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Der Roman beruht auf authentischen Fakten, die Dialoge sind dem Wesen der Protagonistin angepasst und frei erfunden. Gerti hat sich schon früh ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Sie will eine gefeierte Primaballerina werden, Weltruhm erlangen und als Heldin ihrer Geschichte hervorgehen. Konsequent und berechnend geht sie ihren Weg. Der Krieg durchkreuzt zunächst Gertis Pläne bis sie, 18-jährig, die Bekanntschaft des hochrangigen amerikanischen Offiziers macht, der als Schöffe beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess den obersten Richtern besitzt. Sie wird seine Geliebte. Für die junge Frau aber ist der Yankee nur Mittel zum Zweck. Als sie entdeckt und unter Vertrag genommen wird, hat er ausgedient. Um die Karriere voranzutreiben, verschafft sie sich mit ihrer Freizügigkeit Privilegien und strapaziert mit zwanghafter Selbstdarstellung und übertriebenem Ehrgeiz die Nerven aller. Auftritte im Orient und in den östlichen Mittelmeerländern sorgen für Schlagzeilen, doch die ersehnten Angebote aus Paris, Moskau und New York bleiben aus. Gertis Affären sind bedeutungslos, bis sie die Bekanntschaft eines Bauingenieurs macht, der weltweit Staudämme und Brücken baut. Sie vertraut ihm blind und weil ihr ein Leben in Luxus sicher scheint, hängt sie die Ballettschuhe an den Nagel. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, die ihren sozialen Abstieg einläutet.
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2024
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1. Kapitel – Die Zufallsbegegnung
2. Kapitel – Am Anfang steht die Leidenschaft
3. Kapitel – Zarte Erfolge
4. Kapitel – Die Ruhe vor dem Sturm
5. Kapitel – Mit vollem Körpereinsatz
6. Kapitel – Ein absurdes Zwischenprogramm
7. Kapitel – Die Reise ins Ungewisse
8. Kapitel – Die Eroberung des Orients
9. Kapitel – Vergeudetes Talent und Männerpleiten
10. Kapitel – Erotik zielgerichtet
11. Kapitel – Klassische Tanzkunst auf Halbmast
12. Kapitel – Eine verhängnisvolle Affäre
13. Kapitel – Falsche Versprechen
14. Kapitel – Die Ernüchterung
15. Kapitel – Bittere Pille
16. Kapitel – Das Ende der Lügen
17. Kapitel – Auf dem Boden der Mutlosigkeit
18. Kapitel – Das Erbe
19. Kapitel – Die Fügung
Yara Sylver
Rampenlicht und Schattenbühne
Eine heitere, frivole Erzählung mit ernstem Hintergrund.
Buchbeschreibung:
Der Roman beruht auf authentischen Fakten, die Dialoge sind dem Wesen der Protagonistin angepasst und frei erfunden.
Gerti hat sich schon früh ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Sie will eine gefeierte Primaballerina werden, Weltruhm erlangen und als Heldin ihrer Geschichte hervorgehen. Konsequent und berechnend geht sie ihren Weg. Der Krieg durchkreuzt zunächst Gertis Pläne bis sie, 18-jährig, die Bekanntschaft des hochrangigen amerikanischen Offiziers macht, der als Schöffe beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess den obersten Richtern besitzt. Sie wird seine Geliebte.
Für die junge Frau aber ist der Yankee nur Mittel zum Zweck. Als sie entdeckt und unter Vertrag genommen wird, hat er ausgedient. Um die Karriere voranzutreiben, verschafft sie sich mit ihrer Freizügigkeit Privilegien und strapaziert mit zwanghafter Selbstdarstellung und übertriebenem Ehrgeiz die Nerven aller. Auftritte im Orient und in den östlichen Mittelmeerländern sorgen für Schlagzeilen, doch die ersehnten Angebote aus Paris, Moskau und New York bleiben aus.
Gertis Affären sind bedeutungslos, bis sie die Bekanntschaft eines Bauingenieurs macht, der weltweit Staudämme und Brücken baut. Sie vertraut ihm blind und weil ihr ein Leben in Luxus sicher scheint, hängt sie die Ballettschuhe an den Nagel.
Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, die ihren sozialen Abstieg einläutet.
Impressum:
Texte: © Copyright by Yara Sylver
Umschlaggestaltung: © Copyright by Yara Sylver
Yara Sylver
c/o M. Schäfer
Hahnenrückstr. 51
55743 Idar-Oberstein
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank Beate auf die Bank neben dem Blumenstand, die halb im Schatten unter einem grün-weißen Sonnenschirm stand. Sie stellte ihre Handtasche neben sich, fischte ein Tempo heraus und wischte sich den Schweiß von Gesicht und Nacken. Dann knetete sie das Papiertaschentuch zu einem kleinen Ball und zielte auf den Abfalleimer keine zwei Meter entfernt. „Hoppla!“, entfuhr es ihr, als das Ding darin verschwand. Bei ihrer schlechten Wurftechnik waren Treffer selbst aus geringer Distanz eher die Ausnahme. Beate schlüpfte halb aus den Sandalen und stocherte in ihren Haaren, die derangiert am Kopf klebten.
Eine gnadenlose Sonne hatte die Stadt in einen dampfenden Kessel verwandelt. Schon die fünfte Woche regierte Hoch Erwin über Mitteleuropa. Mensch, Tier und Natur lechzten nach Abkühlung. Die Freibäder waren überfüllt, an den Stränden der Badeseen lagen die Sonnenanbeter dicht gedrängt wie die Ölsardinen in einer Dose. Eisdielen und Gartenlokale verzeichneten Rekordumsätze, Getränkehersteller legten Extraschichten ein. In den Notaufnahmen der Kliniken herrschte Ausnahmezustand.
Beate zupfte an ihrem Shirt und wünschte, sie hätte ein Blusentop angezogen. Ihr Blick wanderte hinüber zu der betagten Blumenfrau, die über einem Blecheimer mit Freesien und Ringelblumen gebeugt stand und die Sträuße ordnete. Sie trug ein hellblaues Dirndlkleid mit grüner Schürze. Das streng nach hinten gekämmte graue Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Beim Aufrichten hielt sie sich den Rücken. Sie zog ein wenig das linke Bein nach, als sie ankam und sich dazusetzte. „Momentan weiß ich wirklich nicht, was schlimmer ist: diese feindseligen Temperaturen oder mein Kreuz, das jede Bewegung zur Qual werden lässt.“ Es folgte ein tiefer, schwerer Seufzer als Ausdruck ihres Leidens. „Rutschen Sie mal!“, sagte die Frau in einem burschikosen Ton und drängte Beate kurzerhand aus dem Schatten. „Bei Ihnen scheint aber auch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen zu sein, mitgenommen wie Sie aussehen. Macht Ihnen die Affenhitze zu schaffen oder kämpfen Sie sich womöglich durchs Klimakterium!?“
Beate machte große Augen. Klimakterium? Wie dreist von dieser Frau ihr Wechseljahre anzudichten, da niemand sonst ihr abnahm, die Vierzig bereits überschritten zu haben. Und wie selbstverständlich sie die Bank für sich beanspruchte! Beate legte die linke Hand zum Schutz auf den rechten Oberarm, wo sich die Sonne wie glühend heiße Nadeln in die Haut bohrte. Als ob es großartig Sinn machte. „Mich wundert, wie Sie in Ihrem hohen Alter mit diesem Treibhausklima fertig werden“, konterte sie mit scharfem Unterton.
„Ich? Och, ich bin noch vom alten Schlag“, erwiderte die Blumenfrau nonchalant. „Nicht so verweichlicht wie Ihre Generation.“
„Glauben Sie!? Die Umstände sind günstiger, wohl wahr, doch auch meiner Generation wird allerhand abverlangt.“
Die Alte spuckte Misstöne aus.
„Wir können ja mal tauschen!“, regte Beate an. „Sie würden sich schnell an Ihren Stand zurücksehnen mit Ihren Blumen, die sich quasi von allein verkaufen.“
„Sich bei Wind und Wetter die Beine in den Bauch stehen ist kein Zuckerschlecken“, warf die Frau ein. „Während Sie es in einem Laden oder in einem Büro behaglich und bequem haben, laufe ich ständig Gefahr zu erkranken. Gerade bei nasser Kälte, die auch die Knochen kaputt macht. Arbeiten Sie überhaupt was oder sind Sie nur Hausfrau?“
Ein Nicken und Kopfschütteln als widersprüchliche Antwort.
Die Blumenfrau zog daraus ihre Schlüsse. „Meine Kasse bleibt leer, wenn ich mich wegen jedem Zipperlein ins Bett lege, wohingegen Ihr Gehalt Zigarettenpausen und Toilettengänge beinhaltet.“
„Ich rauche nicht. Sie etwa?“
Die Blumenfrau überging es. „Ich muss mir pinkeln komplett verkneifen. Oder sehen Sie hier ein mobiles Klo!?“
Dummes Geschwätz, das keinen Kommentar wert war. Und doch sagte Beate: „Zuweilen wäre es mir ganz lieb, herumzustehen und Leute zu beobachten. Ich muss nämlich permanent Leistung erbringen. Mehr mental als physisch, wobei ein geistiger Kraftakt auch die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Wussten Sie das?“
„Geistige Arbeit!“ Die Frau spitzte die Lippen. „Eine nette Umschreibung fürs Fabrizieren von Mist, den mehrheitlich keiner braucht. Bildung ist nicht gleich Intelligenz, wenn Sie verstehen, was ich meine. Machen die Gescheiten in der Regierung vielleicht das Volk froh? Hier nicht und anderswo nicht. Verpulvern Steuergelder und stecken sich das Geld ins eigene Säckl. Der Normalsterbliche zählt nicht und hat wenig zu lachen. Meine Blumen heitern ihn auf. Ich verkaufe Freude. Das ist was Gescheites.“
Der Zwang, dieser zänkischen Alten Paroli zu bieten, siegte über den Gedanke zu gehen. „Tja liebe Frau, so unterschiedlich hoch sind die Ansprüche an einen Beruf und an sich selbst“, sagte Beate bissig.
Die Blumenfrau warf die Beine übereinander und faltete die Hände. „Was wissen Sie von meinen Ansprüchen!?“
„Nun, ich sehe ja, womit Sie sich zufriedengeben. Wäre mir auf Dauer zu fad.“ Es war nicht nett und es war auch nicht so gemeint, aber nun war es raus.
