Intelligenz - Susanne Schregel - E-Book

Intelligenz E-Book

Susanne Schregel

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Beschreibung

Am Thema der »Intelligenz« entzündeten sich seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder weitreichende und kontroverse öffentliche Debatten um Praktiken, Regeln und Lehren der Unterscheidung. Susanne Schregel gibt erstmals eine Geschichte dieser breitenwirksamen Auseinandersetzungen um die Intelligenz von Menschen, Tieren und Maschinen in Großbritannien und Deutschland (1880–1990). Dabei zeigt sie, dass es in den oft leidenschaftlich geführten Disputen nicht nur um Intelligenz allein, sondern auch viel grundsätzlicher darum ging, wie eigentlich Differenz, (Un)Gleichheiten und prinzipielle Andersartigkeiten zu verstehen und zu attribuieren seien. Historiografisch rückt auf diese Weise die Veränderlichkeit und Konflikthaftigkeit des Sozialen selbst in den Mittelpunkt.

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Seitenzahl: 1066

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Susanne Schregel

Intelligenz

Eine Geschichte des Unterscheidens in Deutschland und Großbritannien (1880–1990)

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Am Thema der »Intelligenz« entzündeten sich seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder weitreichende und kontroverse öffentliche Debatten um Praktiken, Regeln und Lehren der Unterscheidung. Susanne Schregel gibt erstmals eine Geschichte dieser breitenwirksamen Auseinandersetzungen um die Intelligenz von Menschen, Tieren und Maschinen in Großbritannien und Deutschland (ca. 1880–1990). Dabei zeigt sie, dass es in den oft leidenschaftlich geführten Disputen nicht nur um Intelligenz allein, sondern auch viel grundsätzlicher darum ging, wie eigentlich Differenz, (Un)Gleichheiten und prinzipielle Andersartigkeiten zu verstehen und zu attribuieren seien. Historiografisch rückt auf diese Weise die Veränderlichkeit und Konflikthaftigkeit des Sozialen selbst in den Mittelpunkt.

Vita

Susanne Schregel ist Geschichtswissenschaftlerin und habilitierte sich 2025 an der Universität zu Köln. 

»And what if all of animated NatureBe but organic harps, divinely framed,And trembling into thought, as o’er them sweepsPlastic and vast, one universal breeze;At once the soul of each and God of all?«1

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Einleitung

1.1.

Breitenwirksame Debatten um Intelligenz als Untersuchungsgegenstand

1.2.

Warum Unterscheidungen zählen

1.3.

Zur Analyseperspektive: Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren

1.4.

Zur Anlage der Untersuchung

1.5.

Forschungsliteratur zur Intelligenz

1.6.

Wissens- und Sozialgeschichte in der Verbindung

1.7.

Verwendete Quellen und ihre Auswertung

1.8.

Kapitelübersicht

2.

Quantitativ, nicht qualitativ verschieden: Tierintelligenz und die Mensch/Tier-Unterscheidung im späten 19. Jahrhundert

2.1.

Gott, Engel, Mensch und Tier: Variable Unterscheidungen in der längeren Perspektive

2.2.

Kontroversen um die Tierintelligenz: Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Plädoyers für die Tierintelligenz: Im Schnittfeld von Wissenschaft und breitenwirksamer Debatte

Tierintelligenz auf dem Prüfstand: Gegenreden und Kämpfe um Wissensansprüche

2.3.

Tierintelligenz im Kaiserreich (1880–1914)

Forschende Schmetterlinge und intelligente Vögel: Die Intelligenz der Tiere im späten 19. Jahrhundert

»Blühender Unsinn«? Sprechende Tiere als Kulminationspunkt

2.4.

Die Produktivität von Tierintelligenz-Debatten für Unterscheidungspraktiken (GB und D)

2.5.

Folgen für tradierte Praktiken, Regeln und Lehren der Unterscheidung (GB und D)

Zwischenfazit

3.

Die Psychologisierung der Intelligenz(en) und die Unterscheidung von Menschen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

3.1.

Vielfalt und Einheit des Denkerischen: Großbritannien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Menschliches Denkvermögen und »intelligence« bis 1900

Von »Kinds of Intelligence« zur »General Intelligence«? Wissenschaftliche Perspektiven im frühen 20. Jahrhundert

3.2.

Das Denkerische und menschliche »Intelligenz«: Deutschland zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert

»[E]ine reiche Auswahl von Prädicaten«: Perspektiven und Begriffe im 19. Jahrhundert

Menschliche »Intelligenz« in Psychologie und Jugendforschung (1890–1918)

3.3.

Der Binet-Simon-Test in Großbritannien

Ziel, Durchführung und Resultatberechnung: Einige Grundlagen

Die britische Rezeption des Binet-Simon-Tests

3.4.

Intelligenzprüfungen und Begabtenauslesen in Deutschland bis zum Ende des Ersten Weltkriegs

3.5.

»Intelligenzalter« und »Intelligenzquotient«: Neue Unterscheidungsmöglichkeiten (GB und D)

3.6.

Verknüpfungen der Intelligenz mit anderen Unterscheidungskategorien (GB und D)

Zwischenfazit

4.

»Embarrassingly popular«: Verbreitung und Kritik der Intelligenz(messung) (ca. 1920–1933/40)

4.1.

»[A] cult and a quest and a watchword«? Humanintelligenz in Großbritannien (1920–1940)

4.2.

»[A]ngenehmes Rätselraten«: Menschliche Intelligenz und Begabung in der Weimarer Republik (1919–1933)

4.3.

»[T]ests rather of obedience […] than of intelligence«: Intelligenztestkritik in Großbritannien (1920 bis 1940)

4.4.

Gegen das »Begabungshoroskop«: Deutsche Intelligenz(test)kritik (1919–1933)

Zwischenfazit

5.

Auf der »Verstandeswaage«: Intelligenzaufgaben und Selbsttests zu Unterhaltung und »Training« (1920–1933/40)

5.1.

Intelligenz-Selbsttests und Intelligenzaufgaben in der Weimarer Republik (1925–1933)

Intelligenz-Selbsttests in Zeitungen und Zeitschriften

Das Selbsttest-Buch Prüfe Deine Intelligenz (1926)

Radio: »Intelligenzprüfung mit Selbstbeteiligung der Hörerschaft« (1929)

5.2.

Populäre Intelligenzaufgaben und Selbsttests in Großbritannien (1920–1940)

Intelligenzaufgaben in Zeitungen

»Are You a Genius?« Eigenständig publizierte Selbsttests für Erwachsene

Ein »experiment in ›listener participation‹«: Intelligenz-Selbsttests im Radio (1938)

5.3.

Themen und Motivationen populärer Intelligenzaufgaben und Selbsttests (GB und D)

5.4.

»Determines your standard of intelligence, if any«: Mögliche Präsentationen der Ergebnisse (GB und D)

Zwischenfazit

6.

Negationen und Transformationen von Intelligenz im Nationalsozialismus (1933–1945)

6.1.

Die Zerstörung der Weimarer Intelligenz- und Begabungsforschung (1933/34)

6.2.

Reinterpretationen der Intelligenz im populären und politischen Diskurs (1933–1939)

6.3.

»Eine Allgemeinintelligenz […] gibt es nicht« – Positionierungen der Intelligenz- und Begabungsforschung (1933–1944)

6.4.

Intelligenztests als »negative Auslese« unter »völkischem Gesichtspunkt« (1933–1944)

6.5.

Die Relativierung des Denkvermögens in Auswahlverfahren (1933–1941)

6.6.

Verfahren einer »positiven Auslese« unter rassenpolitischen Vorzeichen (1933–1944)

Alternativen zu formalisierten Testverfahren: Vorschläge aus der Wissenschaft

Die Fundierung von Auswahlen auf »Wettkampf« und »Lager«

6.7.

»Ausmerze«: Intelligenzprüfungen, Zwangssterilisationen und nationalsozialistischer Krankenmord (1933–1943)

Intelligenzfeststellungen nach Anlage 5a (1934–1937)

Gerhard Kloos’ Anleitung zur Intelligenzprüfung (1941)

Die Nutzung des Binet-Simon-Tests (1934–1943)

Zwischenfazit

7.

»Nicht schwebend und nicht führend«? Intelligenz und Begabung in der DDR

7.1.

Die De-Individualisierung von »Intelligenz« in SBZ und früher DDR (1945–1963)

Reinterpretationen von »Intelligenz« und »Begabung« im veröffentlichten Sprachgebrauch

Qualitative Besonderheiten und die natürliche Un-Unterschiedenheit der Menschen

Intelligenztestkritik nach sowjetischem Muster

7.2.

Begabung und Intelligenz: Neujustierungen nach dem Mauerbau (1963–1971)

Begabung(sförderung) als bildungspolitisches Ziel

Mehrerlei Gleichheiten in der sozialistischen Meritokratie

Vorsichtige Schritte zur Rehabilitierung der Intelligenzdiagnostik

7.3.

»Breite und Spitze« – »Intelligenz« und »Begabungsförderung« zwischen Individuum und Kollektiv (1971–1989/90)

Begabungsförderung ohne Elitenbildung – Intelligenz ohne Klassendifferenz? Positionen und Begriffe (1970–1989)

Unterscheidungspraktiken: Die Wendung auf persönliche Unterschiede

Intelligenzmessung zwischen Akzeptanz und Ablehnung

Zwischenfazit

8.

Auf der Suche nach demokratischen Unterscheidungspraktiken: Intelligenz und Begabung in der Bundesrepublik (1949–1990)

8.1.

Intelligenzdistanz und die Neutralisierung von Unterscheidungen nach »Begabung« (1949–1960)

8.2.

Intelligenztests und Unterscheidungspraktiken in der frühen Bundesrepublik (1949–1960)

Überhang und Neuanfang: Testentwicklung in der frühen Bundesrepublik

»Gegen den Geist der Menschenverachtung«: Testwahrnehmungen und Testkritik

8.3.

Die Problematisierung schulischer Unterscheidungspraktiken im Lichte der Ungleichheitsdebatte (1960–1980)

»Begabung«, »Lernen« und »Umwelt«

Unterscheidungskritik als Zugang zu Ungleichheiten im Bildungswesen

8.4.

Ein »Rattenschwanz von Zweifeln«: Intelligenztests, Gleichheit und Gerechtigkeit (1960–1980)

8.5.

Für und Wider die Intelligenz(messung): Ambivalente Trends der 1970er bis 1980er Jahre

Professionelle Tests im Aufwind

Tests und Trainings: Für sich selbst und für die Kinder

Konservative Wendungen zur Intelligenz – Leistung und Hochbegabung in den 1980er Jahren

Zwischenfazit

9.

Meritokratie, Leistung und Kritik der Unterscheidung: Intelligence in Großbritannien (1945–1980)

9.1.

Positionen zu Intelligenz(differenzen) nach 1945

9.2.

»Meritokratie« durch gestaltete Auswahl? Problematisierungen von Unterscheidungspraktiken (bis 1960)

9.3.

