J.C. - Agent unter Beschuss - Joe Craig - E-Book

J.C. - Agent unter Beschuss E-Book

Joe Craig

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Most wanted: Jimmy Coates, 13 Jahre, Superagent

Jimmy Coates, dem jugendlichen genetisch modifizierten Superagenten, ist in einigen Monaten mehr widerfahren, als James Bond und Jason Bourne in ihrem ganzen Leben: Mittlerweile ist er nicht nur Staatsfeind Nummer 1 der britischen Regierung, sondern auch auf den Fahndungslisten der CIA ganz weit oben gelandet. Verzweifelt versucht Jimmy einen Ausweg zu finden und gleichzeitig seine Familie und Freunde aus dem Visier der Geheimdienste zu schaffen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man von allen Seiten unter schwerem Beschuss steht ...

Die Abenteuer von Agent J.C. sind atemberaubende actionreich und bieten Spannung der Extraklasse - Lesevergnügen pur für alle Fans von rasanten Szenen und überraschenden Wendungen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 339

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



JOE CRAIG

AGENT UNTER BESCHUSS

Aus dem Englischen von

Alexander Wagner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstraße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2008 Joe Craig

Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel:

»Jimmy Coates – Survival«

bei HarperCollins Children’s Books, einem Imprint

der Verlagsgruppe HarperCollins Ltd, London

Übersetzung: Alexander Wagner

Umschlagkonzeption: Isabelle Hirtz, Inkcraft

unter Verwendung der Motive von

© Shutterstock (fotogrin; David Orcea; KidPhotography)

MP • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22886-6V002

www.cbj-verlag.de

DER GROSSE KNALL

Eben noch war es ein von Menschenhand geschaffenes Weltwunder: Neptuns Schatten, die zweitgrößte Ölbohrinsel der Welt. Mit ihren zahllosen Lichtern funkelte sie im düsteren Nebel der Nordsee wie ein außerirdisches Raumschiff. Kräne ragten in alle Richtungen empor, als wollten sie mit ihren metallenen Greifarmen ein Stück aus dem Nachthimmel reißen, während in ihrem Inneren unablässig Maschinen arbeiteten und das schwarze Gold aus dem Herz der Erde heraufpumpten.

Doch schon im nächsten Augenblick explodierte all das in einem gewaltigen Flammeninferno, dessen lodernder Feuerschein bis hinüber an die Küste Dänemarks zu sehen war. Die Detonation schreckte sogar im nördlichen Schottland noch Vögel aus ihren Nestern auf. Und eine der wichtigsten Geldquellen der britischen Regierung flog mit größerer Gewalt in die Luft, als der Vulkan Vesuv es je vermocht hatte.

Am nächsten Morgen wiederholte sich diese Explosion millionenfach auf Fernsehbildschirmen, in Radio- und Zeitungsberichten. Und jeder der Berichte übertrieb das Ausmaß ihrer Gewalt ein wenig mehr, während im Internet die Menschen darüber diskutierten, wie das alles hatte geschehen können – und was der britische Premierminister wohl in dieser Sache unternehmen würde.

Aber vor allem wiederholte sich diese Explosion wieder und wieder vor dem inneren Auge der einen Person, die wirklich vor Ort gewesen war und diese ungeheure Katastrophe überlebt hatte – Jimmy Coates.

KAPITEL 1

Zunächst war es nur ein Blinken auf der Instrumententafel, bald darauf ein Störgeräusch im Motor. Jimmy rechnete bereits seit drei Stunden mit seinem Auftauchen. Ich könnte das Flugzeug auf dem Wasser notlanden, dachte er. Er befand sich mitten über dem Atlantik und ein Teil seines Gehirns berechnete schon den besten Winkel für das Landen des Falcon 20 auf den Wellen. Die Muskulatur seiner Schultern wärmte sich bereits für die wohl längste Schwimmherausforderung seines Lebens auf.

Jimmy biss die Zähne zusammen und starrte aus dem Cockpitfenster. Nein, eine Wasserlandung war keine echte Option. Er musste unbedingt die Küste Europas erreichen. Und plötzlich zeigte sich ihm eine Lösung des Problems.

Sein Flugzeug wurde durchgerüttelt. Ein gewaltiges Dröhnen übertönte das Motorengeräusch des Falcon. Jimmy spähte nach oben und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an. Über ihm schwebte der Schatten eines gewaltigen Passagierflugzeugs.

»Ah, da ist ja meine Mitfahrgelegenheit«, flüsterte Jimmy. Er blickte erneut auf die Treibstoffanzeige. Sie stand jetzt tief im roten Bereich. Der junge Agent zog den Falcon nach oben, während sich seine Finger über die Armaturen bewegten. Geronnenes Blut bedeckte seine Handflächen und hinterließ klebrige Spuren auf den Instrumenten. Doch die Haut darunter heilte bereits und der Schmerz war kaum mehr zu spüren.

Neben demAirbus A490 wirkte Jimmys Falcon wie eine Fliege auf dem Hintern eines Nilpferds. Jimmy staunte über die gewaltigen Ausmaße des Flugzeugs. Es war schätzungsweise an die hundert Meter lang und besaß eine noch größere Flügelspannweite. Das tiefe Rumoren der großen Turbinen ließ Jimmys Brust vibrieren.

Rascher als erwartet flog Jimmy direkt unter dem Passagierjet dahin. Bitte lass es funktionieren, flehte er. Es waren seine Agenteninstinkte, die ihn zu diesem gewagten Plan getrieben hatten. Der Junge selbst hätte so etwas Verrücktes niemals gewagt.

Die Welt um Jimmy herum verschwamm und er konzentrierte seine gesamte Energie auf einen Punkt tief in seinem Unterbauch. Dort begann sich seine innere Kraft zu regen. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie war dazu bestimmt, in riskanten Situationen die Kontrolle zu übernehmen.

Gleich darauf spürte er das vertraute Vibrieren. Seine Muskeln wurden von Kraftwellen durchpulst. Sein Hals prickelte und sein Gehirn erwachte zu voller Leistungsbereitschaft. Jimmy stand unter Hochspannung und war gleichzeitig voller Wut. Dieses Manöver würde ihn vielleicht retten, doch er wusste, dass diese Kräfte ihn eines Tages möglicherweise auch zerstören könnten.

Jimmy zog am Steuerknüppel und sein Flugzeug schoss auf den Airbus zu. Kurz bevor es zu einer gewaltigen Kollision mitten in der Luft kam, wurde der Falcon nach hinten und oben gerissen und schwebte auf einer Art Luftkissen – die gewaltigen Luftwirbel, die die Turbinen desAirbus erzeugten, trugen ihn mit sich.