„Wenn Sie mir so kommen“, schwatzte die Alte und rückte herum, „sage ich Ihnen mal was über Langeweile. Ich gehe stramm auf die Siebzig zu und bin heilfroh, dass es bei mir endlich gediegen zugeht nach turbulenten Jahrzehnten. Langeweile kann durchaus auch positiv sein. Wahrhaftig entstanden bei Müßiggang geniale Gedanken, auf die grandiose Taten folgten. Was Ansprüche betrifft, ist weniger oftmals mehr. Wer die Taube auf dem Dach nicht zu schätzen weiß, dem kackt der Spatz in die Hand. Ist mir passiert. Habe mein Glück immer im Außen gesucht. War mein Verderben. Bin geläutert. Genügsamkeit macht frei. Hier drinnen.“ Sie klopfte sich auf die Brust.
Die Frau sprach wie ein Laienprediger, fand Beate. Oder wie ein Mitglied der Heilsarmee.
„Die Abrechnung kommt zum Schluss“, sagte die Alte weiter. „Und selten stimmt das Ergebnis unterm Strich. Fragen Sie mal die Leutchen in den Altenheimen. Würden alles anders machen, ließe sich die Zeit zurückdrehen. Immer mehr Frauen wagen es, sich nach langer Ehe zu trennen und nur wenige trauern über die Beerdigung des Gatten hinaus. Ich kannte eine, die erlitt kurz nach dem Tod ihres Mannes einen Schlaganfall. Wissen Sie, was die gesagt hat, als ich sie in der Kurzzeitpflege besuchte? Endlich fange ich an zu leben, hat die gesagt. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen. Alt, angeschlagen aber glücklich, nachdem ein Arsch in sich zusammengefallen ist.“
„Scheint mir aber doch die Ausnahme zu sein, denn ich kenne...“
„Die Ehe, eine vom Staat inszenierte Tyrannei, gehört abgeschafft“, bremste die Blumenfrau Beate aus. „Was machen Sie eigentlich beruflich?“
„Ich bin...“
„Verraten Sie mir zuerst Ihr Alter.“
„Dreiundvierzig“, antwortete Beate artig.
„Ich hätte Ihnen auch die Dreiundfünfzig abgenommen“, sagte die Blumenfrau gleichmütig. „Und jetzt bin ich gespannt, mit welch geistiger Tätigkeit Sie Ihr Geld verdienen?“
„Ich schreibe Kurzgeschichten, romantisch verpackt, für die Zeitschrift Die moderne Frau. Womöglich haben Sie sie schon gelesen.“
Die Alte rollte die Augen und brummte die Tonleiter von oben nach unten. „Wo denken Sie hin? Keinen Pfennig berappe ich für Schmierblätter. Meine Nachbarin versorgt mich damit. Stapelweise. Schau mir nur die Bilder an und überfliege Titel und Untertitel. Und Kreuzworträtsel löse ich. Den ganzen anderen Heckmeck kann man vergessen. Die Schreiberlinge von heute haben keinen Stil und kein Gewissen. Locken mit skandalträchtigen Schlagzeilen und fabrizieren Lügengeschichten. Erst diese Liebesschnulzen! Geh mir bloß weg! Was ist denn Liebe? Ein uraltes und ewiges Märchen, in Neuauflagen den Epochen angepasst; Gefühlsduselei missinterpretiert. Ein waghalsiges Spiel, das den Einsatz nicht wert ist.“
Wie frustrierend muss das Leben dieser Frau gewesen sein, dachte Beate. „Da muss ich Ihnen widersprechen und das würden auch unsere Leserinnen, für die meine Geschichten Ansporn sind im Kampf um Liebe und Glück nicht nachzulassen. Offenkundig haben Sie diesen Kampf verloren oder vorzeitig die Waffen gestreckt, sonst wären Sie nicht so verbittert.“
„Ich musste nie um Liebe kämpfen“, sagte die Alte grob. „Hat sich mir immer aufgedrängt, ohne dass ich mich von ihr habe leiten oder verleiten lassen. Habe stets einen kühlen Kopf bewahrt. In meinen Beziehungen waren die Männer die Verlierer. Dafür hab ich gesorgt. Wie schaut's bei Ihnen aus? Erleben Sie denn das permanente und ungezügelte Gefühl des Hingezogenseins, die andauernde vollkommene Zweisamkeit?“ Der Sarkasmus war deutlich herauszuhören und auch, dass die Alte längst nicht so einfältig war, wie es anfangs schien.
„Die Liebe ist mir momentan abhanden gekommen“, erwiderte Beate lässig. „Doch ich bin zuversichtlich, dass mich dieses Empfinden irgendwann wieder ereilt.“
Die Alte grunzte. „Wenn Sie sich da mal nichts vormachen. Aber bitte! Der Glaube versetzt Berge. Wunder soll's geben.“
Beate reichte es. Sie schlüpfte ordentlich in die Sandalen und wollte sich grußlos davonmachen, als sie den verzagten, nein, verletzlichen Blick der alten Dame einfing. Oder täuschte sie sich? Spielte sie bravourös die Rolle einer kalten zynischen Frau, die einerseits vom inneren Frieden sprach und anderseits mit der Welt außerhalb ihres Radius im Clinch lag? Beates Neugier war geweckt. Vielleicht sollte sie nachhaken, sich die Lebensgeschichte der Frau anhören. Möglicherweise glich sie denen von Hunderttausenden, oder aber sie fiel aus dem Rahmen und es ließe sich eine Story daraus machen. „Wenn wir schon tiefsinnige Gespräche führen, sollten wir uns vorstellen. Ich heiße Beate Krämer.“ Sie lächelte breit.
„Gerti Mitter. Aber damit Sie's wissen, ich habe ein miserables Namensgedächtnis. Sehr wahrscheinlich habe ich Ihren vergessen, sobald Sie mir den Rücken kehren. Entschuldigen Sie mich – Kundschaft.“ Die Alte schlürfte hinter ihren Stand und begrüßte mit derber Herzlichkeit eine junge Mutter mit Kinderwagen. „Was darf's sein? Blumen gefällig?“
Beate rutschte in den Schatten und schaute auf die Uhr. Die Mittagspause, die sie für Einkäufe hatte nutzen wollen, war fast um. Den Stress hatte sie jetzt nach Büroschluss. Unnötiger Stress, aus einer Gewohnheit heraus, die sich nach jahrelanger Gleichförmigkeit nicht einfach abschütteln ließ. Denn da war niemand, der Ansprüche stellte, bedient, bekocht oder bespaßt werden wollte. Nicht mehr.
Seit geraumer Zeit schon lebte Beate von ihrem Mann getrennt. Sie hatte sich eine Auszeit genommen, um ihre Ehe zu überdenken. Nicht, dass es ernsthafte Probleme gegeben hatte, nur gab es auch keinen vernünftigen Grund an der Beziehung weiter festzuhalten. Die Erkenntnis war ihr quasi über Nacht gekommen. „Ich bin nicht mehr mit ganzem Herzen dabei“, hatte sie ihrem Volker gebeichtet und ihn gebeten auszuziehen. „Uns ist abhanden gekommen, was uns einst zusammenschweißte. Es braucht Zeit, um herauszufinden, ob es für unsere Ehe noch eine Basis gibt.“ Das große Aufatmen nach seinem Abzug war kaum mehr als ein tiefer Seufzer gewesen, die anfängliche Euphorie, frei in ihren Entscheidungen zu sein schnell verblasst. All die Dinge, die sie schon immer hatte tun wollen, wozu Volker selten Lust verspürte, waren plötzlich unbedeutend. Da erst wurde ihr bewusst, dass ihre Ablehnung die Revanche für zahllose Machtkämpfe und unnötige Reibereien war, die eine Beziehung vergifteten. Der Kleinkrieg eines Ehelebens halt.
Volker, der einen anderen Mann vermutete, wollte Klarheit und drängte auf eine Entscheidung, zu der sich Beate nicht durchringen konnte. Die Tatsache, dass sie ihn nicht wirklich vermisste, kein sexuelles Verlangen nach ihm verspürte, ließ sie zögern. Auf seine Drohungen und Vorhaltungen reagierte sie mit Seelenruhe.
Der Gedanke, dass ein Kind die Trennung hätten verhindern können war aufgeflammt und wieder erloschen. Sie liebte ihre Arbeit viel zu sehr, als sie für die Mutterrolle einzutauschen. Entweder das eine oder das andere. Beides kombiniert ging dauerhaft zu Lasten der Familie. Darin waren sich beide einig gewesen. Verlagsarbeit war ihr Ding, von jeher. Recherchen, Anzeigen- und Textgestaltung, Reportagen in alle Richtungen, früher auch Vermarktung und Vertrieb. Abwechslungsreiche und eigenverantwortliche Arbeiten, bei denen Kreativität gefragt war. Ihr Ideenreichtum und die Begabung Erzählungen und Sachverhalte wortgewandt zu verfassen, hatten die Leser zu schätzen gewusst. Seit Jahren schrieb sie vorrangig Kurzgeschichten, die aus ihrem Kopf gesprudelt waren wie eine nie versiegende Quelle. Bis neulich. Als eintrat, was Autoren und Künstler fürchteten: den Tiefpunkt, die Krise, das mentale Aus. Das Zusammensetzen einer Geschichte war zum Kraftakt geworden. In ihrer Verzweiflung hatte sie auf alte Texte zurückgegriffen und sie geringfügig abgeändert. Manches war durchgegangen, etliches abgeschmettert worden. Die Chefin hatte sie zum Auftanken in den Urlaub geschickt. Nichts war anders hinterher und allmählich wurde es brenzlig. Aus der Not geboren ließ Beate sich von anderen Autoren inspirieren, klopfte bis zum Umfallen in die Tasten und kreierte doch nur Mittelmaß. Das Gerücht der Entlassung kursierte.
Beate gefiel der Gedanke, dass die heutige Begegnung kein Zufall war, sondern Fügung. Hatte diese resolute Person ohne es zu ahnen die Saat für ein Revival ihrer Schöpferkraft ausgelegt? Sie symbolisch aus dem Schatten verdrängt ins Licht? Eine Idee als Nährstoff für ihren verkümmerten Geist. Ein Motivationsschub in allerletzter Minute womöglich. Die Vorstellung, zu alter Form zurückfinden, beflügelte Beate. Falls die Vergangenheit der Blumenfrau Gerti tatsächlich abenteuerlich gewesen war, ließe sich daraus ein Fortsetzungsroman machen, der die Leser mitriss. Oder gleich ein Buch.
