J.C. - Agent im Fadenkreuz - Joe Craig - E-Book
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J.C. - Agent im Fadenkreuz E-Book

Joe Craig

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Beschreibung

Jason Bourne-Agententhrill - freigegeben ab elf Jahren

Wer zum Teufel sind diese mysteriösen Black Men, die Jimmy durch die City von London jagen? Was verbergen seine Eltern vor ihm? Kann es sein, dass die Polizei mit den Verfolgern unter einer Decke steckt? Aber vor allem: Wem kann er überhaupt noch trauen?

Jimmy Coates kann es nicht fassen. Er ist zwölf Jahre alt und von heute auf morgen ein auf sich allein gestellter Superagent mit einem Geheimnis, das er nicht kennt. Noch nicht. Nur eines ist Jimmy nach einer mörderischen Verfolgungsjagd durch London, seinem halsbrecherischen Hubschrauberflug und dem Sprung aus mehreren hundert Metern Höhe in die Themse klar: Es geht hier um Leben und Tod – sein Leben ...

Die Abenteuer von Agent J.C. sind atemberaubend, actionreich und bieten Spannung der Extraklasse - Lesevergnügen pur für alle Fans von rasanten Szenen und überraschenden Wendungen!

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Seitenzahl: 325

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JOE CRAIG

AGENT IM FADENKREUZ

Aus dem Englischen von

Alexander Wagner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 2005 Joe Craig Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel: »Jimmy Coates – Killer« bei HarperCollins Children’s Books, einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Ltd, London Übersetzung: Alexander Wagner Umschlagkonzeption: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung der Abbildungen von © Istockphoto (ParkerDeen); © Shutterstock (Ollyy; conrado) MP · Herstellung: TG Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-19131-3 V004
www.cbj-verlag.de

KAPITEL 1

Jimmy zielte, vergewisserte sich kurz, dass seine Mutter gerade wegschaute, und feuerte. Das Kügelchen aus Schokoladenpapier erwischte seinen Vater, der grinste und das Feuer erwiderte. Dann begannen die Fernsehnachrichten und Jimmy erhob sich vom Sofa.

»Wie willst du erfahren, was in der Welt vor sich geht, wenn du dir nie die Nachrichten anschaust?«, fragte seine Mutter.

»Die sind echt öde. Außerdem muss ich noch für die Schule lernen.« Jimmy schlurfte zur Tür, doch die Stimme seines Vaters hielt ihn auf.

»Deine Mutter hat recht«, sagte er, jetzt wieder ganz der Erziehungsberechtigte. »Es ist wichtig, gut informiert zu sein, besonders in diesen Tagen.«

Jimmy fand Nachrichten eigentlich gar nicht so langweilig, wenn nur seine Eltern sich dabei nicht immer in die Haare bekommen hätten.

Sie brüllten sich dann jedes Mal in voller Lautstärke an, und irgendwann begann Mr Higgins von nebenan, an die Wand zu klopfen.

Deshalb verzog Jimmy sich lieber nach oben, wo seine Schwester Georgie wieder mal vor seinem Computer hockte.

»Gehört die Westminster-Brücke jetzt eigentlich zu Westminster oder führt sie einfach nur nach Westminster?«, fragte sie ihn über die Schulter hinweg.

»Hast du schon im Internet nachgesehen?«, erwiderte Jimmy.

»Da steht nichts.«

»Warum fährst du dann nicht einfach selbst zur Westminster-Brücke?«, schlug Jimmy vor. »Vielleicht triffst du dort einen Obdachlosen, den du fragen kannst. Er verrät es dir sicher. Und wahrscheinlich wird er auch genauso müffeln wie du. Dann könnt ihr beiden echt beste Freunde werden.«

»Pass bloß auf. Ich bin immer noch größer als du und werde mit dir jederzeit fertig.«

Dummerweise hatte sie recht – denn Jimmy wartete dringend auf einen Wachstumsschub. Er schlug um sich, als Georgie ihn aufs Bett schubste und ihm eines der Kissen aufs Gesicht drückte. Als er wieder zu Atem kam, versuchte er sie abzulenken.

»Warum können Mum und Dad sich nicht einfach normal aufführen, wenn der Premierminister in den Nachrichten kommt?«

»Du bist manchmal echt dämlich, Jimmy, ehrlich. Natürlich diskutieren sie darüber, was in der Politik läuft.«

»Ja, aber sie diskutieren so laut, dass Mr Higgins deswegen an die Wand trommelt.«

»Ich hasse diesen alten Spinner«, murmelte Georgie.

Jimmy hockte sich auf sein Bett. »Warum unternehmen sie dann nicht einfach was dagegen? Anstatt immer nur darüber zu streiten.«

»Denk doch mal nach. Wir leben in einer Demokratie. Da unternimmt man nicht einfach was, das übernehmen die Politiker für einen. Bist du zurückgeblieben, oder was? Na ja, wenn du mal vierzehn bist, wirst du’s vielleicht kapieren.«

»Pah.« Jimmy war klar, dass seine Schwester keinen Funken mehr Ahnung von dem hatte, was in ihrem Land los war. »Ich versteh mehr, als du denkst, und bald werde ich auch noch größer sein als du.«

»Oh nein, ich hab ja schon solche Angst. Denn wenn du mal größer bist als ich, dann kann ich DAS nicht mehr machen!« Georgie hechtete sich auf Jimmy und beide landeten erneut mit einem dumpfen Plumps auf dem Bett. Georgie bewegte sich rasch und schlang mühelos ihren Arm um seinen Hals. Dann presste sie ihre Fingerknöchel oben gegen seinen Kopf. Jimmy hatte es in den ganzen Jahren nie geschafft, sich aus Georgies Umklammerung zu lösen. Und obwohl er wusste, dass sie nur Spaß machte, tat es trotzdem weh.

