Ist die Kirche noch zu retten? - Hans Küng - E-Book

Ist die Kirche noch zu retten? E-Book

Hans Küng

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Beschreibung

Sein Leben lang hat Hans Küng der katholischen Kirche gedient (allerdings nicht immer zur Freude der Päpste): als weltweit geachteter Theologe, als Priester und vielgelesener Autor. Jetzt erweist er ihr wieder einen Dienst, indem er klar ausspricht, woran die Kirche krankt. Deren Krise geht weit über die Missbrauchsfälle und deren Vertuschung hinaus: Es handelt sich um eine grundlegende Systemkrise. Eine Kirche, die weiterhin an ihrem Machtund Wahrheitsmonopol, an ihrer Sexual- und Frauenfeindlichkeit festhält, sich Reformen und der aufgeklärten modernen Welt verweigert, wird nicht überleben – das ist Hans Küngs Fazit. Deshalb legt er eine Agenda für ein »Zukunftsgespräch« vor.

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www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95166-1

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.de

Datenkonvertierung E-Book: Clausen & Bosse, Leck

Was mich jetzt zum Schreiben drängt

Lieber hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Es ist nicht angenehm, der Kirche, die meine geblieben ist, eine solch kritische Veröffentlichung widmen zu müssen. Ich meine die katholische Kirche, die größte, mächtigste, internationalste, in etwa auch älteste Kirche, deren Geschichte und Geschick aber auch alle anderen Kirchen beeinflusst.

Lieber hätte ich freilich meine Zeit anderen dringenden Fragen und Projekten gewidmet, die auf meiner Agenda stehen. Aber der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für die gesamte christliche Ökumene zunehmend dramatischen Auswirkungen drängt mir erneut die mir keineswegs angenehme Rolle des Papstkritikers und Kirchenreformers auf, eine Rolle, die oft die mir wichtigeren Aspekte meines theologischen Œuvres verdeckt.

Die große Kirchenkrise

In der gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworten zu schweigen: Seit Jahrzehnten habe ich auf die große Krise der katholischen Kirche, faktisch eine Kirchenleitungskrise, die sich da entwickelte, aufmerksam gemacht – mit wechselndem und in der katholischen Hierarchie mäßigem Erfolg. Erst mit der Enthüllung der zahllosen Missbrauchsfälle im katholischen Klerus, die über Jahrzehnte hin von Rom und den Bischöfen weltweit vertuscht worden waren, ist diese Krise als Systemkrise für die ganze Welt sichtbar geworden und erfordert eine fundierte theologische Antwort. Alle noch so groß inszenierten Papstmanifestationen und Papstreisen (je nachdem als »Pilgerreise« oder »Staatsbesuch« inszeniert), alle die Rundschreiben und Kommunikationsoffensiven können über die anhaltende Krise nicht hinwegtäuschen. Diese äußert sich in Hunderttausenden von Kirchenaustritten allein in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten drei Jahre und in einer zunehmenden Ferne der Bevölkerung zur kirchlichen Institution überhaupt.

Nochmals: Ich hätte dieses Buch lieber nicht geschrieben. Nicht geschrieben hätte ich dieses Buch:

1. wenn sich die Hoffnung erfüllt hätte, Papst Benedikt würde unserer Kirche und der gesamten Christenheit im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Weg nach vorne weisen. Diese Hoffnung war in mir gekeimt in der vierstündigen freundschaftlichen persönlichen Unterredung mit meinem früheren Tübinger Kollegen in Castel Gandolfo 2005. Aber: Benedikt ging den zusammen mit seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der Restauration stur weiter, distanzierte sich in wichtigen Punkten vom Konzil und von großen Teilen des Kirchenvolkes und versagte angesichts des weltweiten Sexualmissbrauchs von Klerikern;

2. wenn die Bischöfe die ihnen vom Konzil zugesprochene kollegiale Verantwortung für die Gesamtkirche wirklich wahrgenommen und sich in Wort und Tat dazu geäußert hätten. Aber: unter der Herrschaft Wojtyla/Ratzinger wurden die meisten wieder linientreue Befehlsempfänger des Vatikans, ohne eigenes Profil und Verantwortung zu zeigen: auch ihre Antworten auf die neuesten kirchlichen Entwicklungen waren zögerlich und wenig überzeugend;

3. wenn die Theologenschaft sich wie früher kraftvoll, gemeinsam und öffentlich zur Wehr gesetzt hätte gegen neue Repression und den römischen Einfluss auf die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses in Fakultäten und Seminarien. Aber: die meisten katholischen Theologen haben begründete Angst, tabuisierte Themen in Dogmatik und Moral unvoreingenommen kritisch zu behandeln und deshalb zensuriert und marginalisiert zu werden. Nur wenige wagen die weltweite reformerische »KirchenVolksBewegung« zu unterstützen. Und von evangelischen Theologen und Kirchenführern erhalten sie auch nicht genug Unterstützung, da viele von ihnen Reformfragen als binnenkatholische Probleme abtun und manche in der Praxis die guten Beziehungen zu Rom der Freiheit eines Christenmenschen bisweilen vorziehen. Wie in anderen öffentlichen Diskussionen spielte die Theologie selbst in den jüngsten Auseinandersetzungen um die katholische und die anderen Kirchen eine geringe Rolle und verpasste die Chance, die notwendigen Reformen entschieden einzufordern.

Woran die Kirche leidet

Von den verschiedensten Seiten wurde ich immer wieder mündlich und schriftlich gebeten und ermuntert, klar Stellung zu beziehen zu Gegenwart und Zukunft der katholischen Kirche. So habe ich mich schließlich entschlossen, statt einzelner Kolumnen und Artikel eine kompakte zusammenfassende Schrift zu verfassen, die darlegt und begründet, was sich als meine überprüfte Einsicht in den Kern der Krise herausstellt: Die katholische Kirche, diese große Glaubensgemeinschaft, ist ernsthaft krank, sie leidet unter dem römischen Herrschaftssystem, das sich im Lauf des zweiten Jahrtausends gegen alle Widerstände etabliert und bis heute durchgehalten hat. Es ist, wie zu zeigen sein wird, charakterisiert durch ein Machtund Wahrheitsmonopol, durch Juridismus und Klerikalismus, Sexualund Frauenfeindschaft sowie geistlichungeistliche Gewaltanwendung. Dieses System trägt zwar nicht die alleinige, aber doch die Hauptverantwortung an den drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen Westund Ostkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert und schließlich im 18./19. Jahrhundert die dritte Spaltung zwischen römischem Katholizismus und aufgeklärter moderner Welt.

