und den Folgen von Kolonialismus auseinandersetzt und gleichzeitig jede Kritik an Minderheiten, an der Geschichte und Gegenwart ihrer Religion und an den Missständen in ihren Communities mit Rassismus gleichsetzt.

Der Begriff »Islamophobie« entstammt der Feder dieser Anti-Rassismus-Bewegung, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an Einfluss gewinnt. Doch gut gedacht ist nicht immer gut gemacht. Zweifelsohne verdienen Minderheiten einen besonderen Schutz, gerade vor Diskriminierung und Rassismus. Aber ein Begriff wie »Islamophobie« ist nicht nur irreführend, sondern gefährlich. Denn er wirft Glauben und Gläubige in einen Topf – eine Sichtweise, die nicht nur muslimische Fundamentalisten haben, sondern auch rechte Fanatiker, die nicht zwischen dem Menschen und der Ideologie bzw. Religion unterscheiden. Für sie ist jeder Muslim ein potenzieller Dschihadist.

Dazu passt, dass die politisch korrekte Anti-Rassismus-Bewegung Kritik an der Religion mit einem Angriff auf die Menschenwürde gleichsetzt. Dabei sind es keineswegs friedliebende Muslime (also die überwiegende Mehrheit), die von Kritikern an den Pranger gestellt werden würden. Kritisch zu beleuchten wären vielmehr Organisationen des politischen Islam und fundamentalistische Gruppierungen. Eine Unterscheidung, die Vertreter dieser Bewegung oft nicht treffen. Wenn aber jede Kritik als Rassismus ausgelegt wird, werden Kritiker diffamiert und mundtot gemacht, und der politische Islam erhält den Freibrief, sich weiter ungestört entfalten zu können.

 

Das Erlahmen einer offenen und kontroversen Islamdebatte dürfte seinerzeit auch der Bundesregierung nicht ganz ungelegen gekommen sein. Sie hatte die Grenzen des Landes für Hunderttausende Flüchtlinge aus der islamischen Welt »geöffnet«, wie es fälschlicherweise oft hieß, und war nun selbst Wut und Hassangriffen ausgesetzt. Vor allem nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin im Jahr darauf wurden die Stimmen immer lauter, die die Entscheidung der Bundesregierung für falsch hielten und Muslime pauschal als Gefahr für die innere Sicherheit betrachteten.

Gerade jetzt, da faire Debatten über den Islam, über Migration und Integration so dringend notwendig gewesen wären, gerieten sie ins Stocken. Stattdessen wurden die Menschen in diesem Land in Lager aufgeteilt: Diejenigen, die sich für die Flüchtlinge einsetzten, galten als zivilisiert und menschlich; diejenigen, die Bedenken äußerten, fanden sich in einem Topf mit Neonazis und anderen Rechtsauslegern wieder. Das dritte Lager, das sich nicht eindeutig positionierte, wurde in die Zange genommen.

Und so wurde eine Debatte durch Empörung von der einen Seite, durch Moralisierung von der anderen und durch das Schweigen der dritten Seite im Keim erstickt. Ähnliches wiederholte sich während der Corona-Krise; auch da gab es die drei Lager, die mit zunehmender Dauer der Pandemie aufhörten, miteinander vernünftig zu kommunizieren und Argumente auszutauschen. Es wirkt, als hätten wir verlernt, Kontoversen nicht nur zu führen, sondern andere Meinungen überhaupt auszuhalten. Für den großen britischen Philosophen John Stuart Mill war »reden und reden lassen« schon im 19. Jahrhundert oberstes Gebot, wenn es um das Führen von Debatten ging. Für ihn gab es gute und schlechte Gedanken, hilfreiche und gefährliche Argumente. Ist eine Idee gut, sollte sie multiperspektivisch in der Öffentlichkeit diskutiert werden, damit so viele Menschen wie möglich davon profitieren können. Ist eine Idee schlecht oder gar gefährlich, dann muss sie erst recht öffentlich diskutiert und entkräftet werden, um die Gesellschaft gegen diese Idee und ihre Agitatoren immun zu machen. Doch weder Befürworter noch Gegner der Idee dürfen im Voraus festlegen, ob sie gut oder schlecht ist. Das ist die Aufgabe der Öffentlichkeit, nachdem sie sich die Argumente beider Seiten angehört hat.

Von dieser »Diskursethik«, wie Jürgen Habermas das nennt, gibt es heutzutage leider immer weniger. Stattdessen bestimmen Emotionen, Moralismus und Diskursverweigerung die meisten Debatten. Denn häufig geht es nicht darum, ein Argument zu entkräften oder ihm auf den Grund zu gehen, um anschließend einen Konsens zu erzielen, sondern darum, für seine Gruppenidentität und die damit einhergehenden politischen Interessen zu kämpfen. Das Ergebnis ist eine Form von »cancel culture«, ein Tadeln für vermeintlich die »falsche Gesinnung«, die eben keinen Raum mehr für alle Argumente bietet.

 

Parallel zu dieser Aufteilung in »gute« und »böse« Lager und damit der Verengung des Diskursraums entstand bei manchen Menschen im Land das ungute Gefühl, es gebe eine Diskrepanz zwischen dem, was wirklich geschieht, und dem, was die Medien berichten. Ein schleichender Prozess, der mit den verzögerten ersten Berichten über die Silvesternacht von Köln begonnen hatte. In einer Langzeitstudie der Uni Mainz zum Thema Medienvertrauen gaben 201622 Prozent der Befragten an, den Medien nicht zu vertrauen. 2019 waren es 28 Prozent; zudem gingen 23 Prozent davon aus, die Medien würden gemeinsam mit der Politik agieren, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren.[2]

Auffällig sind die Peaks während der Flüchtlings- und der Corona-Krise. Es scheint an Transparenz zu fehlen, die Leute fühlen sich von der Politik nicht mitgenommen, von den Medien nur unzureichend oder gar falsch informiert. In beiden Situationen musste die Politik Entscheidungen treffen, die alle Beteiligten vor nie da gewesene Herausforderungen stellten. Eine durchdachte Strategie konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht geben. Aber je länger sie ausblieb, und je widersprüchlicher bestimmte Maßnahmen etwa während der Corona-Pandemie im Konzert der Bundesländer ausfielen, umso größer wurde das Feld für Verschwörungstheorien. Bei den Flüchtlingen fabulierten einige von der »Umvolkung«, die die Bundesregierung plane, bei Corona waren es die drohende »Diktatur« oder gar ein perfides Menschenexperiment von Bill Gates und Konsorten.