Er fuchtelte wild mit den Armen und traf ein paarmal den Rücken seiner Schwester, doch das half ihm nicht weiter. Und dann, ohne zu wissen, warum, verhielt er sich für den Bruchteil einer Sekunde völlig ruhig. Plötzlich stemmte sich sein Arm blitzschnell gegen den Körper seiner Schwester und hob sie hoch. Sie verlor das Gleichgewicht und musste Jimmys Kopf loslassen. Sein Arm schleuderte sie nach hinten, Georgie landete krachend auf dem Bett und glotzte verwirrt an die Decke.

Sie waren beide verdutzt. Jimmy starrte auf seine Hände. Dann lachte er und strich sich die Haare glatt. Doch Georgie war keineswegs beeindruckt.

»Was soll das denn?«, schrie sie. Aber bevor sie ihn erneut packen konnte, war Jimmy schon aus dem Raum und rannte die Treppe hinunter. Auf halbem Wege bremste er seine Schritte und beruhigte seinen Atem.

»Was war das für ein Lärm?«, rief sein Vater, ohne aufzusehen. Jimmy hüpfte aufs Sofa und verkündete äußerst zufrieden mit sich selbst: »Ich hab beschlossen, mir die Nachrichten anzuschauen.«

»Ich habe deiner Schwester versprochen, dass sie oben ungestört arbeiten kann«, sagte sein Vater streng. Aber noch bevor Jimmy eine passende Antwort einfiel, stürmte Georgie herein.

»Wir haben nur Spaß gemacht, aber dann hat er plötzlich richtig ernst gekämpft und mich aufs Bett geschleudert.«

»Das ist gelogen!« Jimmy war bereit, sich erneut in den Kampf zu stürzen, aber da wurden sie durch ein lautes Hämmern gegen die Wand unterbrochen. Es war erstaunlich, dass ein Nachbar, der von sich behauptete, fast taub zu sein, so ein empfindliches Gehör hatte.

Jimmys Vater erhob sich schwerfällig, schlug einmal mit der Faust gegen die Wand und fuhr dann unvermindert laut fort: »Würdet ihr beide leise sein, das ist sehr wichtig!«

Sein aufgebrachter Tonfall veranlasste Jimmy und Georgie, sich hinzusetzen und zum Fernseher zu schauen. Dabei belauerten sie einander weiter aus den Augenwinkeln.

Die Nachrichten zeigten Bilder des Premierministers Ares Hollingdale, der vor seinem Amtssitz in der Downing Street herumlief, und dann Bilder eines anderen wesentlich jüngeren Mannes, der etwas weniger gepflegt wirkte. Jimmy konnte sich nicht auf das konzentrieren, was der Reporter sagte, weil er so aufgeregt wegen seiner neu entdeckten Kräfte war. Doch irgendwann beachtete er seine Schwester immer weniger und beobachtete stattdessen seine Eltern. Als der jüngere, ungepflegtere Mann auf dem Bildschirm erschien, bewegten sie sich unruhig auf ihren Sitzen. Jimmy war sich ziemlich sicher, dass sein Vater seine Mutter wütend anfunkelte, aber als er Jimmys Blick bemerkte, ließ er es wieder sein. Stattdessen wandte er sich direkt an Jimmy und sprach mit leisem, aber ernstem Tonfall.

»Du solltest dem wirklich Aufmerksamkeit schenken – möglicherweise bildet jemand eine Opposition gegen die Regierung. Niemand weiß, was noch alles in diesem Land geschehen wird.« Jimmy ließ sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluss, dass ohnehin keiner genau wissen konnte, was in irgendeinem Land noch alles passieren würde. Es war ziemlich albern, so etwas zu sagen – schließlich konnte ja niemand die Zukunft vorhersehen.

»Boah, das ist öde. Ich geh nach oben und arbeite weiter an meinem Westminster-Brücken-Aufsatz«, verkündete Georgie mit hochrotem Kopf. Jimmy fing ihren Blick auf. Sie war doch nicht ernsthaft sauer, oder? Hatte er ihr womöglich wirklich wehgetan? Das war nicht seine Absicht gewesen. Es war einfach nur ein gutes Gefühl, sie endlich mal besiegt zu haben.

Jimmys Eltern starrten sich mittlerweile wütend an, als würden sie gleich wieder anfangen zu streiten. Doch genau in diesem Augenblick klingelte es an der Tür.

Jimmys Vater hievte sich seufzend hoch.

»Erwartest du jemanden?«, fragte seine Frau. Er stand einen Moment lang da und kratzte sich am Ohr, bevor er einfach nur »Nein« sagte. Dann marschierte er hinaus zur Eingangstür.