Automatisch rückte Beate in die Sonne, als die Frau mit einer Flasche Mineralwasser ankam. „Die Sträuße sind schon billig genug und trotzdem will das Gschwaddel noch handeln. Frechheit! Aber der hab ich Bescheid gestoßen.“
„Was haben Sie ihr gesagt?“
„Hab ihr geraten, ihre Blumen selber zu pflücken oder sich welche zu malen.“ Es zischte, als die Frau am Verschluss drehte. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ es laufen, jeder Schluck laut hörbar.
„So vergrault man sich die Kundschaft.“ Beate lehnte dankend ab, als ihr die Flasche angeboten wurde. „Ich neige zu Herpes.“
„Bebbn heißt es bei uns. Und auf Kundschaft, die um jeden Pfennig feilscht, kann ich verzichten. Das Bisschen macht das Kraut nicht fett.“ Die Kohlensäure ließ sie aufstoßen.
„Kommt drauf an, wie nötig man Geld hat“, sagte Beate in der Annahme, dass die Frau nicht mit Reichtümern gesegnet war. „Ich vermute nämlich, dass Ihnen die gebratenen Tauben nicht in den Mund geflogen sind.“
Gerti warf ein Bein über das andere, wippte mit dem Fuß und lächelte stillvergnügt vor sich hin. „Ganze Scharen sogar, als ich noch jung und schön war“, sagte sie dann mit weicher Stimme. Wie auf Knopfdruck war das Lächeln verschwunden und der Ton rau. „Bis zu jenem Tag, an dem ich den größten Fehler meines Lebens begangen und geheiratet habe. Wie gesagt: das Verderben einer Frau beginnt mit der Berührung eines Mannes. Und der Eintritt in die Hölle, sobald man seinen Namen angenommen hat.“
„Oje! Das hört sich aber gar nicht gut an.“
„Nicht gut?“, sagte Gerti scharf. „Wie steigert man Tragödie!? Werde mir auf ewig nicht verzeihen, mich auf diesen Blender eingelassen zu haben. Wollte mir die Zügel aus der Hand nehmen, der Mistkerl, und mich beherrschen. Mich! Ausgerechnet! Ach Gottchen, eine Weile war's ja auch so. Wegen der Umstände. Hätte mir je einer gesagt, wie ich enden würde...! Habe, bevor ich mit dem Ringe tauschte, stets meinen Kopf durchgesetzt und auf meinem Weg Hindernisse mit Links beseitigt und auch die eine oder andere Leiche zurückgelassen. So nämlich geht Erfolg. Wer zimperlich ist, muss sich über Niederlagen nicht wundern.“ Triumph schwang in ihrer Stimme. „Habe die Kerle blechen lassen und meine Konkurrentinnen ausgebootet, wie sich das gehört.“ Ihr Blick verlor sich im Schaufenster des gegenüberliegenden Pelzgeschäftes, das mit Sommerrabatten warb.
Beate hüstelte, um sich einen Lacher zu verkneifen.
Die Alte zuckte kaum merklich und fuhr fort. „Aber dann hat es mich böse erwischt, weil der Teufel überall seine Hände im Spiel hat. Und Kurt, mein Ex, hat ihm assistiert.“ Sie entließ einen bitteren Seufzer. „Habe als junges knackiges Ding das Bild einer klassischen Schönheit verkörpert. Ein Augenzwinkern und die Knaben hatten einen Steifen in der Hose.“
Beate sah genauer hin und für wahr, die Frau hatte das Profil Nofretetes. Reichlich Makeup hatte sie aufgetragen, das durch die Hitze fleckig geworden war. Die Augenbrauen waren rund gezupft und grau gefärbt. Die markante Nase verlieh ihr den klassischen Touch. Die Lippen waren geprägt von einer starken Kupidoschwinge. Dachte man sich die Falten weg und die strengen Züge, war die Selbstdarstellung nicht übertrieben.
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte Gerti mit einem Kopfzucken. „Ihr Jungen könnt euch nicht vorstellen, dass wir Alten auch mal jung und ansehnlich waren.“
„Sie werden lachen, genau das habe ich versucht mir auszumalen. Und jetzt verraten Sie mir, was Sie früher gemacht haben.“
„Ich war Tänzerin. Primaballerina. Gefragt, umworben, vergöttert.“
„Ach, tatsächlich?“
„Ja warum denn nicht?“
Wieder sah Beate auf die Uhr. Zehn Minuten über der Zeit. „Klingt nach einer Menge Gesprächsstoff. Leider muss ich wieder ran. Hätten Sie Lust, mir von Ihrer Karriere und der Zeit danach zu erzählen.“
Gerti taxierte Beate mit kritischen Blicken. „Wieso sollte ich?“
„Weil Sie stolz auf das, was Sie geleistet und erreicht haben, Künstler gieren ein Leben lang nach Anerkennung und Bewunderung. Das lässt nach dem Karriereende nicht automatisch nach. Sie werden nie aufhören, sich darzustellen, mehr oder weniger. Das Podest der Selbstherrlichkeit ist der Boden unter Ihren Füßen.“
„Sie schwatzen vielleicht dummes Zeug! Um beachtet zu werden, muss ich nicht im Kreis springen oder sonst was Urkomisches veranstalten. Dafür hab ich meine freche Goschn.“
„Tun Sie mir dennoch den Gefallen?“
Gerti zögerte eine Antwort hinaus.
„Ihre Biographie interessiert mich wirklich sehr. Von der Primaballerina zur Blumenverkäuferin. Von der Bühne auf die Straße quasi. Klingt vielversprechend, wenn das, was dazwischenliegt ebenso dramatisch wie glamourös ist.“
„Damit ich mich in den Klatschspalten eines Käseblatts wiederfinde?“, höhnte Gerti. „Wohl eher nicht!“
Beate belächelte ihren gespielten Widerstand. Die Frau wollte gebauchpinselt werden. „Natürlich ändern wir Ihren Namen, damit...“
„Nix! Der bleibt wie er ist, falls ich zustimme. Also so was! Kommt da eine an und will über mein Leben schreiben! Tzzz!“
„Ich suchte Schatten, der mir nicht vergönnt war. Das Gespräch haben Sie angezettelt.“ Beate stand auf, stellte sich unter den Schirm und zückte den Geldbeutel. „Selbstverständlich honoriere ich Ihre Geschichte, sollte sie gedruckt werden. Rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben. Hier ist meine Karte.“
„Die können Sie behalten. Ich telefoniere nicht gern. Kommen Sie am Samstag vorbei.“
Beate steckte die Karte wieder ein. „Da habe ich frei. Ich komme Freitag. Ade und einen schönen Tag noch!“
Gerti schaute der Frau mit flackernden Lidern hinterher, bis sie im Gewühl der Menge verschwand.
Im Büro war es stickig, die Klimaanlage lief nur mit halber Kraft. Auch sie kapitulierte vor der Sommerglut. Beate steckte die Nase ins Shirt und schnüffelte an sich. „Geht noch!“ Sie setzte sich hin, legte die Hände am Hinterkopf übereinander und stieß sich mit dem Fuß vom Boden ab. Der Stuhl fuhr Karussell. Die Zuversicht war als berauschendes Gefühl zurück. Ihr Akku lud auf, es war deutlich spürbar. Wortfetzen erschienen vor ihrem inneren Auge, die sich zu originellen Sätzen aneinanderfügten, Zeile für Zeile. Die Fantasie ging mit ihr durch. Sie sah das fertige Buch, das Cover, wo unten mittig der Name der Autorin stand. Ihr Name. Ein Bild, das Beates Herz vor Erregung springen ließ.
Die Tür flog auf. Katja, eine kesse Volontärin mit redaktionellen Zukunftsaussichten stürmte mit jugendlichem Elan herein. „Die Päpstin verlangt nach dir! Ich glaube, du wirst gefeuert.“
Chefredakteurin Schnarch, auch Schnarchzapfen genannt, veranschaulichte Beate mit geheucheltem Bedauern, für den Verlag nicht länger tragbar zu sein. „Von Genialität und Effektivität kann seit geraumer Zeit nicht mehr die Rede sein“, schloss sie ihr Plädoyer ab.
„Jeder hat mal ein Formtief“, ereiferte sich Beate. „Kein Mensch kann ununterbrochen gute Ideen hervorzaubern. Auch Sie nicht!“
„Nur leider kann es sich der Verlag nicht leisten, Mitarbeiter durchzubringen, bis das zweifelhafte Wunder der Wiederfindung geschieht. Womöglich hätte bei Ihnen klare Bergluft mehr bewirkt, als belastende Stadtluft.“
„Wo ich Urlaub mache, geht Sie...“
„Sie wissen um unser knappes Budget“, fiel die Schnarch Beate ins Wort. „Da muss jeder permanent hundert Prozent geben, um auf den Gleisen zu bleiben. Sie hinken extrem hinterher.“
Beate hatte das dringende Bedürfnis, dieser Emanze an die Gurgel zu gehen. Erst vor einem knappen Jahr hatte sich die 29-Jährige im Chefsessel breitgemacht und man munkelte, sie habe sich die Karriereleiter hochgeschlafen. Was ein Widerspruch zu ihrer lesbischen Neigung wäre, aus der sie kein Hehl machte. Aber was hieß das schon!? Laut ihrer Vita hatte die Schnarch in Lille, Frankreich Journalismus und Publizistik studiert und danach ein Jahr im Springer Verlag gearbeitet. Warum sie dort weg ist, wusste keiner so genau. Ihre Arroganz mit Tendenz zur Selbstüberschätzung sorgte allgemein für schlechte Stimmung. Schnarchs Bestreben, mit streng konservativen Kostümen und Hosenanzügen Autorität hervorzukehren, wurde belächelt. Von Personalführung hatte die Frau nicht den Hauch einer Ahnung.