Man kann die Mehrheit der Menschen von einer Idee nur überzeugen, indem man sie von vorneherein miteinbezieht und indem man mit Kritikern dieser Idee offen debattiert, und zwar so lange, bis ihre Argumente entkräftet werden. Die Vertrauenslücke zwischen Politik, Medien und einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung wird so lange größer werden, solange wir es nicht schaffen, die notwendigen Debatten zu führen. Denn aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und das, was unter der Oberfläche brodelt, ist viel gefährlicher als das, was öffentlich ausgesprochen wird.

 

Was den Islam angeht, machen inzwischen auch deutsche Universitäten, politische Stiftungen und Kirchen einen großen Bogen um Themen, bei denen ein kritischer Blick auf den Islam geworfen werden könnte. Sie laden sogar Vertreter des politischen Islam und Erdoğan-Anhänger als Referenten ein, um Toleranz und Vielfalt zu demonstrieren. Religionskritiker dagegen werden von diesen Diskussionen häufig ferngehalten. Toleranz und Vielfalt bezieht sich hier ganz offensichtlich nicht auf Meinungsvielfalt und Toleranz gegenüber Kritik. Nicht nur ich habe mehrfach erlebt, dass selbst vernünftige, humanistisch begründete Religionskritik als unsachliche Hetze abgestempelt wird. Mit der Konsequenz, dass die kritischen Stimmen fehlen, und Apologeten des Islam unwidersprochen die dunklen Seiten ihrer Religion glorifizieren oder behaupten können, dass Scharia und Demokratie miteinander vereinbar seien.

Auch hier erleben wir also eine gefährliche Verengung des Diskursraums, die weder den hier lebenden Muslimen noch der deutschen Gesellschaft hilft, sondern nur dem politischen Islam und den fundamentalistischen Strömungen. Gleichzeitig befürchte ich, dass die Themen Islam und Migration nach wie vor die Hauptkandidaten bleiben werden, wenn es um eine Projektionsfläche für Angst, Skepsis und Wut geht. Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass Parteien des rechten Randes wieder stärker werden, sondern dass die Gewaltbereitschaft in Teilen der Bevölkerung zunimmt: Angriffe auf Moscheen, Flüchtlingsunterkünfte oder »muslimisch aussehende« Menschen sind bereits heute ein großes Problem. Und es wird nicht verschwinden, nur weil Aktivisten gut gemeinte Lichterketten initiieren und lautstark den Rassismus anprangern. Solidaritätsbekundungen wie etwa nach den Morden von Hanau im Februar 2020 sind wichtige Signale. Aber dieses Problem wird sich nur dann einhegen lassen, wenn wir wieder öffentlich über den Islam reden. Denn nur so kann die Debatte wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückfinden, ohne von den ideologischen Rändern für ihre Zwecke instrumentalisiert zu werden.

Diese Debatte zu führen, liegt nicht nur im Interesse der Gesellschaft als Ganzes, sondern auch im Interesse der hier lebenden Muslime selbst. Denn nur Aufklärung kann sie vor Hass und Ausgrenzung schützen, von Schweigen und Appeasement profitiert nur der politische Islam. Und nur, wenn die deutsche Gesellschaft auch muslimische Mitbürger als gleichwertig anerkennt, werden diese den Einflüsterungen orthodoxer Kräfte kritischer gegenüberstehen können. Denn diese Kräfte wissen den Minderwertigkeitskomplex perfekt zu nutzen und gerade jungen Muslimen das Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, das ihnen von der Mehrheitsgesellschaft oft versagt wird.

 

Wenn wir heute über den Islam reden, haben wir es mit mehreren Herausforderungen zu tun, die sich überlappen. Die erste Herausforderung ist die Integration der hier lebenden Muslime. Doch darin stecken gleich mehrere Paradoxe: Eine gelungene Integration in einem weiter gefassten Sinne setzt voraus, dass Muslime sich mit Deutschland und seinen Werten identifizieren, aber gleichzeitig ihren Glauben und seine Werte hier frei und ungestört ausleben können. Einige Werte, die dieser Glaube propagiert – etwa die ablehnende Haltung gegenüber der persönlichen Freiheit, der Gleichberechtigung, der Sexualität und der Religionskritik – stehen jedoch im krassen Widerspruch zu den Werten unserer demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft.

Der andere Widerspruch liegt darin, dass Muslime zwar dazu eingeladen werden, Teil der deutschen Identität zu werden, dass wir uns aber gleichzeitig damit schwertun, diese Identität für uns selbst zu definieren. Manche interpretieren sie nach wie vor im Sinne von »Blut und Boden« und halten selbst Muslime, die hier geboren sind, die einen deutschen Pass besitzen und sich als Deutsche fühlen, für Fremde.

Eine Debatte über Integration kann also nur geführt werden, wenn wir uns auch einer Debatte über Identität und Werte stellen. Wenn wir als Gesellschaft Angebote machen, und Muslime, die diese annehmen, auch in unserer Mitte willkommen heißen. Und den Kräften, die das verhindern wollen, entschieden entgegentreten.

Das führt uns zur nächsten paradoxen Herausforderung: Viele sind der Meinung, dass der Islam erst durch einen Prozess der Reform und Aufklärung gehen muss, um ein Teil von Europa zu werden. Gleichzeitig werden Reformer und Kritiker nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch mitten in Europa nicht nur diffamiert und ausgeschlossen, sondern müssen sogar um ihr Leben fürchten. Man unterscheidet nicht zwischen Menschen, die Muslime aufgrund ihrer Religion hassen, und Menschen, die die Ideologie des Hasses im Islam aus humanistischen Motiven kritisieren.

Wie aber kann eine Reform stattfinden, ohne eine ehrliche Debatte über die Religion und ohne auf die Argumente der Kritiker einzugehen?