Genau in diesem Moment schaltete Jimmy die Motoren des Falcon aus. Ihr Jaulen verstummte und an seine Stelle trat das ohrenbetäubende Donnern desAirbus und das Pfeifen der vorbeizischenden Luft. Gewaltige Turbulenzen rüttelten Jimmy auf seinem Sitz durch. Er packte den Steuerknüppel fester und bemühte sich verzweifelt, die ständigen Schwankungen der Maschine im Griff zu behalten. Er surfte auf nichts als Luft.

»Hey, schau dir das an, Pritchie«, sagte derAirbus-Pilot und beugte sich in seinem Sitz nach vorne. Ein Stück Salat fiel aus seinem Sandwich.

Sein Co-Pilot hatte die Mütze tief über die Augen gezogen und rührte sich nicht.

»Was gibt’s?«, knurrte er.

»Eine Nachricht«, erwiderte der Pilot und biss erneut in sein Sandwich. »Die Flugverkehrskontrolle. Irgendwas wegen einem Radar-Phantom.«

»Phantom?« Unwillig hievte sich der Co-Pilot in eine aufrechte Position und schob seine Mütze zurecht. »Das bedeutet, es gibt zwei blinkende Punkte, wo nur einer sein sollte, oder?«

»Na ja, jedenfalls ist es ganz sicher kein Typ unter einem weißen Bettlaken, oder?«

Beide Piloten checkten jetzt die Monitore im Cockpit und waren plötzlich höchst alarmiert.

»Was gefunden?«, fragte der Pilot.

Pritchie schüttelte den Kopf. »Hey, was ist das?«, rief er. »Eine weitere Nachricht.«

Gemeinsam überprüften sie erneut die Kommunikationssysteme. Schließlich zuckte der Pilot mit den Achseln.

»Merkwürdig«, brummte er. »Muss wohl ein kurzer Störimpuls gewesen sein.«

»Ein Störimpuls?«

»Na ja, wir haben nichts gefunden, und jetzt sagen sie, alles ist wieder in bester Ordnung.«

»Schätze, deshalb nennt man so was auch Phantom.«

Sie blickten sich kurz an, um sich zu versichern, ob der jeweils andere eine größere Sache aus dem Vorkommnis machen oder einfach zur Routine übergehen würde.

Irgendwann lächelte Pritchie.

»Na, hoffentlich war es kein Vogelschwarm, der es sich in unseren Turbinen gemütlich machen wollte.« Er stieß ein raues Lachen aus, ließ sich in seinen Sitz zurücksinken und zog die Mütze wieder über die Augen.

»Kann man wohl ausschließen«, schnaubte der Pilot. »Jedenfalls riecht es nicht nach gegrilltem Geflügel.«

Jimmy ritt auf der gewaltigen Luftströmung wie ein Profi. Die geringste Spannungsänderung seiner Muskeln sorgte für Korrekturen in der Balance des Flugzeugs. Stück für Stück manövrierte er nach unten und ins Zentrum des Triebwerkstroms. Wenn er das durchziehen wollte, musste er so dicht wie möglich hinter demAirbus fliegen, um auf den Radarsystemen der Luftverkehrskontrolle nicht als eigenständiges Flugzeug identifiziert zu werden.

Jetzt brauchte er nur noch diese Position halten, bis sie Europa erreicht hatten. Und dann musste er sich Gedanken über die Landung machen. Er hoffte nur, dass er noch nicht zu spät kam.

KAPITEL 2

»Na, Eva, sollen wir dann mal?«, rief Miss Bennett.

Eva Doren fühlte sich wie ein kleines Schulmädchen. Doch im Gegensatz zu den meisten 14-Jährigen ging sie nicht mehr in die Schule. Sie befand sich vielmehr in einem Besprechungsraum in den Bunkern des NJ7, des technologisch fortschrittlichsten Geheimdienstes der Welt, tief unter den Straßen Londons.

Vermutlich gab es nicht viele Mädchen, die jeden Tag an einem derartigen Ort arbeiteten: drei massive Betonwände, kahl und grau, bis auf die vielfarbigen Kabelstränge an der Decke und eine vierte, erst kürzlich installierte Glaswand, die etwas Licht vom Korridor hereinließ.

Der Raum hatte keine Tür – es gab kaum Türen im NJ7-Hauptquartier. Die ganze Anlage war so gebaut, dass sie im Falle einer Evakuierung innerhalb von zwei Minuten komplett von der Themse geflutet werden konnte, um die Geheimnisse in ihrem Inneren zu schützen.

»Ich dachte, wir warten auf jemanden?«, erwiderte Eva.

»Richtig«, erwiderte Miss Bennett. »Aber er kommt zu spät. Daher fangen wir ohne ihn an.«

Eva zog ihren Pferdeschwanz stramm, dann zückte sie einen Notizblock und einen Bleistift aus der Brusttasche ihrer Bluse. Sie saß an einem gläsernen Konferenztisch für zwölf Personen, an dem im Augenblick aber nur drei Platz genommen hatten.

Miss Bennett saß rechts neben ihr. Auch ihr Haar war straff nach hinten gebunden, aber es war länger als Evas und, wie Eva fand, auch glänzender. Manchmal fragte sich Eva, ob Bennett mit jeder ihrer grausamen Aktionen noch schöner wurde.

Miss Bennett ging einen Stapel Aktenordner durch, alle schlicht und braun bis auf das NJ7-Emblem auf der Vorderseite – ein vertikaler, grüner Streifen. Dann zog sie einen winzigen Digitalrekorder hervor und legte ihn in die Mitte des Konferenztischs. Sie drückte den Startknopf, räusperte sich und begann in geschäftsmäßigem Tonfall: »Anwesend sind der NJ7-Spezialagent Mitchell Glenthorne und meine persönliche Assistentin Eva Doren …«

Sie nannte einige weitere Details des Meetings, während Eva den ihr gegenübersitzenden Mitchell beobachtete. Er hielt wie üblich den Blick gesenkt, aber seine Schultern schienen noch breiter zu werden, und er wirkte, als platze er förmlich vor Stolz, weil er als Spezialagent bezeichnet worden war.