»[A] very unquiet life« – Öffentliche Testkritik in den 1950er und 1960er Jahren

9.4.

Intelligenzmessung zwischen den 1960er und den 1980er Jahren

Professionelle Tests und Testentwicklung: die British Intelligence Scale

Know Your Own IQ – Selbsttestangebote für Erwachsene und Kinder

9.5.

Die Race-and-IQ-Kontroversen in Großbritannien (1969–1980)

Race und gemessene Intelligenz: Mediendebatten um Jensen, Eysenck und Burt

»How the West Indian Child is Made Educationally Sub-normal«: Antirassistische Testkritik um 1970

9.6.

»[F]ace with clear eyes the inequality of man«: Konservative Stärkungen der Intelligenz (1969–1980)

Zwischenfazit

10.

»Künstliche Intelligenz« und die Mensch/Maschine-Unterscheidung: Konflikte um die Grenzen des Sozialen (1945–1990)

10.1.

»Electronic Brains«: Die Somatisierung des maschinellen »Denkvermögens« (Großbritannien, 1945–1960)

10.2.

»Elektronengehirne«: Lernende Maschinen in der Bundesrepublik (1949–1960)

10.3.

Entkörperlichungen des Denkens: Der Auftritt der »Machine«/»Artificial Intelligence« in Großbritannien (1955–1970)

10.4.

Die Wortzusammensetzung »künstliche Intelligenz« in der Bundesrepublik (1955–1970)

10.5.

»[I]f a robot were to join the debate«… Faszinationen trotz »Winter« der künstlichen Intelligenz (GB, 1970–1990)

10.6.

»In den ersten fünf Minuten nach dem Urknall«? Die ambivalente Wahrnehmung »künstlicher Intelligenz« in der Bundesrepublik (1970–1990)

10.7.

Von Tieren, Monstern und Maschinen: »Künstliche Intelligenz« und die Unterscheidungsfrage (GB und D)

10.8.

Künstliche Intelligenz und Unterscheidungen zwischen Menschen (GB und D)

Zwischenfazit

11.

Fazit

11.1.

Die Vielfalt und Umstrittenheit der Intelligenzen

11.2.

Konflikte um die Gestaltung von Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren

11.3.

Horizonte der Unterschiedenheiten

11.4.

Resümee und Ausblick: Auf dem Weg zu einer Geschichte des historisch Sozialen

Dank

Anhang

Abkürzungen

Abbildungen

Tabellen

Quellen

Systematisch durchgesehene Zeitungen und Zeitschriften

Verwendete Datenbanken und digitale Ressourcen

Gedruckte Quellen und »graue« Literatur

Archive

Filme

Literatur

Literatur

Homepages

1.Einleitung

Menschen nach ihrer »Intelligenz« zu unterscheiden, ist eine relativ junge Praxis. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschlossen neue wissenschaftliche Sichtweisen auf Tiere und Menschen ein bis dahin unbekanntes Verständnis kognitiver und kreativer Potenziale und Fähigkeiten, das einzelne Fähigkeitsdispositionen als zusammenhängend begriff.2 Stärker graduierende und quantitative Auffassungen des Denkerischen begannen nun, tradierte qualitative Interpretationen zu überlagern. Zugleich etablierten sich neue Beschreibungsweisen und Verfahren zur Attribuierung individueller Eigenschaften. Dazu gehörten die Phrenologie und die Anthropometrie im 19. Jahrhundert sowie seit dem frühen 20. Jahrhundert auch Intelligenz- und Persönlichkeitstests.3

Großbritannien und Deutschland nahmen in dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle ein. In beiden Staaten avancierte »Intelligenz« – beziehungsweise im Englischen »(general) intelligence« – zu einer Bezeichnung für ein Bündel an Fähigkeitsdispositionen, das Aussagen über das im weitesten Sinne Denkerische und Schöpferische strukturieren konnte.4 Die zu diesen Fragen entstehenden öffentlichen Auseinandersetzungen brachten das Substantiv »Intelligenz« in der Bedeutung als Denkvermögen oder schöpferische Potenzialität nach und nach auch in einen allgemeineren Sprachgebrauch.

Die Durchsetzung moderner Intelligenzbegriffe ging mit neuartigen Möglichkeiten einher, zu klassifizieren, zu vergleichen und zu bewerten. Wer sich zur Intelligenz äußerte, konnte seither deren qualitative Besonderheiten oder Abstufungen von »hoch« und »niedrig«, »normal« und »unternormal«, »durchschnittlich« oder »übernormal« ansprechen. Die Entstehung messender Verfahren in Psychiatrie und Psychologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erlaubte es zudem, den »Intelligenzquotienten« einer Person zu erstellen und Menschen auf Skalen zu verorten, welche von Formen des »Schwachsinns« über einen postulierten Normalbereich hin zu Variationen intellektueller »Hochbegabung« reichten. Psychologische Testformate drangen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in populäre Foren vor, wo Autor:innen von Selbstprüfungs- oder Rätselpublikationen sie für – spielerische bis ernst gemeinte – Selbstprüfungen adaptierten.5 Selbsttestwillige ermittelten ihr »Intelligenz-Alter«, schufen ihr »psychologisches Bild« oder erstellten eine »psychologische Visitenkarte«6. Der bunte Reigen der Testverfahren forderte dazu heraus, die ihnen Unterworfenen in »the sheep and the goats«7 zu scheiden; er lud dazu ein, Vergleiche zu treffen und Rangreihen zu erstellen.8 Auf diese Weise avancierte Intelligenz nicht nur zu einer Kategorie des – im weitesten Sinne – Denkerischen. Sie wurde auch zu einem Knotenpunkt von Debatten um verschiedenste Praktiken der Unterscheidung.

Dieses Buch gibt daher eine Geschichte der Intelligenz, die sich zugleich als eine Geschichte des Unterscheidens versteht. Die Einleitung erläutert zunächst den Gegenstand der Untersuchung (1.1.) und die in ihr verfolgte Analyseperspektive (1.2., 1.3., 1.4.). Danach wird dargelegt, wie die Studie an die bestehende Forschungsliteratur zur Geschichte der Intelligenz und Begabung anschließt (1.5.) und diese sozial- und wissenshistorisch weiterführt (1.6.). Abschließend werden die verwendeten Quellen (1.7.) und der Aufbau des Buches skizziert (1.8.).

1.1.Breitenwirksame Debatten um Intelligenz als Untersuchungsgegenstand

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen breitenwirksame und öffentliche Debatten um Intelligenz in Deutschland und Großbritannien im Zeitraum zwischen etwa 1880 und 1990. Denn in beiden Staaten bildete der veröffentlichte Raum ein wichtiges Forum für Verständigungsprozesse und Konflikte um Intelligenz sowie um mit ihr verbundene Grundfragen der Unterscheidung. Zeitungen und Zeitschriften berichteten über neuere Erkenntnisse der Intelligenzforschung. Populäre Autor:innen warben für die Intelligenz(messung), und Bürger:innen brachten ihre Alltagskonzepte der Intelligenz in die öffentliche Debatte ein.9 Das bedeutet nicht, dass sich an öffentlichen – und meist schriftlichen – Auseinandersetzungen alle Menschen gleichermaßen beteiligten. Schichtspezifische Limitationen wie ungleiche Bildungsmöglichkeiten wirkten dem ebenso entgegen wie politische Ausschlüsse, insbesondere in Zeiten begrenzter Öffentlichkeit. Gleichwohl steckten breitenwirksame öffentliche Debatten seit dem späten 19. Jahrhundert einen Rahmen ab, gegen den sich individuelle Umgangsweisen mit Intelligenz und Unterscheidungen – sei es als Zustimmung, sei es als Abweichung – zu begründen hatten.

Die im Folgenden beschriebenen Auseinandersetzungen konnten sich auf vielerlei Lebewesen und Dinge richten. In der Regel ging es darum, Menschen von anderen Menschen zu unterscheiden, Personen miteinander zu vergleichen oder voneinander abzurücken. In Debatten darum, wem oder was überhaupt Intelligenz zuzusprechen sei, war jedoch auch die Relationierung von Menschen zu anderen Entitäten (wie Tieren oder Maschinen) berührt. Parallel entfachte die Frage nach der Intelligenz auch Diskussionen darüber, wie auf das Denkvermögen gerichtete Unterscheidungen auf solche zu beziehen wären, die auf der Grundlage allgemeinerer sozialer Kategorien erfolgten. Damit sind Kategorien wie Schicht/Klasse/class, »Rasse«/race, Geschlecht, Religion oder Alter bezeichnet, die Unterscheidungen auf eine konventionalisierte Weise und thematisch sowie sektoral übergreifend leiteten. Solche allgemeineren sozialen Kategorien wurden nicht durch Debatten um Intelligenz geschaffen. Sie fügten jedoch Unterscheidungen, die im Rekurs auf Intelligenz getroffen wurden, Bedeutungen hinzu und konnten durch diese mitgeformt werden.10

Für das Verständnis historischer Debatten um Intelligenz verdient besonders das Schnittfeld zwischen populärem und wissenschaftlichem Diskurs vertiefte Aufmerksamkeit. So kursierten im veröffentlichten Raum einerseits eigenständige Interpretationen und Adaptionen des Intelligenten. Andererseits nahmen Deutungen von und Umgangsweisen mit Intelligenz auch Themen und Befunde aus verschiedenen Wissenschaftszweigen auf und reagierten auf diese. Mit zeitlich unterschiedlichen Schwerpunkten – und einander teils überlappend, teils ablösend – betraf dies die evolutionäre Biologie und die Psychiatrie im 19. Jahrhundert, die Psychologie und die Pädagogik im frühen 20. Jahrhundert, sowie schließlich die Kybernetik und Informatik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.11 Aus diesem Grund verbindet dieses Buch populäre und wissenschaftliche Debatten um Intelligenz; es zielt darauf ab, über eine Untersuchung veröffentlichter Debatten um Intelligenz Grundlinien im Umgang mit Unterscheidungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und anderen Entitäten zu erschließen.