„Ich lehne die Kündigung ab“, sagte Beate mit fester Stimme. „Sie können mich nach zwanzig Jahren nicht einfach so vor die Tür setzen. Man kann mir nichts vorwerfen, das einen Rauswurf rechtfertigt. Es gibt andere Bereiche, wo ich...“
„Da muss ich Ihnen in beiden Punkten widersprechen“, sagte die Schnarch mit einem provokativen Zucken der Mundwinkel. „Die rückläufigen Auflagen zwingen mich zu einer personellen Umstrukturierung. Wenn ich Sie nicht entlasse, trifft es jemand anderen.“
Es war schlichtweg gelogen! In den letzten vier Jahren stieg die Auflage beständig, drei neue Mitarbeiter waren eingestellt worden. Innerlich schäumend vor Wut wies Beate darauf hin. „Ist es zudem nicht üblich, dass der, der als letzter kommt, als erster geht?“
„In dieser Branche eher nicht. Da müssen die gehen, die dem Trend nicht mehr folgen können.“
„Was? Das erklären Sie mir bitte genauer.“
„Aber gerne doch“, sagte die Schnarch mit distanzierter Freundlichkeit.
Beate riss das Fenster auf und atmete tief und gleichmäßig, um bloß nicht loszuheulen. Ausweinen wollte sie sich daheim. Ihr Magen verkrampfte, sie legte die Hand auf. Die Lesbe hatte ihr gnadenlos an den Kopf geworfen, sie sei zu alt und schöpferisch ausgehungert und somit außerstande den Lesern gerecht zu werden.
Schon damals, als der Schnarchzapfen der Belegschaft vorgestellt wurde und ihre Antrittsrede hielt, hatte sie geahnt, dass mit der nicht gut Kirschen essen war. Zu mehr Innovation wollte die Schnarch dem Verlag verhelfen, mit einem jungen Team für junge Leserinnen. Um das gesteckte Ziel zu erreichen, hatte sie in kürzester Zeit umgekrempelt, was sich über die Jahre bewährt hatte. Dass es erwiesenermaßen die über Vierzigjährigen waren, die für höhere Umsätze sorgten, und das bei beiden der wöchentlich erscheinenden Frauenzeitschriften, wurde ebenso ignoriert wie die Argumentation der Mitarbeiter, die sich allesamt für den Erfolg ins Zeug legten.
Sie selbst war die Älteste in der Redaktion, seit zwei Kollegen in den Ruhestand gegangen waren. Und? Körperlich war sie fit und geistig immer rege gewesen. Sie war zeitlich flexibel, termintreu und sie passte sich den Trends an. Zu alt! Lächerlich! Zugegeben, sie schwächelte momentan, doch Assistent Mirco hätte ihre Krise überbrücken können. Ihr schwuler Kollege mit einem Engelsgesicht war ein grandioser Geschichtenerzähler. Die Schnarch hatte sich nicht darauf eingelassen. Die Kündigung war eine Farce, aber bittere Realität. Man wollte sie loswerden. Und egal, ob die Kündigungsfrist vier Wochen, vier Monate oder ein Jahr betrug, für sie war heute Schluss. In Absprache mit sich selbst war ein Schrecken mit Ende besser, als dass der tägliche Gang zur Arbeit zur Qual wurde. Garantiert hatte die Schnarch noch mehr in petto, ihr das Leben schwer zu machen.
Das Telefon klingelte. Beate ging nicht ran. Gleich darauf klopfte es und eine Kollegin kam unaufgefordert herein. „Jetzt nicht!“, sagte Beate schroff und wedelte mit der Hand, als galt es eine Fliege zu verscheuchen.
Kim, eine lebensbejahende, in sich ruhende junge Frau, die mehr war als nur eine Kollegin, machte auf dem Absatz kehrt. Der Ton war ihr vertraut. Da verdünnisierte man sich besser. Dabei war sie nur gekommen, um zu trösten. Die Nachricht hatte die Runde gemacht.
Nachdem der Inhalt des Schreibtisches in einen Karton gewandert war, nahm Beate die Poster von der Wand, zerriss sie und ließ die Papierfetzen durch die Luft segeln. Sie zückte die Lesebrille, löschte Dateien von der Festplatte ihres PCs und nahm die Diskette aus dem Rechner, auf der eine Erzählung seit Wochen auf ihre Vollendung wartete. Es wäre eine nette Geschichte geworden. Ein Ex-Profi-Fußballer, durch einen Autounfall zum Krüppel geworden, rettet junge Frau vorm Ertrinken. Und natürlich wird daraus die große Liebe. Rührselig und ergreifend. Ganz nach dem Geschmack der Leser. Pure Romantik; primitiver Kitsch nach Ansicht der Blumenfrau, den sie nicht mehr zustande brachte.
Beate schaute sich um. Am Fenster stand eine einsame Topfpflanze, die ihr die Schnarch letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Beate lehnte Zimmerpflanzen ab. Weil sie Arbeit machten und hässliche Ränder auf den Fensterbänken hinterließen, wenn man beim Gießen die nötige Sorgfalt vermissen ließ. Kurzerhand warf Beate das Kraut kopfüber in den Papierkorb und rieb sich die Hände. „Das war's!“ Ihre Lippen kräuselten sich. Sie würde sich noch heute krankschreiben lassen, dann Überstunden abfeiern und Resturlaub nehmen. „Und dann schauen wir mal!“
Draußen stand der Bürowagen, Volontär Jimmy verteilte die zweite Lieferung Post. Beate nahm den Korb herunter, stellte ihre Sachen auf die Ablage und schob den Wagen vor sich her. Sich der Blicke der Kollegen hinter Trennwänden aus Glas bewusst, hob sie die Hand zum Gruß ohne rechts und links zu schauen. Mirco, der sich in einer Nische am Kopierer zu schaffen machte, bekam einen Luftkuss zugeworfen. „Mach's gut. Vielmehr besser. Weil gut niemals gut genug ist. Nein, sag jetzt nichts. Ade und tschüss!“
Am Flurende stieß sie die Tür zur Chefkanzel auf, sie krachte gegen die Wand. Der Schnarchzapfen zuckte zusammen – ein erfreulicher Anblick. „Bin dann weg!“, sagte Beate laut und vernehmlich. „Ich lege mich daheim auf meinen wunderschönen Balkon und kuriere meine Migräne aus.“ Sie fasste sich mit niedergeschlagenen Lidern an die Schläfe. „Wieder einer dieser Anfälle, die bestimmte Menschen bei mir auslösen. Schon ein Blickkontakt verursacht diese allergische Reaktion.“ Beate zeigte der Kanaille den Mittelfinger und setzte ihren Weg fort. Im Aufzug ging es in die Tiefgarage. Beate stellte Karton und Tasche auf den Beifahrersitz ihres roten Audi Coupés, den Postwagen ließ sie einfach stehen. Sie schwang sich hinters Lenkrad, ließ den Motor an und öffnete das Verdeck. Sie fuhr die Auffahrt hoch und hielt ihre ID-Card vor das Lesegerät. Die Schranke öffnete sich. Beate gab Gas und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. An einer roten Ampel driftete sie gedanklich ab, Tränen verschleierten ihren Blick. Aufdringliches Hupen ließ sie zusammenfahren. Die Ampel war grün.
Trotz Sonnenschutz und Ventilatoren war es in der Arztpraxis drückend heiß. Wegen des Andrangs und weil sie keinen Termin hatte, musste Beate über eine Stunde warten, bis sie endlich aufgerufen wurde.
Eine durch Stress und Überlastung vorübergehende psychische Störung lautete die Diagnose nach einer kurzen Schilderung der Ereignisse. Mit der Krankschreibung in der Tasche fuhr Beate einkaufen, dann heim. Sie räumte fix die Lebensmittel weg und zog sich bis auf den Slip aus. Im verdunkelten Schlafzimmer legte sie sich aufs Bett und starrte mit gefalteten Händen über dem Bauch ins Nichts. Nun konnte die Depression kommen. Die Minuten tickten dahin, doch erste Anzeichen von Niedergeschlagenheit blieben aus; kein aufkeimendes Selbstmitleid, keine Bitterkeit über den Verlust des Jobs. Ein Kribbeln stellte sich ein, das von den Fußsohlen die Beine hinaufkroch, die Wirbelsäule entlang, bis unter die Haarspitzen. Ein Empfinden wie beim ersten Kuss, der ersten intimen Berührung, oder beim tiefen Inhalieren eines Joints. Beate sprang auf, zog das Rollo hoch und öffnete in allen Räumen die Fenster. Kein Lüftchen ging, nicht der leiseste Windfurz. Sie warf sich ein langes Trägershirt über, stellte sich auf den Balkon und ließ den Blick schweifen. Wie schön sie doch wohnte und wie selten sie es in der Vergangenheit genossen hatte. Das 6-Parteienhaus am Stadtrand im Südwesten Nürnbergs stand in einer verkehrsberuhigten Nebenstraße, wo sich mehrheitlich Einfamilienhäuser aus den 1950ern aneinanderreihten. Beate wohnte in der obersten Etage in einem der beiden Wohnblocks aus den 1970ern, von solider Bausubstanz noch; mit Wänden aus Stein statt aus Beton. Wohn- und Schlafzimmer nahmen die komplette Südseite ein, mit Ausblick auf die benachbarten Gärten und den angrenzenden Nadelwald. Keine zehn Autominuten entfernt war der alte Kanal. Idyllische Wander- und Fahrradwege, gesäumt von altem Baumbestand, lockten Spaziergänger und Freizeitsportler vor allem an den Wochenenden dorthin. Die beidseitigen Landstreifen waren Heimat für viele Arten von Flora und Fauna, wie man sie sonst nur in geschützten Biotopen vorfand. Auch der neue Kanal – die Rhein-Main-Donau-Verbindung – der sein Bett durch eine facettenreiche Landschaft grub, war nur ein Katzensprung entfernt. Beate nahm sich vor, alsbald mit dem Rad bis runter zur zweiten Schleuse zu fahren, oberhalb des Rothsees, wo sich auf künstlich angelegten Inseln Wasservögel niedergelassen hatten. Wann war sie zuletzt dort gewesen? Es war ewig her.
Beates Gedanken reisten voraus, ein Bild entstand: von der Kaimauer aus Frachtkähne und Motorboote beim Ein- und Ausschleusen zusehen, verknüpft mit dem wohltuenden Empfinden, am abgeflachten Ufer die Füße ins Wasser zu halten und ein Buch zu lesen. Mit einem seligen Aufatmen breitete Beate die Arme aus und hüllte die Welt und sich darin ein. Jedes Ende war auch ein Anfang; schließt sich eine Tür, öffnet sich eine andere. Sie nahm die Arme herunter, ging in die Küche, drehte das Radio auf und sah sich unschlüssig um.