»Oh, und dann ist da natürlich meine Wenigkeit«, fügte Miss Bennett hinzu. »Miss Bennett, Direktorin des NJ7.«

Sie hatte kaum geendet, da fiel ein Schatten quer über den Konferenztisch. Im Eingang stand ein unglaublich großer Mann. Eva meinte noch nie einen größeren gesehen zu haben; allerdings wirkte er nicht sehr kräftig und muskulös. Er war so dünn, dass Eva sich fragte, ob ihn irgendjemand in seiner Wachstumsphase künstlich in die Länge gezogen hatte. Er musste sich bücken, um den Raum betreten zu können.

»Ah«, bemerkte Miss Bennett, lehnte sich zurück und lächelte knapp. »Offenbar hat unser Gast sich doch entschlossen, uns Gesellschaft zu leisten.«

Der große Mann ließ sich schweigend auf dem Stuhl Miss Bennett gegenüber nieder. Sein Gesicht erinnerte ein wenig an das eines Indianers und seine Nase war lang und schmal wie der übrige Körper. Sein Haar war pechschwarz und an den Seiten rasiert, was ihn nur noch größer erscheinen ließ.

»Müssen denn bei jedem Meeting Kids dabei sein?«, fragte der Mann, bevor er seine langen Beine unter dem Tisch verstaute. Er starrte Eva an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, aber sie verzog keine Miene. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen. »Ich kann ja verstehen, dass Mitchell dabei ist, aber sie hier …«

»Eva«, stellte sich Eva vor. Sie fühlte den Drang aufzustehen, unterdrückte ihn aber. Sie hätte sich im Vergleich zu diesem Giganten nur noch kleiner gefühlt. Stattdessen senkte sie den Blick auf ihren Notizblock und begann etwas zu kritzeln.

»Eva hat eine wichtige Rolle beim NJ7«, erklärte Miss Bennett. »Und besonders in meinem Büro.«

»Ist es nicht an der Zeit, sie nach Hause zu schicken«, wandte der Mann ein. »Soweit ich weiß, halten ihre Eltern sie für tot.«

Jetzt erst blickte Eva wieder auf. Mach den Eindruck, als hättest du Heimweh, befahl sich Eva. Überraschenderweise stellte sich dieses Gefühl umgehend ein.Täusche ich es wirklich nur vor?Spiel einfach deine Rolle. Sei das loyale kleine Mädchen. Sie spürte Mitchells prüfenden Blick auf sich ruhen, fixierte aber weiter das Gesicht des Mannes.

»Wie lange wollen Sie diesen Zustand noch aufrechterhalten?«, fragte er.

»Unbeschränkt«, erwiderte Miss Bennett. »Jemand mit Ihrem Hintergrund müsste eigentlich wissen, wie wertvoll es ist, wenn einen die Welt für tot hält. Übrigens, was ist eigentlich ganz genau Ihr Hintergrund?«

Eva entspannte sich ein wenig. Miss Bennett war eine Meisterin im Lenken von Unterhaltungen. Manchmal war es sehr lehrreich, jemanden so Mächtigen wie sie aus der Nähe studieren zu können.

Der Mann schwieg. Er lächelte nur knapp, mit zusammengepressten Lippen.

Mitchell durchbrach die eintretende Stille.

»Ohne Eva«, erklärte er, »hätten wir in New York niemals Jimmy Coates erledigen können.«

Evas Puls beschleunigte sich erneut, aber diesmal vor Erleichterung. Mitchell beobachtete sie immer noch. Daher sorgte sie dafür, dass ihre Miene nicht das Geringste verriet. Du dienst deinem Land, dachte sie, um ihren eigenen Körper mit dieser Lüge zu täuschen. Jimmy war ein Verräter.

Gleichzeitig summte jede Zelle ihres Körpers vor Freude, dass ihr Freund in Wirklichkeit unerkannt und lebendig New York verlassen hatte.

Schließlich zuckte der Mann mit den Achseln und zog seine Akten heraus.

»Das ist William Lee«, erklärte Miss Bennett Eva und Mitchell. »Der neue Chef des Spezialkommandos. Er ersetzt Paduk.«

Der lange Mann streckte ihnen die Hand hin und zeigte mit einem übertriebenen Grinsen seine strahlend weißen Zähne.

Eva schüttelte ihm die Hand, doch Mitchell weigerte sich.

»Sie haben Ihren Posten jetzt schon angetreten?«, fragte Mitchell. »Wo Paduks Leiche möglicherweise noch nicht mal richtig kalt ist. Wo auch immer sie sich befinden mag.«

»Unwahrscheinlich, dass seine Leiche noch warm ist«, erwiderte Lee gelassen. »Er ist in tausend kleine Stücke zerfetzt und im Radius von zehn Quadratkilometern über die Nordsee verstreut worden. Ganz zu schweigen von den Stückchen, die bereits von den Fischen gefressen …«

»Danke für diese etwas dramatische Darstellung«, unterbrach ihn Miss Bennett. »Ich glaube, wir haben verstanden.«

»Ach, Sie finden diese Vorgänge also nicht dramatisch?«, fragte Lee ironisch. »Wenn unsere größte Ölbohrplattform explodiert? Wenn mein Vorgänger bei seinem Rettungseinsatz versagt und in die Luft gesprengt wird? Oder wenn unsere Wirtschaft und unsere Energieversorgung in eine massive Krise geraten?«

Schweigen machte sich breit, und alle vermieden es, sich anzublicken.

»Das ist eine der Angelegenheiten, die wir diskutieren wollen«, murmelte Miss Bennett schließlich und deutete auf ihre Akten.

»Dann legen Sie doch mal los«, erwiderte Lee.

Miss Bennett breitete eine Reihe von Papieren auf dem Tisch aus.

Eva beugte sich vor, obwohl sie die Unterlagen bereits kannte. Es waren einige Fotos der Ölbohrinsel darunter, doch das meiste waren eng beschriebene Seiten – der Bericht des SAS. Auf allen Papieren prangte der leuchtende grüne Streifen.

»Laut meinem Spurensicherungsteam«, begann Miss Bennett, »weist alles darauf hin, dass es der Sabotageakt eines einzelnen Agenten war«.

»Ein einzelner Agent?«, wiederholte Lee. »Ein Agent, der offenbar nicht die Absicht hatte, sich zusammen mit der Plattform in die Luft zu sprengen, richtig?«

»Es war ein Mädchen«, schaltete sich Mitchell ein. Alle drehten sich zu ihm.

»Mitchell war dort«, erklärte Miss Bennett. »Er war Teil des SAS-Teams.«

»Verstehe«, brummte Lee. »Und du hast den Agenten gesehen?«

Mitchell nickte.

