J.C. - Agent auf der Flucht - Joe Craig - E-Book
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J.C. - Agent auf der Flucht E-Book

Joe Craig

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Beschreibung

Jason Bourne-Agententhrill - freigegeben ab 11

Schnelligkeit, Kraft und unfehlbare Instinkte - Jimmy Coates liegt all das in den Genen.

Nach außen hin mag er aussehen wie ein ganz normaler 12-jähriger Junge, aber der Schein trügt. Nur wenige Menschen wissen um sein Geheimnis: Jimmy ist ein Superagent der britischen Regierung. Allerdings einer, der sich gegen das System gestellt hat, dem er ursprünglich dienen soll. Und deshalb wird er nun gnadenlos vom Geheimdienst gejagt. Auch wenn er nach und nach seine Kräfte immer besser im Griff hat, stellt ihn und seine Freunde die Flucht vor eine tödliche Herausforderung. Denn wie soll er überleben, wenn die schärfste Waffe seiner Feinde ein Junge genau wie er ist ...

Die Abenteuer von Agent J.C. sind atemberaubend, actionreich und bieten Spannung der Extraklasse - Lesevergnügen pur für alle Fans von rasanten Szenen und überraschenden Wendungen!

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Seitenzahl: 341

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JOE CRAIG

Agent auf der Flucht

Aus dem Englischen von

Alexander Wagner

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© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 2006 Joe Craig Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel: »Jimmy Coates – Target« bei HarperCollins Children’s Books, einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Ltd, London Übersetzung: Alexander Wagner Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Motive von © Istockphoto (aluxum, ImageGap) und © Shutterstock (Ivan Cholakov) MP · Herstellung: RN Satz und Reproduktion: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-19132-0V007
www.cbj-verlag.de

12 JAHRE ZUVOR ...

Der Mann unterschied sich von den anderen Fußgängern auf der Brücke nur durch seine völlige Reglosigkeit. Sein hochgeklappter Kragen schützte ihn vor dem scharfen Pariser Herbstwind. Sein Hut war tief in die Stirn herabgezogen. Niemand beachtete ihn. Dann seufzte er und marschierte durch den Nebel in Richtung Île St-Louis. Hoffentlich muss heute niemand sterben, dachte er.

Er erreichte die vertraute Holztür. Ein fester Stoß mit dem Ellbogen und das alte Schloss sprang auf. Dann schlüpfte er unbemerkt in einen kleinen Innenhof, ohne ihm jedoch weitere Beachtung zu schenken. Stattdessen wanderte sein Blick hinauf zum vierten Stock des benachbarten Gebäudes. Er packte ein vom Regen schlüpfriges Abwasserrohr und zog sich mit festem Griff und gleichmäßigen, kraftvollen Bewegungen daran nach und nach empor. Oben angekommen schwang er sich lautlos auf den Balkon und zückte seine Pistole. Sie lag vertraut und doch irgendwie beunruhigend in seiner Hand. Reine Vorsichtsmaßnahme, sagte er sich.

Kurz darauf stürzte er durch die alte, klapprige Balkontür. »Levez les mains!«, rief er.

Ein älterer Mann saß aufrecht an einem von Papieren bedeckten Schreibtisch. »Es besteht kein Grund, Französisch mit mir zu sprechen, Ian«, erwiderte der Mann mit einem kaum merklichen französischen Akzent, während er langsam die Hände hob. »Und es besteht kein Anlass, mit einer Pistole auf mich zu zielen. Wenn Sie schießen wollen, dann schießen Sie. Wenn nicht, lassen Sie uns reden.«

»Sie hätten weiter weglaufen sollen, Doktor.«

»Und wohin bitte? Wo hätte mich der NJ7 dennnicht irgendwann aufgestöbert?« Die Pistole war immer noch auf seinen Kopf gerichtet. Trotzdem erhob sich Dr. Memnon Sauvage langsam und umrundete seinen Schreibtisch.

»Sie wissen, dass ich nicht mit Ihnen kommen kann«, fuhr er fort. »Was ich getan habe, lässt sich nicht rückgängig machen. Ganz egal, was Hollingdale mir auch antut.«

»Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf den Rücken«, befahl der andere Mann.

»Wie geht es Helen?« Der Doktor blieb stehen. »Wurde das Kind schon geboren? Wenn nicht, dann muss es jeden Tag so weit sein.« Über Ian Coates’ Gesicht huschte eine Gefühlsregung.

»Ah«, lachte Dr. Sauvage trocken. »Glückwunsch. Zum zweiten Mal Vater!«

Ian Coates starrte ihn wütend an und beherrschte sich mit dem Finger am Abzug nur mühsam. »Folgen Sie meinen Befehlen oder ich schieße.«

»Na los, nur zu. Erschießen Sie mich«, fauchte Dr. Sauvage. »Dann wird der NJ7 niemals erfahren, wozu Frankreich fähig ist.«

»Umdrehen und die Hände auf den Rücken!«

»Damit Sie mich nach London zurückschleppen? Zurück zum NJ7? Zurück zu Ihrer Frau?«

Wutentbrannt verpasste Coates dem Alten eine Ohrfeige. Der Schlag ließ ihn zu Boden gehen. »Ohne mich kann Hollingdale nicht das Geringste ausrichten«, bellte Dr. Sauvage und spuckte Blut. »Sagen Sie ihm das! Und richten Sie ihm von mir aus: Die Stunde, in der er herausfindet, was ich getan habe, ist auch seine Todesstunde.«

Ian Coates näherte sich ihm langsam, die Pistole bereit. Dr. Sauvage krabbelte rückwärts um seinen Schreibtisch herum, bis er an ein riesiges Bücherregal stieß. Die beiden Männer schienen eine Ewigkeit so zu verharren. Kurz zuckten die Augen des Doktors zu den Unterlagen auf seinem Tisch. Coates folgte seinem Blick, bereute es jedoch sofort. Denn genau in diesem Augenblick klammerte sich Sauvage mit seinem ganzen Gewicht an das Bücherregal.

»Nein!«, schrie Ian Coates, ließ die Waffe fallen und stürzte auf ihn zu. Aber es war zu spät. Die schweren alten Folianten trafen Sauvage wie die Schläge eines Schwergewichtsboxers. Und dann begrub das massive Bücherregal den zerbrechlichen Körper unter sich.

Ian Coates war fassungslos. Nur noch der Kopf des Doktors ragte hervor. Coates beugte sich hinab und tastete am Hals des Mannes nach seinem Puls – aus reiner Routine, nicht etwa, weil er noch echte Hoffnung hatte. Eine Staubwolke senkte sich auf die Leiche des Alten.