 

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte im Herbst 2020 dem Islamismus den Kampf und kündigte für 2022 eine entsprechende Gesetzesnovelle an. Kurz zuvor war der Lehrer Samuel Paty enthauptet worden, nachdem er im Unterricht Karikaturen des Propheten Mohamed gezeigt hatte. Eine Moschee hatte auf Facebook ein Hassvideo gegen den Lehrer geteilt.

Macron kündigte an, einen »Islam der Aufklärung« schaffen zu wollen, der mit den Werten der Republik vereinbar sei. Eine Ankündigung, die einige Imame im Land begrüßten. Als er aber zu Recht behauptete, der Islam habe ein »Problem« mit radikalen Strömungen, folgte eine Woge der Entrüstung. Mehrere muslimische Länder riefen zum Boykott französischer Produkte auf. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan griff Macron persönlich scharf an und legte ihm nahe, seinen geistigen Zustand überprüfen zu lassen. Westliche Shttptaaten planten eine »Neuauflage der Kreuzzüge«, ihre Politiker seien »Kettenglieder der Nazis«. Später legte er nach und erklärte, Europa entwickle sich zu einem Freiluftgefängnis für Muslime: »Die Muslime erleben heute eine ähnliche Lynchkampagne, wie sie gegen Juden in Europa zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde.«[3]

Hier erklärten die Kranken denjenigen, der die Diagnose gestellt hat, selbst zum Kranken. Eine bewährte Strategie, die jede Reform des Islam jahrhundertelang unmöglich gemacht hatte. Allein diese heftigen Reaktionen aus der muslimischen Welt zeigten, dass Macron im Kern recht hatte.

Die Ankündigungen des französischen Präsidenten hätten Anlass für eine Debatte über den politischen Islam und den Islamismus auch in Deutschland sein können. Aber spätestens nach den Wutreden aus der muslimischen Welt hätten sie Anlass sein müssen. Denn auch hierzulande gibt es Moscheen, in denen Gewalt gepredigt wird, auch hierzulande gibt es Hassaufrufe im Internet, gewalttätige Übergriffe und Imame, die unter dem Einfluss des türkischen Dachverbands DITIB stehen oder von ihm entsandt und finanziert werden. DITIB steht wegen seiner Nähe zu Erdoğan immer wieder in der Kritik. Doch recht viel mehr geschieht nicht.

Die Politik will es sich offensichtlich nicht mit den hier lebenden Muslimen verscherzen, die gerade in dem türkischen Präsidenten den Sachwalter ihrer Interessen in Deutschland sehen. Dieser Präsident wiederum spielt seit 2016 die Rolle von Europas Torwart, der verhindern soll, dass noch mehr Flüchtlinge hierherkommen. Auch die Geschäftspartner in den Golfstaaten will man nicht verprellen, zumal man sie ganz aktuell durch Putins Ukraine-Feldzug so dringend braucht wie noch nie, um die Versorgung mit Öl und Gas zu sichern.

Tatsächlich gehen gerade die Golfstaaten gegen den Islamismus im eigenen Land konsequent vor, weil er die innere Sicherheit gefährdet und damit auch die politische und wirtschaftliche Stabilität. Doch Deutschland zögert, klare Kante zu zeigen. Dabei spielt die Angst vor dem Vorwurf, das Land würde erneut eine religiöse Minderheit unterdrücken, eine entscheidende Rolle.

In Frankreich wiederum waren die Furcht vor der Kolonialismus-Keule und die wirtschaftlichen Verbindungen zu muslimischen Ländern der Grund dafür, warum man jahrelang gezögert hat, über die Probleme mit dem Islamismus im Land zu sprechen. Die Politik des »laissez faire« und »laissez passer« führte dazu, dass der Staat in bestimmten Gegenden der großen Städte die Kontrolle verloren hat, dass es zu verheerenden Terroranschlägen kam und dass der rechte Rand kein Rand mehr ist, sondern Marine Le Pen längst so sehr in der Mitte angekommen ist, dass rechts von ihr eine weitere Partei erstarken konnte. Das lange Schweigen zu Islamismus und Problemen der Migration hat die französische Gesellschaft tief gespalten, und die Identitätspolitik hat die Konflikte zusätzlich verschärft. Im Schatten von Gleichgültigkeit, falsch verstandener Toleranz und wirtschaftlichen Interessen konnten radikale Strömungen ihr zerstörerisches Potenzial entfalten.

Entwicklungen wie in Frankreich, aber auch in den Ländern Skandinaviens, sollten uns alarmieren. Denn sie machen nicht vor Landesgrenzen halt. Hier haben zu lange rechte identitäre Rhetorik auf der einen und linke Identitätspolitik auf der anderen Seite den Diskurs geprägt, bis er weitgehend zum Erliegen kam. Es ist höchste Zeit, dass wir die Debatte wiederaufnehmen und sie zurück in die Mitte der Gesellschaft holen. Wir sollten sie offen, fair und zielorientiert führen. Ehrlich und mit Respekt, kritisch und mit Fakten unterfüttert. Vernünftig statt emotionsgeladen und den Diskurs verengend.

Um das tun zu können, müssen wir wissen, was der Islam ist, um den Glauben an sich vom Islamismus unterscheiden zu können. Um das tun zu können, dürfen wir Muslime nicht mit Dschihadisten in einen Topf werfen und Religionskritiker nicht als Rassisten diffamieren. Deshalb blicke ich in diesem Buch auf die lange Geschichte des Islam zurück, die in gewisser Weise auch eine Geschichte Europas ist. Der Islam errichtete sein Reich auf den Trümmern des Byzantinischen (Oströmischen) Reiches und sah sich als neuer legitimer Anführer der Welt. Der Machtverlust des Islam, der mit der Auflösung des Osmanischen Reiches 1922 einherging, hat daran nichts geändert.

Die Geschichte Europas mit dem Islam war allerdings nicht immer eine Geschichte der Konfrontation. Es gab auch Zeiten des friedlichen Miteinanders, des kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs. Byzanz, das große Kaiserreich, das sich im 6. Jahrhundert von Südspanien über Italien, den Balkan bis zur Arabischen Halbinsel und nach Nordafrika erstreckte, war für die Araber vor dem Islam ein gesellschaftliches und politisches Vorbild. Und erst als das Oströmische Reich sich selbst von innen schwächte, konnte sich der Islam ausbreiten und die Araber unternahmen erste (erfolglose) Versuche, die Hauptstadt Konstantinopel einzunehmen.