»Sie war maskiert und mit Öl verschmiert, aber von ihrer Statur und ihren Fähigkeiten her war es eindeutig Zafi.«

»Und Zafi ist …«, William Lee studierte einen Augenblick seine eigenen Akten, »… die französische Kinderagentin, richtig? Mitchells Gegenstück? Eine weitere genetisch programmierte, humanoide Agentin?« Er stieß ein trockenes Lachen aus.

»Humanoid?«, rief Mitchell aufgebracht. »Was erlauben Sie sich –«

»Genau«, unterbrach ihn Miss Bennett scharf. »Zafi ist die französische Kinderagentin.«

»War«, verbesserte sie Mitchell. »Sie flog zusammen mit der Plattform in die Luft, schon vergessen?«

»Ist ihre Leiche gefunden worden?«, fragte Lee.

»Ich sagte, sie ist in die Luft geflogen, Sie wissen schon: – Bumm!« Mitchell deutete mit den Händen eine Explosion an. »In tausend kleinen Stückchen über zehn Quadratkilometer Nordsee verteilt, um Sie zu zitieren. Wollen Sie etwa, dass ich die Fische fange, von denen Sie gesprochen haben, und Ihnen Proben ihrer Ausscheidungen liefere?«

»Schon gut. Also haben die Franzosen die Plattform in die Luft gesprengt, wobei immerhin ihre wichtigste Agentin ausgeschaltet wurde. Auf welche Art werden wir zurückschlagen?«

»Der Premierminister hat mein Dossier zu dieser Fragestellung bereits erhalten«, erklärte Miss Bennett.

»Der Premierminister hat Ihr Dossier sogar gelesen. Aber ich fürchte, er fühlt sich im Augenblick nicht gut. Im Moment treffe ich alle Entscheidungen in dieser Angelegenheit.«

»Sie?« Miss Bennett war empört, zügelte sich aber rasch wieder.

Lee ordnete seine Akten, dann fuhr er fort, wobei er Miss Bennett vollständig ignorierte.

»Mutam-ul-it«, verkündete er. Das rätselhafte Wort stand eine Weile unkommentiert im Raum. »Ich habe den starken Verdacht, dass dies unsere beste Option ist. Alle sollen sich bereithalten.«

Er erhob sich und Eva staunte erneut über seine Körpergröße. Fast kam es ihr so vor, als wäre er während des Meetings noch gewachsen.

Als er seine Papiere einsammelte, kam dem Mann ein weiterer Gedanke.

»Haben Sie übrigens das Memo über die morgige Gedenkfeier für meinen Vorgänger gelesen?«

»Ich lese jedes Memo«, fauchte Miss Bennett.

»Es findet am Kriegerdenkmal der Handelsmarine statt«, fuhr er fort. »Der Premierminister erwartet Ihre Anwesenheit. Paduk war sein Freund.«

»Natürlich werden wir anwesend sein«, erklärte Mitchell. »Paduk war auch unser Freund.«

»Und noch eines«, fügte Lee hinzu, der Mitchells bissigen Kommentar ignorierte. »Was ist mit diesem Jimmy Coates? Müssen wir uns da noch Sorgen machen?«

»Die Akte ist geschlossen.« Miss Bennett zog einen einfachen braunen Ordner aus dem Stapel und warf ihn quer über den Tisch. Dabei rutschte eine Seite heraus. Auf ihrer oberen rechten Ecke befand sich ein grobkörniges Foto von Jimmys Gesicht neben einem weiteren grünen Streifen. Große rote Buchstaben waren quer über seine Stirn gestempelt: LIQUIDIERT. Darunter stand in Druckbuchstaben: New York, USA.

»Das weiß ich alles längst«, knurrte Lee und starrte auf die Akte. »Aber hat man inzwischen seine Leiche gefunden?«

»Ein weiteres schmackhaftes Mahl für die Fische«, unterbrach ihn Mitchell mit einem Grinsen.

»Es gibt keine Fische im East River«, erklärte Lee, während er die Akte studierte. »Zu viel Umweltverschmutzung.«

Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens schob er die Akte zurück über den Tisch und sah die anderen erwartungsvoll an. »Und?«

»Taucher haben den Fluss abgesucht«, erklärte Miss Bennett seufzend.

»Keine Leiche?«, erkundigte sich Lee.

»Zu viele Leichen.«

»Kinder?« Lee wirkte geschockt.

»Wir reden hier von New York.« Miss Bennett zuckte mit den Achseln. »Wir sind nicht die einzige Organisation, die Kinder und Jugendliche einsetzt. Da gibt es die Mafia, die Triaden …«

Der bloße Gedanke jagte Eva einen kalten Schauer über den Rücken. Konnte es wirklich sein, dass so viele skrupellose Menschen auf der Welt bereit waren, Kinder zu töten oder als Killer einzusetzen?

»Jedenfalls konnte Jimmy unter Wasser atmen«, warf Mitchell ein. »Möglicherweise ist er noch Kilometer weit abgetrieben, bevor er schließlich gestorben ist.«

Miss Bennett stimmte ihm zu. »Der Suchbereich ist viel zu groß für unsere Möglichkeiten«, erklärte sie mit einem weiteren Achselzucken. »Und ohne politische oder juristische Handhabe …«

»Aber wir sind sicher, dass er tot ist«, insistierte Lee und stützte sich dabei mit einer Hand auf den Tisch.

Er und Miss Bennett fixierten einander. Dann nickte Miss Bennett langsam.

»Bei so vielen Kugeln, wie er sie abgekriegt hat? Da können wir definitiv sicher sein.«

Lee dachte kurz darüber nach, dann nickte er und marschierte ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.

Miss Bennett gab Mitchell ein Zeichen, ebenfalls den Raum zu verlassen. Er salutierte etwas unbeholfen vor seiner Chefin und warf Eva noch einen nervösen Blick zu, bevor er ging.

Eva wollte den beiden anderen schon folgen, doch Miss Bennett hielt sie mit erhobener Hand auf. Sie stützte sich auf den Tisch und stoppte den Digitalrekorder. Ihre gerunzelte Stirn verriet Anspannung.

»Finde etwas über diesen Mann heraus«, flüsterte sie, ohne aufzublicken.