Ian Coates wandte sich von ihm ab. Nun, da er von seinem Widersacher nichts mehr zu befürchten hatte, zeigte er keine Spur von Eile. Systematisch durchsuchte er die Papierstapel auf dem Schreibtisch. Natürlich waren alle Unterlagen verschlüsselt. Er ignorierte die obenauf liegenden Ordner, die offenkundig nur zur Ablenkung dort drapiert waren.

Als er schließlich auf einen grellorangenen USB-Speicherstick stieß, stutzte er. Dieser war mit der einfachen Beschriftung »ZAF-1« versehen. Dasselbe Kürzel tauchte auch auf einigen Dokumenten auf, manchmal in fetten Lettern. Sie sagten ihm nichts.

Ian Coates verstaute seine Pistole, nahm so viele Aktenhefter wie möglich unter den Arm und steckte den Speicherstick in seine Hosentasche. Dann verließ er eilig das Zimmer und stieg die Treppen zum Dach hinauf. Von dort sprang er auf das angrenzende Gebäude, die Unterlagen in seinen Mantel gestopft, um die Hände frei zu haben. ZAF-1, dachte er, während er versuchte, das Bild des toten Doktors aus seinem Kopf zu verdrängen. Was kann das bedeuten?

Er hüpfte auf die Brüstung eines Balkons einen Stock tiefer und stieß sich ab, um im Sprung nach dem Bogen einer Straßenlaterne zu greifen. Von dort aus ließ er sich auf die Gasse fallen und rannte davon.

KAPITEL 1

»Erheben Sie sich!« Alle im Gerichtssaal folgten der Aufforderung, bis auf zwei gekrümmt dasitzende Gestalten.

»Das ist nicht fair!«, schrie Olivia Muzbeke, die Stimme ganz dünn vor Angst und Müdigkeit. Ein Wachmann nötigte die beiden zum Aufstehen.

Der streng blickende Richter ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Eine bessere Behandlung haben Staatsfeinde nicht zu erwarten«, knurrte er.

Neil Muzbeke spähte hinüber zu einer Reihe leerer Bänke. Dort hatte früher einmal die Jury gesessen, als diese noch ein zentraler Bestandteil der Rechtsprechung gewesen war.

Innerlich fühlte er sich genauso leer wie diese verlassenen Bankreihen. Ihm war nicht mehr nach lautem Aufbegehren zumute.

Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte heftig protestiert, er hatte gebettelt und gefleht. Doch jetzt sah er keine Lösung mehr, als sich dem Urteil des Richters zu beugen. Ohnehin war er völlig in Beschlag genommen von der Sorge um seinen Sohn, den er vielleicht nie wiedersehen würde.

»Ihnen war bewusst, dass sich der gefährliche Kriminelle Jimmy Coates auf der Flucht vor der Regierung befand«, verkündete der Richter. »Trotzdem haben Sie ihm Unterschlupf gewährt. Sie halfen ihm bei der Flucht und gefährdeten damit das Leben des Premierministers Ares Hollingdale. Des Weiteren hat sich Ihr Sohn …«, der Richter blätterte in seinen Unterlagen nach dem Namen, »… Felix Muzbeke, obwohl erst zwölf Jahre alt, bereits als Feind des Neodemokratischen Staates von Großbritannien erwiesen.«

Der Richter schnaufte und rückte seine Brille zurecht. Und ohne auch nur von seinen Dokumenten aufzuschauen, verkündete er das Urteil.

»Zuchthaus«, bellte er. »Über die Länge der Haftstrafe entscheidet das Innenministerium.« Mit einem donnernden Hammerschlag besiegelte er das Urteil. Das wiederhallende Geräusch zerstörte das letzte bisschen Vertrauen, das Neil Muzbeke in das Justizsystem seines Landes gehabt hatte.

Ganz hinten im Gerichtssaal stand eine Frau, die eigentlich zu elegant für eine so elende Veranstaltung wirkte. Allerdings schien sie äußerst zufrieden mit dem Ausgang dieses eiligen Gerichtsverfahrens.

»Verbreiten Sie die Nachricht«, flüsterte sie einem jungen Mann im schwarzen Anzug zu, der von ihrer Autorität sichtlich eingeschüchtert war. »Sorgen Sie vor allem dafür, dass sie Frankreich erreicht.«

»Jawohl, Miss Bennett.«

Jimmy bemerkte kaum den dumpfen Schlag, mit dem der Helikopter auf dem Boden aufsetzte. Die Öldruckstoßdämpfer des EC7975 waren speziell für sanfte Landungen entwickelt worden. Was ihn weckte, war das veränderte Geräusch der Rotoren. Das beständige Dröhnen, das sie seit dem Verlassen Londons begleitet hatte, verklang langsam.

Jimmy schüttelte seine Albträume ab. Wie üblich pochte sein Herz heftig und er rang nach Luft. Doch er erinnerte sich so gut wie gar nicht an die im Schlaf durchlebten Schrecken. Er wickelte seine Decke fester um sich.

Wovor musste er überhaupt noch Angst haben? In den vergangenen zwei Wochen hatte er Steinmauern durchbrochen, hatte unter Wasser geatmet und eine Gewehrkugel mit bloßen Händen abgefangen. Selbst als er sich ein Küchenmesser ins Handgelenk gerammt hatte, hatte er keinen ernsthaften Schaden davongetragen. Der Schnitt hatte kein bisschen geblutet und war außergewöhnlich schnell verheilt. Der Verband, den seine Mutter viel zu fest gebunden hatte, war eigentlich überflüssig gewesen, auch wenn er ihn inzwischen fast als tröstlich empfand. Trotz alledem fürchtete Jimmy sich sehr vor dem, was da draußen möglicherweise noch auf ihn wartete.

Angehörige des ungeheuer effektiv operierenden britischen Geheimdienstes NJ7 konnten überall lauern. Wissenschaftler des NJ7 hatten Jimmy als Auftragskiller programmiert, halb Mensch, halb genmanipulierte Kampfmaschine. Ursprünglich sollte sein Einsatz erst mit achtzehn Jahren beginnen, doch dann hatte man ihn sechs Jahre zu früh aktiviert. Weil Jimmy sich dem Auftrag widersetzt und gegen seine Konditionierung angekämpft hatte, war er zum Todfeind des Geheimdienstes geworden. Und wenn es jemanden gab, den man wirklich nicht zum Feind haben wollte, dann war es der NJ7.

Was Jimmy vielleicht noch mehr fürchtete als seine äußeren Gegner, war sein eigenes Inneres. Er selbst fühlte sich eigentlich ziemlich menschlich, wusste inzwischen jedoch, dass da noch etwas anderes in ihm steckte: eine übermenschliche Kraft, geschaffen um zu töten.