In Bagdad und in Andalusien etablierten die Muslime ein für die damaligen Verhältnisse sehr gutes Modell für ein friedliches Zusammenleben – religiöse Toleranz, Autonomie der Minderheiten in Sachen Rechtsprechung und Kooperation mit Juden, Christen und Zoroastriern, um nur einige Aspekte zu nennen. Sie waren offen für das Wissen anderer Völker und übersetzten die Werke der Antike, die später für die Renaissance in Europa von großer Bedeutung sein sollten. Zwar war diese Phase der Toleranz und der gegenseitigen Befruchtung insgesamt gesehen relativ kurz, aber sie hat gezeigt, wie man vom »Anderen« profitiert, wenn man ihn nicht verteufelt. Letzteres sollte schließlich der Auslöser dafür sein, dass die islamische Welt ihren Wissensvorsprung verlor und den Wandel hin zu einer aufgeklärten Moderne verpasste.

Die Osmanen waren die letzten Muslime, die als Eroberer nach Europa kamen. Die Auseinandersetzung mit ihnen hat den Keim für die Entstehung eines europäischen Bewusstseins gelegt, während für die Muslime der Fall des Osmanischen Reiches bis heute ein tief sitzendes Trauma ist. Heute kommen Muslime nicht mehr als Eroberer nach Europa, sondern als Migranten. Die meisten von ihnen sind friedliche Menschen, die keine politischen Ziele verfolgen. Doch der Islamismus und Kräfte, die die Kränkung nach dem Ende des letzten Kalifats nicht verwunden haben, wandern mit ein. Sie wollen diese friedlichen Muslime für ihre Zwecke vereinnahmen und streben nach einer Restitution des Islam in Europa. Für sie ist Migration eine heilige Mission, um dem Islam in Europa zu einer neuen Blütezeit zu verhelfen.

Das Fatale dabei ist, dass diese Kräfte damit keineswegs das Goldene Zeitalter des Islam meinen, jene Phase der kulturellen Blüte und Offenheit zwischen 762 und 1258. Sie berufen sich auf Mohamed, der sagte: »Der Islam ist als Fremder geboren und wird als Fremder zurückkommen.«[4] Mit anderen Worten: als Eroberer.

Als der Prophet mit einer kleinen Schar seiner Anhänger im Jahr 622 von Mekka nach Medina wanderte, war das die Keimzelle für jenen Staat, der nun modernen Islamisten als Vorbild dient. Ein Staat, in dem alle Bereiche des Lebens durch den Koran geregelt wurden und die Welt in Gläubige und Ungläubige unterteilt war. Nichtmuslime mussten in der Folgezeit die Arabische Halbinsel verlassen, die religiöse Vielfalt und Toleranz, für die gerade Mekka vor dem Islam bekannt war, wurde vernichtet. Für heutige Islamisten ist die Zeit Mohameds jener Urzustand, den es wiederherzustellen gilt, weil er für sie der »islamischste« war. Wohingegen die Phase des Abbasiden-Kalifats in ihren Augen als »unislamisch« gilt, weil sie weniger dogmatisch und fromm ausgerichtet war.

Tatsächlich war das Goldene Zeitalter nicht die beste Phase des orthodoxen Islam, wohl aber die beste für Muslime und Eliten anderer Völker, die unter der Herrschaft des Islam lebten. Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Ökonomie hatten eine größere Bedeutung als die Scharia und der Koran. In Bagdad und Córdoba lebten nicht nur Angehörige verschiedener Ethnien und Religionen relativ friedlich zusammen, sie kooperierten auch miteinander und schufen eine Hochkultur, die – verglichen mit den Verhältnissen im Europa des Mittelalters – äußerst fortschrittlich und tolerant war.

Die Art und Weise des Zusammenlebens damals könnte für das heutige Europa ein Vorbild sein. Und die Art und Weise, wie dieses Modell zerbrach, sollte uns eine Warnung sein.

Voraussetzung für das Florieren von Bagdad und Córdoba damals war ein starker, selbstbewusster Staat, der seinen Untertanen viele Freiheiten einräumte, aber Versuche des Separatismus mit eiserner Hand niederschlug. Angehörige aller Ethnien und Religionen waren in der Anfangsphase dem Staat gegenüber loyal. Alle profitierten gleichermaßen von Forschungs- und Kunstfreiheit, vom Austausch von Wissen und Erfahrungen. Religion und Identität spielten für das Zusammenleben nur eine untergeordnete Rolle, viele Regeln der Scharia waren aus purem Pragmatismus außer Kraft gesetzt worden. Alkoholkonsum, Tanz, Gesang, homoerotische und sogar religionskritische Poesie waren in Bagdad und Córdoba keine Ausnahmen, sondern bestimmten das kulturelle Geschehen.

Auch Perser, Christen und Juden identifizierten sich mit dem Staat, weil sie dort nicht nur religiöse Toleranz erlebten, sondern auch Karriere machen konnten. Die muslimischen Herrscher waren am Wissen der alten Griechen interessiert und übersetzten viele philosophische und wissenschaftliche Abhandlungen. Die Rechtsschule der Muʿtaziliten erklärte bereits im 9. Jahrhundert die Vernunft zur höchsten theologischen Instanz im Umgang mit den heiligen Texten des Islam und deren Bedeutung für den Alltag der Muslime. Und der islamische Gelehrte Muhammad al-Fārābī (872–950) vertrat im 10. Jahrhundert die Meinung, der Philosoph sei auf einer höheren Stufe anzusiedeln als der Prophet, da der Philosoph seine Argumente vernünftig belegen könne. Angelehnt an Platons Politeia, entwarf er ein eigenes Staatsmodell, und plädierte dafür, zwischen metaphysischen und zivilen Angelegenheiten zu unterscheiden, und somit indirekt für die Trennung von Religion und Staat. Heute müsste er wegen solcher Überlegungen mit einer Fatwa rechnen.