»William Lee?«, staunte Eva. »Was soll ich da herausfinden?«

»Alles. Wo er herkommt, wer er ist und was er will.«

»Was er will? Was meinen Sie damit?«

»Alle wollen irgendetwas.« Miss Bennett tippte langsam mit dem Zeigefinger auf den Tisch, dann hob sie den Blick. »Und wenn du herausfindest, was es ist, dann kennst du auch ihre Schwächen.«

KAPITEL 3

Jimmy war gejagt, getreten, gewürgt und beschossen worden. Man hatte versucht, ihn in die Luft zu jagen, in Öl zu ertränken und in Brand zu stecken. Aber was im Grunde am schlimmsten war, waren die Lügen hinter alldem.

Jimmy zitterte heftig. Die vielen Stunden in zehntausend Meter Höhe forderten jetzt ihren Preis. Ohne das Klimakontrollsystem eines großen Passagierflugzeugs war es hier oben fast so kalt wie in der Arktis. Der Falcon war nicht für solche Flughöhen gebaut und Jimmy war definitiv nicht dafür angezogen. Seine Jeans waren zerrissen und sein dünner Kapuzenpullover wärmte ihn kaum.

Dadurch wurde es noch schwieriger, das Flugzeug unter Kontrolle zu halten. Er bewegte den Steuerknüppel inzwischen mit seinen Schultern, weil er sich nicht mehr auf seine Hände verlassen konnte – seine Finger waren wie abgestorben. Außerdem rang er verzweifelt nach Atem. Seine Rippen fühlten sich an wie von Stacheldraht umschlossen.

Doch trotz seiner Schmerzen musste Jimmy ständig an die Lügen denken, die ihn überhaupt erst in diese Situation gebracht hatten. Zuerst hatte ihn der Direktor der CIA unter Vorspiegelung falscher Tatsachen überredet, eine britische Ölbohrinsel in die Luft zu jagen. Und jetzt beschuldigten die Briten die Franzosen deswegen und wollten Vergeltung üben. Jeden Augenblick konnte ein Krieg zwischen Frankreich und Großbritannien losbrechen. Und das ist zum Teil meine Schuld, dachte Jimmy. Sein Magen krampfte sich zusammen, und das nicht wegen der Luftturbulenzen.

Sein ganzes Leben wurde von Lügen und Geheimnissen bestimmt. Und eines der größten Geheimnisse bestand darin, dass er offiziell gar nicht mehr am Leben war. Der britische Geheimdienst ging davon aus, dass Jimmy in New York getötet worden war.

Und dann waren da noch die Lügen, die ihm sein angeblicher Vater zwölf Jahre lang aufgetischt hatte, bis er ihm schließlich offenbart hatte, dass Jimmy gar nicht sein Sohn war. Und nun, wo Ian Coates auch noch Premierminister war, hatte er den Befehl gegeben, Jagd auf Jimmy zu machen und ihn zu töten.

Lügen diktieren sein Leben, dachte Jimmy. Er ist ein richtiger Profi darin geworden.

Selbst ich bin eine Lüge.

Zu 38 Prozent menschlich. Mit schonungsloser Klarheit erinnerte Jimmy sich an den Moment, als er diese Worte zum ersten Mal gehört hatte. Er dachte an das Entsetzen, das sie in ihm ausgelöst hatten. Er hatte erfahren, dass er vom britischen Geheimdienst genetisch programmiert worden war, um mit achtzehn Jahren als Agent und Killer zum Einsatz zu kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte er als scheinbar normales Kind aufwachsen sollen, ohne selbst von seinem Geheimnis auch nur zu ahnen.

Doch anstatt abzuwarten, bis Jimmy das Erwachsenenalter erreicht hatte, wollte ihn die Regierung vorzeitig auf eine Mission schicken. Obwohl ich noch ein Kind war, sollte ich für sie töten. Er wollte sich nicht vorstellen, was aus ihm geworden wäre, hätte er diese Mission tatsächlich durchgezogen und sich nicht im letzten Moment geweigert. Aus diesem Grund hatte ihn der NJ7 nun zum Staatsfeind Nummer 1 erklärt.

Jimmys besondere Agentenfähigkeiten hatten sich seit dieser Zeit kontinuierlich weiterentwickelt und ihm nichts als Ärger eingebracht. Und jetzt veranlassen sie möglicherweise sogar einen Krieg, dachte er voller Schrecken.

Jimmy suchte verzweifelt nach Wegen, den Krieg zu verhindern. Der einfachste Weg schien ihm, einzugestehen, dass er die Ölbohrinsel in die Luft gejagt hatte – und nicht die Franzosen. Doch bei einer Rückkehr nach Großbritannien würde er sofort wieder zur Zielscheibe des Geheimdienstes. Damit werde ich fertig, dachte er.Wenn es einen Krieg verhindert, dann ist es das wert.

Doch so einfach war es leider nicht. Seine Mutter, seine Schwester und sein bester Freund waren in London. Britische Agenten überwachten jeden ihrer Schritte. Sobald Jimmy dort auftauchte, würden alle seine geliebten Menschen erneut in höchste Gefahr geraten. Im besten Fall würden sie verhaftet; im schlimmsten Fall … Jimmy wagte nicht, sich vorzustellen, welche schrecklichen Methoden der NJ7 anwenden würde, um an Informationen über ihn zu kommen.

Er schauderte und richtete seine Energie wieder auf die Steuerung des Flugzeugs. Doch innerlich fühlte er sich völlig zerrissen. Es war eine einfache Gleichung: Entweder er verhinderte einen Krieg und lieferte damit seine Familie dem Geheimdienst aus, oder er blieb im Verborgenen und schützte seine Familie, gefährdete damit aber den fragilen Frieden in Europa.

Inzwischen mussten sie irgendwo hoch über den Bergen an der französisch-spanischen Grenze fliegen. Jimmy hatte das Funksystem des Falcon auf den Kanal desAirbus eingestellt. Auf dem Sitz neben sich und am Cockpitboden hatte er sämtliche verfügbaren aeronautischen Karten ausgebreitet. Jeder Funkspruch desAirbus wurde automatisch wiederholt – eine Standardsicherheitsprozedur bei kommerziellen Flügen. Auf die Art hatte Jimmy ausreichend Hinweise über die Flugroute erhalten.

In seinem Kopf reifte eine Idee. Frankreich, dachte er.Vielleicht liegt dort die Lösung? Würde ihm dieses Land ermöglichen, seine Familie zu schützen und gleichzeitig einen Krieg zu verhindern? Nicht aufgeben. Die Stimme in seinem Kopf drängte ihn, weiter in diese Richtung zu überlegen, doch sein Gehirn war durch den Sauerstoffmangel wie benebelt. Jimmy erstickte langsam, aber sicher. Er musste die Flughöhe reduzieren, egal wo er sich befand. Immer wieder wanderte sein Blick zwischen den Karten und der Nase seines Flugzeugs hin und her, um die beständigen Änderungen der Luftströmung zu erspüren und Kurskorrekturen vorzunehmen.