Alle anderen in der Hubschrauberkabine schliefen noch. Nur Christopher Viggo erhob sich von seinem Pilotensitz und streckte sich, wobei sich unter seinem zerknitterten Hemd seine durchtrainierte Figur abzeichnete. Als er sich umwandte, bemerkte er Jimmys Blick, grüßte ihn mit einem müden Kopfnicken und stakste davon.

Dies war der Mann, den Jimmy im Auftrag des NJ7 hatte töten sollen.

Viggo kämpfte dafür, dass Großbritannien wieder eine Demokratie wurde. Zur Tarnung gab er sich als Inhaber eines türkischen Restaurants aus. Gleichzeitig baute er jedoch eine Organisation auf, die hoffentlich eines Tages stark genug sein würde, eine Opposition zur Regierung zu bilden. Jimmy hatte seine ganze mentale Kraft aufbieten müssen, um sich seinem Auftrag zu verweigern, seinem Gewissen zu folgen und sich stattdessen Viggo anzuschließen.

Jetzt, wo sie gelandet waren, wachten auch die anderen auf. Als sie aus dem Helikopter stiegen, wurden sie beinahe von einer heftigen Windböe umgerissen. Jimmy konnte die frische Landluft schmecken, die so anders war als in der Stadt, der sie gerade entkommen waren. Sie standen mitten in einem Feld. Bis auf ein altes, verwinkeltes Bauernhaus war weit und breit kein Gebäude zu sehen.

So sieht also Frankreich aus, dachte Jimmy. Er war noch nie außerhalb Englands gewesen. Er hatte sich auch nie groß Gedanken darüber gemacht, wie es wohl in anderen Ländern sein mochte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie merkwürdig das war. Wahrscheinlich war er einfach davon ausgegangen, dass es überall genauso aussah wie zu Hause. Im Augenblick fühlte er sich allerdings viel zu müde und besorgt, um sich über seinen ersten Auslandsbesuch zu freuen. Schließlich war er ja nicht im Urlaub. Er war auf der Flucht.

Yannick Ertegun, der Koch von Viggos Restaurant, führte die kleine Gruppe an. Jimmy marschierte hinter seiner Mutter, gefolgt von der wunderschönen, dunkelhäutigen Saffron Walden, Viggos Freundin und außerdem wichtiges Mitglied seines Teams. Danach folgten Jimmys ältere Schwester Georgie und ihre Freundin Eva, hinter denen mit zusammengekniffenem Mund Felix Muzbeke trottete, Jimmys bester Freund.

Viggo blieb hinter der Gruppe zurück. Als sie durch den Obstgarten des Bauernhauses liefen, hielt er an und sammelte Laub vom Boden auf. Und sofort meldete sich Jimmys innerer Konflikt: Als Agent war ihm klar, dass er Viggo bei der Tarnung des Helikopters helfen sollte. Doch die Versuchung, den anderen ins Haus zu folgen, wo es warm war und Essen gab, war größer. Und so widerstand er seiner Konditionierung zugunsten seiner allzu menschlichen Bedürfnisse.

In der Tür des Bauernhauses stand eine winzige Frau, die auf Jimmy uralt wirkte. Yannick beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie erwiderte ihn mit einem festen Klaps auf seinen Hinterkopf.

»Also, Leute, das ist meine Mutter«, grinste der Koch.

Als sie alle etwas verlegen an ihr vorbei ins Gebäude schlurften, lächelte Jimmy die Frau vorsichtig an. Sie blickte finster zurück. Ganz offensichtlich hatte sie nicht mit ihrem Besuch gerechnet. Das Bauernhaus wirkte im Inneren sehr geräumig, aber auch etwas düster und karg. Die Decke senkte sich in einem merkwürdigen Winkel, als würde sich ihr Hauptbalken dem offenen Kamin zuneigen, der den Raum beherrschte. Allerdings spendete er nicht sonderlich viel Wärme, wie Jimmy zitternd feststellen musste.

In einer Ecke des Raums führte eine Wendeltreppe nach oben und jede Wand hatte eine Tür. Yannicks Mutter stampfte durch eine der Türen hinaus, und durch den Spalt konnte man eine große, altmodische Küche erahnen. Yannick folgte ihr, wobei er unablässig auf sie einredete und flüsternd um ihr Verständnis bat.

Kurz darauf saßen sie alle mit riesigen Tassen heißer Schokolade um den Kamin.

»Wann fangen wir an, meine Eltern zu suchen?«, wisperte Felix in Jimmys Ohr. Jimmy starrte ins Feuer und zuckte mit den Schultern. Er hatte beinahe vergessen, dass Neil und Olivia Muzbeke verhaftet worden waren, weil sie ihm bei der Flucht vor dem NJ7 geholfen hatten. Er rügte sich im Stillen dafür, dass er so selbstbezogen war. Sogar in diesem Moment spürte er in seinem Inneren die unaufhörlich wachsenden fremdartigen Kräfte und die Kluft zwischen seinem menschlichen Empfinden und seiner Konditionierung. Im Moment konnte er diese Energie kontrollieren, aber nur indem er sie entschlossen unterdrückte. Die Vorstellung, dass seine menschlichen Anteile eines Tages gänzlich verschwinden könnten, beunruhigte ihn mehr als alles andere.

Jimmy musste immer wieder an die letzte Begegnung mit seinem Vater denken. Mit erschreckender Detailgenauigkeit sah er Ian Coates’ Gesichtsausdruck vor sich, als dieser sich geweigert hatte, zusammen mit Jimmy vor der britischen Regierung zu fliehen. Jimmys Bestimmung sorgte mittlerweile dafür, dass seine Familie auseinanderfiel. Felix wollte gerade noch etwas hinzufügen, aber Jimmy machte ihm ein Zeichen, leise zu sein und stand auf. Er spürte ein Rumoren in seinem Bauch. Da waren sie wieder, seine Killer-Instinkte. Er hatte draußen etwas gehört.

»Lebt hier sonst noch jemand?«, fragte er Yannick leise.

»Nein, nur meine Mutter.«

»Du bist mal wieder paranoid«, bemerkte Georgie lässig. Jimmy wünschte, seine Schwester hätte recht, aber bisher hatte sich sein Instinkt noch nie getäuscht. Auch Jimmys Mutter erhob sich.

»Ich habe auch was gehört«, bestätigte sie.

»Das muss Chris sein, der reinkommt«, flüsterte Saffron.

Jimmy schüttelte den Kopf. In seinem Inneren tobte jetzt ein wahrer Wirbelsturm. »Geht alle zur Raummitte, schnell.«

Alle folgten seiner Anweisung, außer Eva. »Das ist doch lächerlich«, kicherte sie. »Wir sind in Frankreich, mitten in der Pampa. Wie sollen die uns hier jemals …«

RUMS!