Jimmys Vater hatte eine Kronkorken-Fabrik. Er stellte Verschlüsse für Flaschen und Büchsen her, in die verschiedenste Limonaden und Biere abgefüllt wurden. Gelegentlich kamen wichtige Kunden zu ihnen nach Hause, um zu besprechen, wie die Verschlüsse für ihre Flaschen genau aussehen sollten. Zumindest nahm Jimmy an, dass es darum bei den Gesprächen ging, die immer sehr lange und manchmal bis spät in die Nacht dauerten. Gelegentlich hörte Jimmy sie unten laut miteinander diskutieren, wenn er im Bett lag.

»Das werden doch nicht …«, begann Jimmys Mutter, doch ihr Mann hatte den Raum bereits verlassen. Sie blickte zu Jimmy. »Geh nach oben und mach dich fürs Bett fertig«, sagte sie sanft.

»Was?«, fragte Jimmy. »Es ist noch total früh. Außerdem schau ich mir grade die Nachrichten an.« Seine Mutter antwortete nicht und schaltete stattdessen den Fernseher ab. Dann lauschten beide auf das, was sich draußen an der Eingangstür abspielte.

»Oh, Sie sind das«, sagte Jimmys Vater. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass …«

»Können wir reinkommen, Ian?« Es war eine Männerstimme, tief und emotionslos.

»Äh, natürlich. Wir hatten Sie nicht erwartet.« Jimmys Vater klang nervös und der andere Mann unterbrach ihn.

»Danke«, sagte er. Sie hörten laute Schritte, dann wurde die Tür aufgestoßen. Der Mann, der das Zimmer betrat, war groß und kräftig, noch größer als Jimmys Vater und ganz offensichtlich in besserer Form. Er war braun gebrannt und gut aussehend, lächelte aber nur mit einer Hälfte seines Munds. Er musterte den Raum und entdeckte Jimmy.

»Hallo, junger Mann. Du musst James sein.« Während der Mann sprach, senkte er den Blick und starrte Jimmy an. Bevor Jimmy etwas erwidern konnte, sprang seine Mutter auf und schob sich rasch vor ihn.

»Bitte«, sagte sie und hob eine Hand, um die Aufmerksamkeit des Mannes abzulenken. »Setzen Sie sich. Bitte setzen Sie sich doch.«

Der Mann blickte Jimmys Mutter an und rückte seine dünne schwarze Krawatte zurecht. Der Anzug des Mannes war ebenfalls schwarz. »Helen, wie schön Sie wiederzusehen«, sagte er. Dann ließ er sich dort nieder, wo Jimmys Vater eben noch gesessen hatte.

»Jimmy, geh nach oben«, befahl sein Vater, der nun auch hereinkam und sich ungelenk setzte.

»Nein, er kann bleiben, Ian«, widersprach der Mann im Anzug.

»Sie haben nicht …«, begann Jimmys Mutter, aber der Mann unterbrach sie.

»Wir sind wegen des Jungen da.«

Schweigen machte sich breit.

Was sollte das heißen? Meinte der Mann etwa ihn? Soweit Jimmy in diesem Augenblick dazu imstande war, ging er rasch im Kopf die letzten Tage durch, ob er sich irgendetwas hatte zuschulden kommen lassen. Aber in seiner Panik konnte er sich schlicht an gar nichts erinnern. Plötzlich bemerkte Jimmy in der Tür einen zweiten Mann. Er war genauso angezogen wie der erste, war jedoch nicht ganz so groß und braun gebrannt.

Jimmys Vater wandte sich jetzt dem zweiten Mann zu.

»Sie kommen zu früh«, sagte er. »Wir dachten …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn der erste Mann erneut. »Das ist eine noch ganz frische Entscheidung. Wir kommen, um ihn zu holen.« Der Mann blickte einfach geradeaus, weder in Jimmys Richtung noch zu seinen Eltern. Offensichtlich wartete er darauf, dass Jimmys Eltern irgendetwas erwiderten. Und als einer der beiden schließlich etwas sagte, war es seine Mutter, und es war wohl nicht das, was der Mann erwartet hatte.

»Lauf weg, Jimmy«, sagte sie, brachte aber kaum mehr als ein Krächzen heraus. Sie umklammerte ihre Kehle und rief dann laut: »JIMMY, RENN!«

Für einen winzigen Augenblick stand Jimmy wie angewurzelt da. Alle starrten ihn an. Jimmy blickte zu seinem Vater, der nicht so verängstigt wirkte, sondern eher traurig. Die Panik in der Stimme seiner Mutter drang tief in Jimmys Innerstes. Mit einem letzten Blick zu seiner Mutter schaffte er es schließlich, sich aus seiner Erstarrung zu lösen und zur Tür zu stürzen.

Der Mann, der dort stand, hatte nicht mit einer solchen explosionsartigen Geschwindigkeit gerechnet, und als Jimmy ihn mit voller Wucht rammte, wurde er zu Boden geschleudert. Jimmy stürmte zur Eingangstür und riss sie auf. Aber was erwartete ihn da draußen? Waren dort vielleicht weitere Männer in Anzügen? Er hörte, wie sich der Mann hinter ihm keuchend wieder aufrappelte. Jimmy ließ die Eingangstür offen stehen und sprintete stattdessen die Treppe hinauf, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Außer Atem erreichte er den ersten Stock und flitze in sein Zimmer.