Zeit, nach unten zu gehen, ermahnte er sich und drückte den Steuerknüppel zur Seite.

Es war, als würde er vom Rücken eines Rodeo-Bullen geschleudert. Der gewaltige Rumpf desAirbus donnerte weiter, während sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Bald war das Passagierflugzeug nur noch ein grauer Schatten weit über ihm.

Jimmy befand sich jetzt im freien Fall. Mit seinen blau gefrorenen Händen hämmerte er auf die Zündung und legte zwei Schalter um. Die Motoren des Falcon sprangen an.

Ich schaffe es nach Frankreich, dachte er triumphierend in seinem zunehmend klarer werdenden Kopf. Ich warne sie vor britischen Attacken und stelle einen Kontakt zu Uno Stovorsky her.

Er war Uno Stovorsky bei seiner ersten Reise nach Frankreich begegnet – Uno war ein Agent des französischen Geheimdiensts. Der Mann war nicht sonderlich umgänglich, aber er hatte Jimmy und seiner Familie geholfen. Jimmy hoffte, dass der Mann ihm erneut beistehen würde.

Und dann setzten die Motoren aus.

Panik überfiel Jimmy. Doch gleichzeitig regten sich in ihm seine besonderen Kräfte. Erneut drückte Jimmy die Zündung. Ohne Erfolg. Wieder und wieder versuchte er die Turbinen des Falcon zu starten, aber sie stotterten nicht einmal. Seine Hände bewegten sich ruhig über das Kontrollpaneel, während er fieberhaft überlegte.

Kein Treibstoff. Kein Schub. Kein Treibstoff. Kein Schub. Die Worte hallten wie ein Trommelrhythmus in seinem Kopf wieder.

Doch Jimmys Konditionierung hatte bereits eine Strategieänderung eingeleitet. Jemand anderes schien jetzt in seinem Kopf Befehle zu erteilen, aber so schnell, dass er sie kaum verstehen konnte. Und plötzlich wusste Jimmy genau, was zu tun war.

Er fuhr die Steuer- und Landeklappen an den Tragflächen aus, bis das Flugzeug durch die Luft schwebte, anstatt wie ein Stein nach unten zu sacken. Die Bauweise des Falcon half ihm dabei – er war prädestiniert für Gleitflüge.

Doch Jimmy konnte natürlich nicht ewig hier oben schweben. Er sah sich nach einem Fallschirm und einem Ausstiegsmechanismus um. Doch dann fiel es ihm siedend heiß wieder ein: Jeder der Passagiere und Crewmitglieder hatte seinen Fallschirm dabeigehabt, als Jimmy mitten in der Luft die Kontrolle über das Flugzeug übernommen und sie aus der Maschine geworfen hatte. Er hatte selbst dafür gesorgt, dass alle einen Fallschirm hatten, denn schließlich sollte niemand zu Tode stürzen. Doch diese Entscheidung bedeutete nun sein eigenes Ende.

Jimmy segelte in einem winzigen Flugzeug in mehreren Tausend Meter Höhe ohne Antrieb und Fallschirm.

Plötzlich kippte das Flugzeug nach links. Das war’s, dachte Jimmy. Eine starke vertikale Thermik zog das Flugzeug nach unten.

Jimmy wurde übel. Er stürzte durch die Wolkendecke und sah unter sich mit Schneekappen bedeckte Gipfel.

Das Flugzeug schoss direkt auf eine Bergflanke irgendwo in den Pyrenäen zu.

Jimmys sämtliche Muskeln spannten sich. Das schrille Pfeifen des Sturzflugs schien sich direkt in sein Gehirn zu bohren und seine Panik zu verdoppeln. Trotzdem bewegte er sich so rasch, dass er es selbst kaum begreifen konnte.

Er sprang aus seinem Sitz und kletterte zum Heck des Flugzeugs, die Nägel in den Teppichboden krallend. Die Bewegung brachte wieder etwas Gefühl in seine tauben Finger.

Als er die Passagierkabine erreicht hatte, umklammerte er die Anschnallgurte eines Sitzes und schwang seine Beine mit aller Kraft in Richtung Notausgang. Die Tür flog mit solcher Gewalt auf, dass die Scharniere brachen und sie nach draußen gerissen wurde. Ein gewaltiger Windstoß erfasste Jimmy und schleuderte ihn zurück gegen die Sitze. Doch er spannte seine Bauchmuskeln und zwang seinen Körper aus dem Notausstieg. Dabei straffte er die Arme, um die Sitzgurte aus ihrer Befestigung zu reißen. Er landete draußen auf der Tragfläche und rutschte auf ihr entlang, wobei sein Kopf auf das Metall donnerte.

Jimmy kämpfte mit aller Kraft gegen den Wind an. Seine Hände arbeiteten verzweifelt. Er war sich nicht einmal sicher, was er da überhaupt tat. Er war fast blind, weil seine Augen wie verrückt tränten. Er musste sich darauf verlassen, dass seine Agenteninstinkte ihn lenkten, und seine Panik eindämmen.

Er schwang die beiden Sitzgurte über den vorderen Rand der Tragfläche, wo sich die Schließen verhakten. Dann wandte er sich in Richtung Bergflanke, ging in die Hocke und hielt sich mithilfe der Sitzgurte in Position. Der Wind zerrte so stark an seinem Gesicht, dass er fürchtete, die Haut könnte reißen.

Er spannte die Beine, bewegte sich rasch auf und ab und rüttelte an der Tragfläche. Über das Tosen des Windes hinweg hörte er ein Knirschen. Die Verbindungen der Tragfläche zum Flugzeugrumpf lockerten sich. Jimmy hüpfte weiter auf und ab, während das Knirschen lauter wurde. Dann krachte es laut, und dann noch einmal.

Der Berg schoss auf ihn zu. Er konnte jetzt einzelne Felsen und steinige Stellen im Schnee erkennen. Jimmy bündelte seine gesamte Energie in den Beinen und rüttelte verzweifelt an der Tragfläche. Und schließlich kam das erlösende Geräusch.

KRACH!

Die Tragfläche löste sich vom Rumpf des Flugzeuges.