In aller Herrgottsfrühe ließ Beate die Markise herunter und deckte den Balkontisch. Schon jetzt zeichnete sich ab, dass die Temperaturen wieder auf Rekordhöhe klettern würden. Dort, wo nicht gesprenkelt wurde, verkamen Grünflächen zu leblosen Steppen, das Laub der Bäume verkümmerte. Aus den Komposthaufen reihum stieg Fäulnisgeruch auf. Laut Wetterbericht war ein Ende in Sicht. Ein Tiefausläufer über dem Atlantik war im Anmarsch und würde Deutschland in spätestens zwei Tagen erreicht haben.
Ein wohliges Räkeln war der Auftakt zu einem ausgedehnten Frühstück. Der Kaffee duftete intensiver als sonst, die aufgebackenen Brötchen schmeckten wie frisch vom Bäcker, so Beates Eindruck. Wirkten sich Glückshormone auf den Geschmackssinn aus? Ja!
Nachdem der letzte Krümel vom Teller war und sie die Zeitung vom Vortag gelesen hatte, holte Beate das schnurlose Telefon, tippte die Nummer ihrer Mutter ein und legte nach dem ersten Klingelton auf. Nicht jetzt! Wenn die von der Kündigung erfuhr, durfte sie sich wieder minutenlang was anhören. Dazu war der Tag zu schön. Sie legte die Beine hoch, zwang sich an nichts zu denken und kam ins Grübeln. Was außer Verlagsarbeit kam für sie in Betracht? In welchen Bereichen würde man ihr noch eine Chance geben? „Nix da!“, lautete ihr Fazit, nachdem sie alle Möglichkeiten durchdacht hatte. „Soll einer es wagen, mich vom Schreiben abzuhalten.“ Beate lachte, doch es war kein ehrliches Lachen. Geschichten entstehen zu lassen, an Texten zu basteln war ihre Leidenschaft, immer gewesen. Es sein lassen war wie verhungern auf geistiger Ebene. Unvollständig würde sie sich fühlen, wie nach einer Gliedmaßenamputation. Mit Kitschromanen aber und lückenfüllendem Klimbim, der niemandem in Erinnerung blieb, wollte sie sich nicht länger herumschlagen. Bedeutungsvolle Ereignisse lagen ihr am Herzen. Auch tiefsinnige und kurzweilige Unterhaltungsliteratur, sowie spannende und lebensnahe Erzählungen, die nachdenklich stimmten und in denen sich die Leser wiedererkannten. Beate hielt ihr Gedankenkarussell an. „So machen wir das. Punkt. Aus. Amen. Komme, was da wolle.“ Sie stand auf, stellte die leicht verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank, packte die Badetasche und fuhr zum Stadion-Bad; guten Gewissens und ohne zuvor klar Schiff zu machen. Welch ein Luxus!
Der Parkplatz vor dem Freibad war voll und auch in den Nebenstraßen standen die Autos dicht an dicht. Beate fuhr zum nahe gelegenen Silbersee, wo das Baden wegen stark toxischer Belastung untersagt war. Im dritten Anlauf fuhr sie zum Pulversee ins Bayern 07-Bad. Auch hier musste sie umherkurven und dann einen langen Fußmarsch in Kauf nehmen.
*
Das sechzehn Quadratmeter große Wohnzimmer war mit stilvollen Möbeln überladen. In der Glasvitrine des Eichenschranks, der sich über eine komplette Wand erstreckte und sich darum die Zimmertür nicht komplett öffnen ließ, türmte sich Geschirr mit Blümchenmuster sowie unzähliges Kristall. Auf einem Sideboard an der kurzen Wand stand ein grünes Telefon mit Brokatponcho und goldener Litze. Daneben ergoss sich ein Sammelsurium von Porzellanfiguren; der Albtraum einer jeden Hausfrau sie staubfrei zu halten. Der Linoleumbelag war vergilbt vom Sonnenlicht, der Teppich mit floralen Ornamenten schlug Wellen. Steif drapierte dunkelrote Übervorhänge mit Volant rahmten das Balkonfenster mit schlichten Gardinen. Die grobe Raufasertapete war mit einem hellen Beigeton überstrichen worden. Das einzige Bild, ein mit Kohle gezeichneter Tigerkopf, schmückte die Wand, vor der die Couchgarnitur stand.
Beate versank tief im Sessel aus graugrünem Velours.
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte Gerti. „Das Zimmer quillt über.“
„Ja! Doch!“
„Bringe es nicht fertig, noch mehr herzugeben. So viel ist schon weg. Ich wohnte zuvor in einem dieser prunkvollen Altbauten in der Pirckheimer Straße, in einer geräumigen 5-Zimmer-Wohnung mit Räumen doppelt so groß wie diesem. Sogar im Bad war Platz zum Tanzen. Konnte sie nicht länger halten. Mein Herz hing in tausend Fetzen, als das Rote Kreuz drei Viertel des Hausstandes abholen kam.“
„O ich kenne die Häuser“, warf Beate ein. „Wollte selbst einmal dort einziehen. Heute bin ich froh, dass es nicht geklappt hat. Der Verkehrslärm ist enorm.“
„Wie die Mieten.“ Gerti setzte sich auf den Sofarand und spielte mit dem Saum ihres mausgrauen Rocks. Die grobmaschige, orangefarbene Strickjacke über der weißen Bluse hing ungleichmäßig um die Schulter.
Beate nickte wissentlich. „Die ihre Berechtigung haben hinsichtlich der Stuckdecken, der edlen Holzböden und der Kassettentüren mit Buntglasfensterchen. Einfach toll!“
„Meinen Eltern gehörte einst Haus Nr. 47“, sagte Gerti weiter. „Jeweils am Ersten eines Monats ging meine Mutter von Tür zu Tür und kassierte die Mieten. Später dann der Hausmeister. Mein Vater war selbstständig und...“
„Halt, halt!“ Beate lachte auf. „Das ist Teil Ihrer Lebensgeschichte. Es darf gerne aus Ihnen heraussprudeln, nachdem ich Block und Stift in Händen halte. Und der Reihe nach, gell? Ich stenografiere und schaffe 140 Silben pro Minuten. So schnell können auch Sie nicht schwatzen.“
„Haben Sie eine Ahnung!“ Das Glucksen und Zischen der Kaffeemaschine war verstummt. Gerti stützte sich mit beiden Händen ab und kam hoch. „Erst trinken wir Kaffee. Mögen Sie Pfirsichkuchen? Es gibt nämlich nur den.“
Beate schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, ich bin noch satt vom Mittagessen.“
„Den habe ich extra für Sie gekauft“, kam es als Vorwurf zurück.
„Ich bin ja ein Weilchen da. Vielleicht nehme ich später ein Stück“, lenkte Beate ein. „Wenn ich Sie aber um ein Glas Wasser bitten dürfte. Von Kaffee bekomme ich immer Durst.“
Gerti holte ein Glas aus dem Schrank. „Ich kann Ihnen nur Leitungswasser anbieten. Oder Buttermilch.“
„Leitungswasser, bitte!“
Schmunzelnd und mit dem Ergebnis mehr als zufrieden, legte Beate Notizblock und Stift in den Schoß. „Meine Erwartungen wurden übertroffen. Die Details, sofern Sie sich noch daran erinnern, erzählen Sie mir ein andermal. Und natürlich behalte ich mir vor, die eigene Fantasie mit einfließen zu lassen.“
„Dann ist es nicht mehrmeine Geschichte“, sagte Gerti mit vor Aufregung geröteten Wangen. Sie hatte sich bei ihrer Schilderung in Rage geredet, als erlebte Sie alles noch einmal.
„Doch, doch“, sagte Beate beschwichtigend. „Es geht mir hauptsächlich um die Dialoge und den Umgang mit ihren Mitmenschen. Mir genügen Beispiele, die ich im Wortlaut genauso fortsetzen werde. Korrekturen lassen sich dann immer noch vornehmen.“
„Insofern es meine Zeit zulässt“, sagte Gerti von oben herab.
„Natürlich. Ich dränge Sie zu nichts.“
„Morgen hätte ich Zeit.“
Als um sechs die Kirchenglocken den Tag einläuteten, saß Beate bereits auf dem Balkon und klimperte auf den Tasten des Laptops herum, das Telefon war auf stumm gestellt. Später, als das Lämpchen blinkte und die Nummer von Anne auf dem Display erschien, ging sie ran. Die Freundin wusste von der Kündigung und was Beate vorschwebte und hatte darauf mit Skepsis reagiert.
„Na meine Süße! Hattest du wegen mir eine schlaflose Nacht?“, fragte Beate amüsiert.
„Hallo zurück. Ja, die Nacht war unruhig. Ich mache mir halt so meine Gedanken. Du weißt, wie schwierig es ist, einen Verlag zu finden, der Jungautoren eine Chance gibt.“
„Stell dir vor!“
„Die Geschichte muss überzeugen.“
„Mich überzeugt sie.“
Sagen alle, die sich zum Schreiben berufen fühlen, dachte Anne, sprach es aber nicht aus. „Lässt du mich dein Werk lesen, bevor du es einreichst?“
„Mal sehen! Eher nicht. Freunde sind sonderlich kritisch und ich kann mit inkompetenter Kritik nicht umgehen.“
„Hab ich dich je kritisiert?“
„Permanent.“
Anne überging es. „Und was ist mit der Kündigung?“
„Was soll sein?“
„Verklag die Schnepfe auf eine angemessene Abfindung.“
„Vielleicht.“
„Vielleicht? Du scheinst Geld nicht nötig zu haben.“
„Du, ich muss weitermachen“, sagte Beate ungeduldig. „Habe gerade einen Fluss. Melde mich wieder.“
„Man könnte meinen, der Abgabetermin stünde bereits fest.“
„Mein Akku ist proppenvoll. In meinem Kopf rattert's unermüdlich. Komme mit Schreiben nicht hinterher.“
„Schön! Aber vergiss darüber deine Freunde nicht.“
„Achwo! Wir treffen uns wie jeden Donnerstag im Irren Elch. Bis dahin.“
Der Irre Elch ist eine urige Kneipe im gleichnamigen Hotel, das anfänglich Elch-Hotel hieß. Weil es in der Irrer Straße steht, wurde es irgendwann umbenannt. Das Fachwerkhaus aus Sandstein aus dem 14. Jahrhundert liegt im idyllischen Burgviertel Nürnbergs, im Schatten der Sebalduskirche.
Beate schlug sich in den kommenden Wochen so manche Nacht um die Ohren. Und erst wenn sich ein helles Grau zeigte, schaltete sie das Notebook aus und fiel erschlagen aber zufrieden ins Bett.