»Na, kommst du, um dich mit deinem Sieg zu brüsten?«, brummte Georgie vom Computer aus, aber Jimmy gab keine Antwort. »Wer war unten an der Tür?« Auch darauf erwiderte er nichts. Er konnte seine Schwester kaum verstehen, so sehr rauschte das Blut in seinen Ohren. Dann ertönten auf der Treppe die schweren Schritte eines großen Mannes. Sie trafen Jimmy mitten ins Herz.

»Ruf die Polizei«, keuchte Jimmy und hechtete unters Bett.

»Was?« Georgie schnappte nach Luft. Jimmy hörte, wie die Tür aufflog, und starrte auf zwei Paar glänzende schwarze Schuhe, die sich in seine Richtung bewegten.

»Hey, wer sind Sie?«, kreischte Georgie. »Raus hier!«

»Schaff sie nach unten«, befahl einer der Männer.

»Polizei! Hilfe!« Georgies Schreie verhallten, während sie weggeschafft wurde. Dann tauchte direkt neben Jimmy ein Gesicht auf und spähte unter das Bett. Es war der größere der beiden Männer, der sich hingekniet hatte. Seine mächtige Hand packte Jimmys Schulter und zerrte ihn unter dem Bett hervor. Während Jimmy sich aufrichtete und seinen Nacken rieb, kehrte der etwas kleinere Mann zurück. Alles war jetzt ruhig. Von unten war kein Laut zu hören. Warum half ihm denn niemand?

»Was wollen Sie von mir?«, fragte er.

»Warum läufst du weg?«, konterte der größere Mann augenblicklich.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, erwiderte Jimmy.

»Und du weißt nicht, wer du bist.«

»Ich bin Jimmy Coates. Und ich habe nichts getan.«

»Das behauptet auch keiner, Jimmy, ich möchte nur, dass du mit uns kommst. Du kannst mir vertrauen.«

Jimmy blickte dem größeren Mann direkt in die Augen, während sich der andere Anzugtyp an der Tür postierte. Es ist etwas ausgesprochen wenig Vertrauenswürdiges an einem Mann, der sagt: »Du kannst mir vertrauen«. Seine Augen hatten die Farbe von gebürstetem Stahl. Und so wie sich sein Hemd über der Brust spannte, schien auch der Rest aus diesem Material zu sein. Jimmy starrte so entschlossen wie möglich zurück, so, als würde er nicht ohne Weiteres nachgeben. Aber das hier war kein Spiel. Echte Panik kroch in Jimmy hoch. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und irgendetwas verhinderte, dass er richtig atmen konnte. Es sah ganz so aus, als hätte er keine Wahl und müsste mit den Männern gehen.

Möglicherweise hatte Jimmy ein wenig zu lange gezögert; die Männer in den Anzügen mussten wohl die Geduld verloren haben. Der größere der beiden schob eine Hand in sein Jackett und Jimmy erhaschte einen Blick auf ein helles Pistolenhalfter. Als die Hand des Mannes wieder auftauchte, hielt sie eine Waffe.

»Ich möchte einfach nur, dass du uns begleitest«, erklärte er kalt, aber Jimmy konnte den Blick nicht von der Waffe wenden. Er hatte noch nie eine echte gesehen, obwohl er schon davon gehört hatte, dass Polizisten in anderen Ländern Waffen trugen. Und nun war die erste Pistole, die er je in seinem Leben zu Gesicht bekam, ausgerechnet auf ihn gerichtet.

Plötzlich verwandelte sich das Gefühl nackter Angst, das sich in seinem Magen ballte. Jimmy spürte, wie eine Energiewelle in ihm aufstieg. Diese Kraft durchströmte rasch seinen ganzen Körper. Als sie seinen Kopf erreichte, hörte er auf zu denken. Sein Bewusstsein war jetzt völlig leer und die Energie in seinem Inneren übernahm das Kommando über sein Handeln. Jimmy duckte sich blitzschnell zur Seite. Nun befand er sich außerhalb der Schusslinie, und bevor der Mann erneut zielen konnte, packte Jimmy mit einer Hand die Pistole und mit der anderen das Handgelenk des Mannes. Mit einem entschlossenen Griff drehte er den Pistolenlauf in Richtung Zimmerdecke und warf gleichzeitig sein eigenes Körpergewicht gegen die Hand des Mannes. Etwas knackte laut. Die Pistole fiel zu Boden, und der Mann umklammerte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Finger, der auf dem Abzug gelegen hatte.

Jimmy hatte sich so schnell bewegt, dass der kleinere Mann keine Zeit gehabt hatte, zu reagieren, doch jetzt stürzte er sich auf ihn. Jimmy wich seinem Zugriff aus und kickte die Pistole unters Bett. Er warf einen Blick zur Tür, aber dort war kein Durchkommen. Beide Männer versperrten ihm den Weg, und obwohl einer von ihnen verletzt war, wirkte er doch einsatzbereit. Sein halbes Lächeln hatte sich zu einer wütenden Grimasse verzerrt.