1.2.Warum Unterscheidungen zählen

Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert betrachteten die Soziologen beziehungsweise Ethnologen Emile Durkheim und Marcel Mauss anhand »primitiver« Stämme und »Naturvölker« das »Verfahren, das darin besteht, die Wesenheiten, Ereignisse und Tatsachen der Welt in Gattungen und Arten einzuteilen, die einen unter die anderen zu subsumieren und ihre jeweilige Inklusion oder Exklusion zu bestimmen«.12 Die hierfür verwendeten Klassifikationen entstünden »nicht spontan und gewissermaßen aus einer Naturnotwendigkeit heraus«, sondern seien sozial und historisch erklärungsbedürftig:

»Eine Klasse ist eine Gruppe von Dingen; nun bieten sich aber der Beobachtung die Dinge nicht von selbst solcherart geordnet dar. Wir sind zwar durchaus in der Lage, mehr oder minder vage Ähnlichkeiten wahrzunehmen; doch die Tatsache, daß solche Ähnlichkeiten bestehen, reicht für sich allein noch nicht aus, um zu erklären, wie wir dazu kommen, die Dinge, die sich solcherart ähneln, zusammenzufassen, sie gewissermaßen in einem idealen, von klar definierten Grenzen umschlossenen Raum zu vereinen und dann als Gattungen oder Arten zu bezeichnen.«13

Durkheim und Mauss interessierten sich besonders für Unterscheidungen zwischen Menschen, Tieren und Dingen. Ihre forscherische Faszination speiste sich auch aus der Vermutung, dass die Grenzlinien zwischen Sachen und Lebewesen bei »Naturvölkern« besonders durchlässig seien. Demgegenüber konzentrieren sich sozialhistorische Forschungen, die sich auf europäische Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert richten, tendenziell auf Unterscheidungen zwischen Menschen und Menschen. Diese Engführung hängt auch mit der verbreiteten Annahme zusammen, dass in »modernen« Gesellschaften »nur lebende Menschen soziale Personen sein können«.14 Neuere Studien befassen sich mit Unterscheidungen zwischen Menschen und Menschen entlang vielfältiger sozialer Kategorisierungen. Arbeiten zu sozialen Ungleichheiten und Differenz ergründen etwa die Unterscheidung sozialer Schichten oder Klassen. Sie analysieren Kategorisierungen nach »Rasse«/race, nach Geschlecht, nach dis/ability sowie weiteren allgemeineren sozialen Kategorien (wie Religion, Alter, Stadt/Land usw.). Die Wechselwirkungen unterschiedlicher Differenzdimensionen werden häufig unter dem Begriff der Intersektionalität erforscht.15

Im deutschen Kontext hat die Unterscheidungsfrage insbesondere im Umfeld der Forschungen von Stefan Hirschauer16 und des Mainzer Sonderforschungsbereichs »Humandifferenzierung«17 neue Aktualität erfahren. Untersucht wird dort »ein ubiquitäres und hochgradig selbstverständliches, aber auch folgenreiches und konfliktträchtiges Phänomen: dass sich Menschen fortlaufend kategorisierend unterscheiden«.18 Hierfür entwickelte Hirschauer unter der Überschrift des Un/doing Differences eine Forschungsperspektive, welche »den ethnomethodologischen Grundgedanken programmatisch auf diverse Fälle von Humandifferenzierung« ausweitet und »zu ihrem systematischen Vergleich« ermutigt. Der Ansatz reflektiert im Sinne eines »Forschungsprogramm[s] zur symmetrischen Untersuchung von Doings und Undoings sozialer Mehrfachzugehörigkeiten« konsequent mit, dass Unterscheidungen auch irrelevant werden oder ruhen können. Prozesse des Doing Differences erscheinen dadurch als »sinnhafte Selektion aus einem Set konkurrierender Kategorisierungen, die erst einen Unterschied schafft, der einen Unterschied macht«.19 Dies stellt solche Differenzierungen in den Mittelpunkt, »die die Unterscheider selbst voneinander unterscheiden«. Solche Unterscheidungen »markieren die sozialen Zugehörigkeiten von Menschen und definieren zugleich die Zusammensetzung sozialer Gebilde«. Neben den »Binnendifferenzierungen der Menschen« schließt der Ansatz auch »ontologische Außendifferenzierung an den ›Grenzen des Sozialen‹« ein, wie sie soziale Akteur:innen etwa zu anderen Lebewesen oder Dingen unterhalten.20

1.3.Zur Analyseperspektive: Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren

Dieses Buch knüpft an die genannten Forschungsansätze an. Zugleich macht es einen eigenen Vorschlag, wie die Frage nach dem Unterscheiden historisch verfolgt werden kann. So soll eine Analyseperspektive entwickelt werden, die die historische Veränderlichkeit von Unterscheidungen in ihrer Komplexität erfassen und zugleich ihre wiederkehrende Konflikthaftigkeit angemessen beschreiben kann. Im Folgenden wird das Unterscheiden hierzu heuristisch in Unterscheidungspraktiken (vgl. dazu Tabelle 1), Unterscheidungsregeln und Unterscheidungslehren (vgl. dazu Tabelle 2) getrennt.

Unter‑

scheidungs‑

praktiken

die Art und Weise, wie Akteur:innen praktisch (zwischen Menschen sowie Menschen und anderen Entitäten) unterscheiden

Unterscheidungen/Unterschiedenheiten als Resultat einer Unterscheidungspraxis

die Art und Weise, wie eine Unterscheidung praktisch mit anderen situativ (nicht) verknüpft wird

Tab. 1:Unterscheidungspraktiken

Quelle: eigene Darstellung

Tabelle 1 beschreibt die wesentlichen Elemente von Unterscheidungspraktiken. Mit diesem Begriff benenne ich die konkreten Weisen, wie historische Akteur:innen zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem gegebenen Kontext und auf der Basis bestimmter Verfahren Menschen untereinander sowie Menschen und andere Entitäten unterschieden. Im gegebenen Fall geht es hierbei besonders darum, wie Menschen oder andere als intelligent oder unintelligent, als mehr oder weniger kognitiv oder schöpferisch fähig angesprochen und auf dieser Basis aufeinander bezogen oder voneinander abgegrenzt wurden. Das Resultat von Unterscheidungspraktiken beschreibe ich in der Regel als Unterscheidungen. Ist im Folgenden auch die Rede von Unterschiedenheiten, so hebt dies die Abhängigkeit einer Unterscheidung von einer bestimmten Unterscheidungspraxis und damit ihre Gemachtheit besonders hervor. Ein letztes bestimmendes Moment von Unterscheidungspraktiken sehe ich schließlich darin, wie Unterscheidungen situativ mit anderen Unterscheidungen (nicht) verknüpft wurden.

Unter‑

scheidungs‑

regeln

Erwartungen und Anweisungen, wie Akteur:innen Menschen und andere Entitäten unterscheiden sollen

die Gestaltung der Kategorien, die sie für diese Unterscheidungspraktiken empfehlen

die Markierung der Resultate von Unterscheidungspraktiken als bestimmte Formen von Unterschiedenheiten

Verknüpfungsregeln, die beschreiben, wie sich eine Unterscheidung auf eine andere (nicht) beziehen soll

Auffassungen, warum diese Unterscheidungspraktiken im Hinblick auf einen gegebenen sozialen Zusammenhang in dieser Weise abzulaufen haben

die Grundannahmen über die Konstitution des Sozialen, die in diese Erwartungen einfließen

Unter‑

scheidungs‑

lehren

wie diese Anweisungen, Annahmen und Erwartungen kommuniziert, beschrieben und erklärt werden

Tab. 2:Unterscheidungsregeln und -lehren

Quelle: eigene Darstellung

Tabelle 2 umreißt den Komplex der Unterscheidungsregeln und -lehren. Dieser rekurriert auf das systematisierende und oftmals normative Mehr, welches die Akteur:innen gegenüber Unterscheidungspraktiken unterhielten. Zu den Unterscheidungsregeln zähle ich die jeweils wirksamen Erwartungen, wie Menschen und andere Entitäten unterschieden werden sollten, und welche Unterscheidungen hierfür auf welche Weise zu nutzen wären. Ebenso bestimmen Unterscheidungsregeln, als welche Formen von Unterschiedenheiten die Resultate von Unterscheidungspraktiken gelten sollen. Sie beinhalten darüber hinaus Annahmen darüber, wie und warum eine Unterscheidung mit einer anderen verknüpft beziehungsweise von dieser unabhängig gesetzt zu werden habe. Einen wichtigen Teil von Unterscheidungsregeln bilden schließlich auch Auffassungen, warum bestimmte Unterscheidungspraktiken im Hinblick auf einen gegebenen sozialen Zusammenhang in einer bestimmten Weise abzulaufen hätten, sowie die dafür relevanten Grundannahmen über die Konstitution des historisch Sozialen.

Unterscheidungslehren ergeben sich im Rahmen von Reflexionen über Unterscheidungsregeln. Sie stellen die Art und Weise dar, wie Akteur:innen ihre Ansprüche an Unterscheidungspraktiken sprachlich, bildlich oder auf andere Weisen zum Ausdruck bringen. Die Differenzierung zwischen Unterscheidungsregeln und ‑lehren soll ins Bewusstsein rücken, dass Akteur:innen Unterscheidungsregeln auch folgen können, ohne diese notwendig auszuformulieren. Insofern Unterscheidungsregeln aber nur durch ihre Verbalisierung oder anderweitige Ausdrucksformen als Unterscheidungslehren erschließbar werden, verwende ich beide Termini in der Regel parallel.

1.4.Zur Anlage der Untersuchung

Konkret richtet sich die Untersuchung auf Deutschland und Großbritannien im Zeitraum von etwa 1880 bis etwa 1990. Betrachtet wird damit eine Zeitspanne, in der in beiden Staaten neue wissenschaftliche Perspektiven auf Intelligenz entstanden und zugleich starke öffentliche Debatten um Intelligenz geführt wurden.

Das wissenschaftliche und populäre Interesse an der Intelligenz im späten 19. und im 20. Jahrhundert ist kein Alleinstellungsmerkmal für Großbritannien oder Deutschland, sondern manifestierte sich in anderer Form auch in vielen weiteren Staaten. Vor allem in den USA wurde »intelligence« im 20. Jahrhundert zu einem Fixpunkt bildungsbezogener und politischer Debatten, wobei die Intelligenzmessung große Bedeutung in der Zuschreibung von Bildungs- und Lebenschancen erhielt. Stärker als etwa in den USA, und systematischer als in Frankreich, forderten historische Akteur:innen in Deutschland und Großbritannien Unterscheidungspraktiken nach »Intelligenz« jedoch auch radikal heraus: Was »Intelligenz« bedeuten sollte, wie wichtig sie sei, und ob es überhaupt sinnvoll sei, Menschen in Hinsicht auf Intelligenz zu unterscheiden, wurde in beiden Staaten auf immer neue Weisen strittig. Diese Umstrittenheit der Intelligenz im veröffentlichten Raum ist der wesentliche Grund, weshalb sich dieses Buch auf Großbritannien und Deutschland konzentriert. Denn es sind häufig Momente der Störung, Kontroverse und potenziellen Transformation, in denen historische Akteur:innen die Praktiken und Regeln von Unterscheidungen direkt problematisieren und dadurch sichtbar machen.21