Eine Tür zersplitterte. Einen Rammbock in den Händen brach eine schwarz maskierte Gestalt durch die Öffnung. Dicht dahinter folgte eine zweite Person, die sich blitzschnell in Schussposition kniete. Die Beretta 99G in ihren Händen verschmolz mit dem Schwarz der Handschuhe und des Kampfanzugs. Und keine Sekunde später war der gesamte Raum von einem Dutzend identisch uniformierter Gestalten bevölkert.

»Haut les mains!«, ertönte ein Schrei von irgendwoher. Und dann wiederholte die Stimme mit starkem französischen Akzent: »’Ände ’och!«

Durch Jimmys Körper pulsierten überwältigende Kräfte. Sein Verstand jedoch war klar und gelassen. Er blieb genauso ruhig stehen wie seine Freunde und hob die Hände. Für ihn war eindeutig klar: Die sind nicht vom NJ7. Denn andernfalls wären sie bereits alle tot. Außerdem hätte es der NJ7 niemals gewagt, Operationen auf französischem Boden durchzuführen.

Die kleine Gruppe stand jetzt Rücken an Rücken in der Mitte des Raums. Der Schrecken in ihren Gesichtern war einem Ausdruck der Verblüffung gewichen. Ihr hörbares Aufatmen wurde nur von Yannicks Mutter übertönt. Sie protestierte in ohrenbetäubender Lautstärke und einem polternden Französisch, während Jimmy sich zu konzentrieren versuchte.

»La ferme!«, rief er und schlug sich sofort die Hand vor den Mund. Oh mein Gott, dachte er, ich spreche ja französisch.

Die Eingangstür flog auf und drei weitere Männer marschierten herein. Zwei von ihnen trugen schwarze Kampfanzüge, hielten aber statt Pistolen FAMAT-F9-Sturmgewehre. Jimmy war sich da ganz sicher, genauso sicher wie er plötzlich französisch sprechen konnte. Dieses ganze Wissen war Teil seiner Konditionierung: Es war tief in seinem Kopf verborgen und kam Stück für Stück zum Vorschein, wenn es benötigt wurde.

Die beiden Uniformierten flankierten einen kleinen grimmig blickenden Mann. Seine Haare waren schütter und sein Rücken gekrümmt. Seine Hautfarbe setzte sich kaum von seinem eleganten grauen Mantel ab, der in dieser ländlichen Umgebung völlig unpassend erschien.

»Im Namen des französischen Militärs«, rief er in perfektem Englisch, »erkläre ich Sie alle für verhaftet. Sie werden der Spionage verdächtigt. Halten Sie die Hände über den Kopf und …«

»Das ist ein Missverständnis.« Das war Viggo. Er drückte die Mündung seiner Pistole an den Hinterkopf des Franzosen. »Lassen Sie Ihre Waffen fallen!«, rief er.

Noch bevor Viggo seinen Satz beendet hatte, wirbelte der Soldat links von ihm herum. Das Gewehr auf Viggo gerichtet, krümmte er langsam den Finger am Abzug.

»Non!«, blaffte der Mann im grauen Mantel – gerade noch rechtzeitig. Der Soldat feuerte nicht, hielt die Waffe aber weiter auf Viggo gerichtet. Niemand rührte sich. »Das klingt doch sehr nach Christopher Viggo«, fuhr der Mann im grauen Mantel fort. »Aber der ist kein Feind Frankreichs.«

Dann gab er ein paar Anweisungen auf Französisch. Alle seine Männer ließen gleichzeitig die Waffen sinken.

»Uno?«, staunte Viggo und beugte sich vor, um einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen. »Uno Stovorsky?«

»Und jetzt sehe ich erst, dass du uns auch Saffron mitgebracht hast.« Ungläubig schüttelte der Mann den Kopf.

»Hallo, Uno«, rief Saffron, lässig wie immer. »Wie läuft’s beim DGSE?«

»Was geht denn hier ab?«, flüstere Felix Jimmy zu.

»Der DGSE ist der französische Geheimdienst«, antwortete Jimmy. Doch darüber hinaus hatte er keinen blassen Schimmer, was hier gerade geschah. Wieso schienen sich auf einmal alle bestens zu kennen?

Viggo umrundete den Mann im grauen Mantel, den Mund weit offen vor Überraschung. »Uno! Ich hätte niemals gedacht, dass …«

Und dann, ohne jede Vorwarnung, drosch Uno Stovorsky seine Faust gegen Viggos Kiefer.

»Wenn ich nicht im Dienst wäre, würde ich dich hier auf der Stelle umbringen«, knurrte er.

Mitchell hievte sich schwitzend vom Sofa hoch. Er hatte wieder einen Albtraum gehabt, konnte sich aber an nichts mehr erinnern. Sein Wecker war kaputt, doch es musste ungefähr drei Uhr morgens sein. In dem Club unter ihrer Wohnung wurden gerade die letzten Gäste rausgeschmissen. Er stakste ins Bad und spritze sich das kalte, bräunliche Wasser ins Gesicht, das aus dem Hahn tröpfelte.

Schon bald würde sein Bruder nach Hause kommen. Wie gewöhnlich würde er Streit anfangen und dann betrunken ins Bett fallen. Mitchell musste sich diese Wohnung mit seinem Bruder teilen, seit sie beide von zu Hause abgehauen waren. Manchmal wünschte sich Mitchell, er könnte dorthin zurückkehren. Allerdings war das, wonach er sich wirklich sehnte, längst nicht mehr da. Seine Eltern waren beide tot.

Er hörte die Wohnungstür klappern.

»Mitchell!« Sein Bruder klang fröhlich, aber das war nicht zwangsläufig ein gutes Zeichen. »Komm mal her, Kumpel, ich muss was erledigen.«

Mitchell wurde schlecht. Es war keine gute Idee, seinem Bruder in diesem Zustand zu nahe zu kommen. Aber in der winzigen Wohnung hatte er keine Chance, ihm auszuweichen. Sein Bruder stampfte ins Wohnzimmer und Mitchell konnte sich bildlich vorstellen, was dort jetzt ablief. Zuerst würde sein Bruder irgendetwas gegen das Sofa schleudern – vermutlich seinen Schuh. Wenn keine Reaktion kam, würde er die Decke vom Sofa reißen und verdutzt blicken, weil Mitchell nicht dort lag, wo er ihn schikanieren konnte.

»Mitchell?« Sein Bruder klang tatsächlich verblüfft. Mitchells Magen revoltierte. Er durchwühlte den Badezimmerschrank nach irgendeiner Medizin, deren Verfallsdatum noch nicht abgelaufen war.