Doch sei sofort angemerkt: Ich bin ökumenischer Theologe und keineswegs papstfixiert. In »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994) habe ich auf gut tausend Seiten die verschiedenen Perioden, Paradigmen und Konfessionen in der Geschichte des Christentums analysiert und dargestellt, und da lässt sich nun einmal nicht bestreiten, dass das Papsttum das zentrale Element des römisch-katholischen Paradigmas ist. Ein Petrusamt, wie es sich aus den Ursprüngen entwickelte, war und bleibt für viele Christen eine sinnvolle Institution. Aber seit dem 11. Jahrhundert wurde daraus immer mehr ein monarchisch-absolutistisches Papsttum, das die Geschichte der katholischen Kirche beherrschte und zu den genannten Spaltungen der Ökumene führte. Die trotz aller politischen Rückschläge und kulturellen Niederlagen ständig zunehmende innerkirchliche Macht des Papsttums stellt das entscheidende Merkmal der Geschichte der katholischen Kirche dar. Die neuralgischen Punkte der katholischen Kirche sind seither nicht so sehr die Probleme der Liturgie, der Theologie, der Volksfrömmigkeit, des Ordenslebens oder der Kunst, sondern es sind die in der traditionellen katholischen Kirchengeschichte zu wenig kritisch herausgearbeiteten Probleme der Kirchenverfassung. Gerade diese werde ich hier, auch wegen ihrer ökumenischen Sprengkraft, mit besonderer Sorgfalt behandeln müssen.

JOSEPH RATZINGER, der jetzige Papst, und ich waren die beiden jüngsten offiziellen Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65), das versuchte, dieses römische System in wesentlichen Punkten zu korrigieren. Dies aber gelang wegen des Widerstands der römischen Kurie leider nur teilweise. In der nachkonziliaren Zeit machte Rom die Erneuerung dann auch mehr und mehr rückgängig, was in den letzten Jahren zum offenen Ausbruch der schon längst wuchernden bedrohlichen Erkrankung der katholischen Kirche führte.

Die Skandale um Sexualmissbrauch im katholischen Klerus sind nur das jüngste Symptom. Sie haben einen solchen Umfang angenommen, dass in jeder anderen großen Organisation eine intensive Erforschung der Gründe für eine derartige Tragödie eingesetzt hätte. Nicht so in der römischen Kurie und im katholischen Episkopat. Zuerst gestanden sie ihre eigene Mitverantwortung für die systematische Vertuschung dieser Fälle nicht ein. Dann zeigten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch kein großes Interesse daran, die tieferen historischen und systemischen Gründe für eine derartig verheerende Fehlentwicklung herauszufinden.

Die bedauerliche Uneinsichtigkeit und Reformunwilligkeit der gegenwärtigen Kirchenleitung zwingt mich dazu, die historische Wahrheit von den christlichen Ursprüngen her gegen all die gängigen Vergesslichkeiten, Verschleierungen und Vertuschungen offen darzustellen. Dies wird gerade für historisch wenig informierte und traditionelle katholische Leser und vielleicht auch Bischöfe desillusionierend wirken. Wer sich bisher noch nie ernsthaft mit den Tatsachen der Geschichte konfrontiert sah, wird bestimmt manchmal darüber erschrecken, wie es da allenthalben zuging, wie viel an den kirchlichen Institutionen und Konstitutionen – und an der zentralen römisch-katholischen Institution des Papsttums ganz besonders – »menschlich, allzu menschlich« ist. Gerade dies bedeutet jedoch positiv: diese Institutionen und Konstitutionen – auch und gerade das Papsttum – sind veränderbar, grundlegend reformierbar. Das Papsttum soll also nicht abgeschafft, sondern im Sinn eines biblisch orientierten Petrusdienstes erneuert werden. Abgeschafft werden aber soll das mittelalterliche römische Herrschaftssystem. Meine kritische »Destruktion« steht deshalb im Dienst der »Konstruktion«, der Reform und Erneuerung, alles in der Hoffnung, dass die katholische Kirche im dritten Jahrtausend gegen allen Anschein doch lebensfähig bleibe.

Therapeut, nicht Richter

Manche Leser werden sich darüber wundern, dass in diesem Buch vorwiegend eine medizinische Metaphorik verwendet wird. Das hat seinen Grund darin, dass sich einem bezüglich Gesundheit und Krankheit sofort Ähnlichkeiten zwischen der sozialen Körperschaft Kirche und dem menschlichen Organismus aufdrängen. Dazu kommt, dass ich in der Sprache der Medizin besser als etwa in der juristischen Sprache zum Ausdruck bringen kann, dass ich mich in diesem kritischen Buch über den Stand der Kirche nicht als Richter verstehe, sondern – in einem umfassenden Sinn – als eine Art Therapeut.

Meine Fundamentalkritik am römischen System wiegt schwer, und ich muss sie selbstverständlich Punkt für Punkt begründen. Nach bestem Wissen und Gewissen werde ich mich deshalb in diesem Buch durchgängig um eine ehrliche Diagnose wie um wirksame Therapievorschläge bemühen. Oft eine bittere Medizin, zweifellos, aber eine solche braucht die Kirche, wenn sie überhaupt wieder genesen soll. Dies ist eine spannende, aber, wie meistens bei Krankheiten, keine vergnügliche Geschichte. Nicht aus Rechthaberei oder gar Streitsucht also formuliere ich so deutlich, sondern um der Gewissenspflicht zu genügen, meiner Kirchengemeinschaft, der ich ein Leben lang zu dienen versuchte, diesen – vielleicht letzten? – Dienst zu leisten.