Dass dieses Buch im Grundsatz vergleichend angelegt ist und zwei (beziehungsweise mit der DDR drei) Staaten untersucht, verfolgt vor allem zwei Absichten. Zum einen kann dieses Vorgehen Variationsbreiten erschließen und dadurch das Bewusstsein für die Kontingenz und Historizität von Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren schärfen.22 Zum anderen erleichtert es der vergleichende Ansatz, Interkonnektivitäten zwischen verschiedenen Unterscheidungen zu erkennen. Wenn nämlich in thematisch ähnlich gelagerten Kontexten über staatliche Spezifika hinweg ähnliche Phänomene beobachtbar sind, liegt es nahe, dass diese regelhaft angelegt waren. Je nach Fragestellung verwende ich den Vergleich allerdings so offen wie möglich, indem ich mal verflechtend erzähle, mal kontrastiv vorgehe, mal Variationsbreiten erschließe, und im Fall des Nationalsozialismus und der DDR sogar temporär die vergleichende Logik verlasse. Zudem bricht der Einbezug von Quellen aus London und Berlin, Edinburgh und Hamburg die staatliche Perspektivierung durch eine städtische auf.23 Auf diese Weise sollen alle analytischen Möglichkeiten genutzt werden, ohne das Vergleichen selbst allzu selbstverständlich werden zu lassen.24

Der lange zeitliche Schnitt von etwas über hundert Jahren unterstützt im Hinblick auf die Historisierung des Unterscheidens eine Forschungsperspektive, die im Ansatz kontingenzorientiert ist. Dies meint hier, dass nicht eine bestimmte Unterscheidung als durchgehend relevant gesetzt werden muss. Vielmehr folgt das Buch der Geschichte der Intelligenz wie an einem Ariadnefaden durch das Labyrinth verschiedener Unterscheidungen. Dadurch wird deutlich, wie mal die eine, mal die andere Unterscheidung Bedeutung erhält, während eine andere absinkt, ohne eine bestimmte Unterscheidung im Vorhinein zu privilegieren.25 Nach Intelligenz selbst wird dabei zwar in jedem der Kapitel gefragt; Infragestellungen der Intelligenz oder Versuche ihrer Relativierung werden aber stets systematisch mitreflektiert.

Der Beginn des Untersuchungszeitraums im späten 19. Jahrhundert begründet sich daraus, dass in diesen Jahrzehnten Grundzüge moderner Intelligenzkonzepte entstanden und mit Debatten um die Tierintelligenz intelligenzbezogene Unterscheidungspraktiken in dieser Form erstmals in die breitere Diskussion kamen. Das Ende des Untersuchungszeitraums liegt im späten 20. Jahrhundert und auf den Debatten um die mögliche Entstehung einer künstlichen Intelligenz, in denen eine zum Anfangszeitraum komplementäre Problematik entstand. Das Thema der künstlichen Intelligenz hätte zwar auch bis in die Gegenwart weiterverfolgt werden können; durch das Ende des Ost-West-Konflikts und den Zerfall der DDR, die für die Umgangsweisen mit menschlicher Intelligenz wiederum eine Zäsur markierten, wurde der Schnitt hier aber parallel auf das Ende der 1980er Jahre gelegt.

1.5.Forschungsliteratur zur Intelligenz

Entsprechend der Bedeutung, welche Intelligenz und Begabung für wissenschaftlich-technische, gesellschafts- und bildungspolitische Fragen im 19. und 20. Jahrhundert erlangen konnten, existieren zahlreiche Publikationen zum Thema. Veröffentlichungen zur Geschichte der Humanintelligenz haben aus verschiedenen Blickwinkeln dargelegt, wie die Geschichte der Wissenschaften und des Wissens und insbesondere die Geschichte der Psychologie mit Debatten um soziale Gleichheit und Ungleichheit zusammenfielen. In seiner umfänglichen Monografie The Measure of Merit erörtert John Carson am Beispiel der USA und Frankreichs in den Jahren zwischen 1750 und 1940, wie Debatten um Intelligenz und Leistung sich mit Auseinandersetzungen über Demokratie und Gleichheit verquicken konnten. Carson argumentiert, dass der Verweis auf Intelligenz als eine moderne Strategie begriffen werden kann, die Idee republikanischer Gleichheit und Souveränität mit dem Auftreten faktischer Ungleichheiten zu versöhnen.26

Ein großes Untersuchungsfeld bildet die Geschichte der Intelligenzmessung. Vor allem die Entstehung der Intelligenzdiagnostik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie ihre ersten Einsatzgebiete haben in der Forschung breite Aufmerksamkeit gefunden. Für Großbritannien und Deutschland liegen verschiedene Studien zum Aufkommen der psychologischen Intelligenzmessung und ihren praktischen Anwendungsfeldern vor.27 Einige Arbeiten konzentrieren sich auf einzelne Forscher:innen28 oder betrachten Praxisgebiete wie schulische Auswahlverfahren.29 Neben Fragen der Klasse oder Schicht sind in diesem Kontext auch rassistische Implikationen von Intelligenzzuschreibungen und Intelligenztests betont worden.30 Weit rezipierte Publikationen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre – allem voran Stephen Jay Goulds The Mismeasure of Man und Leon J. Kamins Science and Politics of I.Q. – prägten ein Narrativ, das besonders Ungleichheiten bestätigende Wirkungen der Intelligenzmessung akzentuierte.31 Inwiefern Intelligenztests in Bezug auf den Kolonialismus relevant wurden, ist für den deutschen Fall weitestgehend unbekannt. Für das britische Empire liegt eine Publikation von Erik Linstrum vor, die inhaltlich breit aufgestellt ist und neben dem Porteus-Maze-Test auch andere Formen psychologischer und psychoanalytischer Wissensproduktion adressiert.32

Daneben haben speziell die »Extreme« menschlicher Intelligenz die Forschung beschäftigt. Dies gilt zum einen für Interpretationen kognitiver Besonderheiten und »geistiger Behinderungen«.33 Hier entstehen Schnittpunkte zu Arbeiten über eugenische und bevölkerungspolitische Ansätze sowie zu Narrativen über einen »Niedergang« der »nationalen Intelligenz«.34 Zur Erforschung der Intelligenz aus der Sicht ihrer »Randphänomene« gehören ebenso Arbeiten zu hoher Intelligenz und herausgehobenem Denkvermögen beziehungsweise Schöpfertum, etwa zu »Elitegehirnen«, »Wunderkindern« und dem Themenkreis der »Hochbegabung«.35 Mit Kategorisierungen kognitiver Behinderungen und einer Kritik am ableism setzen sich nicht zuletzt die dis/ability history und die dis/ability studies auseinander.36

Studien zur menschlichen Intelligenz werden ergänzt durch Arbeiten zur Geschichte »anderer« Intelligenzen. Eher ein Randthema ist bisher die Pflanzenintelligenz.37 Der Schwerpunkt in Forschungsarbeiten zur Tierintelligenz liegt nicht zufällig auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Frage nach der Mensch/Tier-Unterscheidung besonderes Gewicht erhielt.38 War die tierische Intelligenz im späten 19. Jahrhundert das paradigmatische Beispiel, an dem sich die Diskussion um die Möglichkeit nicht-menschlicher Intelligenzen kristallisierte, so war es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Maschine. In den bisher zur künstlichen Intelligenz entstandenen Forschungsarbeiten dominiert die Auseinandersetzung mit den USA.39 Trotz einiger neuerer Beiträge zur Geschichte der künstlichen Intelligenz in Großbritannien ist diese insgesamt weniger erforscht.40 Über die Geschichte künstlicher Intelligenz in Bundesrepublik und DDR ist lange kaum quellenbasiert gearbeitet worden. Neben der soziologischen Studie von Petra Ahrweiler lagen bis vor Kurzem nur knappe historische Abrisse sowie Darstellungen wissenschaftlicher Zeitzeug:innen vor.41 In jüngerer Zeit sind allerdings sowohl für die Bundesrepublik als auch für die DDR neue Forschungsprojekte angelaufen.42 So hat etwa eine Forschungsgruppe am Deutschen Museum München unter anderem Interviews geführt, die Aufschlüsse über die Entfaltung und Ausrichtung verschiedener Teilbereiche der westdeutschen KI-Forschung – wie der Bilderkennung, der Expertensysteme, des Automatischen Beweisens und der Sprachverarbeitung – geben.43 Einige Schnittpunkte zur Geschichte künstlicher Intelligenz entstehen schließlich auch in Studien zur Kybernetik44 und in generelleren Darstellungen zur Computerisierung und Digitalgeschichte.45

Obgleich die Literatur zur Geschichte der Intelligenz und ihrer Messung umfänglich ist, ergänzt dieses Buch die bestehenden Arbeiten in mehrerlei Hinsicht. Erstens richtet es sich vordringlich auf breitenwirksame Debatten. Dass Auseinandersetzungen um Intelligenz weit über die Wissenschaft hinausgriffen, haben Studien etwa zur Intelligenzmessung oder zu Testkontroversen durchaus bemerkt. Dennoch ist der breitenwirksame Diskurs für Großbritannien und Deutschland noch nicht systematisch und im Längsschnitt beschrieben worden.

Zweitens nuanciert die hier gegebene Geschichte die in der Literatur häufig aufgegriffene Frage nach der Konstituierung von Un‑/Gleichheiten in und durch den Verweis auf Intelligenz neu. Dies ist auch deshalb notwendig, weil viele der bekannteren Forschungsarbeiten zur Intelligenz – unbeschadet ihres Erkenntniswertes – mit ihrem Entstehungszeitpunkt in den 1970er und 1980er Jahren selbst Teil des Diskurses sind, die dieses Buch untersucht. Auch darauf ausgerichtet, die sozialen, rassistischen oder eugenischen Implikationen der Intelligenzforschung zu zeigen, trugen diese als kritisch angelegten Arbeiten wesentlich zur Entstehung und Unterhaltung eines intelligenz(test)skeptischen Diskurses bei. Demgegenüber fragt diese Untersuchung auch danach, ob und wie die betrachteten historischen Akteur:innen den Verweis auf Intelligenz dazu nutzten, Unterscheidungen herauszufordern oder Gleichheit einzufordern.

Drittens führt diese Untersuchung Forschungen zu menschlichen und »anderen« Intelligenzen zusammen. Dadurch entwickelt sie eine Geschichte, die das Spiel der Unterscheidungspraktiken, -regeln und -lehren in ihrer ganzen Breite beschreiben kann. Sie betrachtet Unterscheidungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und anderen Entitäten, und analysiert, wie Unterscheidungen zwischen Menschen untereinander sowie zwischen Menschen und anderen Entitäten jeweils miteinander verknüpft wurden.

1.6.Wissens- und Sozialgeschichte in der Verbindung

Über seinen konkreten Forschungsgegenstand hinaus zielt dieses Buch darauf ab, sozial- und wissenshistorische Fragen und Ansätze gleichberechtigt miteinander zu verbinden.