 

Von Beginn an gab es im Islam immer zwei Lager: diejenigen, die die Texte wortwörtlich interpretierten, und diejenigen, die sie großzügiger – vernunftbasierter – auslegten oder nicht für das Maß aller Dinge hielten. Wann immer das Lager der Vernunft die Oberhand hatte, gab es ein friedliches Zusammenleben und eine florierende Wissenschaft. Wann immer die texttreuen Orthodoxen die Führung übernahmen, wann immer Moral über Vernunft und Identität über Wissen gestellt wurde, ging es mit dem Fortschritt den Bach hinunter, Minderheiten wurden unterdrückt und verfolgt.

Die Orthodoxie erlebte in der Geschichte immer dann einen Aufschwung, wenn der Staat Schwäche zeigte oder eine Niederlage zu verkraften hatte. Das Abbasiden-Reich etwa wurde zuerst von innen geschwächt, bevor es im 13. Jahrhundert durch den Einfall der Mongolen endgültig stürzte. Zur selben Zeit griffen die Kreuzritter Syrien und Ägypten an. Streng muslimische Gelehrte sahen den Grund für solche Niederlagen und Schwächephasen in der Entfernung der Muslime von Koran und Scharia. Sie forderten eine Umkehr, mit der Folge, dass das Interesse an weltlichem Wissen nachließ. Die orthodoxen Kräfte sorgten dafür, dass der Koran über dem Wissen stand und die religiösen Gefühle über der Vernunft.

Eine Haltung, die schon im 11. Jahrhundert das Leben in Córdoba von Grund auf verändert hatte. Damals waren strenggläubige muslimische Migranten aus Nordafrika gekommen, die das Leben in der Stadt für zutiefst unislamisch hielten. Sie gingen gegen Andersgläubige, Künstler und Wissenschaftler vor und verbrannten die Bücher des berühmten Philosophen Averroës, der die Werke von Aristoteles ins Arabische übersetzt und kommentiert hatte. Philosophie wurde als »Verwirrung« abgestempelt, Chemie als Intervention in die Schöpfung Gottes verteufelt. Averroes und andere Geistesgrößen mussten Andalusien verlassen, Córdoba wurde von einer Oase des Wissens und der Toleranz zu einer orthodoxen Enklave. Das muslimisch-andalusische Reich zersplitterte in zahlreiche kleine Enklaven, die sich Jahrhunderte gegenseitig bekämpften. Jeder der neuen muslimischen Herrscher war nur darauf bedacht, seine Macht zu festigen. Die strikte Religionsauslegung war dabei ein entscheidendes Mittel zum Machterhalt, denn ein muslimischer Herrscher konnte einen anderen muslimischen Herrscher leichter angreifen, wenn er behauptete, dieser sei nicht islamisch genug.

Diese Form der Identitätspolitik wiederholte sich immer wieder, zuletzt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Das Ende des Kalifats und die Aufteilung seiner Gebiete unter den europäischen Großmächten katapultierte die gesamte islamische Welt in eine Identitätskrise. Der moderne Islamismus mag eine direkte Folge des Zerfalls des Osmanischen Reiches und des Kolonialismus sein, hat seine Wurzeln aber in der orthodoxen islamischen Theologie, die in Zeiten der Krisen stets eine Blütezeit erlebte. Heute bestimmt diese Orthodoxie die Politik und das Leben der meisten Muslime in der islamischen Welt und in Europa. Angesichts des übermächtigen Westens mit seinen üblen Verlockungen und Unterdrückungsmechanismen, will sie Muslime zum wahren Glauben zurückführen. Es ist ein fataler Mechanismus, die Schuld an einer tatsächlichen oder gefühlten Niederlage nicht bei sich selbst, sondern den anderen zu suchen. Man verharrt in einer Opferhaltung, suggeriert aber gleichzeitig den modernen Dschihadisten, sie könnten sich mit Gewalt daraus befreien.

 

Aus dem Auf- und Abstieg der arabisch-islamischen Kultur kann Europa eine Menge lernen. Zum Beispiel, dass Toleranz der Herrschenden Loyalität der Bürger voraussetzt. Und dass Vielfalt der Ethnien und Religionen auch die Vielfalt von Meinungen und Religionskritik voraussetzt. Wenn aber die gegenwärtige »cancel culture« schon das Zur-Sprache-Bringen abweichender Meinungen als Ausdruck von Hass oder Rassismus interpretiert, rüttelt das an den Grundfesten unserer offenen Gesellschaft. Und das hilft den Islamisten indirekt dabei, ihre Infrastrukturen in Deutschland und in Europa aufzubauen.

Überspitzt könnte man sagen: Während das Boot des Islamismus in der arabischen Welt leckschlägt und zu sinken droht, wird der Westen zum Rettungsring. In Ägypten beispielsweise verlor die Muslimbruderschaft durch den Militärputsch im Jahr 2013 ihre Macht im Mutterland der Bewegung. Auch in Tunesien und Marokko scheiterten die Muslimbrüder inzwischen, und einstige Finanziers aus Saudi-Arabien und den Emiraten wandten sich ab, nachdem mehrere Putschversuche am Golf von den Muslimbrüdern unterstützt worden waren. Saudi-Arabien und die Emirate haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Reformen auf den Weg gebracht, vor allem im Bereich Geschlechtertrennung und Frauenrechte, selbst das Alkoholverbot steht zur Disposition. Auch in Ägypten werden die Stimmen immer lauter, die eine zeitgemäße Version des Islam verlangen. Denn die strenge Auslegung schadet dem Tourismus und dem friedlichen Zusammenleben von Kopten und Muslimen.

Nach den Gräueltaten des IS und nach den vielen Bürgerkriegen in der Region wächst nun in den arabischen Ländern die gesellschaftliche Kritik am politischen Islam und die Bereitschaft zur – vorsichtigen – Säkularisierung. Umso fataler, dass im Westen die Muslimbrüder und andere Vertreter des politischen Islam weithin unbehelligt arbeiten, Spenden sammeln, Anhänger rekrutieren und ihre antiwestliche, antidemokratische Ideologie verbreiten. Umso fataler, dass der Staat die Integrationsproblematik »islamisiert« und sich Vereine des politischen Islam als Partner des Staates profilieren, während man die vernünftigen, kritischen Stimmen umgeht.