Jimmy wurde fast heruntergeschleudert. Er warf den Kopf und die Schultern nach hinten, drückte die Fersen fest gegen das Metall und umklammerte weiter fest die Sitzgurte. Durch die Verlagerung seines Körpergewichtes brachte er den Flügel direkt unter sich. Er stand jetzt auf einer horizontalen Plattform und nutzte den Luftwiderstand, um seinen Sturz zu bremsen.

Die Tragfläche schwankte gewaltig unter seinen Füßen. Immer wieder drohte sie, zu einer Seite abzuschmieren, doch Jimmy ließ es nicht zu. Jimmy surfte durch die Luft. Doch anders als vorhin im Falcon gab es keine hilfreichen Luftströmungen, nur einen rasanten senkrechten Fall.

Die Bergflanke schoss auf ihn zu. In diesem Augenblick krachte der Rest des Falcon gegen die Felsen. Der letzte Treibstoff im Tank jagte gewaltige schwarze und orangefarbene Flammen in den Himmel. Jimmy fühlte die Hitze, noch bevor er die Detonation hörte. Doch genau das würde ihn retten.

Die aufsteigende heiße Luft sorgte für Auftrieb unter Jimmys Tragfläche, gleichzeitig brachten ihn die wilden thermischen Wirbel aus der Balance. Er stürzte nach vorne und sein Kinn knallte gegen die Vorderkante des Flügels.

Dann fand sein Sturz ein abruptes Ende. Die Tragfläche landete mit einem brutalen Krachen im Schnee. Jimmy klammerte sich verzweifelt daran fest, während er einen steilen Hang hinuntersauste. Die Rutschpartie war unglaublich rasant, nicht viel anders als der freie Fall von eben. Allerdings konnte Jimmy nun zudem das bösartige Kratzen von hartem Schnee und Eis unter sich hören.

Sein Surfbrett war zum Snowboard geworden. Jimmy drückte die Arme durch und brachte seinen Körper wieder in aufrechte Position. Vor sich sah er nichts außer einer emporgewirbelten Schneefontäne. Er verlagerte sein Gewicht beständig von einem Fuß auf den anderen, um sich dem holprigen Terrain anzupassen.

Die Flügelkante schnitt durch das Eis, wirbelte scharfkantige Splitter in Jimmys Gesicht und gegen seine Brust. Es war ihm egal. Langsam verringerte sich sein Tempo.

Dann krachte er gegen einen Felsen. Die Tragfläche wurde in die Luft katapultiert und Jimmy mit ihr. Er wurde mit solcher Gewalt emporgeschleudert, dass er befürchtete, seine sämtlichen Glieder würden aus den Gelenken gerissen. Er hörte seinen eigenen Aufschrei, fremdartig und aus großer Entfernung. Die Kälte biss in seine Haut und er sah nichts als strahlendes Weiß.

Und dann: BÄMM!

Er knallte irgendwo dagegen und das totale Weiß um ihn wurde zu einem totalen Schwarz.

KAPITEL 4

Eva beobachtete die Schatten der vorbeiziehenden Wolken auf dem Londoner Tower, um sich von der stickigen Luft und dem angespannten Schweigen im Inneren des Wagens abzulenken. Sie und Mitchell parkten hier seit mindestens einer Stunde und hatten den Befehl, den Wagen nicht zu verlassen. Eva war im Grunde froh, dass sie nichts sagen musste, doch irgendwann brach Mitchell das Schweigen.

»Deine Eltern glauben also, dass du tot bist?«, brummte er.

Netter Anfang für eine Unterhaltung, dachte Eva. Sie zuckte mit den Achseln und blickte jetzt aus dem anderen Fenster hinüber zum Trinity Square, wo sich die Menge um das Kriegerdenkmal der Handelsmarine versammelt hatte. Außer einer Reihe von Rücken in etwa zwanzig Meter Entfernung war nicht viel zu erkennen. Sie fand es ungewöhnlich, dass so viele Menschen bei dieser Gedenkfeier so strahlende Farben trugen. Vermutlich hing es damit zusammen, dass die Militärangehörigen alle in ihrer Galauniform erschienen waren. Die Beamten und Journalisten waren natürlich alle in Schwarz gekleidet und so wirkte das Ganze wie eine bunt gemischte Schar aus Raben und Pfauen.

»Macht es dir denn gar nichts aus, dass sie dich für tot halten?«, fuhr Mitchell fort. »Sie könnten dich ja vermissen, oder?«

Eva seufzte. »Meine Eltern und ich, wir sind ohnehin nicht gut miteinander klargekommen«, erklärte sie. »Und meine Brüder wissen zum Glück, dass ich am Leben bin. Das ist alles, was zählt.«

»Du hast Glück, dass du deine Eltern überhaupt kennst«, murmelte Mitchell.

Für einen kurzen Augenblick spürte Eva so etwas wie einen Anflug von Sympathie. Mitchell hatte noch nie über seine eigene Familie gesprochen. Eva hätte ihm beinahe erzählt, dass sie einiges über seine Vorgeschichte wusste: dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als er noch ganz klein gewesen war; er von seinen Pflegeeltern abgehauen war und dass sein Bruder ihn geschlagen hatte. Aber sie wusste auch noch etwas anderes über ihn: Mitchell war genetisch optimiert und sollte zu einem Agenten und Auftragskiller der Regierung heranwachsen.

Eva schauderte und schob ihr Mitgefühl beiseite. Der Junge neben ihr war der Feind. Das durfte sie niemals vergessen. Schon mehrmals hatte man ihn losgeschickt, um Jimmy Coates zu töten. Der Gedanke daran ließ ihren Atem stocken. Jimmys Schwester war ihre beste Freundin. Und für Jimmy und Georgie Coates riskierte Eva täglich ihr Leben beim NJ7.

Sie langte nach vorne zum Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel, damit sie ihr Fenster herunterlassen konnte.

»Hey«, protestierte Mitchell. »Die Wagenfenster sind nicht umsonst dunkel getönt, klar?«

Reflexartig beugte er sich zu ihrer Seite hinüber, um den Schalter für den Fensterheber zu drücken. Doch als er merkte, wie nahe er ihr dabei kam, erstarrte er.

Eva funkelte ihn wütend an.

»Es sind doch nur ein paar Zentimeter, okay?«, zischte sie leise.

Mitchell zog sich zurück.