Von Rom aus wird man erfahrungsgemäß alles tun, um ein derart unbequemes Buch, wenn schon nicht zu verurteilen, so doch möglichst zu verschweigen. Ich hoffe deshalb auf die Unterstützung aus der Kirchengemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit, von Theologen und hoffentlich auch dialogbereiten Bischöfen, um die ideologisch fixierte und juristisch und finanziell zumeist abgesicherte römische Kirchenhierarchie aufzuwecken: die hier vorgelegte Pathogenese, diese Erklärung von Entwicklung und Folgen der Krankheit, unter der die katholische Kirche leidet, zur Kenntnis zu nehmen und den sich aufdrängenden unbequemen Therapien nicht weiter Dialogverweigerung und Widerstand entgegenzusetzen. Gibt es Hoffnung, zumindest für die Kirche in Deutschland?

Agenda für ein »Zukunftsgespräch«

Vom obersten katholischen Laiengremium, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), aufgefordert, hat die Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2010 in einem Brief an alle Katholiken nach der schockierenden Aufdeckung jahrzehntelanger Vertuschung sexualisierter Gewalt ein zweijähriges kirchliches »Zukunftsgespräch« angekündigt. Diese späte Dialoginitiative – etwa fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum – ist zu begrüßen; ist sie doch Ausdruck dafür, dass die Bischöfe sich schließlich doch beunruhigt zeigen über die Frustration, Opposition und Abwanderung im katholischen Kirchenvolk infolge der Missbrauchskrise und des enormen Reformstaus. Der Dialog soll die Bischofskonferenz, die Bistümer, die Gemeinden und auch Fernstehende einbeziehen.

Aber: um die Jahreswende 2010/2011 war festzustellen, dass die Dialoginitiative schon wieder ins Stocken geraten war. Denn die deutschen Bischöfe sind uneins. Manche erkennen nicht einmal das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Dialog- und Kooperationspartner an – ganz zu schweigen von der mit weit über einer Million Unterschriften beglaubigten KirchenVolksBewegung »Wir sind Kirche«, einer unabhängigen »Stimme des Kirchenvolkes«. Nicht einmal auf ihren für Ende November 2010 angekündigten Brief an die Gemeinden konnten sich die Bischöfe einigen. Die Gläubigen wurden auf das Frühjahr 2011 vertröstet.

Aber diese Gläubigen erinnern sich sehr wohl, dass schon ähnliche Gesprächsinitiativen – auch im Zusammenhang mit Befragungen vor Bischofsernennungen – praktiziert wurden, die aber für die Gläubigen nichts als Enttäuschungen brachten, wie ja auch schon die Ergebnisse der »Würzburger Synode« (1971–1975) und vieler Diözesansynoden von der Hierarchie »schubladisiert« und von Rom schlicht nicht akzeptiert wurden. Daher haben auch jetzt manche Katholiken den Verdacht, die Bischöfe möchten durch ein »Gespräch« in erster Linie den großen Druck vom Kessel nehmen, um weiterhin Reformen hinauszuschieben.

Nicht weniger begründet ist der Verdacht, dass, wie schon oft, die übliche vatikanische Geheimdiplomatie auf die deutschen Bischöfe – wie früher auf die österreichischen anlässlich ihres hoffnungsvoll begonnenen »Dialogs für Österreich« (1997) – Druck ausgeübt hat, um das Dialogunternehmen möglichst abzubremsen, wenn nicht gar zu stoppen. Diese neue Dialogoffensive des deutschen Episkopats würde ohnehin mehr überzeugen, wenn sie mit Entscheidungen für bestimmte Reformen verbunden wäre, über die schon seit Jahren und Jahrzehnten »Gespräche« geführt werden. Die katholischen Laien wollen jedenfalls einen verbindlichen Dialog mit konkreten Resultaten, wovor sich mancher Bischof aber fürchtet.

Das ist erstaunlich angesichts des Befundes, dass nach dem von der Bischofskonferenz selber in Auftrag gegebenen Trendmonitor »Religiöse Kommunikation 2010« nur noch 54 % der Katholikinnen und Katholiken sich der Kirche verbunden fühlen, mehr als zwei Drittel davon in kritischer Weise. Ja, im Jahre 2010 dürften insgesamt 250 000 Menschen aus der katholischen Kirche der Bundesrepublik ausgetreten sein, ungefähr doppelt so viele wie im Vorjahr; es gab auch mehr Übertritte zur evangelischen Kirche (Angaben des Religionssoziologen Michael Ebertz, Katholische Hochschule Freiburg).

Wie auch immer: Ich stelle mich dem Dialog und lege hier eine sorgfältig ausgearbeitete und auf jahrzehntelanger theologischer Arbeit und kirchlicher Erfahrung gegründete Agenda für ein solches Zukunftsgespräch und entsprechende Entscheidungen vor. Vor fünfzig Jahren habe ich Ähnliches nach der Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Buch »Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit« (1960) getan. »Agenda« (lat.: »was zu tun ist«): nicht zu verstehen nur als Notizbuch, in das die zu erledigenden Dinge pro memoria eingetragen sind, sondern als Aktionsprogramm dringend anzupackender Aufgaben. Wie schön wäre es doch, wenn dieses Buch allen Widrigkeiten zum Trotz einen ähnlichen Erfolg hätte wie das damalige, dessen kühne Vorschläge zuallermeist durch das Konzil in Erfüllung gegangen sind. Auch heute brauchen wir nicht noch jahrelange Diskussionen und Reflexionen, sondern kühne Entscheidungen und mutige strukturelle Reformen, wie sie im letzten Kapitel dieses Buches mit aller Deutlichkeit formuliert und ausführlich begründet sind.

Sollte das gegenwärtige »Zukunftsgespräch« aber ergebnislos bleiben, so wird, davon bin ich überzeugt, diese Agenda auf der Tagesordnung der katholischen Kirche bleiben. Und dafür hat sich für mich die Mühe gelohnt.

Tübingen, 1. Februar 2011

I. Eine kranke, gar sterbenskranke Kirche?

Zum gegenwärtigen Stand

1. So kann es nicht weitergehen

»So kann es doch nicht weitergehen mit unserer Kirche! ›Die da oben‹, ›die in Rom‹ machen noch die ganze Kirche kaputt!« Solche erbitterten, empörten und verzweifelten Sätze konnte man in den vergangenen Monaten in Europa wie in Amerika oft hören, am eindrücklichsten auf dem Zweiten Ökumenischen Kirchentag in München im Mai 2010.