Jimmy fühlte sich, als würde er jemand anderem von außen zuschauen – als wäre er selbst gar nicht da, und das Ganze wäre ein Film oder ein superrealistisches Computerspiel. Er handelte automatisch und ohne nachzudenken, weil er vorhersah, was die beiden Männer tun würden, noch ehe sie es taten. Er beobachtete, wie sie ihr Gewicht auf dem Parkettboden verlagerten, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass es ein Vorteil war, kleiner zu sein. Die beiden Männer bauten sich schwerfällig vor ihm auf, um zu verhindern, dass er aus dem Raum rannte. Jimmy machte einen unauffälligen Schritt zur Seite und warf sich dann mit vollem Schwung nach hinten, wobei er seinen Körper zu einer Kugel zusammenrollte und fest die Augen schloss. Jimmy krachte gegen die Fensterscheibe. Glassplitter flogen den beiden fassungslosen Männern entgegen und begleiteten Jimmys Sturz. Während er wie ein Stein in die Tiefe sauste, schaltete sich Jimmys Gehirn wieder ein. Es blieb ihm gerade noch genug Zeit, einen einzigen Gedanken zu fassen: Warum war er ausgerechnet aus dem Fenster gesprungen? Er wusste doch, dass darunter die gepflasterte Auffahrt lag, und jetzt würde er möglicherweise sterben oder sich zumindest jeden einzelnen Knochen im Leib brechen. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, knallte er auch schon auf den Beton.

KAPITEL 2

Jimmy rührte sich nicht. Er war auf der Schulter gelandet und hielt seine Augen fest geschlossen. Es regnete Glas auf ihn und um ihn her. Er konnte hören, wie es auf das Dach des Wagens neben ihm prasselte, und ein paar kleine Splitter trafen auch sein Gesicht. Er lag da und wartete darauf, dass der Schmerz ihn mit voller Wucht traf. Warum hatte er das Bewusstsein nicht verloren? Er hatte immer gedacht, wenn man schwer stürzt – und so ein Fall von ziemlich weit oben auf harten Beton zählte da sicher dazu –, müsste man eigentlich das Bewusstsein verlieren. Und dann dachte er: Vielleicht bin ich ja schon ohnmächtig. Vielleicht war es bereits Wochen oder Monate später, er lag im Krankenhaus, und das ganze Missverständnis mit diesen Männern in Anzügen, die ihn holen wollten, war längst aufgeklärt.

Aber ihm war klar, dass das nicht sein konnte. Er wischte ein paar kleine Glassplitter von seinen Augen und öffnete vorsichtig die Lider. Das Licht einer Straßenlaterne zwinkerte ihm zu. Er hatte keine Ahnung, warum er nicht den geringsten Schmerz spürte. Er bewegte diverse Teile seines Körpers. Alle funktionierten so, wie sie sollten.

Zuletzt rollte er den Kopf hin und her, um sicherzustellen, dass er möglicherweise nicht doch tot war. Er schaute hinauf in den Himmel, sah sein Elternhaus und das zerbrochene Fenster. Dad wird mich umbringen, schoss es ihm durch den Kopf. Eine Sekunde lang glaubte er Mr Higgins’ knochige lange Nase zu sehen, die durch die Vorhänge des Nachbarhauses lugte, aber Jimmys Sicht war immer noch getrübt. Dann bemerkte er zwei braun gebrannte Gesichter, die durch das von Glasscherben gerahmte Loch im Fenster auf ihn herabstarrten. Die beiden werden mich wirklich umbringen, dachte er. Doch ihm blieb keine Gelegenheit, wieder in Panik zu verfallen. Diese merkwürdige Energie kroch erneut in ihm hoch und überschwemmte ihn wie ein Tsunami. Diesmal schwoll die Woge noch schneller an und überflutete seinen Kopf. Jimmy versuchte, seinen Verstand eingeschaltet zu lassen; es gefiel ihm nicht, die Kontrolle über seinen Körper an dieses merkwürdige Was-auch-immer-es-war zu verlieren. Womöglich hatte es dieses eine Mal tatsächlich sein Leben gerettet, aber vielleicht hätte er nächstes Mal, wenn es wieder etwas ähnlich Bescheuertes wie einen Sprung aus dem Fenster verursachte, weniger Glück.

Doch es ließ sich nicht stoppen. Jetzt, wo Jimmy wusste, dass er sich beim Sturz nicht verletzt hatte, wollte er aufspringen und so schnell wie möglich die Straße hinunterrennen. Aber er rührte sich nicht. Sein Körper blieb einfach bewegungslos liegen, bis die beiden Köpfe sich aus dem Fenster zurückgezogen hatten. Sie kamen jetzt herunter, um ihn zu holen. Renn endlich los, bitte, dachte er. Doch stattdessen zog er die Ellbogen dicht an die Brust und drehte sich zweimal um die eigene Achse, bis er unter dem Wagen seines Vaters lag, der in der Auffahrt stand. Dabei spürte er die Kälte des Bodens und kleine Glassplitter blieben an ihm hängen. Unter dem Auto betastete er die Teile des Motors. Es war dunkel, aber seine Augen passten sich schnell an. Er fand eine Stelle, wo er sich mit den Fingern festklammern konnte, und allein mit der Kraft seiner Unterarme zog er den ganzen Körper nach oben. Dann hakte er seine Zehen unter ein hervorstehendes Metallblech und wartete.

Jimmy war jetzt am ganzen Körper mit Staub und Dreck bedeckt, Öl lief an seinen Armen hinunter und tropfte in sein Gesicht. Trotzdem klammerte er sich weiter fest, wartete regungslos. Dabei wurde ihm klar: Natürlich wäre es falsch gewesen, einfach wegzurennen. Die Männer wären einfach in ihren Wagen gesprungen und hätten ihn sofort eingeholt. Doch woher hatte er das gewusst? Welcher Instinkt hatte ihn dazu gebracht, einfach liegen zu bleiben und sich unter den Wagen zu rollen, sobald die Männer ihn nicht mehr im Blick hatten? Ganz zu schweigen davon, wie es ihm gelungen war, sich derart an der Unterseite des Wagens festzuklammern. Woher hatte er auf einmal diese Kraft?