Das Problem, wie Wissens- und Sozialgeschichte – oder auch Wissensgeschichte insgesamt – sich zueinander verhalten, wird im deutschsprachigen Raum mindestens seit den 2000er Jahren kontrovers diskutiert. Ging es in den frühen Plädoyers zunächst um eine Erweiterung der Sozialgeschichte mit wissenshistorischen Themen oder um eine Analyse der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«46, akzentuierten Forschende die Wissensgeschichte mit ihrem rasanten Aufschwung in den 2010er Jahren auch als alternatives Paradigma zur Erforschung von Gesellschaftlichkeit.47 Ähnliche Abgrenzungskämpfe kennzeichnen das Verhältnis von Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Auch weil die Wissensgeschichte die Wissenschaftsgeschichte für weitere Formen und Foren des Wissens öffnen wollte, galt sie manchen als Konkurrentin einer spezialisierten und auch forschungsorganisatorisch eigenständigen Geschichte der Wissenschaften und der Technik.48

Letztlich sind Wissen(schaft)s- und Sozialgeschichte jedoch aufeinander angewiesen, weil sie nur mit vereinten Kräften die notwendige Reflexion über die Voraussetzungen der jeweiligen Forschungsansätze eröffnen können.49 Denn die Perspektiven der Wissen(schaft)sgeschichte helfen uns zu erkennen, wie Unterscheidungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und anderen Entitäten historisch begriffen, beschrieben, begründet und (de-)legitimiert wurden. Sie machen erfassbar, welche Rolle Paradigmen der Wissenschaft und Technik für die Herstellung von Unterscheidungen und Abgrenzungen des historisch Sozialen spielten. Sozialhistorische Ansätze wiederum können die Bedeutung konkreter Wissensbestände in sozialen Kämpfen und Konflikten um die Konstitution des Sozialen erfassen. Hierzu gehört die Betrachtung dessen, wie Auseinandersetzungen um konkrete Wissensbestände Konflikte um Unterscheidungen, um »Gleich« und »Ungleich«, um die Markierung von Unterschiedenheiten und die Erklärung von Unterscheidungspraktiken mitgestalten.

Damit rückt das Schnittfeld der Wissen(schaft)s- und Sozialgeschichte die Wissensgebundenheit des Sozialen ebenso wie die Sozialität des Wissens in den Fokus. Es wirft die Frage auf, wie Menschen ihre soziale Welt und die sie konturierenden Unterscheidungen geschaffen und gedeutet haben. Es fokussiert darauf, welches Wissen die getroffenen Unterscheidungen jeweils organisiert und legitimiert hat. Und es problematisiert, wie die auf der Basis bestimmter Wissensbestände legitimierten Unterscheidungen wiederum Konstitutionen des historisch Sozialen beeinflusst und verändert haben.50

1.7.Verwendete Quellen und ihre Auswertung

Der Fragestellung folgend, fließen in die Untersuchung vor allem Quellen ein, die Aufschluss über Auseinandersetzungen um Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und -lehren in der öffentlichen Debatte geben.

Das Fundament bildet die Auswertung von Zeitungs- und Zeitschriftenmaterial. Dies zielt darauf ab, Auseinandersetzungen um Intelligenz im Längsschnitt zu identifizieren und den Untersuchungszeitraum möglichst gleichmäßig zu erschließen. Tages- und Wochenzeitungen berichteten über Thesen der Intelligenzforschung und zu Kontroversen über das Denkvermögen, dessen Messung und Bedeutung. Aus ihnen lässt sich ersehen, welche Wissensbestände über Intelligenz breitenwirksam zur Verfügung standen. Für Zeiten eingeschränkter Öffentlichkeit (Nationalsozialismus und DDR) machen sie zudem die politische Formung von Umgangsweisen mit Intelligenz und Unterscheidungspraktiken deutlich.51

Die Volltextdigitalisierung von Zeitungen und Zeitschriften des 19. und zunehmend auch des 20. Jahrhunderts hat hier die Möglichkeit geschaffen, mit angemessenem Aufwand eine Quellenbasis zusammenzustellen, welche früheren Forschungen in dieser Form nicht zugänglich war. Allerdings ist die Volltexterschließung von Zeitungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Großbritannien wesentlich weiter fortgeschritten als in der Bundesrepublik.52 Bei der Auswahl der Zeitungen wurde die Auswertungssituation für Großbritannien und Deutschland so weit wie möglich angeglichen (vgl. Tabelle 3).

1900–1945

1945–1990

D

GB

BRD

DDR

GB

Staatliche Ebene

Berliner Tageblatt (1900–1929) [Europeana]

Vossische Zeitung (1918–1934) [DeGruyter]

Deutsches Nachrichtenbüro (1936–1940) [Europeana]

The (London) Times (1900–1945) [Times Digital Archive]

Daily Mail (1900–1945) [Daily Mail Historical Archive, Gale]

FAZ (1949–1990) [FAZ Archiv]

Der Spiegel (1947–1990) [Spiegel-Archiv]

Neues Deutschland (Berlin) (1946–1990) [DDR-Presse, StaBi Berlin]

The (London) Times (1945–1990) [Times Digital Archive]

Daily Mail (1945–1990) [Daily Mail Historical Archive, Gale]

Lokale Vertiefung

Altonaer Nachrichten/ Hamburgs Neueste Zeitung (1900–1941) [European Library/ Europeana]

Hamburger Anzeiger (1933–1945) [Europeana]

The Scotsman (Edinburgh) (1900–1945) [The Scotsman Digital Archive]

Hamburger Abendblatt (1948–1990) [Hamburger Abendblatt Archiv]

Berliner Zeitung (1945–1990) [DDR-Presse, StaBi Berlin]

The Scotsman (Edinburgh) (1945–1990) [The Scotsman Digital Archive, British Newspaper Archive]

Tab. 3:Ausgewertete Zeitungen/Datenbanken (1900–1990)

Quelle: eigene Darstellung

Weil viele Zeitungen nur für einen begrenzten Zeitraum existierten oder nicht durchgehend volltextdigitalisiert zur Verfügung standen, wurden möglichst vergleichbare Reihen unter Einbezug unterschiedlicher Publikationsorgane gebildet. Für den Untersuchungszeitraum seit 1900 ist für jeden Staat jeweils eine weltanschaulich eher liberale bzw. linke Zeitung sowie ein eher konservatives Publikationsorgan eingeflossen. Für das nationalsozialistische Deutschland und die DDR wurden jeweils ein Parteiorgan und eine vergleichsweise »unabhängige« Tageszeitung verwendet. Ziel war es ebenfalls, sowohl die »Qualitäts«- als auch die Massenpresse zu berücksichtigen.

Weiterhin sollten staatliche Perspektiven durch lokale und regionale Blickwinkel ergänzt werden. Mit Zeitungen aus Berlin und London sind daher zum einen zwei Großstädte vertreten, die durchgehend oder über lange Zeiträume hinweg Hauptstadtfunktionen innehatten. Zum anderen wurden Zeitungen aus Hamburg und Edinburgh einbezogen, weil beide Städte eine zentrale Bedeutung für die Intelligenzforschung und den praktischen Einsatz von Intelligenztests hatten. Das Psychologische Institut Hamburg unter William Stern (1871–1938) spielte bis zum Nationalsozialismus eine führende Rolle in der Intelligenz- und Begabungsforschung. In der frühen Bundesrepublik unternahmen Hamburger Wissenschaftler:innen um Curt Bondy (1894–1972) zudem wichtige Forschungen zur Standardisierung von Intelligenztests. Edinburgh wurde als Vertiefung auf britischer Seite ausgewählt, weil hier mit Godfrey H. Thomson (1881–1951) ein zentraler Akteur in der Entwicklung von Gruppentests der Intelligenz für Schulen wirkte. Thomson leitete die Godfrey Thomson Unit for Educational Research (Moray House), bei der viele britische Erziehungsbehörden Tests für die lokalen Auswahlverfahren in Auftrag gaben. Die unter seiner Leitung durchgeführten Scottish Mental Surveys von 1932 und 1947, die jeweils eine komplette Alterskohorte schottischer Kinder testeten, fanden auch außerhalb der Wissenschaft breite Beachtung. Sie trugen dazu bei, dass Schottland als Vorreiter der Testforschung und -nutzung galt. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es in beiden Städten zudem bedeutende Forschungsgruppen zur künstlichen Intelligenz: In Hamburg konzentrierte sich die Gruppe um Walther von Hahn (* 1942) vor allem auf Sprache und Expertensysteme, während die Edinburgher Forscher um Donald Michie (1923–2007) am Department for Machine Intelligence and Perception besonders die Robotik vorantrieben.

Die ausgewählten, volltexterschlossenen Zeitungen wurden (teils für den gesamten Zeitraum durchgehend, teils kapitelbezogen) anhand von Stichworten durchsucht. Da einige Suchbegriffe sehr viele Treffer erzeugten, mussten die Funde nach Durchsicht weiter eingegrenzt werden. Ausgewählt wurden daher vor allem umfangreichere Artikel zur Intelligenz sowie deren Erforschung und Messung, grundsätzliche Beiträge zu Begabung und Behinderung, Artikel, in denen Kontroversen deutlich wurden, Berichte zu populären Anwendungen der Intelligenzdiagnostik, Selbsttests und Spielen sowie Zuschriften von Leser:innen.53 Aufgrund der uneinheitlichen Qualität der Digitalisierung und Erschließung in den jeweiligen Portalen unterschied sich die Auswertungssituation der Zeitungen deutlich. In den meisten Portalen funktionierte die Volltextsuche weitestgehend zuverlässig. Bei Europeana war die Fehleranfälligkeit bei Volltextsuchen und längeren Wörtern jedoch vergleichsweise hoch.54 Die jeweils ausgewählten Artikel wurden – wie alle folgenden Quellen auch – in Citavi erfasst, exzerpiert und verschlagwortet.

Da die Terminologien des Denkvermögens vor 1900 relativ offen waren, erschien für diese Zeit ein durchgehend datenbankgestütztes (und dadurch stark suchwortabhängiges) Vorgehen wenig ratsam. Für Großbritannien wurde daher auf die SciPer-Ressource (»Science in the Nineteenth-Century Periodical«) zurückgegriffen. Diese erfasst Auseinandersetzungen mit Fragen der Wissenschaft in populären Zeitschriften des 19. Jahrhunderts und wurde nicht automatisiert, sondern nach Durchsicht erstellt.55 Für Deutschland vor 1900 erfolgte eine parallele Auswahl nach thematischen Kriterien, unter anderem mithilfe der Bibliografie der deutschen Zeitschriftenliteratur.