Hierzulande leben viele Muslime, die mit Islamismus nichts am Hut haben und sich als Europäer, als Deutsche fühlen. Aber sie geraten zunehmend zwischen die Fronten. Denn auch hier ist der Kulturkampf zwischen Vernunft und religiösen Gefühlen, zwischen Wissen und der wörtlichen Auslegung des Koran voll im Gange. Religiöse Eiferer werfen gemäßigten Muslimen – wie damals in Andalusien – eine Verfälschung des authentischen Islam vor. Reformer und Islamkritiker brauchen Polizeischutz, um ihre Meinung öffentlich äußern zu können.

Heute gilt Europa für Islamisten als Ziel der letzten Hidschra. Die erste Auswanderung Mohameds von Mekka nach Medina im 7. Jahrhundert markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Sie legte die Keimzelle für die Errichtung des ersten muslimischen Staates. Die Expansion der Araber in Gebiete im Irak, in Nordafrika und in Europa brachte ihnen nicht nur Reichtum, sondern half dabei, den Islam zu verbreiten. Wie einst in Andalusien und im Osmanischen Reich soll Europa nun zur neuen Basis für die Renaissance des Islam werden. Hier soll sich die Prophezeiung Mohameds erfüllen, die für den Islamismus auch wesentlicher Auftrag ist: Der Islam ist als Fremder geboren und wird als Fremder zurückkehren. Die europäische Identitätspolitik, die »cancel culture« und das Ausbleiben einer offenen Debatte spielt ihnen dabei in die Hände. Sie bilden die Lücke, gewissermaßen die Immunschwäche, die das Virus des Islamismus ausnutzt, um in Europas Körper einzudringen und seine DNA zu manipulieren.

Wenn wir aber aus der Geschichte etwas lernen wollen, dann müssen wir sowohl dem Islamismus als auch der Identitätspolitik von rechts und links vehement entgegenwirken. Wir müssen das Schweigegelübde brechen und wieder über den Islam reden, denn von seiner Zukunft hängt auch die Zukunft Europas ab.

Einführung

Die Geschichte des Islam wird sowohl von seinen Anhängern als auch von seinen Kritikern oft einseitig gelesen. Gläubige Muslime tendieren dazu, sie als eine Heilsgeschichte, als einen von Gott gemachten perfekten Plan zu lesen. Sie suchen darin nicht nur nach Momenten, die sie stolz machen können, sondern auch nach Orientierung und Geleit für die Gegenwart. Für viele ist die Zeit Mohameds der Idealzustand, der Koran allzeit gültiges Gesetz, nicht Dokument seiner Zeit.

Kritiker neigen eher dazu, diese Geschichte als ein Kontinuum von Aggression, Eroberung und Blutvergießen zu interpretieren. Es ist ein ähnlich statischer und eindimensionaler Blick, denn manche sehen den Islam gar als Verkörperung des Bösen, als Quell von Gewalt und Elend, als ewigen Feind und ewige Antithese zu allem, was ihre eigene Identität ausmacht. Die Glorifizierung des Islam und die Ablehnung jeglicher Kritik oder gar Historisierung dieser Religion provoziert auf ihrer Seite Schmähungen und manchmal Hass. Diese Dämonisierung wiederum führt dazu, dass Muslime sich erst recht hinter ihrem Glauben verbarrikadieren und ihre Religion selbst gegen berechtigte Kritik krampfhaft verteidigen.

Beide Lesarten sind insofern ahistorisch, als sie Geschichte linear und selektiv betrachten. Dabei ist auch die Geschichte des Islam Ergebnis historischer Prozesse und Umwälzungen, die sich nicht losgelöst von, sondern aus einer Interaktion mit dem Weltgeschehen entwickelt haben.

Geschichte ist wie das Zusammenspiel von Wind und Meer: Der Wind verursacht eine hohe Welle, die weitere Wellen auslöst, die über kurz oder lang brechen. Geschichte kennt die Dialektik von These, Antithese und Synthese. Etwas geschieht, weil die Umgebung und die Umstände dieses Geschehen begünstigen. Das Geschehene provoziert andere Ereignisse, die wiederum das ursprüngliche Geschehen beeinflussen und in eine andere Richtung lenken. Eine Idee entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern wird aus anderen Ideen geboren. Und damit sich eine Idee verbreiten kann, muss sie auf fruchtbaren Boden fallen.

Eine entspannte, nicht-ideologische und nicht-identitäre Lesart der Geschichte des Islam kann uns zeigen, dass die Entstehung dieser Religion auf mehreren Säulen fußte. Und dass seine Ausdehnung und die Eroberungen im Namen des Islam nicht Ausdruck von besonders großer Gewalt waren, sondern von vielen Umständen begünstigt wurden.

Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir können es überwinden, indem wir es dekonstruieren und verstehen. Wir können es hinter uns lassen, ohne es zu verdammen. Wir können es erklären, anstatt es zu verklären. Wir können uns von der Last der Geschichte befreien indem wir aufhören, sie entweder als Segen oder als Fluch zu lesen. Auch als harscher Kritiker dieser Religion sage ich: Es ist an der Zeit, anders mit dem Islam umzugehen!

 

Bettet man ihn in seinen historischen Kontext ein, ist der Islam aus politischer Sicht ein Produkt von Stammeskonflikten auf der Arabischen Halbinsel, wo zwei Stämme aus Mekka, die Haschimiten und die Umayyaden, um die Macht konkurrierten. Beide gehörten dem mächtigen Stammesbund der Quraisch an, der nicht nur in Mekka, sondern in ganz Arabien sehr einflussreich war.

Wirtschaftlich gesehen ist der Islam ein Produkt der Handelsstraße zwischen dem Jemen und Syrien. Die Händler stoppten in Mekka und tauschten dort Weizen und Wein gegen Tierhäute und Datteln. Doch als Umayyaden und Haschimiten den Handel in die Hand nahmen, wurde nicht mehr länger getauscht, sondern mit Geld bezahlt. Es entstand eine Klassengesellschaft, in der die Händler sehr wohlhabend und der Rest der Bevölkerung bettelarm war.