Im August 1931 wurde Gerti als einziges Kind von Maria und Reinhold Brehm in Fürth bei Nürnberg geboren. Mit dem dichten schwarzen Haar, das sich zunehmend zu einem lichten Braun auswuchs, und den wasserblauen Augen war sie Papas ganzer Stolz. Püppchen nannte er sie zärtlich und konnte ihr nur schwer etwas abschlagen. Als Händler für Continental-Reifen hatte Reinhold einfach zu wenig Zeit, sich um die Erziehung zu kümmern und ließ, auch um sein Gewissen zu beruhigen, die Zügel schleifen. Gerti lernte früh, wie man Männern um den Bart ging und wie mühelos sie sich beherrschen ließen. Ein möglicher Aspekt für ihre überspannte Ich-Stärke, mit der sie sich schon im Kleinkindalter Respekt verschaffte.
Im zweiten Schuljahr entdeckte Deutschlehrerin Veigel, die auch Sport unterrichtete, Gertis Talent für Tanz und Leichtathletik; beides oft kombiniert, mit fließendem Übergang. Ein 50-Meter-Lauf bot sich für grätschbeinige Luftsprünge an und jeder Ballabgabe beim Völkerball beispielsweise folgte eine Kunstfigur. Auch in den Pausen setzte sich das Kind auf dem Schulhof mit spontanen Tanzeinlagen in Szene. Bei anderen Lehrern war Gerti weniger beliebt. Sie sagte ein, ließ Zettelchen mit Aufgabenlösungen herumgehen und störte auch den Unterricht, wenn der Lehrstoff sie unterforderte. Eckenstehen, Nachsitzen und Strafarbeiten blieben wirkungslos.
„Also wirklich, ich sehe das Problem nicht“, verteidigte Reinhold seine Tochter vor dem Schulleiter. „Weltweit treiben Massenmörder ihr Unwesen und hier regt man sich über eine blitzgescheite Frohnatur mit Helfersyndrom auf. Mich jedenfalls beeindruckt das ausgeprägte soziale Verhalten meiner Gerti. Wenn es ausschließlich Menschen wie sie gäbe, würden Kriege allenfalls mit Knallerbsen und Wasserpistolen geführt.“
Reinhold meldete sein Mädchen in der Ballettschule des Opernhauses an und verordnete ihr Klavierstunden. Gerti griff gern in die Tasten, doch die nötigte Disziplin brachte sie allein beim Tanzen auf. Sie war zwölf, als ihr geliebter Papi in den Krieg ziehen musste. Die Angst um ihn lähmte sie. Gerti zog sich mehr und mehr zurück und schwänzte die Schule. Die Tanzerei hätte sie ablenken können, doch dafür war kein Geld übrig. Als sie auch die Mahlzeiten verweigerte, suchte die Mutter Rat bei Schwager Werner. Der sechsfache Vater war wegen eines Granatsplitters im Kopf aus dem Militärdienst entlassen worden. Da das Ding nicht gefahrlos entfernt werden konnte, litt er an unkontrollierten Krampfanfällen. Die Familie hatte gelernt damit umzugehen.
Der Onkel bediente sich einer Notlüge. „Dein Vater kämpft nicht an der Front. Sein Kompaniechef hat mir versichert, dass Unteroffizier Brehm in einem geheimen Bunker unter der Erde Panzer baut und dem Koloss aus Stahlbeton keine Bombe was anhaben kann.“
Die Schwindelei war das Schmieröl, das Gertis Lebensfreude ankurbelte. Sie ging wieder zum Unterricht, wechselte aufs Gymnasium und büffelte fürs Abitur. Papili sollte stolz auf sie sein, wenn er zurück war. Sie wollte ihm und allen anderen beweisen, dass sie nicht nur exzellent tanzen konnte, sondern auch ein helles Köpfchen war. Gerti schloss als Zweitbeste ab und wurde mit einem Notendurchschnitt von eins Komma acht geehrt.
Noch vor Kriegsende wurde Reinhold nach Frankreich in ein Gefangenenlager deportiert. Zeitgleich fiel Gertis Elternhaus den Bomben zum Opfer, die halbe Straße lag in Schutt und Asche. Tote gab es zum Glück keine, die Anwohner hatten sich noch rechtzeitig in die Luftschutzkeller retten können.
Mutter und Tochter kamen bei einer Großtante in Fürth/Rhonhof unter. Wochen später ließ ein gemeiner Brandanschlag das Mietshaus in Flammen aufgehen. Sechs Menschen starben, darunter vier Kinder. Die Tante erlag einem Herzinfarkt. Gerti und Maria mussten in einen Bunker im Nürnberger Stadtteil Schweinau umziehen – ein Unterschlupf für Obdachlose.
Das Kriegsende löste nicht nur Freude und Erleichterung unter der Bevölkerung aus, auch tiefe Trauer, Not und Verzweiflung. Unzählige Menschen litten unter Traumafolgestörungen, Gerti und der Mutter blieb dieses Leid gottlob erspart.
*
Gerti wollte Sportlehrerin werden. In den Disziplinen Speerwerfen, Kugelstoßen und Wettlauf hatte sie bereits Turniere gewonnen. Maria verweigerte ihre Zustimmung für ein Studium, weil ihr Kind dafür nach Berlin hätte gehen müssen. Ein Wort ergab das andere, bis daraus ein handfester Streit wurde und Gerti abzuhauen drohte. „Es geht um meine berufliche Zukunft und da lass ich mir nicht reinreden. Von dir nicht, von Papi nicht, von niemandem.“
Das letzte Wort hatte das Schicksal. Beim großen Sportfest, in der Disziplin Kugelstoßen, rutschte Gerti auf dem feuchten Rasen aus und brach sich zwei Finger der rechten Hand, die wegen eines Behandlungsfehlers leicht gekrümmt und eingeschränkt beweglich waren – das Aus ihrer sportlichen Laufbahn.
Gerti haderte mit sich und am allermeisten mit dem unzumutbaren Bunkerleben. Es war laut und es stank. Es gab keine Waschgelegenheiten, nur verdreckte Toiletten, die man besser mied. Viele verrichteten die Notdurft im Freien und wuschen sich mit Regenwasser, das man aus Pfützen sammelte. Haarläuse und Krätze breiteten sich dramatisch aus. Die Trinkwasserrationen reichten kaum für den täglichen Bedarf. Nahrungsmittel waren knapp, warme Mahlzeiten selten; Mangelerscheinungen und Magengeschwüre als Konsequenz.
Während sich Maria die Hacken nach einer bezahlbaren und menschenwürdigen Unterkunft ablief, sinnierte Gerti über die Frage, wie sie mühelos schnell an Geld kam. Die Antwort lag auf der Hand. Sich ihrer Reize bewusst, flanierte Gerti fortan vor der Südkaserne, die die US-Armee eingenommen hatte und warf die Angel aus. Der erste Fisch am Haken war ein in Pelz gehüllter farbiger GI. Sein Südstaatendialekt war schwer verständlich, doch auf gepflegte Konversation legten beide ohnehin keinen Wert. Mit Powackeln und laszivem Augenaufschlag lockte Gerti den Schwarzen in die Ruine eines zerbombten Walzwerkes und leistete für seinen Mantel als Gegenwert Handarbeit. Von dem Geld, das der Pelz abwarf, kaufte sie sich einen roten Rosshaarmantel, zwei reizvolle Kleider und Feinheiten als Konzept für ihre Geschäftsidee.
Noch rechtzeitig vor Wintereinbruch wurden Mutter und Tochter bei einer Professorenwitwe in der Fürther Straße zwangseinquartiert. Die Beengtheit des Zimmers und die Unbequemlichkeit sich ein Bett teilen zu müssen, nahmen die beiden für ein Bad mit sauberer Toilette hin. Da es keinen Ofen gab, blieb tagsüber die Tür offen, damit sich die Wärme, die der Küchenbeistellherd ausstrahlte, darin ausbreiten konnte.
Maria war sich für keine Arbeit zu schade. Sie schuftete lange Stunden an sieben Tagen die Woche und trug mit vielen anderen Frauen die Last des Wiederaufbaus, während die Tochter in doppelter Hinsicht US-Soldaten erleichterte.
Gerti und die Witwe Schmollak waren sich von der ersten Stunde an grün und pflegten ein freundschaftliches Verhältnis. „Wer aussieht wie du, braucht auch in schweren Zeiten auf nichts zu verzichten“, sagte die Frau einmal über den Rand ihrer Tasse hinweg, als erzählte sie Gerti da was Neues. „Mit deinem hübschen Gesicht und der göttlichen Figur kannst du den Männern Haus und Hof abluchsen. Musst es nur geschickt anstellen.“ Sie schob sich eine Gabel Streuselkuchen in den Mund und spuckte beim Sprechen Krümel über den Tisch. „Deine Muschi ist Gold wert und raubt den Kerlen den Verstand. Ist der erst ausgeschaltet, lassen die sich wie Fische ausnehmen.“ Die Witwe kicherte mit eingezogenem Hals.
Dass ihr diese bieder wirkende Frau, die drei Viertel ihres Lebens an der Seite eines Professors für Germanistik verbracht hatte Prostitution vorschlug, erstaunte Gerti. Ihre Mimik ließ es erkennen.
„Was entsetzt dich, Kind? Es geht immer nur um Sex. Vom Urknall an. Hat auch mir über die Fortpflanzung hinaus Spaß gemacht. Auch wenn Frauen meiner Generation nach außen hin den Schein von Sittlichkeit wahrten, produzierten sie reichlich Kuckuckskinder, das kannst du aber glauben. Und Not kennt erst recht keine Moral. In diesen scheiß Zeiten hat beinah alles seine Berechtigung. Du bist doch aufgeklärt, oder?“
Gerti nickte eifrig. „Doch, doch. Mich verblüfft nur Ihre Direktheit.“
„Man sagt Offenheit. Gut! Da du Bescheid weißt, kann ich ungeniert fortfahren.“ Die Witwe trank aus, stellte die Tasse aufs Tablett und schob es zur Tischmitte. „Deutsche Männer sind Mangelware; nur Invaliden und Taugenichtse prägen das Stadtbild. Halte dich an die Amis, aber belasse es bei der ersten Begegnung beim Poussieren. Das macht dich interessant.“
Gerti unterdrückte einen Lacher.