Zur Vertiefung der Quellen aus Zeitungen und Zeitschriften wurde weiteres publiziertes und breitenwirksames Material einbezogen. Grundlinien in der Entwicklung von Interpretationen und Umgangsweisen mit Intelligenz wurden über allgemeinbildende Lexika und Wörterbücher verfolgt, die für beide Staaten im Zeitraum vom 18. bis ins 20. Jahrhundert für das Stichwort »Intelligenz« (»intelligence«) sowie verwandte Stichwörter ausgewertet wurden. Vertiefend wurde eine große Bandbreite an publizierten Einzelschriften verwendet, wie etwa breitenwirksame Darstellungen zur Psychologie und Intelligenz, Publikationen zur Intelligenzmessung, Intelligenz-Selbsttest-Bücher, Ratgeber für Eltern oder intelligenztestkritische Schriften. Thematisch ausgewählte Beiträge aus Zeitungen und Zeitschriften ergänzen diese Einzelschriften. Variierend nach Untersuchungsschwerpunkt, stammen diese Beiträge aus weiteren Tageszeitungen, populären Wissenschaftszeitschriften, Familienzeitschriften, Publikationen aus Schule, Bildung und Erziehung, Zeitschriften zur »Auslese« und Begabtenförderung oder Denksport- und Rätselblätter. Auch wissenschaftliche Publikationen zur Intelligenz und ihrer Messung wurden einbezogen. Aufgrund der Breite der Forschungsdebatten konzentriert sich die Auswahl hier auf Schlüsselwerke, die zum Verständnis der breitenwirksam geführten Debatten notwendig sind.

Die publizierten Quellen wurden über verschiedene Bibliotheken und Kataloge erschlossen. Für Großbritannien wurden vorrangig die Ressourcen der British Library (London), der National Library of Scotland (Edinburgh) und der Wellcome Library (London) genutzt. Für Deutschland konnten die Sammlungen der Staatsbibliothek Berlin, der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin), Scripta Paedagogica sowie diverse Universitätsbibliotheken herangezogen werden.

Archivquellen fließen ergänzend ein. Der Großteil der genutzten Archivbestände kommt aus Nachlässen von Personen, die Material zu breitenwirksam relevanten Intelligenzdebatten zusammengetragen haben. Dazu gehören, in grober zeitlicher Folge: der Nachlass des Genetikers Lionel Sharples Penrose, University College London; die Sammlung des intelligenztestkritischen Pädagogen und Historikers Brian Simon, Institute of Education, University College London; der Nachlass des Psychologen und konservativen Begabungsforschers Wilhelm Arnold, Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie Würzburg; der Nachlass des Pädagogen Hans Siebert im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin; die Unterlagen des »progressiven« Pädagogen Michael Duane zu Race-and-IQ-Debatten im Institute of Education London; sowie einige Quellen zur »rechten« Intelligenzdeutung in den John Maynard Smith Archives in der British Library. Weitere Archivbestände stammen aus dem Umfeld von Pädagogik, Schule und schulischen Testverfahren. Dies betrifft Archivmaterial der Godfrey Thomson Unit for Educational Research, die an der Entwicklung massenhaft genutzter Schultests beteiligt war (University of Edinburgh, Special Collections). Berücksichtigt wurde daneben ein kleinerer Bestand zu Rudolf Lämmel, der in der Weimarer Republik Intelligenztests an Thüringer Schulen durchführen sollte und populäre Intelligenz-Selbsttest- und Beratungsbücher publizierte (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar). Aus dem Bundesarchiv Berlin fließt eine Zeitungsausschnitt- und Publikationssammlung des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront ein, ebenso wie weitere kleinere Bestände zur »Auslese« in Schule und Beruf. Aus dem Archiv der BBF Berlin kommen Materialien zur Begabung und Begabungsförderung sowie Unterlagen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. Zur künstlichen Intelligenz wurde der Nachlass von Donald Michie, eines britischen Pioniers der Forschungen zur machine intelligence (British Library, Manuscript Collection) durchgesehen, sowie der Nachlass des deutschen Kybernetikers bzw. Informatikpioniers Karl Steinbuch am Karlsruher Institut für Technologie (Archiv des Karlsruher Instituts für Technologie). Hinzu kommen Unterlagen des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (Bundesarchiv Koblenz).

Wie bei den zuvor angeführten Quellensorten lag auch bei der Auswahl der Archivbestände das Augenmerk darauf, den Zeitraum möglichst langfristig und im Hinblick auf breitenwirksame und öffentlich geführte Debatten zu erschließen. Die weitere Vertiefung des Themas über ungedruckte Quellen, die genauere Einblicke in Praxisfelder wie die Psychiatrie, die Schule, die Erziehungs- und Berufsberatung oder Auswahlverfahren in Betrieben geben könnten und auch den Kreis der beteiligten Personen ausweiten würden, muss daher Folgestudien überlassen bleiben.56

1.8.Kapitelübersicht

Die Darstellung gliedert sich in chronologisch aufeinander aufbauende Kapitel. In der Regel behandeln diese Großbritannien und Deutschland gemeinsam. Da sich Intelligenz- und Testkritik im Nationalsozialismus aber auf eine Weise radikalisierte, die sich einer Relationierung zum britischen Fall in derselben Zeitphase entzieht, und da zugleich die eingeschränkte Pressefreiheit den Charakter der öffentlich kommunizierten Aussagen veränderte, wird in Kapitel 6 Deutschland separat betrachtet. Auch für die folgenden Kapitel (7–9) zu DDR, Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945 schien eine separate Darstellung schlüssiger, da sich in diesem Zeitraum die Diskussionen um Intelligenz und Unterscheidungsfragen in den jeweiligen Ländern recht weit voneinander entfernten beziehungsweise diese auch zeitlich nicht immer schlüssig zu parallelisieren sind. Mit dem letzten Kapitel zur Künstlichen Intelligenz (10) wird dann wieder zur gemeinsamen Darstellung (Großbritannien und Bundesrepublik) zurückgekehrt.

Das erste inhaltliche Kapitel (Kapitel 2) greift mit den Debatten um Tierintelligenz und die Mensch/Tier-Unterscheidung im späten 19. Jahrhundert einen Schlüsselmoment in der Fundierung moderner Intelligenzkonzepte auf. Dieser stand im Kontext eines gewachsenen Interesses an den Fähigkeiten von Tieren im Rahmen evolutionärer Debatten sowie einer stärker werdenden Tierschutzbewegung. Wissenschaftler wie Charles Darwin, George John Romanes, Wilhelm Wundt und Ludwig Büchner ebenso wie Fürsprecher:innen der Tierintelligenz in populäreren Foren problematisierten mit der Frage nach der Intelligenz die Mensch/Tier-Unterscheidung und die damit verbundenen Unterscheidungsregeln und ‑lehren. Anders als in tradierten Deutungen des Intelligenten als göttlich und geistig, galt ihnen »Intelligenz« als körperlich gebunden und in einem Verhältnis von Mehr oder Weniger attribuierbar. Plädoyers für die Annahme von Tierintelligenz lösten daher in beiden Staaten weitreichende Konflikte über die Unterscheidung von Mensch und Tier und insbesondere um die Positionierung des Tieres im historisch Sozialen aus.

Mit einem Fokus auf der Psychologisierung der Intelligenz(en) und die Unterscheidung von Menschen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs legt Kapitel 3 dar, wie sich Dispute um Intelligenz seit dem frühen 20. Jahrhundert erweiterten, indem zunehmend auch die Intelligenz von Menschen in die Debatte kam. Zu ihrer vollen Entfaltung kamen diese neuen Perspektiven auf Intelligenz infolge der Entwicklung von Testverfahren und hier insbesondere des Binet-Simon-Tests (als einem Individualtest der Intelligenz). In beiden Staaten kamen nun Verfahren in die Aufmerksamkeit der psychologischen und pädagogischen Forschung, die Menschen nach ihren im weitesten Sinne kognitiven Vermögen bewerteten und Unterscheidungen und Anordnungen von Personen begründen konnten. Wissenschaftliche Autor:innen versuchten zudem erste tentative Verknüpfungen von »Intelligenz« mit anderen potenziellen Kategorien der Unterscheidung, wie Alter, Klasse/Schicht/class, räumlichen Differenzierungen, »Rasse«/race und Geschlecht. Auf diese Weise bildeten die in diesem Kapitel beschriebenen Entwicklungen eine Voraussetzung dafür, dass »Intelligenz« in den Folgejahren ein Knotenpunkt öffentlicher Debatten um Unterscheidungspraktiken, -regeln und -lehren zwischen Menschen wurde.

Kapitel 4 »Embarrassingly popular«: Verbreitung und Kritik der Intelligenz(messung) (ca. 1920–1933/40) stellt dar, wie »Intelligenz« in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg zu einem kontroversen Thema im Schnittfeld von Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit wurde: Zeitungen und Zeitschriften berichteten breiter über Individual- und Gruppentests und stellten praktische Möglichkeiten vor, Menschen nach ihrer Intelligenz zu unterscheiden und in Rangreihen zu bringen. Interessierte Bürger:innen schalteten sich in die Diskussion ein und trugen ihre Positionen vor. Den Anlass hierzu bildeten in beiden Staaten häufig schulische Kontexte. Konkret lag in der Weimarer Republik ein Schwerpunkt auf der »Begabtenauslese«, in Großbritannien auf der Vergabe von Stipendien für die grammar school. Auf die neuen Praktiken richteten sich seitens der Schulverantwortlichen einerseits große Hoffnungen, indem sie Auswahlen gerechter und gleicher machen sollten. Viele der Personen, die – wie Eltern und Lehrkräfte – öffentlich Stellung bezogen, hinterfragten andererseits den Einsatz von Intelligenztests in Schule und Beruf methodisch, praktisch und grundsätzlich. Allen Beteiligten boten Auseinandersetzungen um Intelligenz jedoch einen Anlass, die Standards und übergeordneten Ziele zu adressieren, nach denen sie Unterscheidungen zwischen Menschen treffen wollten.

Das darauffolgende Kapitel 5 Auf der »Verstandeswaage« betrachtet mit Intelligenzaufgaben und Selbsttests zu Unterhaltung und »Training« (1920–1933/40) einen spezifischen Ausschnitt einer Wissen(schaft)sgeschichte der Intelligenz. Es zeigt, wie seit den 1920er Jahren mit der wachsenden Bekanntheit quantifizierender Ansätze zur Attribuierung von Intelligenz zugleich neue breitenwirksame Adaptionen entstanden: Populäre Intelligenz-Selbsttests in Form von Büchern, Zeitungsbeiträgen und Rundfunksendungen bereiteten psychologische und pädagogische Wissensbestände auf. Sie versprachen ihren Rezipient:innen teils im ernsthaften, teils im eher lockeren Ton eine Einschätzung ihrer Intelligenz, wobei ihr Gegenstandsgebiet im deutschen Fall offener und praktischer gedacht war als im britischen. Die Autor:innen wollten Intelligenz auch als Resultat individueller Befähigung oder Kraftanstrengung deuten. Einige von ihnen zielten darauf ab, das eigene Selbst von anderen auf eine Weise zu unterscheiden, welche Distinktion und vorteilhafte soziale Positionen versprach. Allerdings weisen die betrachteten Selbsttests auch darauf hin, dass eine auf Intelligenz rekurrierende Unterscheidungspraxis selbst bei ihren Befürworter:innen angefochten und fragil blieb.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus veränderte die Kommunikation über Intelligenz in Deutschland umfänglich und nachhaltig. Wie Kapitel 6 Negationen und Transformationen von Intelligenz im Nationalsozialismus (1933–1945) verdeutlicht, relativierten Autor:innen wissenschaftlicher ebenso wie breitenwirksamer Publikationen Intelligenz in ihrer Bedeutung oder versuchten sie als Überbetonung des »Verstandes« auf Kosten »gesunder« Körperlichkeit abzuwerten. Dem Nationalsozialismus nahestehende Protagonist:innen entwickelten eine Form der Intelligenztestkritik, nach welcher »jüdische« Testmethoden »arische« Schüler:innen in ihrem Fortkommen behindert hätten. Dessen ungeachtet entschieden die Verantwortlichen in Verfahren nach dem Erbgesundheitsgesetz und im Rahmen der nationalsozialistischen Krankenmorde auch auf der Grundlage von Intelligenztests über Leben und Tod. Dies unterhöhlte die Fähigkeit der »Intelligenz«, alle Menschen auf eine für alle gleich gültige Skala zu bringen und nach dieser zu unterscheiden: Nicht allein die Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik unterschieden sich im Nationalsozialismus von Mensch zu Mensch. Auch das Maß und die Kriterien ihrer Anwendung differierten. Dies belegt, wie sich ein rassistisches Gesellschaftsmodell auch in der Auseinandersetzung um Intelligenz und generelle Regeln und Lehren der Unterscheidung entfaltete.