Genau in dem Moment rannten die beiden Männer aus der offenen Eingangstür. Wieder konnte Jimmy nur ihre Schuhe sehen, doch diesmal war sein Versteck weniger offensichtlich.

»Dein Job war es, ihn am Verlassen des Wohnzimmers zu hindern«, rief der eine.

»Er hat seine Kraft gegen mich eingesetzt.«

»Blödsinn. Er weiß noch gar nichts darüber.«

»Und warum konnte er dir dann den Finger brechen und aus dem Fenster springen?«

»Schreib es in den Bericht.«

Jimmy fühlte sich mit jeder Sekunde verwirrter. Über was wusste er noch nichts? Dann hörte er das Knistern eines Walkie-Talkies.

»Der Junge ist flüchtig. Wir müssen eine Ringfahndung einleiten. Kein Sichtkontakt«, sagte einer der Männer. Dann sah Jimmy zwei Schuhe zum Heck des schwarzen Lieferwagens laufen, der vor dem Haus auf der Straße parkte.

»Was hast du vor?«

»Du erwartest doch nicht etwa, dass ich hinter ihm herschnüffle, oder?«

»Die Hunde sind in dem Fall völlig nutzlos, du Blödmann«, war die Antwort, aber da stand die Heckklappe des Lieferwagens bereits offen. Jimmy hörte Gebell und sah die Pfoten von zwei Hunden die Auffahrt heraufkommen. Dann senkten sich ihre Schnauzen auf den Boden und Jimmy sah im Laternenlicht ihre Köpfe und ihre sabbernden Mäuler. Sie trabten jeder zu einer anderen Seite des Wagens. Jimmy war sich hundert Prozent sicher, dass man ihn entdecken würde; es war absolut unmöglich, sich vor einem Hund zu verstecken, wenn er erst mal Witterung aufgenommen hatte.

»Ich hab eine Socke von ihm mit runtergebracht«, erklärte einer der Männer. Dann zog er beide Hunde an der langen Leine zu sich her. »Hier, mein Guter. Braver Hund. Such. Such schön.«

Die Tiere umrundeten den Wagen, gelegentlich hoben sie kurz ihre Schnauzen, dann schnüffelten sie wieder am Boden. Sie bewegten sich langsam, schlichen leise wie Diebe. Einer näherte sich dem Wagen und lief dicht daran entlang. Auf der Höhe von Jimmys Gesicht blieb er stehen und schnüffelte. Jimmy hatte einmal gelesen, dass Hunde die Witterung besser aufnehmen konnten, wenn es feucht war. Der Boden unter Jimmy war definitiv nass.

»Schaff die Hunde zurück in den Transporter. Sie zerschneiden sich sonst nur die Pfoten auf den Glassplittern.« Der Hund verharrte bewegungslos. Jimmy hielt den Atem an. Dann schwang das Tier den Kopf herum und trabte weiter.

»Los, Jungs, zurück in den Transporter.« Beide Hunde entfernten sich rasch. Jimmy war erleichtert und gleichzeitig noch verdutzter. Warum hatten die Hunde seine Witterung nicht aufgenommen? Der Mann musste den Hund genau in dem Moment weggezerrt haben, in dem dieser ihn entdeckt hatte. Aber warum hatte er dann nicht angeschlagen?

Jimmy hörte Schritte und eine bekannte Stimme. »Sind die Handschellen wirklich nötig?« Es war Jimmys Vater, der aus dem Haus trat.

»Ich fürchte, das sind sie, Ian«, erwiderte einer der Männer. Jimmy klammerte sich noch fester an den Wagen, sodass seine Knöchel ganz weiß wurden. Er sah seine Familie hinaus auf die Straße marschieren. Vorneweg die Beine seines Vaters, gefolgt von denen seiner Mutter, der man es offenbar erlaubt hatte, die Pantoffeln gegen ein paar richtige Straßenschuhe zu tauschen. Direkt hinter seinen Eltern sah er Georgies Füße in Turnschuhen. Dann folgte noch ein fremdes Paar Schuhe. Offenbar war noch ein weiterer Anzugtyp ins Haus gekommen, als Jimmy nach oben gerannt war. Der Kerl musste seine Eltern und seine Schwester im Wohnzimmer festgehalten haben, während Jimmy oben auf sich alleine gestellt gekämpft hatte.

Diese Schuhe waren ebenso schwarz und glänzend wie die Schuhe der beiden anderen Männer, aber irgendetwas an ihnen ließ Jimmy genauer hinsehen. Auf ihren Spitzen befand sich ein Muster, das er von irgendwoher kannte; er konnte sich nur nicht daran erinnern woher. Er beobachtete, wie die Schuhe sich langsam vom Haus entfernten.