„Und verlieb dich bloß nicht. Und lass dich um Himmels willen nicht schwängern. Ruiniert neben der Figur auch dein Leben. Denn heiraten wird dich von denen keiner.“
„Deutsche Frauen sind gefragt“, wusste Gerti.
„Und haben in Amerika nichts zu melden“, so die Witwe.
An geeigneten Plätzen Soldaten froh zu machen, mangelte es im zerbombten Nürnberg wahrlich nicht. Überall gab es Schlupfwinkel, offene Kellerräume und Dachböden in unbewohnten Häusern. Gerti entwickelte ein Faible für Litfaßsäulen, die damals noch zugänglich waren. Wenn sie durch die Straßen lief, boten sich ihr unschöne Szenen und sie empfand Mitleid mit den Frauen, die mit bloßen Händen und Rundrücken die Trümmer beseitigten, für einen Hungerlohn oder magere Lebensmittelrationen.
Ob schwarz oder weiß, Gerti war nicht wählerisch. Zu lukrativ waren die Zuwendungen, die sie für ihre Dienste erhielt. Bald aber ließ sie die Finger von Farbigen, weil die geizig waren, brutal und streng rochen. Gerti strapazierte die Großzügigkeit weißer Amerikaner und kam gut dabei weg. Sachgeschenke lagerte sie im Keller, Papiergeld versteckte sie im Futter einer Handtasche. Ein paar Mark, die sie vorgeblich im Opernhaus als Mädchen für alles verdiente, legte sie jeden Freitagabend brav auf den Tisch. „Bald darf ich der Kostümschneiderin zur Hand gehen. Dann bekomme ich mehr.“
Maria freute sich. „Was für ein Glück!“
„Ja, gell?“
Der Südkaserne westlich des Reichsparteitagsgeländes schließt sich eine weitläufige Weiherlandschaft an. Ein hochrangiger Offizier vertrat sich in der Mittagspause dort gerne die Beine. Es erschien ihm wie ein Postkartenmotiv, als er die schlanke Gestalt mit Hochsteckfrisur im weinroten, knöchellangen Mantel inmitten einer zauberhaft schönen Winterkulisse entdeckte. Der Dutzendteich war bis auf einen schmalen Uferstreifen zugefroren, das Eis glitzerte in der Mittagssonne, die sich durch die grauen Wolken mühte. An den starren Schilfgräsern hing fasrig der Reif. Was die Lady dazu bewegte, bei frostigen Temperaturen in Stöckelschuhen durch den Schnee zu laufen und Enten zu füttern, war ihm ein Rätsel. Er schnalzte den Glimmstängel im hohen Bogen durch die Luft, steckte die Hände in die Jackentaschen, spazierte vorüber und machte kehrt.
Gerti bückte sich und lockte mit vorgestreckter Hand die Enten an, die sich mit lautem Geschnatter um jeden Krümel stritten. Der Mantel fiel auseinander, ihre Beine, in schwarze Netzstrümpfe gehüllt, kamen zum Vorschein. Als sie ein Räuspern vernahm, richtete sie sich auf und drehte sich zu dem Mann um. Ihr geschultes Auge hing an den Litzen der Uniformjacke, die er über einem Wollpullover trug. Sie ließen einen hohen Rang erkennen. Gerti sah verschüchtert weg. Um ihre Absicht zu verschleiern und weil es Deutschen untersagte war, sich mit Alliierten in der Öffentlichkeit zu unterhalten. Das wusste auch der GI. Doch da weit und breit niemand zu sehen war, stellte er entschlossen den Jackenkragen auf und näherte sich an. „Hi! Nice to meet you. Do you speak englisch?“ Sein Atem formte Dampfwölkchen in der kalten Luft.
„A little“, erwiderte Gerti zuckersüß und klopfte Brotkrumen vom Mantel. Die Enten stoben auseinander. Gerti warf das restliche Brot aufs Eis und steckte die Papiertüte ein. Die Mutter würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie wüsste, wie verschwenderisch sie mit altbackenem Brot war. Brotsuppe ließe sich daraus machen, oder mit Zuckerwasser und Zimt versetzt eine süße Nachspeise.
„Macht nichts! Ich spreche deutsch.“ Der GI stellte sich als James Gilbert McBride vor und bat Gerti, sie ein Stück des Weges begleiten zu dürfen. Sie willigte ein. Nach unaufdringlichen Fragen zu ihrer Person lenkte Gerti die Unterhaltung dann von sich auf ihn. Sie konnte ihr Glück nicht fassen als sie hörte, dass James für das FBI tätig war und als Schöffe beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und den Folgeprozessen den obersten Richtern beisaß. Einen Haupttreffer hatte sie da gelandet. Dafür lohnten sich halb erfrorene Füße und eine wahrscheinliche Blasenentzündung.
James war hin und weg von der jungen Deutschen. Amors Pfeile hatten ihn mitten ins Herz getroffen. Fernab der Heimat, auf einem anderen Kontinent, an einem affenkalten Wintertag. Bei der Verabschiedung bestand er auf ein Wiedersehen und lud Gerti in seine Suite im American Hotel gegenüber dem Bahnhof ein. Aus dem Vielleicht als Antwort hörte er ein Ja heraus. Er küsste überschwänglich Gertis blutleere Hand und schaute ihr lange hinterher.
James beschenkte Gerti reichlich; mit seiner Leidenschaft und allem sonst, was ihr Herz begehrte. Und er kam für Ballettstunden auf. Die beiden kannte sich sechs Wochen, als James seinem Schatz einen Brillantring an den Finger steckte und ihm einen Heiratsantrag machte. Gerührt vom Wert des Schmuckstücks nahm Gerti an und versprach ihm viele Kinder, die auf einer Farm in Montana aufwachsen sollten. Tatsächlich aber dachte sie nicht im Traum daran, in einer amerikanischen Provinz zu versauern.
James vertraute seiner Verlobten blind. Er schmiedete eifrig Zukunftspläne, plauderte pikante Details über den Prozess aus, erwähnte sogar die Fahrten nach Hamburg, wo er im englischen Sektor illegale Geschäfte mit den Alliierten machte und und und. Nicht ahnend, dass sich Gerti auf Anraten der Witwe von all dem Notizen machte.
Maria war alarmiert, der Argwohn ließ sich nicht abschütteln. Das unverkennbar teure Parfüm, das noch nach einem Apfelschaumbad an Gerti haftete, machte die Mutter stutzig gemacht. Ebenso die feinen Perlonstrümpfe, der Schmuck, der angeblich nicht echt war und das umfangreiche Sortiment an Schminke; Dinge, die sich die Tochter von ihrem mickrigen Lohn niemals leisten konnte. Maria nahm sich vor, Gerti zu bespitzeln und schob es immer wieder auf.
*
Die Ballettmeisterin legte Gerti einen Wettbewerb in Hamburg ans Herz. „Wer vorne mit dabei ist, dem winkt ein Training unter einem renommierten Tanzmeister. Du hast das Zeug für eine Karriere. Nürnberg ist kein Sprungbrett, um internationale Größe zu erlangen. Wenn du das Letzte aus dir herausholst, kannst du es schaffen und bist deinem Ziel ein ganzes Stück näher.“
Euphorisch erzählte Gerti der Mutter davon und wieder argumentierte Maria dagegen.
„Du bist ausgeprägt egoistisch“, warf Gerti ihr vor. „Du kannst mich nicht ein Leben lang an dich binden.“
„Darum geht es nicht. Du bist...“
„Egal, worum es dir geht. Ich werde meiner Bestimmung folgen, ob es dir passt oder nicht. Wenn ich noch länger warte, brauche ich nirgendwo mehr antanzen, weil ich dann zu alt bin.“
„Aber das kostet doch! Wer soll das bezahlen?“
„Solche Projekte werden gefördert. Allein die Bahnfahrt kostet und die bezahl ich selbst.“
Maria suchte die Ballettmeisterin auf. „Seien Sie unbesorgt, Frau Brehm. Auf Ihre Gerti wird aufgepasst. Sie wohnt in einem Mädcheninternat mit strengen Regeln. Wenn Sie Ihre Tochter lieben, geben Sie nach. Sie dürfen ihr diese Chance nicht verwehren. Sie würde Ihnen auf ewig Vorwürfe machen.“
Maria ging in sich. Nach reiflicher Überlegung und schweren Herzens gab sie ihre Zustimmung und ihren Segen dazu.
*
Austern und Champagner standen bereit. James machte seiner Liebsten erneut einen Antrag und schenkte ihr ein Portrait von sich in Öl. Gerti verschlug es die Sprache. Das Gemälde war an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Einzig der handgeschnitzte, vergoldete Rahmen, den sie zu Geld machen wollte, tröstete sie über die Enttäuschung hinweg. Um James zu behagen und ihm nicht den Abend zu verderben, schluckte sie eine abfällige Bemerkung hinunter. Später dann, nach dem Liebesakt, erzählte James von Montana und seiner Frau, von der er sich scheiden lassen wollte.
Mit einem Satz war Gerti aus dem Bett. „Du bist verheiratet?“ Sie warf sich den Morgenmantel über und heuchelte Entsetzen, im Hinterkopf den Vorteil, der sich daraus ergab.
James krabbelte von der Matratze, kniete sich vor Gerti hin und umfasste ihre Hände. „Yes, Honey“, hauchte er mit schuldbewusstem Blick. „Aber nur auf dem Papier. In den Staaten lässt sich das schnell bereinigen. Ich werde geschieden sein, noch bevor das Fahrwerk meines Fliegers die Landebahn berührt hat.“
„Nur auf dem Papier!“, echote Gerti und machte sich los. „Papier ist geduldig, im Gegensatz zu mir. Was, wenn deine Frau nicht in die Scheidung einwilligt? Ich dachte, wir heiraten sofort.“
„Nur zu gern, Baby. Aber sofort geht nicht. Sobald der Prozess vorbei ist, fliege ich rüber, regle alles und lasse dich nachkommen.“ James setzte sich auf die Bettkante und tätschelte einladend seinen linken Oberschenkel. Gerti ignorierte die Geste. Sie klopfte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie in das Mundstück aus Yünan-Jade und ließ das Feuerzeug aufflammen. „Ich glaub dir kein Wort.“ Sie inhalierte tief und blies den Rauch in seine Richtung. „Du hast mich benutzt. Nach Prozessende, das noch in weiter Ferne ist, bin ich hergeschenkt und du auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein Windhund bist du, ein ganz ausgekochter.“
„Aber nein, Darling, du bist für mich...!“ James hielt inne. „Was ist ein ausgekochter Windhund?“
„Du hast mir die Sterne versprochen, damit ich dich ranlasse. Ich habe dir meine Jungfräulichkeit geopfert. Ich blöde Gans bin auf dich reingefallen, wo doch jeder weiß, dass ihr Amis nur euren Spaß wollt.“
James kam auf die Füße und packte Gerti bei den Schultern. „Ich bin kein Ami, ich bin Amerikaner“, sagte er bitter. „Und ich lasse mir nicht unterstellen, unehrenhaft zu sein. Ich liebe dich und ich will mein Leben mit dir verbringen. Dein mangelndes Vertrauen kränkt mich zutiefst. Glaubst du, ich könnte mich so verstellen?“
„Ja, das glaube ich.“ Gerti presste eine Träne hervor, die wie ein winziger geschliffener Bergkristall über ihre Wange kullerte. Ein theatralischer Seufzer noch, um es perfekt zu machen.