»Die Alternativen sind: Resignation, gewollte oder jedenfalls mit wenig Bedauern hingenommene Schrumpfung zu einer kleinen Gemeinschaft ›überzeugter Christen‹ oder Wille und Mut zu einem neuen Aufbruch«, formulierte ALOIS GLÜCK, der klarsichtige und mutige Vorsitzende des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken nach jenem Kirchentag und drückte damit Sorge und Hoffnung vieler, und gerade der engagiertesten Kirchenmitglieder aus. Aber bei den katholischen Bischöfen fand er erst später ein Echo. Viele von ihnen wollen offenkundig weitermachen wie bisher. Deshalb die Frustration, der Zorn, oft die Verzweiflung gerade bei den loyalsten Katholiken, die das Zweite Vatikanische Konzil noch nicht vergessen haben.

Dabei steckt die katholische Kirche in der tiefsten Vertrauenskrise seit der Reformation, und niemand kann es übersehen: In ihrem Zentrum steht – das muss man auch in Deutschland sehen – JOSEPH RATZINGER, der gegenwärtige Papst, der zwar aus dem Land der Reformation stammt, aber seit drei Jahrzehnten im päpstlichen Rom lebt und die Krise verschärft, statt sie zu beheben. Als Papst BENEDIKT XVI. hat er die große Chance verpasst, das Zweite Vatikanische Konzil mit seinen zukunftsweisenden Impulsen auch im Vatikan zum Kompass der katholischen Kirche zu machen und ihre Reformen mutig voranzutreiben. Im Gegenteil, immer wieder relativiert er die Konzilstexte und interpretiert sie gegen den Geist der Konzilsväter nach rückwärts. Ja, er stellte sich sogar ausdrücklich gegen das Ökumenische Konzil, das nach der großen katholischen Tradition die oberste Autorität in der katholischen Kirche darstellt:

– Er hat außerhalb der katholischen Kirche illegal ordinierte Bischöfe der traditionalistischen Pius-Bruderschaft, die das Konzil in zentralen Punkten ablehnen, ohne Vorbedingungen in die Kirche aufgenommen.

– Er fördert mit allen Mitteln die mittelalterliche Tridentinische Messe und feiert selber die Eucharistiefeier gelegentlich auf Latein mit dem Rücken zum Volk.

– Er schürt ein tiefes Misstrauen gegenüber den evangelischen Kirchen, indem er nach wie vor behauptet, sie seien überhaupt keine Kirchen im eigentlichen Sinn.

– Er realisiert nicht die in offiziellen ökumenischen Dokumenten (ARCIC) vorgezeichnete Verständigung mit der Anglikanischen Kirche, sondern versucht, konservative verheiratete anglikanische Geistliche unter Verzicht auf die Zölibatsverpflichtung in die römisch-katholische Kirche zu locken.

– Er hat durch Ernennung antikonziliarer Chefbeamter (Staatssekretariat, Liturgiekongregation, Bischofskongregation u. a.) und reaktionärer Bischöfe in aller Welt die konzilsfeindlichen Kräfte in der Kirche gestärkt.

Papst Ratzinger scheint sich durch seine »Fauxpas«, schlimmen Fehltritte, zunehmend von der großen Mehrheit des Kirchenvolkes in unseren Ländern zu entfernen, das sich ohnehin immer weniger um »Rom« kümmert und sich bestenfalls noch mit der Ortsgemeinde und einem guten Seelsorger und vielleicht auch noch mit dem Ortsbischof identifiziert. Der Papst wird in seiner antikonziliaren Politik allerdings voll unterstützt von der römischen Kurie, in der man die konziliar gesinnten Kräfte isoliert und eliminiert hat. In der Zeit nach dem Konzil hat man wieder einen sehr effizienten Propagandaapparat aufgebaut, der ganz im Dienst des römischen Personenkultes steht. Die modernen Massenmedien (Fernsehen, Internet und YouTube) werden systematisch, professionell und erfolgreich für die eigenen Interessen eingesetzt. Schaut man auf die großen Massenveranstaltungen, gerade bei Papstreisen, könnte man meinen, es stünde in dieser Kirche alles zum besten. Aber entscheidend ist die Frage: was ist hier Fassade und was Substanz? Vor Ort sieht es jedenfalls anders aus.

2. Zerfall der kirchlichen Strukturen

Natürlich verkenne ich in keiner Weise die immense Arbeit, die in aller Welt vor Ort in Gemeinden geleistet wird: der unermüdliche seelsorgerliche und soziale Einsatz zahlloser Priester und Laien, Männer und vor allem Frauen; ich bin vielen solchen glaubwürdigen Glaubenszeugen in all den Jahrzehnten immer wieder begegnet. Wo stünde die deutsche Kirche heute ohne dieses unermüdliche Engagement? Wer aber dankt es ihnen? Wie viele von ihnen fühlen sich »von oben«, von römischer Politik, Theologie und Disziplin mehr behindert als gefördert! Aus aller Welt kann man Klagen vernehmen über den Zerfall traditioneller kirchlicher Strukturen, die durch all die Jahre und zum Teil durch Jahrhunderte aufgebaut worden waren.

Auch ich ganz persönlich fühle mich betroffen. Ich denke an den drastischen Abbau der Seelsorge nicht nur in der Universitätsstadt Tübingen und in der gesamten Diözese Rottenburg-Stuttgart, sondern auch in meiner Schweizer Heimatstadt Sursee bei Luzern, wohin ich jedes Jahr im Sommer zurückkehre und wo ich auch nach wie vor der Eucharistiefeier vorstehe. Aber es bereitet mir immer weniger Freude als früher. Denn was musste ich im August 2010 feststellen? Hier eine triste Momentaufnahme:

– Die Stadtpfarrei Sursee hatte durch die Jahrhunderte immer mindestens vier ordinierte Geistliche (»Vierherren«). Jetzt aber hat sie nicht einmal mehr einen einzigen ordinierten Pfarrer, sondern wird von einem Laientheologen und Diakon, MARKUS HEIL, geleitet, der ein hervorragender Pfarrer wäre, aber als Verheirateter nun einmal nicht zum Priester ordiniert werden darf. Deshalb macht er zwar mit seinem Team ausgezeichnete Arbeit, muss aber für die Eucharistiefeier auf pensionierte Priester zurückgreifen – solange es noch solche gibt. Der zölibatäre Klerus scheint auch in der Schweiz zum Aussterben verurteilt zu sein. Niemand weiß, in Sursee und anderswo, wie es mit der Seelsorge und vor allem der regelmäßigen Eucharistiefeier weitergehen soll.