»Hör zu, Kumpel«, fuhr sein Bruder im anderen Zimmer fort. »Dieser Typ meinte, ich krieg zehn Riesen dafür, aber, äh …«

Die Badezimmertür knarzte und Mitchell erblickte das eingefallene Gesicht seines Bruders im Spiegel.

»Alles klar, Bro?«

»Alles klar, Lenny.« Mitchell wandte sich zu seinem Bruder um und hielt sich den Bauch. Es fühlte sich an, als würde da drinnen ein Feuer brennen.

»Wie ich gesagt hab«, erklärte Lenny und versperrte seinem Bruder den Weg. »Der Kerl hat mir zehn Riesen geboten. Er hatte die Kohle sogar dabei. In ’nem richtigen Koffer und so.«

Es war ungewöhnlich, dass sein Bruder so viel quatschte. Offenbar hatte er aus irgendeinem Grund beschlossen, sich eine bescheuerte Geschichte auszudenken, bevor er ihn verprügelte. Sein Gesicht verzog sich zu einem vielsagenden Grinsen. Mitchell wusste, was das bedeutete.

»Ich glaub, du brauchst mal wieder ’ne kleine Abreibung«, gluckste Lenny. »Am besten, wir gehn dazu ins Wohnzimmer.« Er verpasste Mitchell eine Ohrfeige und wandte sich zum Gehen. Mitchell folgte ihm nicht. Blut schoss ihm ins Gesicht und er atmete tief durch.

»Los, mach schon«, beharrte Lenny und schlug Mitchell erneut, diesmal fester. Mitchells Wange brannte. Als Lenny sich wieder in Richtung Wohnzimmer umdrehte, verwandelten sich Mitchells merkwürdige Bauchschmerzen in eine Art wirbelnde Energie. Sie breitete sich aus und kroch langsam nach oben.

Mitchell wollte schreien, doch da schoss die Energie in seinen Kopf, mit einer Wucht, die fünfmal so stark war wie der Schlag seines Bruders. Er sah Lennys Rücken vor sich und, ohne nachzudenken, stürzte sich Mitchell auf ihn. Lenny war viel größer als er und drei Jahre älter, aber Mitchell umklammerte seinen Hals und riss ihn mit sich zu Boden.

»Ey!«, schrie Lenny und rammte Mitchell einen Ellbogen in die Rippen.

»Für wie blöd hältst du mich?«, fauchte Mitchell. Er kickte Lenny von sich weg, warf sich auf ihn und rammte ihm das Knie ins Zwerchfell. »Und wie gefällt dir das?«

Lenny holte mit der Faust nach Mitchells Gesicht aus, aber Mitchell packte sie bereits in der Luft. Er hatte noch nie so viel Kraft gehabt, aber er war viel zu wütend, um sich dessen bewusst zu sein. Stattdessen schwelgte er in seiner neu gewonnenen Überlegenheit.

»Ich hab dich so satt!«, schrie er, während er mit den Fäusten auf das Gesicht seines Bruders einschlug. »Genau so fühlt es sich an, was du mir die ganze Zeit antust!« Tränen verschleierten seine Sicht, aber blinder Zorn ließ seine Arme weiter ihr Ziel finden. Innerlich fühlte er sich wie betäubt. Der Schmerz, der sich über die ganzen Jahre hinweg in ihm aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn. Es kam ihm fast so vor, als wäre er gar nicht mehr in diesem Zimmer, sondern würde alles aus der Entfernung beobachten.

Dann stutzte er plötzlich – ein blaues Licht blitzte in den Spiegeln und auf den Kacheln des Badezimmers. Der blaue Streifen hüpfte durch den Raum und riss Mitchell aus seiner Raserei. Er sprang auf. Sein Bruder lag reglos da. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht war blutverschmiert.

Ich war das nicht, dachte Mitchell, und gleich darauf: Was hab ich getan? Er rannte ins Wohnzimmer und legte die Hände ans Fenster. Durch die blutigen Handabdrücke konnte er einen Krankenwagen sehen. Er war umringt von drei Streifenwagen.

Die Wohnungstür flog auf und Mitchell wirbelte herum. Zwei Männer in schwarzen Anzügen standen im Türrahmen und zielten mit Pistolen auf ihn. Sein Kopf war plötzlich wie leer gefegt. Vor seinem inneren Auge tauchte das geschundene Gesicht seines Bruders auf und er konnte nicht mehr klar denken. Was ging hier vor sich?

Bevor er auch nur die Hände heben konnte, beugten sich seine Knie, ohne dass er ihnen die Anweisung dazu gegeben hätte. Dann spannten sich seine Beine, sein Körper wurde in die Luft katapultiert und er hechtete durchs Fenster.

Glassplitter übersäten Mitchell, während er fiel, und in seinem Kopf hörte er sich selbst schreien. Dann landete er – aber nicht auf dem Boden. Etwas hatte seinen Sturz abgefedert. Er sah ein Dutzend Männer, die ihn mit ausdruckslosen Gesichtern anstarrten. Mitchell lag auf einer Art Luftkissen – es fühlte sich an wie eine Hüpfburg. War das hier alles vorbereitet gewesen? Hatten sie auf ihn gewartet?

Ein großer, breitschultriger Mann mit dem runzeligen Gesicht einer Kröte zog Mitchell hoch.

»Sieht ganz so aus, als hätte hier jemand ein bisschen über die Stränge geschlagen«, sagte er und knackte mit den Kiefern. Mitchell verstand kaum etwas wegen der ganzen Energie, die durch seinen Kopf rauschte. »Ich verhafte dich wegen Mordes an Leonard Glenthorne.«

»Mord?«, keuchte Mitchell. Man zerrte seine Hände grob hinter seinen Rücken und legte sie in Handschellen.

»Genau. Dein Bruder ist tot. Steig ins Auto.«

»Aber …« Mitchells Kehle war wie zugeschnürt. Das ergab doch alles keinen Sinn. Wieso waren diese Leute so schnell gekommen? Woher wussten sie, dass Lenny sein Bruder war? Und was am allerschlimmsten war, wie konnte es sein, dass Lenny tot war?

Mitchell wurde an jeder Seite von zwei Männern gepackt. Sie drängten ihn in ein langes schwarzes Auto mit Ledersitzen und getönten Scheiben. Als sie seinen Kopf runterdrückten, um ihn auf den Rücksitz zu befördern, erhaschte Mitchell einen Blick auf eine Transportliege, die aus dem Haus geschoben wurde. Darauf lag ein schwarzer Leichensack. Und auf einer Seite des Sacks leuchtete ein dünner grüner Streifen.