Mit dem Aufbau der DDR nahm die Auseinandersetzung um Intelligenz und Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren in Deutschland eine wiederum neue Wendung. Kapitel 7 »Nicht schwebend und nicht führend«. Intelligenz und Begabung in der DDR dokumentiert die umfassende Transformation von Intelligenz und Unterscheidungspraktiken, ‑regeln und ‑lehren im veröffentlichten Diskurs. Es beschreibt, wie die politische Führung und Parteipresse der DDR sich in den 1950er Jahren gegen individualisierende Deutungen des Denkerisch-Schöpferischen wandten und »Intelligenz« stattdessen im Sinne einer »Gesamtheit der Geistesschaffenden« als soziale Gruppe propagierten. Breitenwirksame und wissenschaftliche Beiträge stellten intelligenzdiagnostische Verfahren nun nach sowjetischem Vorbild als kontraproduktiv heraus. Auch infolge von Forderungen aus der Psychologie und Jugendforschung, wurden intelligenz(test)kritische Deutungen jedoch seit den späten 1960er Jahren zunächst im Fachdiskurs, später dann auch in Publikationen für ein Laienpublikum weniger rigoros. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg wird deutlich, wie Auseinandersetzungen um Unterscheidungspraktiken, -regeln und -lehren in der DDR spezifische Ausdeutungen von Un-/Gleichheiten zwischen Menschen (etwa als von Natur aus un-unterschieden, oder als gleichwertig aber natürlicherweise different) mitformten und auf diese Weise grundlegende Zielvorstellungen der Gestaltung des historisch Sozialen transportierten.

Nach den Verwerfungen der »Intelligenz« im Nationalsozialismus standen auch westdeutsche Akteur:innen vor der Herausforderung, neue Umgangsweisen mit Intelligenz zu finden. Kapitel 8 Auf der Suche nach demokratischen Unterscheidungspraktiken: Intelligenz und Begabung in der Bundesrepublik (1949–1990) zeigt, wie langwierig und problematisch sich dieser Prozess gestaltete. Im schulpolitischen ebenso wie im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der frühen Bundesrepublik blieb der Begabungsbegriff zunächst prägender als derjenige der »Intelligenz«. Parallel entmutigten es erborientierte und eine Natürlichkeit von Unterschieden betonende Ansätze, Unterscheidungspraktiken, -regeln und ‑lehren im Hinblick auf Begabung oder Intelligenz aktiv aufzugreifen. Erst im Verlauf der 1960er Jahre, als zum einen die westdeutsche psychologische Intelligenzforschung wieder an Kontur gewann und zum anderen umweltbetonte Begabungsdeutungen prominent wurden, entstand in der Bundesrepublik eine intensivere öffentliche Auseinandersetzung um die Intelligenz(messung) und die Art und Weise, wie Menschen sinnvoll und gerecht zu unterscheiden wären.

Demgegenüber setzten sich in Großbritannien nach 1945 Debatten um Intelligenz und ihre Messung relativ nahtlos fort. Kapitel 9 Meritokratie, Leistung und Kritik der Unterscheidung: Intelligence in Großbritannien (1945–1980) macht besonders deutlich, wie über »Intelligenz« auch Aspekte der Gleichheit und Gerechtigkeit öffentlich problematisiert wurden. In den 1950er und 1960er Jahren rückten im Schnittfeld von Politik und Wissenschaft zunächst Gleichheitsdefizite der britischen Schulpolitik entlang der Kategorie class in die Aufmerksamkeit. Seit den späten 1960er Jahren entstand im Anschluss an Kontroversen in den USA eine neuerliche Welle der Testkritik, die deutlicher als zuvor den Zusammenhang von race und gemessener Intelligenz ansprach. Gleichheitsorientierte und testkritische Stimmen kollidierten in den 1970er und 1980er Jahren wiederum mit einer eher konservativ geprägten Bewegung, die Unterscheidungen nach Intelligenz als unproblematisch betrachtete oder sogar stärken wollte.

Seit den späten 1940er Jahren begann mit der »machine intelligence« beziehungsweise der »künstlichen Intelligenz« eine neue Auseinandersetzung um das im weitesten Sinne Denkerische an Gewicht zu gewinnen. Wie Kapitel 10 »Künstliche Intelligenz« und die Mensch/Maschine-Unterscheidung: Konflikte um die Grenzen des Sozialen (1945–1990) in einem abschließenden Schwerpunkt beleuchtet, kursierten sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik in der frühen Nachkriegszeit Spekulationen über die Möglichkeit »intelligenter«, sprechender, rechnender oder Schach spielender Maschinen und ein Vordringen von Computern in Bereiche, die zuvor dem Menschen vorbehalten waren. Das Kapitel analysiert diese breitenwirksamen Auseinandersetzungen um »künstliche Intelligenz« bis zum Ende der 1980er Jahre. Besonderes Augenmerk liegt auf den Debatten darüber, wie sich »der Mensch« künftig von »der Maschine« unterscheiden werde und in welche Relation beide zueinander zu setzen wären. Dadurch wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der »künstlichen Intelligenz« im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erhebliche Implikationen für die Unterscheidung von Menschen untereinander, die Unterscheidung von Menschen und anderen Entitäten, und die Konturierung der Grenzen des Sozialen hatte.

2.Quantitativ, nicht qualitativ verschieden: Tierintelligenz und die Mensch/Tier-Unterscheidung im späten 19. Jahrhundert

Die Unterscheidungen, die in der Auseinandersetzung um das Denkvermögen getroffen wurden, und die Lebewesen und Dinge, auf die sie sich richteten, veränderten sich im Laufe der Zeit immer wieder. Gemeinsam war ihnen jedoch, dass sie ein Verständnis des Sozialen entfalteten, welches sie durch variable Abgrenzungen zwischen Menschen und anderen Entitäten formten. Welche Beziehungen etwa zwischen Mensch und Tier, Mensch und Gott oder Mensch und Maschine hergestellt werden sollten, und wie diese voneinander unterschieden oder miteinander zu verbinden seien, beantwortete sich historisch auch über Umgangsweisen mit dem im weitesten Sinne Denkerischen und Schöpferischen.

Das späte 19. Jahrhundert bildete in dieser Hinsicht eine Schlüsselphase. Denn in jenem Zeitraum stießen Kontroversen um die Evolution und die Abstammung des Menschen breite gesellschaftliche Debatten über das kognitive, emotionale und moralische Fähigkeitsspektrum von Tieren an, die auch für die Konstitution des Sozialen folgenreich werden sollten. Dieses Kapitel gibt daher eine Geschichte öffentlicher Auseinandersetzungen um die Tierintelligenz.

Tiere als intelligent und vom Menschen quantitativ, nicht aber qualitativ verschieden zu akzentuieren, stellte eine überlieferte Unterscheidungspraxis in Frage, welche Mensch und Tier als grundsätzlich anders, Mensch, Gott und Engel dagegen gemeinsam als intelligente Wesen behandelt hatte (2.1.). Eingebunden in eine größere Debatte um die Evolution und die Entstehung des Menschen, erschienen im späten 19. Jahrhundert einflussreiche wissenschaftliche Publikationen, die mit dem Verweis auf Intelligenz einen kategorialen Unterschied zwischen Menschen und Tieren bezweifelten. Leser:innen breitenwirksamer Zeitungen und Zeitschriften steuerten mit Zuschriften eigene Beobachtungen und Positionen zur Unterscheidung von Tieren und Menschen bei (2.2., 2.3.). Die kursierenden Zuschreibungen von Intelligenz an Tiere wirkten sich produktiv auf die Gestaltung von Unterscheidungspraktiken aus (2.4.); sie motivierten Suchbewegungen im Hinblick auf tradierte Grenzziehungen und Unterscheidungen – etwa zwischen Tier und Maschine, Mensch und Pflanze sowie Mensch und unbelebter Natur (2.5.).

2.1.Gott, Engel, Mensch und Tier: Variable Unterscheidungen in der längeren Perspektive

Inwiefern das späte 19. Jahrhundert einen Einschnitt in der Betrachtung von Tierintelligenz bedingte, tritt am deutlichsten hervor, bezieht man die längere Geschichte der Reflexion über ein tierisches Denkvermögen ein. Denn die Praxis, Menschen und andere Entitäten aufgrund ihres Denkvermögens voneinander zu unterscheiden, ist grundsätzlich bereits in der Philosophie der Antike nachweisbar. Dabei war umstritten, ob Verstand, Kultur und Sprache ausschließlich dem Menschen zukämen.57 Für die Diskussionen des 19. Jahrhunderts besonders relevant war die Assoziierung von Intelligenz mit dem Göttlichen, die auf die mittelalterliche Theologie beziehungsweise Philosophie zurückgeht. Wie Ruth Schulte in ihrer begriffsgeschichtlichen Studie zur Intelligenz erörtert, erfuhr das Wort intelligentia

»als terminus technicus der christlichen Philosophie […] eine Sinnstreckung. Es bezeichnete weiterhin die höchste geistige Fähigkeit, aber in der Erkenntnis, daß diese nicht dem Menschen, sondern Gott innewohnt, wandten die christlichen Philosophen das Wort auf Gott an.«58

In dieser auf Gott bezogenen Interpretation gelangte intelligentia im 14. Jahrhundert in der anglo-französischen Variation intelligence ins Englische. Sie bezeichnete dort zunächst eine höchste, auf Gott gemünzte geistige Kraft, »die höchste Einsichtskraft Gottes«, »die umfassende göttliche Einsicht, Intuition«, »die göttliche Allwissenheit«.59 Daran anknüpfend, konnten auch Engel und »reine Geister« als Intelligenzen verstanden werden.60

Wenn mittelalterliche gelehrte Deutungen Menschen in ihrem Erkenntnisvermögen als nach Gottes Ebenbild geschaffen sahen, rückten sie diese zugleich näher an Gott.61 Eine solche Attribuierung von Intelligenz bilde, so Ruth Schulte, letztlich einen »Theomorphismus«: »Es handelt sich nicht um ein Absinken des Wortes auf eine tiefere Stufe, sondern um durch diese Gnadengabe bedingtes Aufsteigen des Menschen auf eine höhere«. In diesem Sinne sei Intelligenz »Geschenk« und »Verpflichtung«: »Intelligence ist die dem Menschen von Gott verliehene Erkenntniskraft, das Moment, wodurch sich der Mensch von allen anderen Geschöpfen unterscheidet, worin seine Unsterblichkeit und seine Gottähnlichkeit bestehen.«62

In der Folge solcher Interpretationen unterschied die Philosophie des Mittelalters Tiere kategorial von Menschen. Thomas von Aquin (1225–1274) galten Menschen und Tiere durch ihre unterschiedliche Fähigkeit zur Rationalität als unüberbrückbar verschieden: Das Tier tue nur das Notwendige, verstehe dieses aber nicht, und ihm fehle der freie Wille und die Intelligenz.63 Wo Tieren hingegen einsichtiges Handeln zugeschrieben wurde, galt dies als von göttlicher Herkunft. Dies führte zu einer Entgegensetzung von – über »intelligentia« verfügenden – Menschen und Gott auf der einen Seite und – diese ermangelnden, aber von Gott geleiteten – Tieren auf der anderen Seite.