Jimmy verfolgte, wie alle durch die Pfützen marschierten. Eine Glasscherbe spiegelte die vorbeigehenden Menschen seltsam verzerrt. Alle standen auf dem Kopf, und er konnte ihre Gesichter nicht genau erkennen, nur ihre Umrisse. Ihm wurde klar, dass sein Schemen jederzeit in derselben Scherbe entdeckt werden konnte, oder, falls es eine ausreichend beleuchtete Pfütze gab, sogar sein ganzes Gesicht. Doch dann sorgte die ahnungslose Georgie für die perfekte Ablenkung. Sie hob ein Bein, trat nach einem der Männer und verfehlte ihn nur knapp.

»Ich geh nicht mit Ihnen«, rief sie. Jimmy durchzuckte ein Hoffnungsfunken. Er war so froh, dass seine Schwester Widerstand leistete und dabei, ohne um ihre gute Tat zu wissen, auch noch verhinderte, dass er geschnappt wurde. »Hilfe! Polizei!«, schrie sie. Wenn irgendjemand kämpfen kann, dann ist es Georgie, dachte er; und erinnerte sich an die unzähligen Male, wo sie ihn auf dem Bett in den Schwitzkasten genommen hatte. Außerdem erleichterte es Jimmy, dass sie keine Furcht hatte. Das nahm ihm selbst etwas von seiner eigenen Panik. Er hoffte, sie würde weiter schreien; sicher würde sie irgendjemand hören und Hilfe rufen. Doch dann ertönte wieder die Stimme seines Vaters.

»Ist schon in Ordnung, Georgie. Wir wollen keine Schwierigkeiten machen. Sei jetzt still.«

»Nein, ich lass mich nicht von denen wegschleppen!« Sie schrie noch lauter, trat erneut um sich und landete diesmal einen harten Treffer gegen das Schienbein des Mannes, und als der sie losließ, rannte sie davon. In kürzester Zeit waren ihre Füße aus Jimmys Blickfeld verschwunden.

»Hey«, fluchte der Mann und rieb sich das Bein.

Georgie war fürs Rennen geboren. Jimmy stellte sich vor, wie ihr langes braunes Haar hinter ihr herwehte. Er musste daran denken, wie schnell sie auf dem Schulhof geflitzt war, als sie noch dieselbe Grundschule besucht hatten. Doch obwohl sie ziemlich flink war, würde sie niemals jemanden abhängen, der sie im Auto verfolgte. Jimmy kam es so vor, als würde Georgie etwas rufen. Es klang wie: »Ich werde Jimmy helfen.«

Jetzt hatten sie wieder eine echte Chance. Vielleicht hatte jemand Georgies Schreien gehört und würde die Polizei verständigen. Möglicherweise würde sich sogar Mr Higgins angesichts dieses Notfalls dazu entschließen, nicht mehr so taub zu sein, und Hilfe herbeirufen.

»Lasst sie laufen. Wir brauchen sie nicht«, befahl der Mann, den Georgie getreten hatte.

»Alles in Ordnung mit deinem Bein?«

»Dieses kleine Miststück. Schafft die beiden hier in den Transporter. Ich folge euch mit dem Wagen.«

»Wie geht’s deinem Finger?«

»Halt die Klappe und schaff sie in den Transporter. Der Junge wird nicht weit kommen.«

Jimmy fragte sich, warum sie Georgie nicht verfolgten. Waren das denn keine Entführer? Im Grunde machte es doch keinen Unterschied, welches Kind sie verschleppten. Und warum gaben sie sich dann die Mühe, seine Eltern mitzunehmen? Doch inzwischen hatte ihn ein Verdacht beschlichen, der ihn nicht wieder losließ: Etwas an ihm selbst ließ ihn offenbar zum Zielobjekt dieser bewaffneten Männer in Anzügen werden; und es hing auf irgendeine Weise mit seiner plötzlichen Fähigkeit zusammen, aus Fenstern zu springen, ohne sich dabei zu verletzen.

Jimmy wartete, bis die Motoren der Autos ansprangen. Er musste unbedingt einen Blick auf den Transporter werfen. Es war die einzige Möglichkeit herauszufinden, wer seine Eltern verschleppte.

Er ließ sich vorsichtig zu Boden sinken und rollte unter dem Auto hervor, gerade noch rechtzeitig, um einen Wagen davonfahren zu sehen. Er hatte kein Nummernschild. Was für eine Art Auto braucht kein Nummernschild?, fragte er sich. Es war eine schwarze Limousine mit dunkel getönten Scheiben. Vor ihr fuhr der lange schwarze Transporter. Sie schlichen mit quälender Langsamkeit, lauernd wie Katzen.

Als die Fahrzeuge am Ende der Straße abbogen, wurden ihre Flanken sichtbar. Jimmy erspähte die Silhouetten der Fahrer und vorne im Transporter einen Beifahrer. Das muss der dritte Mann sein, dachte er, der Anzugtyp, dem er nicht begegnet war. Auf den Scheiben der Wagen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen und etwas erregte Jimmys Aufmerksamkeit. Es war das Einzige an den Fahrzeugen, das nicht vollständig schwarz war. Am Heck des Transporters, direkt neben den Rücklichtern, schimmerte ein senkrechter grüner Streifen. Er war gerade breit genug, um ihn aus der Entfernung erkennen zu können, und kaum mehr als zehn Zentimeter lang. Und auch bei der schwarzen Limousine befand sich an derselben Stelle ein identischer grüner Streifen. Er blitzte nur für einen kurzen Moment auf, sodass Jimmy im nächsten Augenblick schon wieder daran zweifelte, ob er ihn wirklich gesehen hatte. Der Lieferwagen und die Limousine bogen um die Ecke und verschwanden, als hätte es sie niemals gegeben.