KAPITEL 2

Uno Stovorsky signalisierte seiner Einheit, das Gebäude zu verlassen. Sie gehorchten und zogen sich beinahe geräuschlos zu den Fahrzeugen zurück, die sie in sicherer Entfernung vom Bauernhof geparkt hatten. Nur Stovorsky blieb, Auge in Auge mit Christopher Viggo.

»Kommt mit«, sagte Saffron leise zu den anderen. »Wir lassen sie besser alleine.«

Yannick nickte und schob die anderen durch eine Tür gegenüber der Küche. Nur Felix und Jimmy standen wie angewurzelt da.

»Jimmy!«, zischte seine Mutter. »Komm mit! Und du auch, Felix.«

Die Jungs tauschten Blicke aus. Offenbar blieb ihnen keine andere Wahl, auch wenn sie dringend herausfinden wollten, was da zwischen den beiden Männern an der Eingangstür ablief. Sie folgten den anderen in eine Art Schlafsaal. Es gab dort vier Betten, doch die Decken darauf waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Offenbar war der Raum schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt. Eva sprang auf eines der Betten und machte es sich gemütlich.

»Ganz schön kalt hier«, quietschte sie und wickelte sich in ihre Decke ein.

»Oben gibt’s noch mehr Zimmer«, erklärte Yannick, doch niemand schenkte ihm größere Beachtung. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, begann draußen ein wildes Gebrüll. Die alten Steinmauern waren zu dick, um einzelne Wörter zu verstehen, aber ganz offensichtlich gab es einen heftigen Streit.

»Als ich klein war, hatten wir oft Besuch«, kicherte Yannick nervös, so als wollte er von den Ereignissen nebenan ablenken. »Aber jetzt war jahrelang niemand mehr hier, außer meiner Mutter natürlich.«

Alle anderen schwiegen. Sie spitzten die Ohren und versuchten, der Diskussion nebenan zu folgen.

»Also, dann lasst es uns doch so machen, dass die Mädchen hier unten schlafen und die Jungs oben. Was haltet ihr davon?« Yannick bemühte sich um einen heiteren Tonfall, allerdings ohne großen Erfolg. Die einzigen Reaktionen waren abwesendes Grunzen oder Nicken.

Jimmy bemerkte, dass Saffron auf einem Bett in der hintersten Ecke saß und aus dem Fenster schaute. Sie war die Einzige, die sich nicht für den Streit zu interessieren schien.

»Was ist hier los?«, flüsterte Jimmy. »Wer ist dieser Typ, Uno Stosowieso?«

Saffron spähte kurz zu den anderen, um sicherzugehen, dass niemand sonst zuhörte. »Er ist ein Agent des französischen Geheimdiensts«, erklärte sie. »Sie müssen uns entdeckt haben, als wir in den französischen Luftraum eingedrungen sind.«

»Das war mir klar«, unterbrach Jimmy sie. »Ich meine, woher kennt ihn Chris? Und worüber streiten die beiden?«

Saffron seufzte und vermied es, Jimmy in die Augen zu blicken. »Als Chris den NJ7 verlassen hat, musste er untertauchen. Er hat sich eine Weile in Kasachstan versteckt. Aber dann wollte er sein Wissen über den NJ7 nutzen, um Ares Hollingdale zu stoppen. Deswegen ist er zum DGSE gegangen.« Ihr Blick schweifte durchs Zimmer. Yannick und Jimmys Mutter gaben sich derweil alle Mühe, Felix, Georgie und Eva davon abzuhalten, ihre Ohren gegen die Wand zu pressen.

»Und dort ist er dann diesem Uno-Typen begegnet«, ergänzte Jimmy, um Saffron bei der Stange zu halten.

»Uno Stovorsky«, flüsterte Saffron. »Merk dir diesen Namen. Er könnte uns helfen.« Jimmy nickte. »Aber Chris bekam dann auch mit dem DGSE Schwierigkeiten.«

»Wieso? Was ist passiert?« Jimmys Stimme nahm einen drängenden Unterton an. »Warum erzählst du es mir denn nicht?«

Saffron erhob sich und holte tief Luft. »Jimmy, sie streiten meinetwegen.«

Kurz darauf öffnete sich die Tür und Yannicks Mutter kam herein.

»Jimmy, komm«, grunzte sie mit ihrem starken französischen Akzent. Jimmy trat vor, und seine Mutter folgte ihm. »Sie können mich nicht einfach im Unwissen lassen«, murmelte sie.

Saffron schlüpfte auf ihre übliche grazile Art mit ihnen durch die Tür.

»Vergiss nicht, ich will nachher alles wissen, Jimmy«, rief Felix ihm hinterher. Normalerweise hätte Felix das nicht extra betonen müssen – es war einfach selbstverständlich, dass Jimmy ihn in alles einweihte. Doch die letzten Tage waren alles andere als normal verlaufen, und das, was Jimmy nun erfahren würde, versprach besonders interessant zu werden.

»Das ist also eure tolle Killermaschine?« Uno Stovorsky durchbohrte Jimmy mit Blicken. Jimmy öffnete den Mund, um sich vorzustellen. Aber bevor er ein Wort herausbrachte, sprang Stovorsky von seinem Stuhl. Jimmy riss die Augen auf und erhaschte einen kurzen Blick auf das Messer in Stovorskys Hand.

Jimmy reagierte, ohne nachzudenken. Mit einer minimalen Bewegung wich er seitlich aus und packte Stovorskys Faust. Die Messerspitze zischte einen Millimeter an seinem Gesicht vorbei. Er verpasste dem Agenten einen Schlag in Bauch und schleuderte ihn mit einem Schulterwurf zu Boden. Jimmy fing das Messer noch in der Luft, bevor der am Boden liegende, keuchende Stovorsky es sich schnappen konnte.

»Es reicht, Jimmy!«, rief Viggo »Er wollte dich nur testen.«

»Ich weiß«, erwiderte Jimmy. »Was glaubst du, wieso er noch am Leben ist?« Jimmy staunte über seine eigenen Worte. Offenbar hatte sein Instinkt immer noch die Herrschaft über ihn. Rasch drängte er die Kraft in seinem Inneren zurück und ermahnte sich, jederzeit die Kontrolle zu behalten.

»Uno«, fuhr Viggo fort, »im Gegenzug für deine Hilfe können wir dir das komplette Arsenal von Jimmys Fähigkeiten vorführen. Damit erhaltet ihr einen Einblick in die fortgeschrittene Technologie, die England gegen Frankreich einzusetzen plant.«

Jimmy schauderte. Was meinte Viggo mit einer Vorführung seiner Fähigkeiten? Er war doch keine Zirkusattraktion! Zunächst wollte Jimmy protestieren, doch dann hielt er sich zurück. Er hatte gelernt, Christopher Viggo zu vertrauen.