„Weine doch nicht, Honey.“ James zog sie zu sich heran. „Wie kann ich dir beweisen, dass es mir ernst ist!?“
„Ich wüsste da was“, sagte Gerti aus dem hohlen Bauch heraus und schob ihn weg.
„Du bist definitiv eine von der schnellen Truppe. Sprich!“
„Du gibst mir tausend Dollar, als Pfand quasi. Die du zurückbekommst, sobald ich amerikanischen Boden unter den Füßen habe.“
James streckte den Kopf vor. „Tausend Dollar?“
„Die verdienst du in einer Nacht mit deinen Geschäften.“Gerti öffnete den Gürtel und ließ den Morgenmantel zu Boden gleiten. „Läppische tausend Dollar sollte ich dir wert sein.“ Sie nahm eine sexy Pose ein, leckte über die Kuppe des Zeigefingers der rechten Hand und umkreiste ihre Brustwarze. Umgehend stellte sich der Nippel auf. „Ich bin gut im Bett, die Beste. Kannst du dir ruhig was kosten lassen. Aber ich will das Geld sofort, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.“
„Du raffiniertes Luder“, presste James hervor und riss sie erneut an sich. „Dass deutsche Froileins so gerissen sind.“
„Scheiß auf die Nationalität. Es geht um meine Ehre.“
*
„Schau, was ich hier habe!“ Froh gelaunt hielt Gerti der Mutter eine Zugfahrkarte nach Hamburg unter die Nase. „Was sagst!?“
„Allmächt na!“, entfuhr es Maria und sackte auf den Stuhl.
„Ja, es ist soweit. Der Tag der Abreise ist der erste Tag meiner grandiosen Zukunft.“
„Also, ich weiß nicht!“, sagte Maria gequält und ließ es so stehen.
„Aber ich weiß, dass ich es in die Profi-Liga schaffen werde.“
„Tanzen ist kein richtiger Beruf“, sagte Maria betrübt. „Wofür hast du Abitur gemacht!?“
„Veraltetes Klischeedenken! Die meisten Künstler sind gebildet, scharfsinnig wie ich.“
„Jaja!“
„Sieh mal, Papi glaubt auch an mich. Hätte er sonst gewollt, dass ich tanze? Er würde mich bedenkenlos ziehen lassen.“
„Falls er überhaupt noch am Leben ist“, erwiderte Maria matt.
„Freilich ist Papi am Leben und wird bald aufkreuzen. Ich bete jeden Abend für ihn.“
„Komm mir bloß nicht mit Gott. Was soll das für ein Gott sein, der Kriege und all das Elend zulässt.“
„Gott ist niemals nicht für die Taten der Menschen verantwortlich“, sagte Gerti dazu. „Er hat uns einen eigenen Willen gegeben und Verstand, mehr oder weniger, den wir gerne für unsere Interessen missbrauchen.“
„Die meisten unserer Handlungen werden von unseren Gefühlen gesteuert“, widersprach Maria.
„Egal wie und was. Es geht um Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Meins ist das Tanzen. Gönne ich mir und sei mir vergönnt.“
„Ach, Kind!“, sagte Maria nur und schluckte den Kloß im Hals hinunter.
*
Aufdringliches Klingeln sorgte für Unmut bei der Witwe Schmollak. Sie schlürfte von der Küche in den Flur, öffnete die Tür und wusste augenblicklich, um wen es sich bei dem stattlichen Mann in der Yankee-Uniform handelte. „Ja bitte?“
„Ich möchte Gerti sprechen. Ist sie da?“
„Freund oder Feind, bei uns in Deutschland ist es üblich zu grüßen und sich vorzustellen.“
„Sorry, Ma'm. Mein Name ist James McBride. Ich bin Gertis Verlobter.“ Er salutierte.
„Das können Sie sein lassen.“ Die Witwe schaute besorgt über die Schulter und sah, dass die Tür zu Marias Zimmer nur angelehnt war. Ihr Blick wanderte zurück zu dem GI. „Sie bringen das Mädchen in Schwierigkeiten“, raunte sie.
„Ganz im Gegenteil. Ich werde Gerti heiraten.“
Die Witwe krächzte. „Woher haben Sie diese Adresse?“ Sie hatte Gerti eindringlich gewarnt, sie auszuplaudern.
„Ich finde alles heraus, Ma'm. Also, ist Gerti da?“
„Sie ist verreist.“
„Verreist?“, sagte James wortgewaltig. „Wohin?“
Die Witwe straffte den Rücken. „Auch wenn Sie den Krieg gewonnen haben, geht Sie das nichts an.“
„Ich gehe erst, wenn ich weiß, wo Gerti ist. Ich würde mich auch gern selbst davon überzeugen, ob...! Lassen Sie mich bitte nachsehen.“
„Ganz sicher nicht“, erwiderte die Witwe schnippisch. „Ich lasse keine fremden Männer in meine Wohnung. Gerti ist fort und wird so schnell nicht wiederkommen. Finden Sie sich damit ab!“
„Was ist mit Gerti?“, ertönte es vom Ende des Flurs. Maria war im Anmarsch.
Die Schmollak fuhr herum. „Nichts, Frau Brehm. Es handelt sich um ein Missverständnis. Ich kläre das.“
Maria ließ sich nicht abwimmeln. „Wenn es um meine Tochter geht, regle ich das wohl am Besten selbst.“ Beinahe flehend sah sie den Mann an, der mit militärisch steifer Haltung im Treppenhaus stand. „Worum geht es? Ist Gerti etwas zugestoßen? So reden Sie doch!“
„Auweia“, murmelte die Witwe und verzog sich wieder in ihre Küche. Sie holte ein Glas und eine Flasche aus dem Schrank und genehmigte sich einen Weinbrand, den sie dem Fremden da draußen zu verdanken hatte.
„Sie sind also die Frau Mama!“ James nahm die Militärmütze ab, klemmte sie unter den Arm und hielt Maria die Hand hin. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma'm. Ich bin James Gilbert McBride, der Verlobte Ihrer Tochter und Ihr zukünftiger Schwiegersohn.“
Ein Wirbelsturm entfachte in Marias Kopf. Das Gesicht des Mannes verschwamm vor ihren Augen, sie suchte Halt am Türstock.
James nahm die Hand zurück. „Ist Ihnen nicht gut?“
„Wie heißt Ihre Verlobte mit vollem Namen?“
„Gerti Brehm. Falls sie einen zweiten Vornamen hat, hat sie ihn mir verschwiegen. Aber ich verstehe nicht! Hat sie Ihnen nichts von uns erzählt? Wir sind seit Monaten ein Paar.“
„Ich glaube Ihnen kein Wort!“, empörte sich Maria. „Meine Tochter ist keine Amihure.“ Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Alles Zeug, das Gerti angeblich gekauft oder von Kollegen oder der Witwe geschenkt bekommen hatte, stammte von diesem Mann. Auch das Geld, mit dem sie zum Unterhalt beitrug. „Reden wir hier von ein und derselben Person? Meine Tochter arbeitet im Opernhaus, auch abends. Und sie hat keinen Freund.“
„Opernhaus? Ah, the opera! No, Gerti arbeitet dort nicht. Sie nimmt Ballettunterricht..., nahm Ballettunterricht, den ich finanzierte. Was geht hier eigentlich vor?“
Maria rang um Fassung. Das Parfüm, der Kaffee, die Schokolade – Lohn für Liebesdienste. Sie hatte es geahnt.
Unten fiel die Haustür zu, jemand kam die Treppe hoch. Maria zog den Mann in die Wohnung und bedeutete ihm den Weg in ihr Zimmer. „Und Sie, Frau Schmollak, halten sich zurück“, sagte sie im Vorübergehen. „Unterstehen Sie sich, an der Tür zu lauschen.“
„In meiner Wohnung lausche ich, wo ich will“, murmelte die Schmollak vor sich hin.
Maria saß auf dem einzigen Stuhl und knetete das graue Taschentuch mit den gestickten Initialen ihres Mannes, während der Fremde ihr die ganze Wahrheit über ihr Mädchen erzählte und sie dann mit Fragen löcherte, wie bei einem Verhör. Maria knickte schließlich ein und verriet Gertis Aufenthalt.
„Hamburg, all right! Und wo da genau?“
„Hm?“
„Nennen Sie mir die Adresse.“
„Niemals!“
„Dann werde ich Sie verhaften lassen.“
Maria erschrak. „Verhaften? Mich? Ich habe doch gar nichts getan.“
„Ihre Tochter hat mich arglistig getäuscht und um tausend Dollar betrogen. Und Sie wollen davon keine Kenntnis haben? Das glaubt Ihnen kein Richter. Sagen Sie, wo ich Gerti finde oder ich zeige Sie an.“
„Aber Sie sagten doch, Sie haben ihr alles geschenkt?“
„Vorübergehend überlassen“, sagte James raubauzig. „Ich will alles zurück. Sofort! Sonst lasse ich the Police antanzen und die Wohnung auf den Kopf stellen. Und ich lasse nach Gerti fahnden.“
Maria schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht. „Ogottogott, diese Schmach! Die Leute werden sich die Mäuler zerreißen und mit dem Finger auf mich zeigen. Ich werde mir eine neue Bleibe suchen müssen, wo mich keiner kennt“, sage sie, obgleich sie kaum Kontakt zu den Hausbewohnern hatte und ihr die Mieter der Häuser zu beiden Seiten fremd waren.