Mohamed, selbst Haschimit und Händler, prangerte diese Schere zwischen Arm und Reich an. Sein Ruf nach sozialer Gerechtigkeit stieß allerdings nur bei wenigen Sklaven und einigen seiner Verwandten auf offene Ohren. Die Mächtigen in Mekka stellten sich gegen ihn, aus Sorge, seine aufwieglerischen Reden könnten ihre Handelsbeziehungen mit Byzanz beeinträchtigen. Auch die Mehrheit seines Stammes mochte von Mohameds Botschaft nichts hören. Erst als er nach Medina zog, sich mit kriegerischen Stämmen verbündete, eine starke Armee gründete und große Beute mit Angriffen auf Handelskarawanen machte, wurde seine Botschaft mit einem Mal attraktiv: Ihm zu folgen, war in dieser Phase weniger eine Glaubensfrage, sondern eine pragmatische Entscheidung zugunsten von mehr Profit.

Theologisch gesehen ist der Islam ein Produkt der spätantiken christlichen Debatten im Byzantinischen Reich. Deshalb spricht der Koran auch mehr über Jesus und seine Natur als über Mohamed und seine Eigenschaften. Eine ganze Sure im Koran ist den Römern gewidmet, die zu Lebzeiten Mohameds Verbündete der Araber im Kampf gegen Persien waren.

Zivilisatorisch hat der Islam sehr viel vom persischen Sassaniden-Reich übernommen. Das Florieren der islamischen Kultur in Bagdad wäre ohne das Wissen und das Mitwirken persischer Philosophen, Wissenschaftler, Übersetzer und Theologen undenkbar gewesen.

Der Islam ist auch ein Produkt der Wüste Arabiens, ihrer Gesetze, Rituale, Träume und Konflikte. Der Versuch, den Monotheismus und gleichzeitig die Identität der Araber neu zu definieren, hat eine Religion mit vielen Thesen und Antithesen hervorgebracht. Aber erst das Zusammenspiel von Geld, Politik, Theologie und militärischer Stärke ermöglichte die Ausbreitung des Islam in der Welt.

Allein wegen des Ineinandergreifens dieser fünf Aspekte wäre es ein eklatanter Fehler, den Islam aus seinem historischen Kontext zu lösen, um ihn dann wahlweise zu glorifizieren oder zu dämonisieren. Dieses Buch wird nicht die Frage beantworten, ob der Islam gut oder böse ist. Doch es wird versuchen, das Entstehen und den Verlauf dieser Religion mit all ihren Umwälzungen zu erklären. Es wird sich nicht nur damit beschäftigen, was in der Geschichte geschah, sondern was wir alle, Muslime und Nichtmuslime, aus dieser Geschichte lernen können, um eine neue Basis für das Zusammenleben heute zu finden.

 

Man kann die Etappen des Islam verkürzt etwa so zusammenfassen: Entfesselung, Ausdehnung, Zivilisierung, Spaltung, Isolation, Selbstblockade und fehlgeleitete Reformversuche und schließlich die Suche nach einem neuen Platz in der Welt. Diese Etappen sind nicht unbedingt chronologisch. Denn der Islam in seiner Hochphase dehnte sich über die Hälfte der alten Welt aus. Mal erlebte er einen Zerfall in Bagdad, gleichzeitig aber einen Aufstieg in Zentralasien. Mal endete eine Hochkultur in Andalusien, während das Osmanische Reich zur stärksten Macht in Europa aufstieg. Für die Schwächung der Muslime in Andalusien waren hauptsächlich innerislamische Kämpfe verantwortlich. Für den Aufstieg der Osmanen waren ungarische Kanonen, christliche Söldner, serbische Spione und Bündnisse mit italienischen Stadtstaaten entscheidend.

Die Geschichte des Islam ist also nicht nur eine vom Kampf mit dem Westen, sondern eine von Macht, Profit und politischen Ambitionen der Herrschenden. Auch deshalb gab es immer eine starke Diskrepanz zwischen dem Blick der Mächtigen und dem der Untertanen auf die Religion. Während Erstere den Islam als Mittel zur Festigung ihrer Macht ausnutzten, bot er den Schwächeren Trost und Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod. Für die militärischen Führer war der Dschihad ein Mittel, um zu mehr Geld und Einfluss zu kommen, für viele muslimische Kämpfer war er der kürzeste Weg ins Paradies.

Der Blick zurück zeigt, dass der Glaube von verschiedenen Kräften immer wieder instrumentalisiert wurde. Was als soziale Revolution begonnen hatte, entwickelte sich zu einer Religion der Eliten, die Schwächere im Namen des Glaubens unterdrückten. Selbst Völker wie die Perser und die Berber, die den Islam »durch das Schwert« annehmen mussten, blicken heute verklärend auf den Islam als »Befreier«. Viele Muslime sehen die Botschaft Mohameds als eine Zäsur in der Weltgeschichte, als eine Trennlinie zwischen einer Zeit der Finsternis, der Ungerechtigkeit und der Unwissenheit und einer Zeit des Wissens, des Lichtes und des wahren Glaubens. Deshalb neigen sie dazu, die Hochkulturen vor dem Islam zu dämonisieren und die Errungenschaften nach ihm zu ignorieren oder kleinzureden. Sie sehen diese Religion nicht als Ergebnis, sondern als Erfüllung der Geschichte. Nicht als eine Deutung der Welt des 7. Jahrhunderts, sondern als Motor und Gestalter der Welt jederzeit und überall. Alles, was gut war, wird als Ergebnis des Islam gelesen, und alles, was schlecht war oder in eine Niederlage mündete, wird als Ergebnis der Entfernung von ihm und seiner Lehre interpretiert. Das ist die erste Erbsünde des Islam gegenüber der Zeit und der Geschichte.

Diese Glorifizierung und diese eindimensionale Lesart der Geschichte ist sowohl für den islamischen Fundamentalismus als auch für das Scheitern einer Reform des Islam mitverantwortlich. Die einen wollen zum »wahren« Islam zurückkehren, um die Welt zu beherrschen; und die anderen wollen diesen »wahren« Islam von Gewalt und Absolutismus befreien, damit er mit der Moderne kompatibel wird. Tatsächlich hat es diesen »wahren« Islam nie gegeben. Selbst zu Lebzeiten Mohameds und der ersten Generation von Muslimen gab es mehrere Versionen dieser Religion, pragmatische Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit. Außerdem gab es damals noch kein fertiges Glaubenssystem namens Islam. Das ist erst später im Zuge von politischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, aber auch unter Muslimen selbst entstanden.