Stovorsky rappelte sich vom Boden auf. Seine Miene war finster. »Diese Information ist jetzt genauso wertlos wie schon vor vielen Jahren, als du damit zu mir gekommen bist«, knurrte er. Viggos Miene wirkte einen Augenblick lang ratlos.

»Also, was haben wir«, fuhr Stovorsky fort. »Jimmy wurde von Wissenschaftlern des NJ7 in einem Reagenzglas entwickelt. Einer dieser Wissenschaftler war Dr. Higgins. Ein weiterer war Ares Hollingdale, damals, bevor er Premierminister wurde. Die neue Waffe wurde zwei Agenten anvertraut, Ian und Helen Coates.«

»Verzeihung«, unterbrach Jimmys Mutter. »Ich bin auch anwesend.«

»Tut mir leid, Mrs Coates, ich hatte Sie nicht erkannt.« Er verbeugte sich leicht und führte galant ihre Hand an seine Lippen.

»Woher weißt du das alles?«, warf Viggo ein.

Stovorskys Auftreten änderte sich schlagartig und er wandte sich wieder mit kaum verborgener Aggression seinem Rivalen zu. »Das ist noch längst nicht alles, was wir wissen. Uns ist bekannt, dass Jimmy nicht der erste seiner Art ist. Es gibt einen weiteren jungen Agenten wie ihn. Der Junge ist zwei Jahre älter, aber seit dem Tod seiner Eltern nicht mehr auffindbar. Der NJ7 geht davon aus, dass diese bei einem Autounfall umgekommen sind.«

Diese neue Information traf Jimmy wie ein Schlag in die Magengrube. Es gab einen weiteren genetisch optimierten Agenten? Wieso hatte ihm das niemand verraten? Er war völlig verwirrt. Glücklicherweise waren Helen Coates und Saffron selbst viel zu besorgt, um seine gerunzelte Stirn zu bemerken. Und Stovorsky und Viggo waren von ihrem Konkurrenzgehabe absorbiert.

»Dachtest du, ich hätte seit unserer letzten Begegnung einfach abgewartet und Tee getrunken?«, höhnte Stovorsky.

»Aber …«, begann Viggo.

»Wir haben unsere Informanten in England. Du kannst mir nichts wirklich Neues erzählen. Was ich dir anbieten kann, ist Folgendes: Ihr könnt hier in Frankreich bleiben. Aber wir können euch nicht schützen, und ganz sicher helfen wir dir nicht bei deinem persönlichen Kreuzzug gegen Ares Hollingdale.« Erneut wollte Viggo ihn unterbrechen, aber Stovorsky übertönte ihn. »Hollingdale mag antidemokratisch und antifranzösisch eingestellt sein, aber der DGSE kann sich nicht einschalten, solange keine direkte Gefahr für Frankreich besteht.«

Stille machte sich breit. Jimmys Herz pochte. Eigentlich hatte er mit guten Neuigkeiten zu Felix kommen wollen. Aber wie sollten sie ohne Unterstützung eines größeren internationalen Geheimdienstes auch nur in die Nähe von Felix’ Eltern gelangen? Oder wie überhaupt unbemerkt zurück nach England kommen?

»Schaut nicht so trübsinnig!«, dröhnte Stovorsky plötzlich. »Ihr dürft hier im Land bleiben. Ich sorge dafür, dass man euch nicht verhaftet. Und wenn ihr wachsam seid, stehen die Chancen gut, dass euch der NJ7 nicht aufspürt.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Ehrlich, ihr Engländer. Merkt ihr nicht, wie viel Glück ihr habt? Dachtet ihr wirklich, ich würde euch helfen, die britische Regierung zu stürzen?« Er schnippte Staub von den Schultern seines Mantels und wandte sich zum Gehen. Dabei murmelte er irgendetwas Französisches.

»Wir brauchen Ihre Hilfe auch nicht deswegen«, hielt Helens Stimme ihn auf. »Jimmy, hol Felix herein.« Jimmy öffnete die Tür zum Nachbarzimmer. Eva, Georgie und Felix taten rasch so, als hätten sie nicht gelauscht. Wortlos kam Felix herein.

»Das ist Felix Muzbeke«, fuhr Jimmys Mutter fort. »Die Regierung hält seine Eltern illegal gefangen. Wir wollen sie nur in Sicherheit bringen.« Felix versuchte, eine möglichst gewinnende Miene aufzusetzen.

Erst jetzt drehte sich Stovorsky zu ihnen um. Er warf einen Blick auf Felix, dann machte er gleich wieder kehrt.

»Haben Sie Kinder, Mr Stovorsky?«, fragte Jimmys Mutter.

Stovorsky legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. »Was braucht ihr?«, brummte er widerwillig.

Viggos Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Eine sichere Überfahrt nach London, damit wir herausfinden können, wo sie gefangen gehalten werden. Wir brauchen Geld und die entsprechende Ausrüstung. Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.«

Stovorsky stöhnte und verdrehte die Augen. Er zögerte lange, bevor er schließlich murmelte: »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Resigniert hob er ein Stück eines zerbrochenen Fensterladens vom Boden auf. »Versprechen Sie mir, dass es hierbei nur um die Gefangenen geht. Um nichts anderes.«

»Mr Stovorsky«, erklärte Helen Coates ruhig, »Sie haben mein Wort.«

»Sie sind eine sehr kluge Frau.« Stovorsky starrte Jimmys Mutter an. »Du hättest sie halten sollen, Viggo. Ich wünschte, du hättest es getan.« Er warf einen kurzen Seitenblick auf Saffron. »Ich melde mich«, rief er, während er zur Tür marschierte. »Bis dahin ruht euch aus.«

Mitchell konnte das Surren der Überwachungskameras hören. Er versuchte, mit den Männern Schritt zu halten, die ihn grob den Korridor entlangzerrten. Die Augenbinde juckte wie verrückt, doch seine Hände waren immer noch auf den Rücken gefesselt, daher konnte er nichts dagegen unternehmen. Innerlich war er so geladen wie noch nie. Seine Wahrnehmung war geschärft und in seinem Körper tobte ein Energiewirbel, der ihn fast umzuwerfen drohte.

Er war immer noch barfuß und die Kälte des Fußbodens kroch in seinen Körper. Endlich hielten sie an und man nahm ihm die Augenbinde ab. Das Erste, was er erblickte, waren die gelblichen Zähne eines grinsenden alten Mannes. Augenblicklich war Mitchells Ärger verflogen.