– Die Kapuziner, seit Anfang des 17. Jahrhunderts eine mächtige Unterstützung für die Seelsorge, mussten ihr Kloster in Sursee wie anderswo mangels Nachwuchses schließen und verkaufen. Auch Nachwuchs für den Diözesanklerus ist äußerst rar.

– Die nahe Theologische Fakultät Luzern, aus der im vergangenen Jahrhundert die Universität hervorging, muss ebenfalls um ihre Existenz bangen; wegen rückläufiger Studentenzahlen soll sie nach den Plänen mancher Politiker zu Gunsten des Ausbaus einer »Gesundheitsfakultät« mit der Katholisch-Theologischen Fakultät in Fribourg oder aber mit der Evangelisch-Reformierten Theologischen Fakultät Zürich zusammengelegt werden. Studierende der Katholischen Theologie gibt es in der Schweiz zu wenige, und Ausbildungsstätten zu viele.

– Der zuständige Bischof von Basel, KURT KOCH, wenig beliebt wegen seiner römischen Linientreue, seiner Opposition zum bewährten eidgenössischen Staatskirchenrecht mit starker Laienrepräsentation und wegen seines jahrelangen Konflikts mit einer Kirchengemeinde nach der willkürlichen Absetzung ihres Pfarrers – dieser Bischof hatte beinahe fluchtartig Ende Juli 2010 seine Diözese verlassen und von Rom aus seinen Rücktritt angekündigt, wo er ebenso unvermittelt zum Chef des Sekretariats für die Einheit der Christen ernannt worden ist. Von ihm wird im römischen Kontext noch die Rede sein müssen. Dass der vom Domkapitel gewählte neue junge Bischof FELIX GMÜR, der im Januar 2011 sein Amt antritt, sich besser bewähren wird, hofft man allgemein.

Der Zustand meiner Heimatgemeinde ist typisch für sehr viele andere in aller Welt. Angesichts der Wahl des neuen Bischofs von Basel sei es »spürbar, wie viele Menschen unsere Kirche bereits innerlich abgeschrieben haben«, schrieb der Gemeindeleiter von Sursee im Vorfeld der Wahl. »Vielleicht merken wir sogar in uns, dass da und dort Resignation sich breitgemacht hat. Diese Resignation beinhaltet, dass eh alles so bleibt wie es ist.«

Die Auszehrung der Kirche schreitet auch in anderen Weltregionen fort: Zehntausende Priester haben seit dem Konzil, vor allem wegen des Zölibatsgesetzes, ihr Amt aufgegeben. Der Nachwuchs an Priestern, aber auch an Ordensleuten, Schwestern und Laienbrüdern, hat in quantitativer wie qualitativer Hinsicht abgenommen. Resignation und Frustration breiten sich im Klerus und gerade unter den aktivsten Kirchenmitgliedern aus. Viele fühlen sich mit ihren Nöten im Stich gelassen und leiden an der Reformunfähigkeit der Kirche. In vielen Diözesen gibt es immer mehr leere Gotteshäuser, Priesterseminarien, Pfarrhäuser. In manchen Ländern werden Kirchgemeinden wegen Priestermangel, oft gegen ihren Willen, zusammengelegt zu riesigen »Seelsorgeeinheiten«, in denen die wenigen Priester völlig überlastet sind und wodurch eine Kirchenreform nur vorgetäuscht wird.

Kanon 515 des kirchlichen Gesetzbuches gibt jedem Bischof die uneingeschränkte Macht, Pfarreien zu errichten und sie auch wieder aufzuheben. Dieser Kanon wurde kürzlich auch vom obersten Gericht der römischen Kurie zitiert zur Unterstützung SEAN O’MALLEY von Boston, gegen den zehn Pfarreien, die von ihm aufgehoben worden waren, an den Heiligen Stuhl appelliert hatten – natürlich vergebens! Seither geht in den USA das Wort um, das leider nicht nur für die USA gilt: »No parish is safe – keine Pfarrei ist sicher«. Sicher sind sie vielleicht vor Kirchenräubern, nicht aber vor »rationalisierenden« diözesanen und römischen Kirchenoberen. Lieber geben diese die Eucharistiefeier auf, das Zentrum der neutestamentlichen Gemeinde, um des »heiligen« mittelalterlichen Zölibatsgesetzes willen. Schließlich kann man so nicht nur Priester sparen, sondern auch Bischof RICHARD LENNON in seiner Diözese Cleveland/Ohio 27 Pfarreien geschlossen und plant, 41 andere zu 18 Pfarreien zu fusionieren. Auch diese Betroffenen appellieren an Rom – angesichts der dortigen uneinsichtigen Bürokraten ebenfalls vergebliche Liebesmüh. Als »Christenverfolgung von oben« bezeichnet man vielerorts in Deutschland solche Fusion von Pfarreien.

Ich vermute, ein Theologe wie JOSEPH RATZINGER, der mehr als drei Jahrzehnte am vatikanischen Hof gelebt hat, kann kaum verstehen, wie weh mir ums Herz wird, wenn ich in meiner Heimatpfarrei im Sonntagsgottesdienst, wo ich in früheren Jahrzehnten eine volle Kirche vorfand, jetzt manchmal nur wenige Dutzend Gläubige vor mir sehe. Doch ist dies nicht, wie von Rom immer wieder behauptet, nur eine Folge der wachsenden Säkularisierung, sondern auch eine Folge einer von Rom zu verantwortenden fatalen binnenkirchlichen Entwicklung. Noch gibt es mancherorts aktive katholische Jugendgruppen und funktionierendes Gemeindeleben, getragen von tapferen Frauen und Männern der Gemeinde. Aber immer mehr scheint die Kirche aus dem Bewusstsein der jungen Generation zu entschwinden. Man ärgert sich nicht einmal mehr über die weltfremde Rückständigkeit der Hierarchie in so vielen Fragen von Moral und Dogma. Man interessiert sich nicht mehr für die Kirche, sie ist für das Leben vieler junger Menschen bedeutungslos geworden. Aber im Vatikan merkt man davon kaum etwas. Da brüstet man sich mit noch immer hohen Pilgerzahlen, auch wenn viele davon schlicht Touristen sind, und hält die päpstlichen Jugendtreffen für repräsentativ für »die Jugend«.