»Wenn irgendjemand herausfindet, dass der britische Geheimdienst zwei 14-Jährige beschäftigt, wird Miss Bennett durchdrehen.«

»Wer sollte das denn rausfinden?«, fragte Eva. »Selbst wenn uns die Journalisten entdecken, dürfen sie nichts darüber bringen, oder? Alles muss mit der Pressestelle der Regierung abgesprochen sein.«

»Keine Ahnung. Miss Bennett wollte, dass wir uns im Hintergrund halten. Das ist alles. Ansonsten würden wir ja mit da drüben stehen, oder etwa nicht?«

Er nickte in Richtung der Menschenmenge. »Ich sollte auf jeden Fall dort sein. Du weißt schon, um ihm meinen Respekt zu erweisen, oder was auch immer. Schließlich war ich auf einer gemeinsamen Mission mit Paduk. Und er hat mich trainiert.«

»Du trainierst dich selbst«, schnappte Eva. »Du bist mit ihm joggen gegangen, das war alles.«

Mitchell schwieg. Natürlich hatte sie recht. In Details war sie immer sehr genau und Mitchell wollte sie nicht provozieren. Außerdem hatte er keine Lust, sich über die fast unheimliche Art von Entwicklung zu verbreiten, die in seinem Körper vor sich ging: wie seine Muskeln sich während des Schlafs von selbst trainierten, seine Programmierung Tausende von Signale durch seine Synapsen schickte und er in jeder Sekunde neue Fähigkeiten erwarb, mit denen er niemals gerechnet hätte. Die Fähigkeiten eines Agenten und Auftragskillers.

Sie waren beide froh, als sie von der Stimme des Premierministers abgelenkt wurden, die mit der kühlen Luft herüberwehte.

»Paduk ist im Dienst für sein Land gefallen, während er eine unserer wichtigsten Einrichtungen vor ausländischer Sabotage zu schützen versuchte …«

Die beiden mussten die Ohren spitzen. Immer wenn draußen ein Wagen vorbeifuhr, übertönte er die Rede.

»Unsere Antwort wird auf diplomatischem Wege erfolgen … um eine friedliche Lösung zu finden … aber wenn man uns angreift, sind wir auch bereit …«

Eva wollte das alles nicht hören. Was auch immer der Mann sagte, es war vermutlich eine Lüge. Aber es waren nicht mal so sehr seine Worte, die sie aufregten. Es war diese Stimme – gelassen, autoritär, aber eben nicht nur die Stimme des Premierministers, sondern auch die des Vaters ihrer besten Freundin.

Wenige Minuten später kam Ian Coates in Mitchells und Evas Richtung marschiert, auf beiden Seiten von Geheimagenten in schwarzen Anzügen flankiert. Die Sonne glitzerte auf ihren schwarzen Sonnenbrillen und brachte die grünen Streifen auf ihren Revers zum Leuchten. Es waren große kräftige Männer, doch der Premierminister war kaum kleiner.

Eva musste daran denken, dass sie ihn immer für einen ganz normalen Geschäftsmann gehalten hatte. Dabei war er in Wahrheit ein Agent des NJ7 gewesen, ebenso wie Georgies Mutter Helen. Seit er Premierminister war, trainierte er offensichtlich wieder intensiv. Seine Muskeln zeichneten sich unter seinem Anzug ab.

Eva musterte ihn, während er mit entschlossen vorgerecktem Kiefer auf sie zukam. Irgendetwas stimmte nicht. Er schwankte leicht beim Gehen, sein Gesicht war blass, und unter seinen Augen zeigten sich gelbe Tränensäcke.

Mit einer gezwungen wirkenden Geste winkte er den Journalisten zu, bevor er von weiteren Geheimagenten umringt wurde. Offenbar hatte er keine Zeit, dem gefallenen Helden seinen privaten Tribut zu erweisen. Allerdings schien ihn das auch nicht weiter zu stören.

Evas und Mitchells Wagen war einer von fünfen im Konvoi. Ihr Fahrer erschien aus dem Nichts, öffnete die Hecktür und forderte Mitchell auf, Platz für Miss Bennett zu machen.

Der Wagen des Premierministers stand direkt vor ihnen. Nachdem Ian Coates einen Fuß in den Wagen gesetzt hatte, drehte er den Kopf erneut in Richtung der Gedenkfeier.

Eva folgte seinem Blick und bemerkte, wie Miss Bennett sich über die Wiese näherte. Sie bewegte sich elegant und mit einem leichten Hüftschwung. Eva war überrascht, wie mühelos sie in hochhackigen Schuhen auf diesem Untergrund gehen konnte. Einer ihrer Mundwinkel war zu einem halben Lächeln nach oben gezogen, und als ein Sonnenstrahl auf ihren engen Rock fiel, leuchteten die feinen, in den Stoff eingewobenen grünen Streifen auf.

Als Miss Bennett den Wagen des Premierministers erreichte, sprachen sie rasch miteinander, wobei sie sich beständig ins Wort fielen.

Eva konnte sie nur schlecht verstehen, aber es war offensichtlich, dass sie über irgendetwas stritten. Eva öffnete ihr Fenster ein wenig weiter, um sie zu belauschen.

Mitchell erhob Einspruch. »Was tust du …?«

»Psst!«, zischte Eva. »Hast du irgendeine besondere Fähigkeit, um die beiden besser hören zu können?«

Mitchell stieß ein höhnisches Lachen aus. Aber bevor er etwas erwidern konnte, wurde er von einem lauten Klicken unterbrochen. Die Hecktür auf der anderen Seite der Limousine des Premierministers flog auf.

Eva und Mitchell beugten sich gespannt nach vorne. Aus dem Wagen stieg William Lee.

Seine Erscheinung ließ Miss Bennett verstummen.

Ian Coates blickte zwischen Lee und Miss Bennett hin und her. Für einen Augenblick schwiegen alle drei. Dann spähte der Premierminister hinauf in den Himmel, bevor er einen Befehl gab, den Eva nun deutlich verstand. Allerdings ergab er für sie nicht den geringsten Sinn.

»Mutam-ul-it. Holen wir es uns.«

Lees Antwort war über alle Hintergrundgeräusche hinweg vernehmlich.

»Ich schicke den Zerstörer.«

Eva drehte sich zu Mitchell, aber an seiner Miene war abzulesen, dass ihm das Ganze genauso rätselhaft war wie ihr.

Kurz darauf nahm Miss Bennett neben ihnen Platz.

»Was ist los?«, erkundigte sich Eva, obwohl Miss Bennett nun klar sein musste, dass sie gelauscht hatten. »Und wer ist der Zerstörer. Was hat er damit gemeint?«

»Das bedeutet, es kommt Arbeit auf uns zu«, erwiderte Miss Bennett ruhig. Dann verdüsterte sich ihre Miene. »Es bedeutet, dass wir Frankreich angreifen.«