»Willkommen beim NJ7«, begrüßte ihn der alte Mann. »Ich bin Dr. Higgins.«

Bevor Mitchell antworten konnte, hoben die beiden Männer ihn hoch und pressten ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch in der Mitte des Raums. Der Geruch der ledernen Arbeitsunterlage stieg in Mitchells Nase. Er wehrte sich und trat um sich, bis er plötzlich einen schmerzhaften Stich in der Ferse spürte. Er heulte auf. Die beiden Männer hoben ihn vom Tisch und warfen ihn zu Boden. Mitchell versuchte aufzustehen, aber sein linker Fuß war zu schwach und er kippte wieder um.

»Was ist hier los?«, schrie er und seine Augen zuckten im Raum umher. Die Wände waren aus nacktem Beton. An der Decke hingen Neonröhren und zwei Kameras, die ihn anzustarren schienen. Überall standen muskulöse Männer in Anzügen. Dr. Higgins unterschied sich mit seinem weißen Mantel und seinem vom Alter gekrümmten Körper deutlich von ihnen. Eine schwarze Katze schmiegte sich an seine Beine.

Dann kam aus dem Korridor am anderen Ende des Raums eine dürre Gestalt auf sie zu. Mitchell erkannte den Mann sofort. »Sie sind der Premierminister!«, keuchte er.

Alle standen stramm, während Ares Hollingdale den Raum betrat. Seine bleiche Haut leuchtete fast. »Diesmal rennst du uns nicht davon, junger Mann«, flüsterte er und beugte sich zu Mitchell hinunter. »Dr. Higgins hat einen Ortungschip in deinen Fuß implantiert.«

»Was ist hier los?«, wiederholte Mitchell, doch plötzlich erschien ihm die Antwort offensichtlich, so als wäre eine verblasste Erinnerung in ihm aufgetaucht.

»Erklären Sie ihm die Situation«, blaffte der Premierminister Dr. Higgins an. »Und anschließend informieren Sie Miss Bennett. Sie hat unser Zielobjekt aufgespürt.« Er durchbohrte Mitchell mit einem stechenden Blick. »Wenn du Schwierigkeiten machst, landest du für den Rest deines Lebens im Gefängnis.«

Mitchells Gedanken rasten. Schmerz pochte in seinem Fuß. Die können mich nicht ins Gefängnis stecken, dachte er. Ich bin erst vierzehn. Aber in seinen Ohren hallten die Schläge wieder, die auf dem blutigen Schädel seines Bruders gelandet waren. Ein heftiges Gefühl überschwemmte ihn. War das die Schuld? Er versicherte sich selbst, dass sein Bruder es nicht anders verdient hatte. Doch gleich darauf war ihm klar, dass er zu weit gegangen war. Er hatte doch niemals seinen Tod gewollt. Er hatte die Kontrolle über sich verloren und jetzt würde man ihn dafür bestrafen.

»Tu, was wir dir sagen«, fuhr der Premier fort, »und du kannst ein Held werden.« Mitchell hatte keine Ahnung, was er damit meinte.

Dann meldete sich Dr. Higgins zu Wort. »Der NJ7 ist der modernste militärische Geheimdienst der Welt …«

Mitchell nahm ihn wie durch einen Nebel war. Die Welt um ihn herum drehte sich und er sah, wie der Premierminister den Raum verließ. Dr. Higgins’ Mund bewegte sich, aber Mitchell verstand nur Bruchteile.

»… du bist 38 Prozent menschlich … eine Killermaschine … wirst für uns arbeiten …« Was auch immer Dr. Higgins da brabbelte, es interessierte ihn nicht.

Mitchell weinte um seinen Bruder.

KAPITEL 3

»Jetzt sind es schon drei Tage«, murmelte Jimmy vor sich hin. »Wenn ich hier nicht bald rauskomme, werde ich noch verrückt.« In der Küche hing Kochdunst und Jimmy zerhackte einen Bund Petersilie. Er trug keinen Verband mehr am Handgelenk und der Schnitt war kaum noch zu sehen – eine zarte Linie, wie der ausgeblichene Strich eines Kugelschreibers.

»So was kommt übrigens ziemlich oft vor«, zwitscherte Felix, während er mit einer Kartoffel und einem Gemüseschäler kämpfte. »Leute gehen nicht mehr vor die Tür und dann verlieren sie total den Verstand. Sie bilden sich ein, der Rest der Welt wäre bei einem Atomangriff zerstört worden oder bei einer Alienattacke oder so, und …«

»Du hältst den Schäler falsch rum«, unterbrach ihn Jimmy.

»Oh. Stimmt. Ich dachte schon, das Ding ist völlig stumpf. Wo war ich stehen geblieben?«

»Der DGSE war vor drei Tagen hier«, fuhr Jimmy fort und ignorierte Felix’ Tagträume. »Findest du nicht auch, die könnten langsam mal was von sich hören lassen?«

Felix zuckte mit den Achseln und starrte ratlos auf seinen Gemüseschäler. »Wieso darf Yannicks Mutter eigentlich ins Dorf«, fragte er schließlich, »und wir anderen müssen drinnen bleiben?«

»Naja, irgendjemand muss uns Essen bringen und Kleidung und das ganze andere Zeug.«

»Aber wird die Bilderaufklärung sie nicht entdecken?«

»Das heißt Bildaufklärung. Durch Satelliten«, verbesserte ihn Jimmy. »Sie geht ja normalerweise auch immer ins Dorf. Es wäre viel verdächtiger, wenn sie es jetzt lassen würde.«

»Aber dass sie die neunfache Menge an Einkäufen mitbringt, einen ganzen Secondhandladen versiffter Kleider leer kauft und jeden Tag von ihrem Sohn im Lieferwagen abgeholt wird – das ist nicht verdächtig, oder wie?« Felix zog die Augenbrauen so weit nach oben, dass es aussah, als würden sie jeden Moment von seinem Gesicht abheben.

»Da ist was dran«, gab Jimmy zu. »Es ist riskant – aber notwendig, oder?«

»Wahrscheinlich«, murmelte Felix. Dann versuchte er, mit drei Kartoffeln zu jonglieren, allerdings ohne großen Erfolg.

Jimmy konzentrierte sich wieder aufs Kochen. Er schnitt Karotten mit der artistischen Geschicklichkeit eines Chefkochs und der eher geringen Begeisterung eines Zwölfjährigen.

In den schweren Metalltöpfen auf dem Herd brodelte und blubberte es und köstlich riechender Dampf breitete sich in der Küche aus.

»Und wieso muss eigentlich immer ich kochen?«, stöhnte Jimmy.

»Du hättest ihnen eben am ersten Abend nicht beim Kochen helfen sollen«, antwortet Felix. »Dann hätten sie auch nicht rausgefunden, dass es eines deiner Talente ist.«

Bevor Jimmy antworten konnte, kam Georgie in die Küche gehüpft. »Wann gibt’s Essen?«, fragte sie und pickte in den Zutaten auf der Arbeitsfläche herum.