Der gelehrte Diskurs der Frühen Neuzeit und insbesondere der Aufklärung brachte die »anthropologische Differenz neu zur Diskussion«.64 Damit wurde auch die kategoriale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier im Hinblick auf das im weitesten Sinne Denkerische zunehmend problematisiert.65 Für eine Fähigkeit zur Vernunft oder Überlegung bei Tieren argumentierten Gelehrte wie Hieronymus Rorarius (1485–1556), Michel de Montaigne (1533–1592), Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) und Georg Friedrich Meyer (1718–1777). Gegenpositionen vertraten etwa Gómez Pereira (1500–1567), René Descartes (1596–1650) und George-Louis Leclerc Buffon (1707–1788). Tieren wurden in diesem Rahmen Attribute beigegeben, die wie »Klugheit« im Deutschen oder sagacity im Englischen eine Form des praktischen Erkennens oder verständigen Handelns umschrieben. Mit ihrem Instinkt, bemerkte etwa die Chambers Cyclopedia von 1728, verfügten Tiere über

»a Disposition or natural Sagacity […], by virtue whereof they are enabled to provide for themselves, know what is good for them, and determined to preserve and propagate the Species. It bears some Analogy to Reason, and supplies the Defect of it in Brutes«.66

Tieren »Intelligenz« oder eine vernünftige Seele (Anima Rationalis)67 zuzuschreiben, war bei aller sprachlichen und konzeptuellen Vielfalt bis zum späten 19. Jahrhundert nicht üblich. Dies wird dadurch unterstrichen, dass deutsche68 und englische69 Lexika Tiere unter dem Stichwort »Intelligenz« (bzw. »intelligence« und »intellect«) bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entweder gar nicht oder in ausdrücklicher Abgrenzung zum Menschen thematisierten. Der Brockhaus von 1845 erklärte Intelligenz etwa als »ursprünglich Verständnis, Einsicht, Erkenntnis, besonders die von der sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar abhängige und auf sie beschränkte, also die verständige und vernünftige Erkenntnis«. Sie umfasse »die Vermögen, solche Einsicht zu erwerben« und bezeichne »ein Wesen, welches durch solche Vermögen charakterisirt ist«. Auch hier war das Abrücken von Menschen und Tieren die Konsequenz:

»Deshalb gelten nicht die Thiere, sondern erst der Mensch für eine Intelligenz, indem sich seine Vorstellungen und Begriffe zu einem von den unmittelbaren sinnlichen Empfindungen unabhängigen, in sich selbst zusammenhängenden, bewußtvollen Gedankenkreise ausbilden, innerhalb dessen seine Überzeugungen von Wahrheit und Irrthum wurzeln.«70

Es sind solche Mensch und Tier als grundlegend unterschiedlich herausstellenden Positionen zum Denkerischen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf den Prüfstand geraten sollten. Die Annahme, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier graduell sei und dass Tiere über Intelligenz verfügten, ist im wissenschaftlichen Diskurs schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt nachweisbar.71 In französischen Nachschlagewerken etwa ist die Ausweitung des Terminus der Intelligenz bereits in den 1830er Jahren zu belegen.72 Ihre volle Auswirkung auf Praktiken, Regeln und Lehren der Unterscheidung erfuhr sie jedoch in Großbritannien und Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als mit der Verbreitung evolutionärer Theorien und breiteren kulturellen Verschiebungen im Mensch-Tier-Verhältnis auch die Intelligenz der Tiere in die öffentliche Diskussion kam.

2.2.Kontroversen um die Tierintelligenz: Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte die Frage nach der »Intelligenz« oder dem »Instinkt« von Tieren in Großbritannien neu auf die Tagesordnung. Angefacht wurde dieses Interesse nicht zuletzt durch die Verbreitung evolutionstheoretischer Ansätze und den Streit um die Abstammung des Menschen. Denn das Nachdenken »whether the mind of man admitted of being regarded as the product of a natural genesis – in other words, if the human mind was of animal origin«73 motivierte auch eine vergleichende Betrachtung der kognitiven Kapazitäten aller Lebewesen. Die Auseinandersetzung um Tierintelligenz war eingebettet in eine breitere gesellschaftliche Diskussion um die Charakteristika, das Empfinden, die Fähigkeiten und die Moral von Tieren. Diese Tendenz korrespondierte mit dem Wachstum der Tierschutzbewegung und ihrem Drängen, Tiere stärker in ihrer Eigenständigkeit und Verletzlichkeit wahrzunehmen.74 Selbst in der Literatur lässt sich eine Veränderung des Mensch-Tier-Verhältnisses beobachten, wenn Autor:innen fiktionaler Texte Tiere im späten 19. Jahrhundert als »individuals with feelings and a sense of their own worth« darstellten und diese beispielsweise autobiografisch sprechen ließen.75

Plädoyers für die Tierintelligenz: Im Schnittfeld von Wissenschaft und breitenwirksamer Debatte

Die britische Diskussion um die Tierintelligenz entwickelte sich an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Forschung und einer zunehmend interessierten Öffentlichkeit. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung spielten besonders Charles Darwin (1809–1882) und George John Romanes (1848–1894) eine wichtige Rolle.76 Diese akzentuierten nicht nur die Möglichkeit tierischer Intelligenz; sie trugen auch dazu bei, dass Tierintelligenz im späten 19. Jahrhundert mit viel Herzblut in einer breiteren Öffentlichkeit erörtert werden sollte.

Darwins On the Origin of Species (1859) hatte das Thema höherer geistiger Fähigkeiten von Menschen und Tieren und die Frage nach der menschlichen Evolution zunächst noch ausgespart. 1863 erschien Thomas H. Huxleys (1825–1895) Evidence as to Man’s Place in Nature, mit einem Vergleich des Gehirns von Menschen und Menschenaffen. Die Beobachtung anatomischer Ähnlichkeiten trieb den Streit um eine mögliche Entstehung des Menschen aus dem Tier weiter an.77 In The Descent of Man (1871) versuchte dann auch Darwin den Nachweis zu führen, »dass zwischen dem Menschen und den höheren Säugethieren kein fundamentaler Unterschied in Bezug auf ihre geistigen Fähigkeiten besteht« (»that there is no fundamental difference between man and the higher mammals in their mental faculties«).78 Darwin setzte sich in diesem Kontext mit einem breiten Spektrum an »Geisteskräften« (»mental powers«) auseinander, zu denen er nicht nur intellektuelle, sondern auch moralische und emotionale Fähigkeiten zählte.

Vor allem das zweite und dritte Kapitel seiner berühmten Schrift erörterten vergleichend die »Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere« (»Comparison of the Mental Powers of Man and the Lower Animals«). Darwin verwarf darin die Behauptung, dass Tiere lediglich instinktiv zu handeln vermöchten und dass ein »fundamentaler Unterschied« zwischen Menschen und Tieren bestehe. Denn viele Tiere verfügten über »Geisteskräfte«, die nicht wesentlich anders seien als diejenigen des Menschen, und selbst die »geistigen Fähigkeiten« der »sehr tief auf der Stufenleiter stehenden Thiere« seien »bedeutender […], als man hätte erwarten können«.79 Den Begriff »intelligence« verwendete Darwin allerdings eher selten; er erschien bevorzugt in Textpassagen, die sich auf andere, mehrmals auch französische Autoren bezogen.80 Mitunter jedoch schrieb Darwin auch selbst bestimmten Tieren »intelligence«81 oder »general intelligence« zu82 oder erörterte die »intelligence« von Menschen.83

Deutlich prominenter machte den Terminus der Intelligenz in seiner Anwendung auf Tiere Darwins Schüler George John Romanes. Der junge Biologe widersprach seit den 1870er Jahren in Vorträgen, Aufsätzen und Leserbriefen der Annahme »that there is any difference in kind between the two cases of intelligence – animal and human«.84 1882 etablierte seine Monografie Animal Intelligence für die relativen Problemlösungsfähigkeiten von Organismen den Terminus intelligence fest im evolutionären Diskurs. Animal Intelligence versammelte praktische Beispielfälle tierischer Schlauheit und augenscheinlich folgernden Verhaltens. Romanes erörterte diese in einer Reihenfolge, welche die psychischen Fähigkeiten der Tiere in aufsteigender Ordnung abbilden sollte.85 Auf der Grundlage der von ihm studierten Beispiele schien Romanes eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Tierintelligenz und ihrer Relation zum Menschen möglich. In einem Vortrag in der London Institution erklärte er 1884 etwa, er halte es für sehr unwahrscheinlich, »that the process of evolution should have been interrupted at its terminal phase«. Wer dies behaupten wolle, brauche »very cogent and unmistakable facts proving the virtual impossibility of animal intelligence passing into human«.86

Dispute um die Tierintelligenz blieben nicht auf die Kreise der evolutionären Biologie oder der Tierforschung beschränkt. Denn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schwoll auch in den populäreren Foren der Chor jener an, die Tieren Intelligenz jedenfalls nicht pauschal absprechen wollten. Breitenwirksame Zeitungen und Zeitschriften griffen Forschungen über den Tierverstand auf und berichteten direkt von Fachkongressen;87 Satirezeitschriften konnten dem Thema eine komische Seite abgewinnen.88 Das Argument, dass die Intelligenz von Tieren sich nicht nach der Art, sondern nach dem Ausmaß von der des Menschen unterscheide, rückte in den 1870er und 1880er Jahren dadurch bis in Tageszeitungen vor: