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Sophie blickt auf ein Leben voller Brüche und Tiefen zurück. Der Willkür einer exzentrischen Mutter ausgesetzt, büßt sie ein Stück Kindheit ein. Emotionaler Missbrauch hinterlässt Narben auf ihrer Seele und verändern ihren Charakter, ihr Innerstes rebelliert. Der Drang nach Genugtuung lässt sie zur Scharfrichterin über all jene werden, die sie ungerecht behandeln, Sophie rächt sich. Im jungen Erwachsenenalter entschädigt das Schicksal sie für jahrelange Demütigungen, die Lebensfreude ist zurück. Beruflicher Erfolg und Glück in der Liebe stärken ihr Selbstbewusstsein über ein gesundes Maß hinaus. Sie verliert den Bezug zur Realität, die Beziehung scheitert. Das Trauma ihrer Kindheit, der ungelöste Konflikt mit der Mutter, die keine Gelegenheit auslässt, ihr eins auszuwischen, überschattet ihr weiteres Leben. Dann ist er da, der Tag der Abrechnung. Die Geschichte bezieht sich auf den Zeitraum von 1937-1999. Schauplätze sind Hessen, Baden-Württemberg, Graz/Österreich und der Jemen.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1 – Die verborgenen Tiefen der Psyche
Kapitel 2 – Mein Eldorado bittersüß
Kapitel 3 – Die zweite Identität
Kapitel 4 – Dramenspiele
Kapitel 5 – Klaus
Kapitel 6 – Ein Geschenk des Himmels
Kapitel 7 – Der Störenfried
Kapitel 8 – Auf Regen folgt Sonnenschein
Kapitel 9 – Die Bestimmung
Kapitel 10 – Widersprüchliche Gefühle
Kapitel 11 – Henning
Kapitel 12 – Geklautes Geld – Sündengeld
Kapitel 13 – Die Lossagung
Kapitel 14 – Liebe fehlinterpretiert
Kapitel 15 – Weiblicher Narzissmus
Kapitel 16 - Selbstsabotage
Kapitel 17 – Der Zyklus des Lebens
Kapitel 18 – Das andere Kind
Kapitel 19 – In Audrey Hepburn-Laune
Kapitel 20 – Das Werk des Bösen
Kapitel 21 – Das Hochzeitskleid
Kapitel 22 – Rigoroser Neuanfang
Kapitel 23 – Das Unerwartete
Kapitel 24 – Die alte Leier
Kapitel 25 – Des Teufels Lächeln
Kapitel 26 – Die Reise in den Jemen
Yara Sylver
Ist wie Stacheldraht kauen
Roman
Buchbeschreibung:
Sophie blickt auf ein Leben voller Brüche und Tiefen zurück.
Der Willkür einer exzentrischen Mutter ausgesetzt, büßt sie ein Stück Kindheit ein.
Emotionaler Missbrauch hinterlässt Narben auf ihrer Seele und verändert ihren Charakter,
ihr Innerstes rebelliert. Der Drang nach Genugtuung lässt sie zur Scharfrichterin über all jene werden, die sie ungerecht behandeln, Sophie beginnt sich zu wehren.
Im jungen Erwachsenenalter entschädigt das Schicksal sie für jahrelange Demütigungen, die Lebensfreude ist zurück. Beruflicher Erfolg und Glück in der Liebe stärken ihr Selbstbewusstsein über ein gesundes Maß hinaus. Sie verliert den Bezug zur Realität, die Beziehung scheitert.
Das Trauma ihrer Kindheit, der ungelöste Konflikt mit der Mutter, die keine Gelegenheit auslässt, ihr eins auszuwischen, überschattet ihr weiteres Leben. Dann ist er da, der Tag der Abrechnung.
Impressum:
Texte: © Copyright by Yara Sylver
Umschlaggestaltung: © Copyright by Yara Sylver
Yara Sylver
c/o M. Schäfer
Hahnenrückstr. 51
55743 Idar-Oberstein
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Katharina die Große war das Vorbild meiner Großmutter Hermine. Der Einfluss dieser wohl mächtigsten Frau des 18. Jahrhunderts imponierte ihr. Schon im Kindesalter verschlang sie historische Erzählungen und Biographien und schlüpfte mehr und mehr in die Rolle der russischen Zarin. Und um nicht nur gedanklich die Feldherrin raushängen zu lassen oder sich vor dem Spiegel als solche darzustellen, suchte sie ein geeignetes Opfer, einen selbstkreierten Feind, der sich mühelos bekämpfen ließ und der unter ihrer Fuchtel stand.
Till musste herhalten, ihr vier Jahre jüngerer Bruder. Hinter dem Rücken ahnungsloser Eltern waren für ihn Schikanen und Schmähungen fortan an der Tagesordnung. Aus dem lebhaften 9-Jährigen, der sein Martyrium unter Androhung von Folter und sonstigen Strafen hinnahm, wurde in kürzester Zeit ein verängstigtes, introvertiertes Kind, über dessen Verhalten auch die Lehrer rätselten.
Hermine langweilte sich schnell, gegen den laschen Widerstand eines Duckmäusers anzugehen. Ein Hasenfuß, der nicht zum Krieger taugte, verdiente nicht die Achtung der Herrscherin.
Um die Zuneigung seiner Schwester zurückzuerobern, wollte Till mit einer Mutprobe Stärke beweisen und sprang von einer zwanzig Meter hohen Brücke in den Fluss. Feuerwehrleute bargen später seine Leiche. Die Polizei ermittelte und schloss ein Fremdverschulden aus, weil der Junge über eine meterhohe Absperrung geklettert war, die er nur alleine überwunden haben konnte. Die große Schwester hätte laut Zeugenaussagen das Unglück nicht verhindern können. Sie war vorausgegangen und hatte das Drama hilflos mit ansehen müssen.
In schlaflosen Nächten suchte die Mutter nach Antworten für den vermeintlichen Freitod ihres Kindes und fand sie schließlich in Hermines Tagebuch. Darin ausgeschmückt festgehalten detaillierte Grausamkeiten und sadistische Empfindungen. Aus Scham und Angst vor den Folgen verbrannte sie die Aufzeichnungen und schwieg auch ihrem Mann gegenüber. Der Verlust ihres Buben und die Tatsache, dass die Tochter vom Teufel besessen war, führte bei ihr zu einem gebrochenem Herzen. Sie verstarb.
Von Schuldgefühlen geplagt, kehrte Hermine kurzzeitig in die Normalität zurück. Das Böse aber schlummerte weiter in ihr und übertrug sich später auf ihr Kind – meine Mutter. Ein manipulatives Verhalten war Mutter quasi in die Wiege gelegt worden. Mich zu dominieren war ihr eine große Befriedigung.
Heute bin ich sechzig und lasse mein komisches Leben noch einmal Revue passieren, das nun zu Ende geht.
Über ein Jahr ist es her, als mir ein Oberarzt mit gütigen Augen hinter einer Nickelbrille behutsam mitteilte, dass die Zyste im Unterleib in Wahrheit ein bösartiger Tumor war, der nur teilweise entfernt werden konnte. Er hätte auch sagen können Ihre Zeit ist abgelaufen oder, Sie werden demnächst ins Grasbeißen oder Sie werden abkratzen, weil brutaler als das Leben Worte nicht sein können. Mich schreckt der Tod nicht, habe mich oft genug damit auseinandergesetzt. Auch mit dem Tod anderer, den ich herbeigeführt habe. Mag sein, dass der Krebs als Strafe gedacht ist für mein ständiges Hadern mit Gott und für begangenes Unrecht – ich betrachte ihn als Geschenk.
Ich darf nicht leugnen, dass es auch gute Zeiten und wirklich schöne Momente gab, bloß war mein hart erkämpftes Glück nie von Dauer. Wegen der Neider oder weil es das Schicksal in seiner Gnadenlosigkeit nicht zuließ.
Zum Trotz und weil Rebellion ein ausgeprägter Charakterzug von mir ist, wollte ich Gottes Plan durchkreuzen und den Zeitpunkt meines Ablebens selbst bestimmen. An einem Ort, wo es mir leichtfällt, der Welt Adieu! zu sagen. Ich entschied mich für den Jemen, ein Land, trist und ungastlich. Wo Lebensfeindlichkeit regiert, die, mit dem Rechtsempfinden der Muslime Gleiches mit Gleichem zu vergelten, meinen Lebensweg widerspiegelt und die Philosophie, die daraus entstanden war. Wer anderen Leid zufügt, der muss Leid erfahren. Und wer tötet, dem soll Leben genommen werden. Seines oder das eines Familienangehörigen. Eine andere Gerechtigkeit gibt es nicht. Was ich im Jemen erlebte und warum ich meine Entscheidung rückgängig machte, hebe ich mir für den Schluss auf. Möglicherweise erschreckt Sie die Brutalität meiner Geschichte und Sie verachten mich für das, was ich getan habe. Vielleicht lassen Sie aber auch Gnade vor Recht ergehen, wenn Sie am Ende des Buches angelangt sind.
*
Ich wurde am 7. April 1939 gegen Mitternacht in einem kleinen Ort nah an Darmstadt geboren, an dessen Namen sich durch die Eingemeindung heute kaum einer erinnert.
Das 600-Seelen-Dorf blieb von den Kriegswirren weitgehend verschont. Nur an zwei Tagen füllte ein kleiner Trupp US-Soldaten Essensvorräte dort auf und Mutter nutzte die Gelegenheit, mich entstehen zu lassen. Um die Schande abzuwenden, lebte sie bis kurz vor der Niederkunft bei Verwandten im Schwäbischen und streute nach ihrer Rückkehr die Lüge, mein Vater, ein Colonel, sei im Kugelhagel umgekommen. Da sie eine Heiratsurkunde vorweisen konnte und ein Hochzeitsfoto herumreichte, zweifelte niemand den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte an.
Getauft wurde ich auf den Namen Sophie Friederike – zweiter und dritter Vorname von Katharina der Großen. Oma hatte darauf bestanden. Mutter war mein Name egal und ich erst recht. Besorgt war sie allein um ihr Liebesleben, das in dem Kaff zu kurz kam, da zu jener Zeit nur Krüppel oder alte Männer das Dorfbild prägten. Darum wollte sie weg. Und ich, der Klotz an ihrer Hacke, sollte bleiben.
Großmutter, eine mittelgroße schlanke Frau mit herben Gesichtszügen und lauerndem Blick, wollte ihr die Flausen auszutreiben. „Du bleibst schön hier! Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich um dein Kind zu kümmern.“
„Was denn bloß? Du glotzt die meiste Zeit des Tages aus dem Fenster und redest wirres Zeug.“
„Von wegen! Mein hohes Amt fordert meine ganze Kraft. Draußen tobt die Meute und ich muss...“
Mutter übertönte sie mit haltlosem Gelächter. „Was tobt, ist das Zeugs in deinem Kopf. Dich regiert der Wahn. Du brüllst Kommandos durchs Haus und lässt dich von vorn bis hinten bedienen.“
„Ich delegiere“, korrigierte Oma sie. „Von allein machst du dochkeinen Finger krumm. Einzig dein Vater, der als Vertreter des Kirchenamtes große Verantwortung trägt, weiß um seine Pflicht und kommt ihr nach.“
„Der Alte putzt den Altar, wechselt Kerzen aus und geht während des Gottesdienstes mit dem Klingelbeutel durch die Reihen. Und er begrapscht Ministranten, weil du ihn nicht mehr ran lässt.“ Es war eine bloße Behauptung.
Großmutter durchzuckte es, sie bekam hektische Flecken am Hals. „Du respektlose Göre! Wenn du noch einmal derartig Widerliches von dir gibst, dann, dann...!“ Ihr fiel nichts ein, das eine Drohung eindrucksvoll klingen ließ.
„Einen Pantoffelhelden hast du aus ihm gemacht“, warf Mutter ihr vor. „Du schreist, er kuscht und kriecht dir hinten rein. Dafür verachte ich ihn und dich dazu.“
Ruckartig kam Großmutter hoch, der Schmerz schoss ihr in den Ischiasnerv. Sie fiel zurück und legte mit verzerrter Miene die Hand auf die stechende Stelle.
Mutter lachte sie aus und bekam die Quittung.
„Pack deine Habseligkeiten und verschwinde“, sagte Großmutter voller Verachtung. „Sieh zu, wie du mit deinem Bastard klarkommst. Scheitern wirst du. In der Gosse wirst du landen und froh über jeden Groschen sein, den dir die Leute vor die Füße werfen. Hau ab! Und komm bloß nicht wieder angekrochen. Hühnerblut werde ich über dich gießen.“ Und leise: „Und jetzt will ich mich nicht mehr aufregen. Die Waffen ruhen, ich habe Urlaub.“
„Du bist meschugge“, höhnte Mutter. „Darum meiden dich auch alle wie die Pest. Weißt du, was sie dir hinterherrufen? 'Seht mal, da geht die verrückte Zarin.' Du bist die Lachnummer der ganzen Gemeinde, des ganzen Landkreises.“
Ein Seufzer rollte über Großmutters Lippen, der Schmerz schien verschwunden zu sein. Sie lächelte. „Haben sie mich endlich als Thronfolgerin akzeptiert. Bravo! Ehre, wem Ehre gebührt.“
Mutter packte noch in derselben Nacht ihre Sachen und verschwand.
*
Mein Opa galt als warmherzig und hilfsbereit. Alle mochten und respektierten ihn. Er kümmerte sich rührend um mich, stets darauf bedacht, dass seine närrische Frau keinen Einfluss auf mich nahm. Tagsüber wusste er mich bei Frau Kolbeck, eine Nachbarin, die selbst schon Enkel hatte, in guten Händen. Abends und an den Wochenenden ging er in seiner Rolle als Großvater auf.
Ich war zwei, als er eine schwere Lungenentzündung bekam und ihm der Arzt wenig Hoffnung auf Heilung machte. Da Oma mit seiner Pflege und allem sonst überfordert war und drohte mich wegzugeben, ließ Opa Mutter eine Nachricht zukommen mit der Aufforderung, mich zu sich zu holen. Die Adresse hatte ihm eine alte Schulfreundin Mutters für zehn Mark verraten.
Opa war ganz und gar nicht geheuer bei dem Gedanken, mich Mutter an die Hand zu geben und er sah schwarz für meine Zukunft, nur wusste er sich keinen anderen Rat.
Es klingelte Sturm. Oma war nicht da, darum öffnete ich die Tür. Als ich den stechenden Blick dieser mir fremden Frau sah, wich ich erschrocken zurück. Mutter trat über die Schwelle, stellte ihre Tasche ab, hob mich hoch und schüttelte mich. Ich spürte ihre Ablehnung und ich wollte nicht geschüttelt werden. Ich fing an zu weinen.
„Da freut sich aber eine ganz närrisch“, sagte Mutter mit falscher Herzlichkeit und ließ mich runter.
Ich rannte rauf ins Schlafzimmer und suchte Schutz bei Großvater, der leichenblass und ausgemergelt in seinem Bett lag. Mutter war mir gefolgt. Es entstand ein kurzer Wortwechsel und man hörte heraus, dass sie der armselige Zustand ihres Vaters wenig berührte. „Scheißleben, was?“, beendete sie den Dialog. Sie suchte ein paar Sachen von mir zusammen und drängte zum Aufbruch. „Sag tschüss zu dem Alten“, befahl sie mir und riss mich von Großvater los. Das alles passierte wie im Zeitraffer, ich wusste gar nicht wie mir geschah. Schreiend widersetzte ich mich ihr, doch Mutter war stärker. Ihre grelle Stimme bohrte sich in mein Innerstes, als sie mich aus dem Zimmer schleifte und aus dem Haus, in eine Welt des Grauens.
Nach langer Bahnfahrt und einer knappen Stunde Fußmarsch stieß mich Mutter entnervt durch die Tür einer Frankfurter Kellerwohnung, in die sie Tage zuvor umgezogen war und es Opa verschwiegen hatte.
Kalt und düster war die Behausung. Von einem winzigen Flur gingen zwei mausgraue Türen ab. Hinter der einen verbarg sich eine heruntergekommene Toilette, an deren Wände der Putz bröckelte. Durch die andere Türe gelangte man in den einzigen Wohnraum mit angrenzender Kochnische und Abstellkammer. Das rechteckige Fenster – hoch oben in der Wand und für mich unerreichbar – ließ wenig Tageslicht herein. Ein Bett aus dunkelbraunem Massivholz stand darunter, daneben ein Kleiderschrank mit verzogenen Türen. An der Wand gegenüber stand ein blau und grau gemustertes Sofa, das mir auch als Bett diente. Ein Webteppich lag auf dem stumpfen Linoleumboden, darauf ein Tisch und ein Sessel mit Holzarmlehnen.
Mutter ging nicht zimperlich mit mir um. Sie befahl mir, mich auf das Sofa zu setzen und rasselte Benimmregeln herunter. Hinterher bekam ich ein Schmalzbrot und ein Glas Wasser. Dann ging sie zur Tagesordnung über und machte ihr Ding, ohne mich weiter zu beachten. Ich fühlte mich jämmerlich und weinte leise vor mich hin, als mich die Angst vor dem Unbekannten wie eine zweite Haut umschloss. Wie es sich fortsetzte und was sich lange Zeit im Souterrain des Mehrparteienhauses abspielte, war der pure Horror und umschreibt die Leiden einer Kinderseele.
Über die Arm- und Rückenlehnen der beiden Sitzmöbel hatte Mutter Spitzendeckchen drapiert und verbat mir strikt, sie anzufassen. Erst wenn sie die am Ende eines jeden Tages eingesammelt und weggeräumt hatte, durfte ich mich schlafen legen. Vorausgesetzt, wir hatten keinen Besuch. Wenn doch, warf sie die Rückenpolster des Sofas für meine Bequemlichkeit in die Rumpelkammer mit Funzellicht und schloss mich darin ein. Mein Herz pochte in dem Loch lauter sonst und ich atmete auf Sparflamme. Die merkwürdigen Geräusche, lautes Stöhnen und Mutters Lustschreie wirkten verstörend auf mich. Ich kämpfte jedes Mal mit mir, nicht in Panik auszubrechen. Einmal aber war die Angst so groß, dass ich kreischend gegen die Tür trommelte. Ein Fluch drang an mein Ohr, dann das Knirschen des Schlüssel. In der geöffneten Tür stand Mutter. Splitterfasernackt und mit eisiger Miene ging sie mir an die Gurgel. „Wenn du noch einen Piep von dir gibst, steche ich dir die Augen aus!“, sagte sie durch die Zähne. Und laut, mit veränderter Stimme: „Ich habe den bösen Traum vertrieben, mein kleiner Engel. Mach mir keine Schande und schlaf schön weiter. Wenn du lieb bist, bekommst du morgen ein Geschenk.“
Ein falsches Versprechen. Wenn ich etwas bekam, dann Haue oder den Wahnsinn zu spüren.
Mutter war oft weg und wenn sie da war, hatte sie keinen Nerv für mich und kein Ohr für meine Belange. Da ich aber dringend jemanden zum Reden brauchte und Gott mir da noch kein Begriff war, erfand ich Gunnar – eine Fantasiegestalt, größer und stärker als Mutter. Ihm konnte ich zu jeder Zeit mein Herz ausschütten und ihm von Opa erzählen, bis die Erinnerung nach und nach verblasste.
Wegen Kratzer und etlicher Macken hatte Mutter ein Damasttuch mit leichtem Glanz über den Tisch gelegt, das fast bis zum Boden reichte. Mittig stand eine Vase mit gelben und weißen Wachsblumen. Und wehe, sie stand nur einen Zentimeter außerhalb des Kreismittelpunktes, den Mutter nach Augenmaß festlegte. Da war sie pingelig. Wenn sie von ihren Rendezvous zurück war, galt ihr erster Blick der Vase, der zweite mir. Und erst wenn Mutter selbstgefällig lächelte, entspannte ich.
Ich war mittlerweile vier und geübt im Umgang mit Wäscheklammern – mein einziges Spielzeug – aus denen ich Hunde und Katzen kreierte, die zuweilen an unserem Fenster vorüberliefen und auch mal stehen blieben. Einmal führte ich einen abstrakten Wäscheklammerhund entlang des Frisiertisches Gassi, wo Flakons, Nagellacke, Puder- und Cremedöschen akkurat aufgereiht waren. In einem Fach darunter lagen Briefbögen aus echtem Büttenpapier, ein Tintenglas und eine Schreibfeder. Mir kam eine Idee, die Fröhlichkeit aufkommen ließ. Ich schnappte mir das Schreibzeug und malte mit Bedacht die kreisrunde Form des Vasenbodens nach. Ich mühte mich unendlich ab und kleckste, weil der Stoff Wellen schlug. Und auch wenn der Kreis am Ende nicht exakt rund war, war er für Mutter und mich eine Orientierungshilfe. Sie würde zufrieden sein, sich vielleicht sogar freuen. Leider war Mutter selten zufrieden. Eine ewige Nörglerin, die, als sie die Überraschung sah, die Vase nach mir warf und befahl, den Rest Tinte zu trinken. Ich gehorchte widerstandslos. Die würgende Übelkeit ließ sich nicht unterdrücken, ich erbrach den Mageninhalt voll über den Tisch. Eine komplette Tagesration war dahin; ein Ei, Linsen und in Bier aufgeweichte Brotrinde. Ja, mein Speiseplan war mager. Wenn ich was dick aufs Brot gestrichen bekam, dann Mutters Selbstmitleid. Die Zeit zum Lamentieren über die widrigen Umstände nahm sie sich. Ich musste als Prügelknabe herhalten und wurde grundlos mit Essensentzug diszipliniert. Ohnehin gab es für mich nur Haferflocken in Wasser aufgeweicht, mit Sägespänen gestrecktes Graubrot oder Kartoffelstückchen. Wenn Mutter Optimismus versprühte, schmierte sie mir auch mal ein Butterbrot mit dick Zucker drauf. Oder sie spendierte mir verdünnte Milch, eine Karotte und fünf Salatgurkenscheiben. Sie selbst aß für gewöhnlich außer Haus und erzählte mir hinterher davon.
Die Soldaten und die alten Männer, die bei uns ein- und ausgingen, ließen neben Geld auch Fressalien da. So kam ich zuweilen in den Genuss von frischem Obst und Schokolade. Haselnussschokolade war mir die liebste, wegen der Nüsse, die ich sauber lutschte und hamsterte.
Wie gesagt, die Tischdecke war hinüber und bevor sie im Müll landete, wickelte mich Mutter darin ein und stellte mich als lebende Mumie in die Ecke.
Mit Mutter erlebte ich ein ständiges Auf und Ab; ein Leben in allen Grautönen, selten bunt.
Ein Parkbesuch war ein solch farbiger Lichtblick. Schon die Ankündigung versetzte mich in Euphorie und ich hatte Mutters ganze Aufmerksamkeit. Sie wusch mir Gesicht und Füße, bürstete mein Haar, bis es glänzte und zog mir das einzige Kleid über. Sie half mir sogar in die Socken und in die Schuhe aus schwarzem Lackleder.
Der Park war voller Leben, es gab so viel zu entdecken. Unter freiem Himmel zu sein, von einem lauen Wind umweht zu werden und die Sonne auf der Haut zu spüren, die sich wie ich vor unserer Kellerwohnung fürchtete und sich dort nur selten blicken ließ, sorgte für höchstes Wohlgefühl.
Ich liebte es, die Pflanzenbeete zu umlaufen, die Blumen zu berühren und daran zu riechen. Und ich erfreute mich an der Taubenschar, die von ausgeworfenen Brotkrumen angelockt wurde. Den putzigen Eichhörnchen, die sich gegenseitig durch das Geäst der Bäume jagten und sogar den Leuten aus der Hand fraßen, hätte ich gern von meinen Nüssen abgegeben, bloß wäre mir Mutter dann über den heimlichen Vorrat auf die Schliche gekommen.
Der Spielplatz war für mich tabu. Damit ich mich nicht schmutzig machte und meine Schuhe keine Kratzer abbekamen, durfte ich weder im Sandkasten spielen noch schaukeln, klettern oder rutschen. Ich durfte gar nichts und war im Grunde nur Zuschauer. Während Mutter in unseren vier Wänden sorglos und gleichgültig mit mir umging, kehrte sie draußen die Etepetete-Mutter hervor.
Das Spaß- und Spielverbot galt übrigens auch für den Hinterhof, weil schon das Aufditschen des Balls bei Mutter angeblich Migräne auslöste. Dabei konnte sie drinnen gar nichts hören. Unsere Wohnung ging zur Straße hin, wo es definitiv laut zuging.
Mutter blieb morgens gern lange im Bett liegen. Weil sie entweder die halbe Nacht durchgemacht hatte oder um mir beim Aufräumen und Putzen nicht in die Quere zu kommen. Erst wenn alles blitzblank war, stand sie auf und ließ sich Zeit mit dem Frühstück und hinterher bei der Morgentoilette. Der ganze Vormittag ging dafür drauf. Für einen frischen Teint legte Mutter nach intensiver Hautreinigung eine Quark-Honig-Maske auf, die ich ihr am Liebsten vom Gesicht geleckt hätte. Hernach, beim Pinseln und Pudern, sprach sie bevorzugt von der Last auf ihren Schultern und den Entbehrungen, die sie wegen mir auf sich nehmen musste.
Einmal gab ich meinen Senf dazu; etwas völlig Unbedeutendes, was ein Kind halt so plappert.
„Hab ich dich nach deiner Meinung gefragt?“, giftete Mutter sogleich. „Schlimm genug, dass es dich gibt. Nur wegen dir stecke ich nämlich in der Scheiße.“
Ich war immer dankbar, dass sie mich daran erinnerte schuld an ihrem Elend zu sein, am Krieg und am unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Nichts wert zu sein prägte sich mir unauslöschlich ein.
*
Zwei Jahre später!
Ein Wunder hatte Großvater genesen lassen und Mutters Bettelbrief ihn zu uns geführt. Die Begrüßung zwischen Vater und Tochter war kühl. „Sophie, das ist der Mann, von dem ich dir fortwährend erzähle“, log Mutter rotzfrech. „Dein Opa.“
Ich widersetzte mich nicht, als mich Opa hochhob und mein Gesicht abküsste. Auch wenn er mir fremd geworden war, spürte ich die alte Vertrautheit und echte Zuneigung, wie ich sie lange vermisst hatte. Nachdem er mich wieder auf die Beine gestellt hatte, holte er aus einer Schachtel eine Schildkröt-Puppe im weißen langen Spitzenkleid und hielt sie mir hin. Verlegen aber innerlich vor Freude aufgewühlt nahm ich ihm die Puppe mit beweglichen Gliedmaßen, Kurbelkopf und blauen Glasaugen ab.
„Von dem Geld hättest du ihr was Gescheites kaufen können“, sagte Mutter säuerlich. „Du spinnst doch, ihr eine so teure Puppe zu schenken.“
Angemault zu werden hatte Opa nicht verdient. Ich zeigte Mitgefühl und überließ ihm meine schönste Wäscheklammerfigur. Er bedankte sich, streichelte mir übers Haar und schickte mich raus. „Ein Gespräch unter Erwachsenen. Es dauert auch nicht lange.“
Mit meinem Puppenkind im Arm setzte ich mich draußen auf die Stufen und spitzte die Ohren. Eine Weile hörte ich nur dumpfes Getuschel, dann überschlug sich Mutters Stimme. Wenn sie in hohem Sopran kreischte, war immer die Kacke am Dampfen. Alarmiert sprang ich auf und hielt die Klingel gedrückt. Opa machte mir auf. Ich rannte an ihm vorbei und klammerte mich an Mutter, die ein Gesicht zog, als hätte sie Unterstützung bitter nötig.
„Schau, was du anrichtest!“, höhnte sie. „Das Kind ist völlig von der Rolle.“ Sie hielt mich auf Armlänge. „Lass mich mit dem da noch was klären.“ Und als ich zögerte: „Nun geh, mir passiert schon nichts. Abmarsch!“
Gewohnheitsmäßig verzog ich mich in die Abstellkammer. Unverzüglich holte mich Opa wieder heraus, setzte sich mit mir aufs Sofa und quetschte mich auf behutsame Weise aus. Als ich Mutters kehliges Brummen vernahm, verfiel ich in Schweigen. Da hatte Opa bereits genug gehört, den Rest konnte er sich zusammenreimen. Er nahm sich Mutter vor.
„Reg dich bloß ab“, fiel sie ihm ins Wort. „Die Göre faselt dummes Zeug. Sie verkriecht sich gern und aus freien Stücken in der Rumpelkammer. Stimmt's?“ Sie sog die Wange nach innen und durchbohrte mich mit Blicken.
Eingeschüchtert nickte ich.
„Glaubst du, ich durchschaue dich nicht“, sagte Großvater wortgewaltig. „Du sperrst dein Kind weg, um ungestört zu sein. Wobei liegt auf der Hand. Du bist Abschaum.“
„Ich tue nichts Verwerfliches“, entgegnete Mutter mit Unschuldsmiene.
„Hinzu kommt, dass du mich um Geld bittest, weil es euch so schlecht geht. Dabei siehst du aus wie aus dem Ei gepellt, während die Kleine barfuß und in Lumpen herumläuft. Hat sie keine Schuhe?“
Mutter lächelte gallig. „Natürlich hat sie Schuhe. Und sie hätte auch vernünftige Klamotten, bloß ruiniert sie alles. Obwohl sie weiß, wie hart ich für jeden Groschen schuften muss.“
„Was du schuften nennst!“
„Ich verdiene mein Geld als Kellnerin in einem großen Hotel. Abends, wenn Sophie im Bett ist. Bin stundenlang auf den Beinen und balanciere Tabletts.“
„Deine Dienstleistungen, die du in Heimarbeit erbringst, sehen anders aus.“ Opas Worte gingen in ein ersticktes Flüstern über. „Du solltest dich in Grund und Boden schämen, in Gegenwart deiner Tochter...! Das geht nicht spurlos an ihr vorüber, ist dir das nicht klar? Ihre Seele wird Schaden nehmen.“
Mutter setzte sich in einer dominanten Pose aufs Bett. „Meine Seele interessiert auch keinen.“
„Wo hast du Seele!? Abgebrüht bist du, bis zum Gehtnichtmehr. Du besitzt weder Anstand noch Stolz und du hast...“
„Stolz macht nicht satt“, redete Mutter dazwischen und rückte mit der Wahrheit heraus. „Und bevor ich mich für lausige Kröten abrackere, mache ich schnelles Geld auf eine Weise, die obendrein Spaß macht. Kannst du dich an diesen Spaß überhaupt erinnern? Ach wo! Da geht für dich schon lange nichts mehr. Der Zug ist abgefahren.“
Ich war irritiert. Wieso Zug? Wollte Opa wieder weg? Hatte er seinen Zug verpasst und sie stritten sich deshalb?
Opas Backenmuskeln spannten sich. „Lebe du nach deiner Fasson, aber verschone doch bitte das Kind. Sophie hat das Recht auf ein würdiges Leben und auf eine anständige Erziehung. Darum kümmere ich mich jetzt. Sie kommt mit!“
Ich erschrak. Opa wollte mich mitnehmen. Wie die Soldaten, die in Panzern durch die Straßen fuhren und Kinder zum Arbeiten nach Russland verschleppten. So hatte es Mutter mir erzählt. Eine Drohung mit nachhaltiger Wirkung. Ich sprang auf, krabbelte zu ihr aufs Bett und warf mich ihr an den Hals. „Ich will nicht mit. Ich will bei dir bleiben.“
Mutter schob mich weg und glättete ihren Rock. „Da hörst du's! Mein Mädchen will bei mir leben. Verhält sich so ein unglückliches Kind?“
Großvater schaute mich sorgenvoll an. „Sie weiß es nicht besser. Sophie soll in jedem Fall ihre Chance bekommen, die sie bei dir nie haben wird. Du hörst von mir. Schon sehr bald. Darauf kannst du Gift nehmen.“
Gift? Ich kannte die Bedeutung des Wortes nicht und wollte Mutter später danach fragen. Im Stillen sagte ich das Wort noch dreimal auf, damit es im Kopf blieb.
Opa machte Anstalten zu gehen. „Gib ihr wenigstens anständig zu essen“, sagte er betrübt. „Sie ist kaum mehr als ein Skelett.“
Skelett! Ein schweres und komisches Wort, das nach einmaliger gedanklicher Wiedergabe in Vergessenheit geriet.
Mutter fuchtelte mit der Hand. „Husch, husch, raus jetzt! Grüß mir Katharina die Große. Und setz bloß deinen Hut auf, die Sonne sticht.“ Ihr diabolisches Lachen hallte noch eine Weile nach.
*
Mutter war umgänglich, wenn sie ihrem Spiegelbild zulächelte. Um ihre Eitelkeit zu befriedigen und um aufzufallen, hatte sie sich die Haare blondieren lassen und trug zumeist kurze Röcke und Blusen, die tief blicken ließen. Jacken und Mäntel ließ sie offen, um den Herren auch an ungemütlichen Tagen Appetit zu machen. Die Männer umgarnten sie, drängten sich ihr geradezu auf. Dass es ihnen nur um das 'Eine' ging, verstand ich da noch nicht und ich beneidete Mutter um ihre vielen Freunde. Ich hatte niemanden außer Gunnar und der war unsichtbar. In Kontakt mit anderen Kindern kam ich nur im Luftschutzkeller des Nachbarhauses. Während die Sirenen bei der Bevölkerung Todesangst auslösten, freute ich mich, auf Gleichaltrige zu treffen. Und weil Mutter in Gegenwart anderer liebevoll mit mir sprach, war ich für die Dauer eines Bombenangriffs glücklich und sehnte den nächsten Fliegeralarm herbei, sobald wir zurück in der Wohnung waren und die Stimmung kippte.
Ein vorbildlicher Umgangston war wie gesagt eher die Ausnahme. Vielleicht dann, wenn der Boden gebohnert und der Teppich gekehrt war oder ich im Bad über dem Bottich gebeugt auf dem Waschbrett Wäsche schrubbte. Alles blieb an mir hängen. Dann noch als Schnarchnase betitelte zu werden, verletzte mich tief. Mutter sagte kein einziges Mal Danke. Darum belohnte ich mich selbst und schnüffelte in ihrer Abwesenheit Nagellack, bis mir schummrig wurde und mich das kurze Glück der Gleichgültigkeit beherrschte.
Mutter hortete Lacke in unterschiedlichen Farben, die ich mir heimlich auf die großen Zehennägel pinselte. Ich fühlte mich dann erwachsen. Wenn ich Mutter kommen hörte, zog ich mir rasch Socken über. Ich musste nur achtgeben, keine Löcher zu laufen, weil sie mir sonst die Nägel so kurz schnitt, dass ich vor Schmerzen tagelang den Fuß nicht abrollen konnte. Mit meinen Füßen hatte sie's komischerweise, der Rest von mir war ihr egal. Ich wusch mich nur selten und allenfalls, was aus den Kleidern herausragte. Doch da Wasser teuer war und Mutter die Wasseruhr kontrollierte, säuberte ich Gesicht und Hände zumeist mit Spucke oder mit Wasser aus der Kloschüssel.
Weil meine Füßen schneller wuchsen, als Mutter lieb war, mutete sie mir gebrauchte Latschen zum Reinwachsen zu. Für den nötigen Halt sorgten Einlagen aus Pappe. Mutters Schuhe hingegen waren tipptopp, passten wie angegossen und erfuhren mehr Zuwendung als ich. Insbesondere das rote Paar mit den hohen dünnen Absätzen, die sie Maskottchen nannte – ein Glücksgarant für vergnügliche Abende. Ob es allein daran lag!?
Wenn Mutter sich zum Ausgehen fertig machte, war sie extrem gereizt und ich sprach sie besser nicht an. Einmal tat ich es doch. Sie mühte sich gerade mit einer Hochsteckfrisur ab, als ich sie um was zu essen bat, weil mir vor Hunger schwindlig war. Ihr vernichtender Blick traf mich durch den Spiegel. Sie spuckte die Haarnadeln aus und fuhr herum. „Siehst du, welche Schuhe ich trage?“
Ich zog den Kopf ein und wich automatisch zurück. „Rote!“
„Und was sagt dir das?“
Ich schob die Unterlippe vor und zuckte mit der Schulter.
„Du hast es vergessen? Geh her, dir helf ich auf die Sprünge.“ Sie riss sich den Schuh vom rechten Fuß, hielt mich am Arm fest und schlug mit dem Absatz zu, volle Kanne auf meinen Kopf. „Du sollst mich nicht volllabern, wenn ich unter Stress stehe“, keifte sie und schlug erneut zu. Es schmerzte unendlich. Ich kam ihr aus und rettete mich hinter einen Sessel. Mit dem Schuh in der Hand und lautstark drohend kam Mutter angehumpelt. Eine wilde Jagd durchs Zimmer begann, dann ein Aufschrei und ein Rums. Mutter war gestürzt und mit der Stirn gegen die Tischkante geknallt. Sie lag da und gab keinen Mucks von sich. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Im schlimmsten Fall war sie tot, weil ich sie um ein Wurstbrot gebeten hatte. Da plötzlich bewegte sie sich und richtete sich stöhnend auf. Ich verdrückte mich in die hinterste Ecke, hielt mir die Hände vors Gesicht und schaute durch die Finger.
Mutter streifte den zweiten Schuh ab und betrachtete sich im Spiegel. Ein blauer Fleck zeichnete sich über dem linken Auge ab und eine Beule, größer als ein Fünfmarkstück. Toupierte Haarsträhnen hingen herab. Sie fuhr herum und war mit vier ausladenden Schritten bei mir. „Du willst was essen? Kannst du haben.“ Sie riss mich am Arm hoch und bugsierte mich in die Kochnische. Sie nahm ein Ei aus dem Schrankfach, drückte mir die Kiefer auseinander und schob es mir in den Mund. Ich spuckte Dotter und Eiweiß. „Du verschmähst Essen?“ Ein zweites Ei folgte und ein drittes. Ich verdrehte röchelnd die Augen und stieß Wimmerlaute aus. Mutter ließ von mir ab. „Mach sauber und dann ab aufs Sofa. Und wehe, ich höre heute noch ein Wort.“
Ich schaffte Ordnung, wusch mir auf der Toilette das Gesicht und setzte mich entgegen ihrer Anweisung im Treppenhaus auf eine Stufe; die Arme gekreuzt auf den Knien, den Kopf gesenkt. Ich ließ den Tränen freien Lauf, bis die Ärmel meiner Strickjacke durchgeweicht waren.
Jener Vorfall wurde für mich zum Schlüsselerlebnis und ich war ein Leben lang auf der Hut vor Frauen, die rote Schuhe trugen.
Zwei Beamte der Sittenpolizei statteten uns einen Besuch ab und nahmen Mutter ins Verhör. Jemand hatte sie der Prostitution bezichtigt und angezeigt.
Die Männer machten mir Angst, ich verkroch mich flugs in die Kammer. Irgendwann hörte ich Mutter schluchzen, dann krachte die Wohnungstür. Ich lauschte den Schritten, bis sie verhallten und schaute nach dem Rechten. Mutter saß heulend im Sessel, schwarze Rinnsale liefen an ihren Wangen hinab. Sie zog ein Taschentuch aus der Sesselritze, wischte über die Unterlider und schnäuzte hinein. Ich hatte sie nie zuvor weinen sehen und stupste sie an. „Mama?“
Ihr Mund zuckte, als ob sie lächeln wollte. Unvermittelt riss mich Mutter an sich und hielt mich fest umklammert. „Du liebst mich doch, nicht wahr!“, flennte sie, küsste mein Haar und brabbelte unaufhaltsam wirres Zeug.
Tage später zog Großvater bei uns ein. Er hatte die Anzeige gestartet und gehofft, man würde Mutter zur Läuterung in Gewahrsam nehmen. Bloß kam sie mit der Auflage davon, sich umgehend Arbeit zu suchen und es der Behörde zu melden.
Wegen des Schlamassels, in das sie geraten war und weil Opa ihr auf der Pelle hockte, bombardierte Mutter ihn mit Gehässigkeiten. Erst als er ihr mit erhobener Hand drohte, gab sie Ruhe.
Mit einem zusätzlichen Bett wurde es eng in der Kellerwohnung. Um Stauraum zu schaffen, montierte Opa Regale und eine Kleiderstange in die Abstellkammer. Dort hingen auch drei Kleidchen, die er mir spendiert hatte und für die ich mich nicht zu schämen brauchte.
Fehlende Privatsphäre war ein ständiges Streitthema zwischen den Erwachsenen. Die Fetzen flogen und auch Gegenstände. Es ging turbulent zu bei uns, doch mit Opa als Rückhalt konnte mir meine cholerische Mutter nichts mehr anhaben. Die Welt war trotz Krieg wieder schön.
Die Umstellung vom Nachtmenschen zum Frühaufsteher fiel Mutter schwer. Um sechs klingelte der Wecker sie aus den Federn, Schlag sieben saß sie an ihrer Maschine und nähte neun Stunden lang Fahnen und Bettwäsche für die Armee. Abends kam sie übellaunig durch die Tür und stimmte Klagelieder an über das miese Betriebsklima, den Kantinenfraß und über die roten Pusteln an Händen und Unterarmen – eine allergische Reaktion auf die appretierten Gewebe. „Selbst in der eigenen Bude hab ich nichts zu lachen und stehe unter Dauerbeobachtung. Das hält doch keine Sau aus.“ Mit solch lahmen Protesten hatte sie sich noch einigermaßen im Griff.
Großmutter, von der ich kein Bild mehr im Kopf hatte, war auf Anraten der Ärzte in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Ihr Geisteszustand hatte sich dramatisch verschlechtert, sie war zur Gefahr für sich und andere geworden. Opa war von einer Riesenlast befreit. Neben der Betreuung seiner Frau die volle Arbeitsleistung zu erbringen, hatte ihn ausgelaugt, mehr mental als physisch. In seinem Heimatort hatte er sich quasi selbst beurlaubt, um für mich da zu sein, während Mutter auf anständige Weise Geld verdiente.
Opa arbeitete in Nachtschicht in einer Automobilfabrik, wo ausschließlich Militärfahrzeuge gebaut wurden. Wenn er morgens zurück war, weckte er mich und machte Frühstück. Zu Kakao gab es Honigkekse und frische Brötchen, die ich mir beliebig belegen durfte. Wurst und Käse standen zur Auswahl, Kräuterquark und Nusscreme. Auch richtig waschen durfte ich mich, mit Seife und warmem Wasser. Ich hatte eine Zahnbürste mit weichen Borsten und eine Zahncreme, die nach Minze schmeckte.
Mittags legte sich Opa für ein, zwei Stunden aufs Ohr. Ab und an legte ich mich dazu und schlief in seiner Umarmung ein. Hinterher spielten wir irgendwas oder er erzählte Geschichten, die vom Leben erzählten. Geschimpft hat mich Opa in der ganzen Zeit nur zweimal. Einmal, als ich auf Knien den Boden wischte und ein anderes Mal, als er mich beim Wäschewaschen überraschte. Warum er sich, anders als Mutter, darüber aufregte, war mit ein Rätsel. Ich hätte fragen können.
Samstag war Einkaufstag – für mich das Highlight der Woche. Während Opa geduldig in der Schlange stand, spielte ich mit anderen Kindern Fangen oder Himmel und Hölle. Was es in Läden nicht gab, ergatterte Opa auf dem Schwarzmarkt. Er war geschickt im Verhandeln und wir kamen stets mit vollen Taschen heim.
Die Monate gingen ins Land, die Fronten verhärteten sich zunehmend und irgendwann schoss Mutter über das Ziel hinaus. „Ewig die gleiche Scheiße“, krakeelte sie, als Opa ihr Benehmen anprangerte. „Du bist eine Zumutung. Machst dich hier breit und verpestet mit deinen faulen Eiern die Luft. Und den Moralapostel lass bloß stecken. Die, die am lautesten schreien sind die mit den abartigsten Neigungen. Ich kann den Spieß auch umdrehen und dich anzeigen. Ja, das ist überhaupt die Lösung! Warum bin ich nicht längst drauf gekommen. Was weiß denn ich, was du mit Sophie in meiner Abwesenheit anstellst. Süße Früchtchen stehen bei alten Knaben hoch im Kurs.“
Opa wurde augenblicklich kreidebleich, die Adern an Hals und Schläfen traten blau hervor. Seine Augen weiteten sich gespenstisch. Eine Schrecksekunde lang dachte ich, er schlägt zu. Stattdessen holte er seinen Koffer unterm Bett hervor, warf ihn auf die Federdecke seines Bettes und klappte ihn auf.
Mutter bekreuzigte sich, sackte auf die Bettkante, warf lässig ein Bein übers andere und wippte mit dem Fuß. „Ich danke dir Herrgott im Himmel für die Worte, die du mir in den Mund gelegt hast, um dieses Wunder zu bewirken.“
Nachdem Opa gepackt hatte, setzte er sich breitbeinig aufs Sofa und winkte mich heran. „Ich kann nicht bleiben, sonst geschieht noch ein Unglück. Möchtest du mit mir kommen?“
„Sophie geht nirgendwo hin“, sagte Mutter streng. „Du fahr zur Hölle, sie bleibt.“
Mein Kopf flog herum, mir wurde mulmig unter ihrem drohenden Blick. Warum wollte sie, dass ich blieb, wo sie mich doch nicht lieb hatte. Ohne Opa würde alles sein, wie vor seiner Ankunft. Hunger wäre mein ständiger Begleiter durch den Tag, dazu die Angst vor Dresche bei jedem noch so kleinen Vergehen. Ich wandte mich Opa zu und nickte eifrig. Er hatte mir von seinem Haus erzählt, auf das die Sonne schien. Mit einem blühenden Garten drumrum und angrenzendem Weideland für Pferde und Rindviecher. Und einen Räuberwald hatte er erwähnt, wo Wildschweine, Rehe, Füchse und Dachse lebten, wie ich sie aus Bilderbüchern kannte. Innerlich vor Freude zappelnd nahm ich seine Hand und signalisierte Mutter mit leuchtenden Augen das Ende unserer Beziehung. Stumm und regungslos sah sie zu, wie Opa meine Sachen zu seinen in den Koffer legte. Ich traute dem Frieden nicht und behielt Mutter in atemloser Spannung im Blick. Mit dem Zuschnappen der Schlösser entkrampfte ich.
„Zuletzt wirst du dich vor Gott verantworten müssen“, sagte Opa und meinte Mutter.
„Bevor der Allmächtige bei dir Bilanz zieht, rechne ich mit dir ab“, erwiderte sie bissig. „Und du kleines Luder wirst dir wünschen, nie geboren zu sein.“
„Drohungen sind Waffen, die man gegen sich selbst richtet“, zitierte Opa.
„Da hilft auch kein schlaues Daherreden.“ Mutter richtete die Fingerpistole auf ihn. „Peng! Peng!“
Wer Gott sei, fragte ich Opa, als wir auf die Straße traten. Während der Fahrt zur Automobilfabrik, wo Opa den noch ausstehenden Lohn abholte, erklärte er mir kindgerecht den christlichen Glauben.
Ob Gott mit Vornamen Gunnar hieß, wollte ich wissen.
Mein altes, neues Zuhause war mein Eldorado und ich die Goldmarie. Alles war tausendmal schöner als ich es mir erträumt hatte. Im Obergeschoss von Opas Haus hatte ich ein Zimmer mit Dachschräge ganz für mich allein; zur Westseite hin, wo bei wolkenlosem Himmel den ganzen Nachmittag die Sonne hereinschien. Ich ließ die Gardine abnehmen, damit ich auch vom Bett aus Nachtfalter und Fledermäuse beobachten konnte. Das Gezeter der Gartenschläfer und die Schreie rivalisierender Katzen waren Musik in meinen Ohren. Wenn der Mond hereinlachte, lächelte ich zurück, bis mir die Augen zufielen. Opa hatte mir erzählt, dass der Mond der kleine Bruder der Sonne sei und Sterne Elfen, die mit einem Netz aus Engelhaaren Kinderwünsche auffingen und sie wahr werden ließen. Sie hatten gut zu tun mit mir.
Lebensmittel waren hier keine Mangelware, niemand musste vor Geschäften anstehen. Man buk Brot selbst, Gemüse holte man aus dem Boden, Obst von den Bäumen und Fleisch..., darüber wollte ich nicht nachdenken.
Gesunde Ernährung, Landluft und Sonne wirkten Wunder. Ich nahm zu, die Schatten unter meinen Augen verblassten, die kleinen roten Punkte überall am Körper, die wie Wassertropfen aussehen, verschwanden. Der Grauschleier war Geschichte, mein Gesicht hatte diesen rosig-frischen Pfirsich-Teint.
Für die Dorfkinder war ich anfangs was Besonderes. Ich genoss die Aufmerksamkeit, wenn ich vom kriegerischen Treiben in der großen Stadt erzählte, von Bomben, ausgebrannten Fahrzeugen und schweren Panzern. Hier auf dem Land erinnerten nur ausgemergelte Menschen an den Krieg, die auf der Flucht oder auf der Suche nach einer neuen Bleibe bei den Bewohnern um Nahrung und Kleidung bettelten.
Opa schaffte auf einem Bauernhof, oft holte ich ihn dort ab. Ich liebte den Stallgeruch und alles was ihn ausmachte und worüber andere die Nase rümpften: warmer Mist, Pferdeschweiß, gedörrte Pferdeäpfel und Schwaden von Ammoniak. Und es bereitete mir einen Heidenspaß, Schwärme grün glänzender Fliegen aufzuschrecken, die sich an frischem Tierkot labten. Vor den Milchkühen aber hatte ich Bammel. Und auch die angriffslustigen Ziegen oder die Gänse, die mit langen Hälsen und Geschrei jeden Eindringling vertrieben, waren mir nicht geheuer. Schafe gab es noch, Hühner sowieso und einen Esel, der Freundschaft mit einer getigerten Katze geschlossen hatte, die mit im Stall schlief und auch gerne mal auf ihm ritt.
Wenn die Ernte eingefahren und die Felder abgebrannt waren, packte Opa überall mit an, wo man sein handwerkliches Geschick zu schätzen wusste. Ich war währendes in der Obhut von Frau Kolbeck, der guten Fee von nebenan. Die vollschlanke Endvierzigerin mit Grübchen auf beiden Wangen und kurzen braunen Haaren, die sich im Nacken kringelten, war seit über einem Jahr Witwe und froh, mit meiner Betreuung wieder eine Aufgabe zu haben. Ich fühlte mich pudelwohl bei ihr. Die Kolbeck war ameisenfleißig, kochte und buk wie ein Weltmeister, die Leute rissen sich um ihre Rezepte. Ich fand die Quittenmarmelade super lecker, die ich auch aufs Käsebrot strich oder auf Spiegeleier klatschte.
In seiner Freizeit brachte mir Opa den unerschöpflichen Reichtum der Natur nahe. Er zeigte mir hundertjährige Eichen, Feuersalamander, wilde Orchideen, neonfarbene Libellen, Störche in ihren Nestern und und und. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Mutter fehlte mir kein bisschen. Die Erinnerung an sie war wie ein Windhauch, der im nächsten Moment vorüber war.
Am Tag meiner Einschulung präsentierte ich mich im Blümchenkleid und einer Schultüte im Arm dem Fotografen, hernach dirigierte er die Schulanfänger, wie sie sich für ein Klassenfoto aufzustellen hatten. Opa und alle Eltern kamen mit ins Klassenzimmer, es ging zu wie in einem Tollhaus. Der Rektor musste sich lautstark Gehör verschaffen und begann mit seiner Einführungsrede. Ich hatte vor Aufregung ein Kribbeln im Bauch und hörte gar nicht richtig hin. Eine Weile später stellte sich unsere Lehrerin mit einem strahlenden Lächeln vor. Frau Neurodt war mir auf Anhieb sympathisch und ich hoffte, das positive Gefühl der Zuneigung würde anhalten.
Wie sich in nächster Zeit herausstellte, war Frau Neurodt eine geduldige, einfühlsame Lehrerin. Ich wollte ihr keinen Grund für eine Rüge liefern und strengte mich in allen Fächern an. Belohnt wurde ich mit Bestnoten und Sternchen, die sie mir ins Heft malte.
Großvater war stolz auf mich, Frau Kolbeck war stolz auf mich und ich wuchs über mich hinaus.
*
Die Adventszeit bereitete mich auf das Weihnachtsfest vor, das ich bislang nur vom Hörensagen kannte. Mutter hatte das Fest und die Bescherung konsequent ausfallen lassen.
Schon das Basteln des Adventskranzes war für mich ein Ereignis. Opa und ich hatten Tannengrün gesammelt, Kiefernzapfen, Rinde und Moos. Kerzen und goldene Walnüsse vom Vorjahr hatte er im Keller gelagert. Ich durfte auch Frau Kolbeck beim Plätzchenbacken zur Hand gehen und war mit Begeisterung bei der Sache. Und dann war er da, der große Tag. Ich musste in meinem Zimmer warten, während Opa in der Stube Vorbereitungen traf. Die Anspannung war groß, ich kaute Nägel. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er mich endlich herunterrief.
Ich war überwältigt beim Anblick des funkelnden Weihnachtsbaums, meine Augen strahlten heller als alle Kerzen zusammen. Sogar Tränen kullerten, die ich mir verlegen mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischte. Vor Rührung zu weinen war eine komplett neue Erfahrung für mich.
Im Radio lief O du fröhliche, als mir Opa mein Geschenk überreichte, dass das Christkind für mich abgegeben hatte. Ich stellte den Karton auf den Boden, kniete mich hin und öffnete ihn. Meine Augen weiteten sich und mir stockte der Atem, als ich die nagelneuen Schlittschuhe sah. Die Dorfkinder hatten allesamt noch Gleitschuhe, die an Straßenschuhen befestigt wurden und mir gehörten jetzt moderne Schlittschuhe mit weißen Stiefeln und blitzblanken Kufen. Ich nahm sie vorsichtig heraus, als wären sie zerbrechlich und zeigte sie Opa, der mich liebevoll anlächelte. Da brach es aus mir heraus: Ich entließ einen Jubelschrei und tanzte mit den Schlittschuhen, einen in jeder Hand, durchs Zimmer.
Jahre später erzählte mir Opa, dass er sich diesen Moment wie einen kostbaren Schatz in seinem Herzen bewahrt hatte.
Nach dem Essen – es gab falschen Hasen, Kartoffelpüree und Möhrengemüse – machten Opa und ich einen Abendspaziergang. Wir trotzten dem eisigen Wind, der wie Nadeln ins Gesicht stach und Schneeflocken durcheinanderwirbelte. Mir gefror der Rotz in der Nase. Auf den Straßen glitzerte der Frost, die Dächer der Häuser waren wie mit Puderzucker bestreut. Eisblumen rankten sich zierlich und eindrucksvoll über Fensterscheiben, brennende Kerzen dahinter warfen ihr Licht auf die Bürgersteige; eine Postkartenidylle und ich mitten drin.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag begleitete ich Opa in die Psychiatrie. Er hatte mich darauf vorbereitet, nur fehlte es mir an Vorstellungskraft, was mich dort erwartete.
Schon beim Durchqueren des langen Flurs mit den hohen vergilbten Wänden bekam ich Gänsehaut. Auf den grauen stumpfen Steinfliesen hallten unsere Schritte, vergitterte Fenster warfen furchterregende Schatten auf die gegenüberliegende Wand mit den Stahltüren, hinter denen sich Schicksale abspielten.
Ein Hüne in brauner Montur lief stumm vor uns her, seine Gummisohlen quietschten wie ein Stall voller Ferkel. Unvermittelt blieb er stehen, rammte einen klobigen Schlüssel ins Türschloss und ließ uns eintreten. Ich zuckte zusammen, als die Tür hinter uns zukrachte. Eine Frau, kräftig wie ein Preisboxer, kam angelaufen. Ein kurzer Wortwechsel zwischen ihr und Opa, dann die obligatorische, richtungweisende Geste.
Aus der Sicht eines Kindes schien der Raum ewig lang und zwei Stockwerke hoch. Auf beiden Seiten waren jeweils acht weiß lackierte Eisenbetten in der Wand verankert. Im Vorübergehen riskierte ich verstohlene Blicke auf die Patientinnen. Da eine Frau mit weißem dünnem Haar, stark eingefallenen Wangen und geöffnetem Mund, in dem keine Zähne waren. Sie schlief. Dort eine, bis zum Hals zugedeckt und mit weit aufgerissenen Augen. Die nächste war mit Gurten im Bett fixiert und rief wirres Zeug. Daneben saß ein Mann, der mit liebevollem Streicheln und sanften Worten beruhigend auf die Frau einwirkte und ihre Spucke abbekam. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, als ich durch die Gitterstäbe ihren verängstigten Blick einfing und musste an unsere Hasen denken, die in ihren Boxen genauso schauten. Ich beschloss, sie noch heute in die Freiheit zu entlassen.
Eine junge Frau sprang aus ihrem Bett, als wir uns ihr näherten. Sie knickste und murmelte eine Begrüßung. Opa grüßte freundlich zurück. Ein Lied anstimmend kletterte die Frau auf die Matratze und hüpfte darauf herum, wie auf einem Trampolin. Die langen Haare flogen durch die Luft, ihre linke Hand verschwand im Slip unter einem formlosen, karierten Kleid. Die Aufseherin gebot ihr lautstark Einhalt. Die Frau warf sich auf den Rücken und nuckelte am Daumen.
Vor einem der beiden vergitterten Fenster saß in aufrechter Haltung eine Alte in einem gepolsterten Stuhl mit hoher Rückenlehne und breiten Armlehnen. Sie war halb in eine rattengraue Decke gewickelt, die Hände lagen im Schoß und zitterten leicht. Die braunen Haare waren ordentlich zurückgekämmt und umrahmten ein beinah faltenfreies Gesicht von gelblich grauer Farbe. Sie lächelte.
„Sophie, das ist deine Großmutter“, sagte Opa.
Hm! Die hatte ich mir anders vorgestellt. Wie die Großmutter meiner Freundin Helga nämlich; mit weißem Haar und runzliger Haut, wie ein liegengebliebener Apfel.
„Grüß dich, Hermine!“ Opa küsste die Frau auf die Stirn. „Schau, wen ich mitgebracht habe.“
Großmutter musterte mich mit dem Augenaufschlag einer Eule und bleckte die Zähne. „Katharina, meine kleine Prinzessin!“, säuselte sie.
Opa schüttelte den Kopf. „Das ist nicht Katharina. Das ist Sophie Friederike, deine Enkelin.“ Er schob mich vor. „Gib ihr die Hand!“
Ich wich erschrocken zurück, als Oma mir schwungvoll ihre sehnige Hand vors Gesicht hielt. Eher hätte ich meine in ein Karpfenmaul gesteckt, als sie diesem unheimlichen Weib zu geben.
„Worauf wartest du?“, fragte sie mit zappelnden Fingern. „Küss die Hand der Kaiserin.“
Großvater übernahm die Ehrerbietung. „Deine Tochter ist längst erwachsen, Hermine. Erinnerst du dich nicht an Sophie. Du hast sie...“
„Nenne mich nicht Hermine!“, sagte Oma heroisch. „Ich bin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst – Katharina II., Kaiserin von Russland. Und natürlich ist das meine bezaubernde Tochter. Habe ihr heute morgen noch die Zöpfe geflochten.“
Ich griff wie zum Schutz nach meinen Zöpfen, die mir Frau Kolbeck aber nicht diese Frau mit dem kranken Kopf gebunden hatte.
Opa lenkte von mir ab. „Wie ist es dir heute? Behandelt man dich gut? Du siehst besser aus, als bei meinem letzten Besuch.“
„Die Politik fordert meine ganze Kraft“, stöhnte Oma. „Die Minister geben sich die Klinke in die Hand, jeder Dahergelaufene will eine Audienz. Ich bin...!“ Sie horchte auf, als würde sie von irgendwoher Stimmen hören. „Oja“, sagte sie dann und nickte zustimmend. „Die Idee ist hervorragend. Frische Luft reinigt den Geist. Lass die Kutsche vorfahren! Und du mein Kind massierst mir derweil den Rücken. Bin krüppelkrumm vom ewigen sitzen.“
Opa bot sich an und wurde energisch zurückgewiesen. „Bringt mich augenblicklich weg“, sagte Großmutter gepresst, für einen kurzen Moment zurück in der Realität. „Was mache ich hier? Ein schrecklicher Ort. Ich werde selbst noch wahnsinnig unter all diesen Verrückten.“ Sie umfasste die Armlehnen und erhob sich schwerfällig. Die Decke fiel zu Boden. Plötzlich fing sie an zu weinen. „Bitte, Oskar, hol mich heim. Sieh dir dieses primitive Volk an! Die Menschen haben keine Bildung und können sich nicht benehmen. Mit diesen Erdenwürmern ist der Untergang des Reiches garantiert. Und die da“, ihr Kinn zeigte zur Tür, „ist die Übelste von allen. Schlägt mich und gibt mir nichts zu essen. Sie will meinen Tod. Rette mich! Schon des Kindes wegen. Es braucht doch seine Mutter. Nicht wahr, meine kleine Prinzessin!?“
Ich bückte mich und hob die Decke auf. Was darunter zum Vorschein kam, ließ mich vor Schreck rücklings zu Boden plumpsen. Oma trug rote Pantoffeln mit roten Bommeln. Wie auf Knopfdruck tauchte ein Bild auf, das einen Phantomschmerz entstehen ließ und ich die Hand auf den Kopf legte.
Das Böse trug Rot!
Nun verstand ich, warum Opa sie hatte einsperren lassen. Weil Oma eine grausame Hexe war, die in den Kerker gehörte. Deshalb die vergitterten Fenster und die Stahltür, an der sich Nachbars Bulle Max die Hörner einrennen würde. Vielleicht sollte ich die Leute fragen, ob Mutter auch hier wohnen durfte.
Die Alte schaute durchdringend auf mich herab. Ich sprang auf und verschanzte mich hinter Opa. „Geleite mich hinaus und vertreibe das Gesindel“, hörte ich sie sagen. „Katharina soll mir die Schleppe tragen. Aber wehe, sie lässt sie im Dreck schleifen. Auspeitschen werde ich sie lassen.“
Ich hieß nicht Katharina, aber sie meinte definitiv mich. Ich rannte zur Tür und hämmerte dagegen. „Aufmachen!“, brüllte ich. „Ich will raus!“
Die Aufpasserin hielt mich am Arm fest und redete auf mich ein. Ich konnte mich losreißen und schlug wild um mich. Ein Klacken im Schloss, die Tür sprang auf. Ich zwängte mich zwischen zwei Riesen hindurch und sauste den Flur entlang. Die Verbindungstür nach draußen ließ sich nicht öffnen. Atemlos lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen. Meine Beine zitterten, ich ging in die Hocke und behielt den Korridor im Auge. Ich wagte kaum zu blinzeln. Drinnen eilten die Wärter Opa zu Hilfe, der seiner Frau nicht Herr wurde. Unruhe machte sich breit unter den Patientinnen.
„Du Verräter“, brüllte die Irre. „Ich zerre dich vors Kriegsgericht. Man wird dich hinrichten. Erschießen wird man dich.“
Die Sorge um Großvater war größer als meine Angst. Ich rannte zurück und verharrte im Türrahmen. „Nicht schießen!“
„Nehmt eure Griffel von mir!“, befahl die Alte ihren Bezwingern.
Opa stand mit hängenden Armen daneben. Heilfroh, ihn unbeschadet zu sehen, schnappte ich nach Luft.
„Sie gehen nirgendwo hin, Königliche Hoheit“, sagte der eine Pfleger. „Die Zarin lässt ihr Volk nicht im Stich. Die Leute verehren und brauchen Sie.“
Oma entspannte augenblicklich, ihre Miene erhellte sich. „Wie wahr! Die Bagage braucht mich.“
Der Mann lobte sie und schob ihr eine Pille zwischen die Lippen. „Die schlucken Sie jetzt und alles ist gut.“
Großmutter gehorchte. Sie setzte sich wieder hin und blinzelte, als hätte sie ein Sandkorn im Auge. Opa streichelte ihr übers Haar und folgte dann den Männern nach draußen. Als die Tür zu und verschlossen war, klammerte ich mich an ihn und schluchzte vor Erleichterung.
„Ich hätte dich nicht herbringen dürfen“, sagte Opa gequält und nahm mich an die Hand. „Ich bin ein Narr.“
„Was ist ein Narr?“
„Einer, der was Dummes tut.“
„Du bist nicht dumm.“
„Dabei habe ich es nur gut gemeint. Ich dachte...! Ich weiß nicht mehr, was ich dachte.“
„Bleibt Oma für immer hier?“, fragte ich eilig.
„Ich glaube ja.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Hexe würde mir auf ewig erspart bleiben und Opa mir ganz allein gehören.
Großvater sammelte die Karnickel wieder ein, die ich freigelassen hatte und brachte sie im Gartenhaus unter, wo sie umhertollen konnten. Die alten Ställe baute er auseinander und verbrannte das Holz.
Mit dem Frühling kam das Kriegsende, die Leute im Dorf feierten ein Fest. Bedeutsamer als das Kriegsende war für mich die Tatsache, meinen Mitstreiterinnen den Rang abgelaufen zu haben. Ich war mit Abstand Klassenbeste und wollte, dass es so blieb. Großvater sollte nie aufhören stolz auf mich zu sein.
*
Ich war acht, als ich mich in einen Jungen verguckte, der neu zu uns an die Schule gekommen war. Sein Vater hatte den Hof des Onkels übernommen, der die Landwirtschaft wegen Altersschwäche aufgeben musste.
Ich machte mich hübsch für Hubert, schenkte ihm Plätzchen mit Zuckerguss und Liebesperlen und zu seinem neunten Geburtstag sogar ein Modellauto. Mein ganzes Erspartes ging dafür drauf. Meine Zuneigung wurde nicht erwidert. Anstatt sich zu bedanken, warf Hubert mir an den Kopf, nicht auf Streberinnen zu stehen und dass ich ihn gefälligst in Ruhe lassen solle. Wenn nicht, würde er mich nackt an einen Baum binden und den Wildschweinen überlassen. Ich war zutiefst verletzt. Ich, die aus Liebe alles gegeben hatte, wurde auf ekelhafte Weise zurückgestoßen. Aus meiner Zuneigung wurde binnen Augenblicke Hass. Ich verlangte das Auto zurück.
Hubert zeigte mir den Vogel und ließ mich stehen. Ich hätte auf der Stelle losheulen können über so viel Gemeinheit, nur hatte diese Mistsau meine Tränen nicht verdient. Wenn einer heulte, dann Hubert. Und den Grund dafür wollte ich ihm liefern.
Ich vertraute mich Helga an, die Hubert von Anfang an nicht ausstehen konnte und ihm die Pest an den Hals wünschte. Da es die Pest nicht mehr gab, dachte ich über Alternativen nach. Die im wahrsten Sinne des Wortes zündende Idee kam mir Tage später als mir zu Ohren kam, dass Hubert mit Freunden die Nacht im Heuschober von Bauer Moosmann verbringen wollte. Die Idee in die Tat umsetzen war kinderleicht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ich mich schon sehr früh zu einer Person mit einem überaus sensiblen Rechtsempfinden entwickelte und die vor nichts zurückschreckte, wenn das Resultat stimmte.
Ich lag im Bett und wartete, bis sich auch Opa schlafen legte. Dann fing ich an zu zählen und hörte bei fünfzig auf, weil ich mich weiter oben gern verzählte. Ich zog die Strickjacke über und steckte die Streichholzschachtel in die rechte offene Tasche. Ich schlüpfte in meine Schuhe, machte die Tür hinter mir zu und schaute durchs Schlüsselloch von Opas Zimmer. Drinnen war es dunkel. Auf Zehenspitzen ging ich runter und machte die Haustür auf. Sie knarrte. Ich hielt den Atem an, doch oben blieb es still. Ich ließ die Tür angelehnt und lief zum Schuppen. Die Nacht war warm und klar, ein blasser Dreiviertelmond zog am Himmel seine Bahn. Ich schob den Riegel zurück, ging rein und hängte die Petroleumlampe an den Lenker von Opas Fahrrad. Ich schob es raus und schwang mein Bein über die Mittelstange. Die Sattelhöhe passte nicht, ich musste im Stehen radeln. Die Fahrt über den holprigen Feldweg war mühsam, Missgeschicke unabwendbar. Zuerst flutschte mir das Pedal unterm Fuß weg und ich schrammte mir die Wade auf. Dann fuhr ich volle Kanne durch ein Pfützloch, die Brühe spritzte mir bis ins Gesicht. Die Wut darüber schürte meinen Hass auf Hubert noch mehr.
Am Zielort lehnte ich das Rad gegen die Wand des Heuschobers, stellte die Petroleumlampe ab und lauschte. Alles war ruhig. Mir war mulmig zumute und meine Hände zitterten, als ich ein Streichholz entfachte und an den Docht hielt. Ich drehte die Flamme hoch, öffnete die Tür, warf die Lampe im hohen Bogen auf die Strohballen und suchte augenblicklich das Weite. In sicherer Entfernung hielt ich an und schaute zurück. Schwarz hob sich die Scheune vom Nachthimmel ab. Nur ein paar Sekunden vergingen, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, als ich einen Lichtschein durch die Ritzen der Wandbretter sah, der sich zunehmend ausbreitete. Das Prasseln von brennendem Stroh drang herüber.
Quälende Schuldgefühle ließen mich frösteln. Nicht Hubert tat mir leid, vielmehr seine Freunde, die wegen ihm verrecken mussten. Nur Knochen würden übrigbleiben, Schädel mit Zähnen, der Rest ein Häufchen Asche. Ich dachte an die armen Eltern und das Leid, das sie ertragen mussten.