3. Die gescheiterte Restaurationspolitik zweier Päpste

Es erstaunt immer wieder, wie auch säkulare Zeitgenossen, die sich nicht der Kirche zugehörig fühlen, und ästhetisierende Intellektuelle sich blenden lassen von wieder verstärkter barocker Prachtentfaltung und von medienwirksamen liturgischen Inszenierungen, womit man in Rom eine starke Kirche und einen unangefochtenen Papst zu demonstrieren versucht. Doch kann aller sakrale Prunk nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Restaurationspolitik JOHANNES PAULS II. und BENEDIKTS XVI. aufs Ganze gesehen gescheitert ist. Alle päpstlichen Auftritte, Reisen und Lehrdokumente vermochten die Auffassungen der meisten Katholiken in kontroversen Fragen nicht im Sinne römischer Doktrin zu verändern. Und selbst päpstliche Jugendtreffen, besucht vor allem von konservativen charismatischen Gruppierungen und gefördert von traditionalistischen Organisationen, konnten weder die Kirchenaustritte bremsen noch mehr Priesterberufungen wecken. Selbst in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die gemeinhin als aufgeschlossen gerühmt wird, sind von Januar bis Mitte November 2010 insgesamt 17 169 zutiefst enttäuschte Katholiken, also 0,9 % der Gesamtmitgliederzahl, ausgetreten.

Die oben skizzierte Auszehrung der Kirche ist in den vergangenen drei Jahrzehnten sehr weit fortgeschritten. Aber sie wurde weithin als unabänderliches Schicksal hingenommen, murrend zwar und klagend, aber letztlich gott- oder papstergeben. Aufgeschreckt wurde die ganze Weltöffentlichkeit erst durch die sich häufenden himmelschreienden Sexualskandale im Klerus: vor allem der Missbrauch von Tausenden von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker, in den Vereinigten Staaten, Irland, Belgien, Deutschland und anderen Ländern – dies alles verbunden mit einer nie dagewesenen Führungs- und Vertrauenskrise.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass das weltweit in Kraft gesetzte Vertuschungssystem von klerikalen Sexualvergehen gesteuert war von der römischen Glaubenskongregation unter der Leitung von Kardinal JOSEPH RATZINGER (1981–2005), wo schon unter Johannes Paul II. unter strengster Geheimhaltung die Fälle gesammelt wurden. Noch am 18. Mai 2001 sandte Ratzinger ein feierliches Schreiben über die schwereren Vergehen (»Epistula de delictis gravioribus«) an alle Bischöfe. Darin werden die Missbrauchsfälle unter das »Secretum Pontificium« gestellt, bei dessen Verletzung man sich schwere Kirchenstrafen zuziehen kann. Dieses Schreiben wurde bisher nicht zurückgezogen.

Zu Recht fordern deshalb viele vom damaligen Präfekten und jetzigen Papst ein persönliches »Mea culpa«. Doch leider hat er in der Karwoche 2010 die Gelegenheit dafür verpasst. Stattdessen ließ er sich am Ostersonntag 2010 in einer so noch nie dagewesenen peinlichen Zeremonie zu Beginn der feierlichen Messe vom Dekan des Kardinalkollegiums, Kardinal ANGELO SODANO, dem früheren Staatssekretär, seine Unschuld »urbi et orbi« attestieren. Dabei war gerade Sodano selber wegen peinlicher Verwicklungen in die öffentliche Kritik geraten. Der Papst hat die Missbrauchsfälle zwar immer wieder bedauert, zu seiner persönlichen Verantwortung jedoch hat er geschwiegen, wie auch viele Bischöfe geschwiegen haben. Auch im neuesten Papstbuch »Licht der Welt« nimmt er zu seiner Rolle keine Stellung. Das ist kein Zufall, sondern strukturbedingt.

4. Von der »winterlichen« zur kranken Kirche

Schon bald nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte der große Konzilstheologe KARL RAHNER das Wort von der »winterlichen« Kirche geprägt, das von vielen aufgenommen wurde. Und als ihm der erste Romano-Guardini-Preis verliehen wurde, wagte er es beim Festakt in München am 18. März 1970, die »institutionalisierte Mentalität« der Bischöfe als »feudalistisch, unhöflich und paternalistisch« zu charakterisieren. Mit zwei Ausnahmen hatten diese nämlich ein von ihm verfasstes und von anderen Theologen mit unterzeichnetes vertrauliches »Memorandum zur Zölibatsdiskussion« nicht einmal durch eine Empfangsbestätigung gewürdigt.

Die beim Festakt anwesenden Kardinäle JULIUS DÖPFNER und HERMANN VOLK und weitere Bischöfe zeigten über Rahners Worte nicht etwa Besinnung, gar Zerknirschung, vielmehr Unverständnis, Zorn und Wut. Ab diesem Zeitpunkt war Karl Rahner auch bei diesen als fortschrittlich geltenden Kirchenmännern nicht mehr »persona grata«. Und für den kommenden Bischof und Kardinal KARL LEHMANN, früher Karl Rahners Assistent, »wird an diesem Tag klar, dass sein Weg in der Kirche nicht der seines theologischen Lehrers K. Rahner sein könne« (so sein autorisierter Biograph Daniel Deckers). Dem Jesuiten Karl Rahner, der papsttreu noch 1968 die Zölibatsenzyklika Pauls VI. im Auftrag von Kardinal Döpfner publizistisch durch einen massenhaft verbreiteten Offenen Brief an den Klerus wirksam unterstützt hatte, wurden jetzt wie mir später »provozierende Formulierungen, peinliche Bloßstellung, Skandalisierung – all die medienwirksamen Instrumente öffentlicher Inszenierung von Konflikten und Kontroversen« vorgeworfen. Seither waren Zwangszölibat und wachsender Priestermangel für die Deutsche Bischofskonferenz erst recht tabuisiert und blieben es auch unter dem Vorsitz Lehmanns – bis zum Ruchbarwerden der zahllosen vertuschten Fälle von sexuellem Missbrauch unter dem Vorsitz von Lehmanns Nachfolger Erzbischof ROBERT ZOLLITSCH.

Karl Rahner starb in winterlicher Resignation im Jahr 1984 – ohne unter einem neuen Papst einen neuen Frühling der Kirche erlebt zu haben. Was würde er wohl zum Zustand seiner Kirche 25 Jahre später sagen? Es ist bitter: Unsere gemeinsame Hoffnung auf einen Johannes XXIV. hat sich nicht erfüllt. Sicher würde mir Rahner – nach all den üblen Erfahrungen in drei Jahrzehnten römischer Restauration – zustimmen: An einen baldigen Frühling nach einem eisigen Winter kann man angesichts der Wahl des Chefs der Glaubensinquisition zum Papst und der Kreierung Dutzender neuer konformer Kardinäle nicht mehr glauben, man muss diese Kirche vielmehr als ernsthaft krank bezeichnen. Dabei geht es nicht nur etwa um individuelle, »ekklesiogene, von der Kirche erzeugte Neurosen«, auf die der katholische Psychotherapeut ALBERT GÖRRES schon vor vielen Jahren hingewiesen hatte. Es geht darüber hinaus um pathologische, krankhafte Strukturen der Kirche selbst, die für viele die Frage nahelegen: Ist diese Kirche nicht vielleicht sterbenskrank, todkrank?

In meiner Einschätzung der Lage des Zustands der Kirche fühle ich mich bestätigt durch die mit vielen Umfrageergebnissen untermauerte Analyse von THOMASVON MITSCHKE-COLLANDE, Director Emeritus der Unternehmensberatung McKinsey/Deutschland und selbst engagierter Katholik, vom September 2010, unter dem Titel »Kirche – was nun? Die Identitätskrise der katholischen Kirche in Deutschland«. Fünf Dimensionen des Problems greifen ihm zufolge ineinander und verstärken sich gegenseitig: die Glaubenskrise, die Vertrauenskrise, die Autoritätskrise, die Führungskrise, die Vermittlungskrise. Aus verschiedenen Gründen zweifeln viele Menschen an ihrem Glauben an Gott, können in dieser Situation aber nur wenig Vertrauen in die Kirche und ihre Vertreter entwickeln, was ihnen sehr helfen würde. Und das ist verständlich, denn die Autorität der Kirche hat einen Tiefpunkt erreicht, weil sie selbst von einer tiefen Führungskrise geschüttelt wird und ihren offiziellen Glauben kaum mehr verständlich erklären und bezeugen kann.

Viele Ereignisse des Jahres 2010 verschlimmerten den Gesundheitszustand der katholischen Kirche. Sie wirkten buchstäblich wie Schüttelfröste, die den Leib der Kirche zum Zittern brachten und – um in diesem Bild zu bleiben – ein rasch ansteigendes Fieber ankündigten.

5. Fieberschübe

Ein »Fieberschauer« (»shiver«) habe die katholische Kirche erfasst, erklärte am 13. September 2010 in Brüssel auch Erzbischof ANDRÉ-JOSEPH LÉONARD, Präsident der Belgischen Bischofskonferenz. Dieser konservative Kirchenrechtler, den Rom der belgischen Kirche gegen den Mehrheitswunsch als Präsidenten vorgesetzt hatte, sprach dabei allerdings nur einen bestimmten Krankheitsherd an, der im katholischen Belgien erschreckend deutlich wurde. Faktisch traten aber in der katholischen Kirche im Jahr 2010 gleich mehrere Fieberschübe auf, die sich in der Kirche mit fieberfreien Intervallen, meistens in Festzeiten, abwechselten.

Erster Fieberschub: polizeiliche Untersuchung gegen Bischöfe. In Belgien hatte eine unabhängige Untersuchungskommission auf zweihundert Seiten von mindestens 475 Fällen von klerikalem Kindermissbrauch berichtet und von 19 Suizidversuchen von Opfern, von denen 13 tragischerweise erfolgreich waren. Seit im April 2010 der Bischof von Brügge, ROGER VANGHELUWE, wegen sexuellen Missbrauchs seines eigenen Neffen zurücktreten musste, häuften sich die Anzeigen. Da akute Verdunkelungsgefahr bestand, ordnete die belgische Justiz drei Polizeirazzien innerhalb eines Tages an:

– Eine erste während einer Sitzung der belgischen Bischofskonferenz in Brüssel: dabei wurden sämtliche Bischöfe Belgiens zusammen mit dem apostolischen Nuntius mehrere Stunden festgehalten und eine Fülle von Akten abtransportiert.

– In der privaten Residenz von Kardinal GODFRIED DANNEELS, der bis Ende 2009 als Primas von Belgien amtiert hatte, wurden ebenfalls Akten sichergestellt.

– In Löwen wurde das mit Missbrauchsfällen befasste Zentrum, das unter der Leitung des Kinderpsychiaters Peter Adriaenssen gearbeitet hatte, durchsucht. Dieser hatte von einer »Affaire Dutroux der belgischen Kirche« gesprochen.

Das alles waren unerhörte Ereignisse in einem katholischen Land, welche die Temperatur auch in anderen Bischofshäusern und vor allem im Vatikan steigen ließen. Zwar erklärte das Brüsseler Appellationsgericht, von der Kirche bedrängt, in der Folge die Polizeiaktion wegen Unverhältnismäßigkeit für illegal. Aber es ist keine Frage, dass die Untersuchungen marode Stellen des Kirchensystems sichtbar gemacht haben – einerseits die Sexualdelikte, andererseits die bischöflichen Vertuschungen.