 

Der Islam unterscheidet sich vom Christentum in mehreren Aspekten. Das Christentum entstand als eine Minderheitenreligion und blieb es auch drei Jahrhunderte lang. Jesus wirkte »nur« als Prediger und war weder politisch noch wirtschaftlich für seine Gemeinde verantwortlich. Der Islam dagegen erlangte schon zu Mohameds Zeit die politische und wirtschaftliche Macht auf der Arabischen Halbinsel. Zwischen Mohameds erster Koranoffenbarung im Jahr 610 und seinem Tod lagen 23 Jahre, in denen er nicht nur Prophet war, sondern auch Staatsoberhaupt, Armeeführer, Finanzminister, Gesetzgeber, Richter und Polizist zugleich. Seine Botschaft wurde früh von der Logik der Macht und von den Konflikten seiner Zeit getrieben und vereinnahmt. All diese weltlichen Aspekte wurden mit dem Kern der Religion verschmolzen und flossen in den Koran, die Hadithe (die außerkoranischen Äußerungen des Propheten) und später in die verschiedenen theologischen Schulen ein.

Auch der Entstehungsort beider Religionen war entscheidend. Das Christentum ist inmitten des Römischen Reiches entstanden, wo es bereits Gesetze und eine Gesellschaftsordnung gab, die keiner besonderen Optimierung bedurfte. Der Islam dagegen wurde in der Wüste geboren, in der rivalisierende nomadische Clans dominierten, denen die Idee eines Staates fremd war. Was zählte, war die identitätsstiftende Zugehörigkeit zum eigenen Stamm. Abgesehen von einigen Sitten, die sich auf das Leben eines Stammes beschränkten, gab es vor dem Islam keine Gesetzlichkeit, keine Gesellschaftsordnung und keine politische Entität, die für alle Araber in Arabien verbindlich gewesen wäre. Das wirkte sich auch auf die Theologie aus, die sich zunächst um das Stammesleben drehte, sich aber im Laufe der Zeit an die Herrschaftsform des Kalifats anpasste.

Im Römischen Reich wurde das Christentum früh mit der griechischen Philosophie konfrontiert. Viele Gedanken Jesu zu Nächstenliebe und Verzicht finden wir bereits in der Philosophie der Stoa. Und Überlegungen zu einem idealen Staat wies er von sich. So antwortete er auf die Frage, ob man Steuern an die Römer entrichten sollte: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«.[5] Er sagte auch: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«[6] Die nächsten Generationen der Christen waren vom Neoplatonismus, der Stoa und der Gnosis beeinflusst. Mohamed errichtete sein Reich in erster Linie auf dem Boden und befasste sich mit höchst weltlichen Angelegenheiten wie dem Eintreiben von Steuern – sowohl von seinen Anhängern als auch von Andersgläubigen, die eine Kopfsteuer zu entrichten hatten.

Auch die Texte beider Religionen unterscheiden sich wesentlich voneinander. Das Neue Testament wirkt wie eine Art »Update« oder Ergänzung des Alten Testaments, viele darin enthaltene Vorhersagen werden nun erfüllt. Das Alte Testament, das die Schriften des Judentums enthält, erzählt die Geschichte eines Volkes und enthält auch Gebote und Richtlinien für den Alltag, während das Neue von den Taten Christi erzählt. Beiden gemein ist die Tatsache, dass die Texte den Menschen, die sie niederschrieben, nicht direkt von Gott offenbart wurden. Das ließ einen Spielraum für spätere hermeneutische Interpretationen, wodurch bestimmte Passagen kontextualisiert oder rein metaphorisch gelesen werden konnten.

Der Koran hingegen gilt für Muslime nicht nur als das allerletzte Testament Gottes, sondern auch als dessen direkte mündliche Offenbarung an Mohamed mit klaren Anweisungen für den Alltag, für die Gesetzgebung und für den Krieg. Mit Mohamed als unantastbarem Propheten und dem Koran als direktem und universellem Wort Gottes haben frühere und heutige islamische Reformer es schwer, das Wort Gottes zu kontextualisieren, geschweige denn es so auszulegen, dass es zum modernen Leben passt. Traditionalisten warfen und werfen Reformern vor, sie würden Gottes Absichten im Nachhinein manipulieren und sein Wort verfälschen. Am unversöhnlichen Felsen der islamischen Orthodoxie zerschellten im Lauf der Geschichte viele, die den Islam rationalisieren und humanisieren, oder die die wortwörtliche Lesart zugunsten einer metaphorischen aufweichen wollten.

Martin Luther gelang eine Reform des Christentums, indem er zum wahren Kern seiner Religion zurückkehrte, zum Neuen Testament und Jesus als Vorbild für das menschliche Handeln. Im Zentrum dieser Reform stand die Idee, dass es eine ursprüngliche reine Lehre gegeben hat, die später durch Machtinteressen verfälscht wurde. Ein Reformer wie Luther kommt und drückt den »Reset-Knopf«, um die Religion auf den ursprünglichen Stand zurückzubringen. Er prangerte in seinen 95 Thesen die Fehlentwicklungen der römisch-katholischen Kirche an, vor allem den Ablasshandel und die Macht der Päpste, riskierte damit sein Leben und nahm eine Kirchenspaltung in Kauf.

Würde man im Islam Luthers Idee von einer Re-Formierung aufgreifen, wäre dies das Ende aller Reformen. Denn das hieße zurück zu einer noch radikaleren und orthodoxeren Lesart des Islam, denn zurück zum Ursprung bedeutet für den Islam, dass allein der Koran gilt und Mohamed als Vorbild. Revisionisten im Islam hatten im Lauf der Geschichte immer wieder Erfolg damit, die Anerkennung des Koran und des Propheten als alleinige Autoritäten zu fordern und das als Reform zu verkaufen. Daraus ist am Ende immer wieder eine neue theologische Zeitmaschine entstanden, die die Muslime ins 7. Jahrhundert zurückkatapultierte.

Selbst den fortschrittlichen Reformern, die nicht die Gemeinde des Propheten wiederherstellen, sondern den Islam