Zumindest Kardinal Danneels hat sich sofort in mehreren Interviews für seine »schweren Fehler« entschuldigt, dass er jenen Bischof von Brügge im Amt belassen wollte und dessen während dreizehn Jahren missbrauchten Neffen zu bewegen versuchte, seine Klage zurückzuziehen. Gleichzeitig aber erklärte der für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zuständige Bischof GUY HARPIGNY, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Léonard, hätte keine klare Entschuldigung ausgesprochen, weil man finanzielle Schadenersatzforderungen der Opfer fürchte. Offensichtlich aber sind auch in katholischen Ländern die Zeiten vorbei, da die katholische Kirche für sich eine eigene Gerichtsbarkeit beanspruchen konnte und ihr eigenes Recht gegenüber dem Staat durchzusetzen vermochte, der übrigens in Belgien jährlich etwa 300 Millionen Euro an die Kirche bezahlt. Und all das ereignete sich in einer Kirche, deren Seelsorgesituation zu größter Sorge Anlass gibt: Zwei Drittel des belgischen Klerus sind über 55 Jahre alt, und ein Drittel älter als 65. Zur Zeit bereiten sich aber nur 28 Studenten auf das Priesteramt vor. Wie viele von ihnen werden sich wohl nach diesen Ereignissen noch ordinieren lassen?

Zweiter Fieberschub: Vatikan zur Rechenschaft gezogen. Das oberste Gericht der USA (»Supreme Court«) lehnte den Rekurs ab, mit dem der Vatikan das Urteil eines Gerichts im Staat Oregon anfechten wollte, der Vatikan könne wegen sexueller Missbrauchsfälle, die durch Priester verübt wurden, vor Gericht gestellt, verurteilt und zur Zahlung von Strafgeldern aus den vatikanischen Finanzen verpflichtet werden. Das US-Gericht verwarf also die vatikanische Position, die sich auf die juristische Immunität eines souveränen Staates berief. Rechtsanwalt JEFF ANDERSON (St. Paul/Minnesota), ein höchst erfolgreicher Sammelkläger wegen Sexualmissbrauchs, dessen Tochter ebenfalls von einem Ex-Priester missbraucht worden war, erklärte, dass damit nach acht Jahren der Verhinderung seit 2002 der Weg frei sei für eine Anklage, dass der Vatikan für seine Vertuschung der Missbrauchsfälle strafrechtlich verantwortlich sei. Demnächst soll die Klage nun gegen Kardinal ANGELO SODANO, den früheren Staatssekretär und jetzigen Dekan des Kardinalskollegiums, und gegen den jetzigen Staatssekretär Kardinal TARCISIO BERTONE gerichtet werden. Aber danach könne die Anklage auch gegen Papst Ratzinger erhoben werden. Denn dieser habe, wie die New York Times ausführlich berichtete, als Präfekt der Glaubenskongregation auf alle Sanktionen gegen den Priester Lawrence Murphy verzichtet, der von 1950 bis 1975 in Milwaukee rund 200 gehörlose Jungen missbraucht habe. Auch wenn der Papst als Staatsoberhaupt Immunität genießt, so sind das in jedem Fall desaströse Aussichten.

Dritter Fieberschub: vatikanische Geldwäsche. Früher wurde der Vatikan kritisiert, weil Firmen, in denen er finanziell engagiert war, an der Rüstungsindustrie oder an Herstellung und Handel mit Anti-Baby-Pillen beteiligt waren. 2009 musste der Präsident der Vatikanbank zurücktreten, weil er offensichtlich allzu sehr belastet wurde durch das Enthüllungsbuch »Vatikan AG« des italienischen Journalisten GIANLUIGI NUZZI, von dem noch die Rede sein wird. Als neuen Schock traf den Vatikan 2010 die Nachricht, dass die italienischen Behörden 23 Millionen Euro auf einem Konto der Vatikanbank bei der italienischen Bank Credito Artigiano konfisziert hatten und dass gegen den neuen Präsidenten der Vatikanbank, den Opus-Dei-nahen ETTORE GOTTI TEDESCHI, und ihren Generaldirektor PAOLO CIPRIANI Verfahren eingeleitet wurden. Alles – nach all den früheren Skandalen – wohl nur die Spitze des Eisbergs. Der Vatikan jetzt also nicht nur juristisch, sondern auch finanzpolitisch in seiner »staatlichen« Unabhängigkeit bedroht? Und der jeweilige Papst als juristischer Alleineigentümer der Bank haftbar? Zumindest die neuen EU-Richtlinien über Geldwäsche gelten jetzt auch für den Vatikan. Darauf werde ich im Kapitel VI näher eingehen.

Vierter Fieberschub: Krach in der obersten Kirchenleitung. Der Erzbischof von Wien, Kardinal CHRISTOPH SCHÖNBORN, ein Protégé von Kardinal Ratzinger bzw. Papst Benedikt, behauptete, der damalige Kardinal-Staatssekretär Angelo Sodano sei dafür verantwortlich, dass ein Verfahren gegen den Kinderschänder Kardinal Hans Hermann Groër, Schönborns Vorgänger, blockiert wurde, obwohl die österreichische Bischofskonferenz verkündet hatte, sie sei in Bezug auf die Schuld Groërs »moralisch sicher«. Der pädophile Kardinal trat zwar 1995 zurück, durfte aber noch in vollem Ornat an der Installation Kardinals Schönborns in Rom teilnehmen. Es erfolgte keine Verurteilung bis zu seinem Tod am 24. März 2003. Aber im Vatikan erregte man sich offensichtlich mehr über Schönborns offene Kritik an Kardinal Sodano und seine relativierenden Äußerungen zu Priesterzölibat und Homosexualität. Jedenfalls wurde er nach Rom beordert, was man in Österreich als Canossagang verstand. Nach dem Gespräch zu viert (auch Kardinal-Staatssekretär Bertone wurde hinzugezogen) erfolgte eine Presseerklärung, die keine Kritik an Sodano enthielt, vielmehr in der Behauptung gipfelte, Kritik an Kardinälen falle allein in die Zuständigkeit des Papstes. Warum denn und seit wann? Offensichtlich erforderte die Kirchenraison diese unerhörte Demütigung des Erzbischofs von Wien. Ob freilich, wie es in der Presseerklärung heißt, die »große Zuneigung« des Heiligen Vaters zu Österreich und die Anrufung des »himmlischen Schutzes Mariens, die in Mariazell so sehr verehrt wird«, den »Weg einer erneuerten kirchlichen Gemeinschaft« eröffnen wird, ist mehr als fraglich. Aber dass Kardinal Schönborn solch offene Kritik an einem der Mächtigen in der Kurie gewagt hat, wird in Österreich positiv gewertet.

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