Jimmy tappte zurück zum Haus. Dabei bemerkte er zum ersten Mal, dass er keine Schuhe trug. Vorsichtig suchte er einen Weg zwischen den Glasscherben, was im Dunkeln gar nicht so einfach war. Die Eingangstür war verschlossen. Natürlich dachten alle, Jimmy wäre auf der Flucht und würde irgendwo durch die Vorstädte Londons irren.

Alles schien ruhig. Auf der Straße herrschte kein Verkehr, nur das tiefe Summen der nächtlichen Stadt und das Geräusch einzelner Autos in der Ferne waren zu hören. In einem dieser Wagen befanden sich Jimmys Eltern. Dann dachte er an Georgie. Wohin sie wohl gerannt war? Hoffte sie, sie könnte ihn irgendwo finden? Jimmy zitterte und fragte sich, ob es seiner Schwester jetzt auch so bitterkalt war. Wenigstens trug sie Schuhe.

Er kletterte die Mauer neben dem Haus hinauf und beugte sich auf der anderen Seite hinab, um den Riegel der Gartenpforte zu öffnen. Die Tür schwang mit einem Knirschen auf. Er warf einen Blick über die Schulter hinweg zur Straße, konnte aber nichts entdecken. Dann betrat er den Pfad, der seitlich am Haus entlangführte. Er schien ihm düsterer als je zuvor.

Jimmy redete sich selbst gut zu, dass er keine Angst zu haben brauchte. Schließlich war es sein eigenes Zuhause und es war niemand außer ihm da. Wenn hier irgendetwas ein Geräusch machte, dann lediglich eine streunende Katze. Er begann den Satz flüsternd zu wiederholen.

»Gibt es ein Geräusch, dann ist es eine Katze.« Während er langsam zur Rückseite des Hauses schlich, sang er den Satz leise zu der fröhlichsten Melodie, die ihm einfiel. Barfuß und ein Lied über Katzen summend fühlte er sich wie ein stümperhafter Einbrecher. Wagenschmiere schwärzte seine Wangen. Als er sein Spiegelbild in einem Seitenfenster des Hauses entdeckte, fand er es fast schon wieder lustig.

Seine Gesichtszüge wirkten seit einiger Zeit nicht mehr ganz so weich, und er hoffte, dass man ihn schon bald für etwas älter halten würde, als er war. Sein blondes Haar wurde jedes Jahr etwas dunkler und seine Schultern wurden nach und nach breiter. Jimmy schnappte sich einen Stein aus dem Kräutergarten seiner Mutter und schlug damit das Fenster ein.

Wenn es überhaupt eine richtige Methode gibt, ein Fenster einzuschlagen, dann hatte er offensichtlich die falsche gewählt. Nachher erinnerte er sich, dass sie in Fernsehfilmen immer den Ellbogen benutzten und ihn dabei mit einer Decke oder etwas Ähnlichem schützten. Jimmy dagegen hatte es mit der bloßen Hand versucht. Jetzt übersäten noch mehr Glassplitter seine Kleider und fielen auf seine unbeschuhten Füße herab. Einige hatten ihn auch im Gesicht erwischt. Glücklicherweise hatte keiner davon seine Augen getroffen. Was war aus seiner merkwürdigen Fähigkeit geworden, sich in gefährlichen Situationen zurechtzufinden? Es wäre besser, wenn sie nicht einfach wieder spurlos verschwand, obwohl er sie gerade dringend brauchte.

Er griff durch das Loch im Fenster, öffnete die Verriegelung und schob es auf. Nachdem er hineingeklettert war, ging er als Erstes zum Telefon. Es war tot. Alles, was Jimmy hörte, war das Blut, das in seinen Ohren rauschte, und sein eigener Atem. Er fand das Handy seines Vaters, aber es ließ sich nicht einschalten. Das Gehäuse war zertrümmert worden. Jimmy war klar, dass er nicht zu Hause bleiben konnte, nicht, während seine Schwester alleine da draußen auf den Straßen unterwegs war und seine Eltern in einem Transporter fortgeschafft wurden.

Er überlegte, welche Gegenstände ihm in der nächsten Zeit möglicherweise nützlich sein könnten, aber sein Herz pochte immer noch so heftig, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Er stieg die Treppe hinauf, um seinen Rucksack zu holen. Er räumte die Bücher darin aus und stopfte stattdessen Ersatzkleidung und einen zusätzlichen Pullover hinein. Dann holte er etwas zu essen aus dem Kühlschrank: Er stopfte so viel in seine Schultasche, wie hineinpasste. Außerdem nahm er ein paar Schokoriegel und schnappte sich einen Apfel. Er öffnete den Gefrierschrank und tastete im hinteren Teil herum, bis er das Bündel Geldscheine fand, das seine Mutter dort für Notfälle und den Pizzaboten aufbewahrte. Es war mehr Geld, als er je in Händen gehalten hatte. Wieder oben im ersten Stock zwängte er seine Füße in ein paar Schuhe, wobei er immer noch die nassen Socken trug, in deren Fasern sich Glassplitter verfangen hatten.

Dann kam ihm der Gedanke, sich auf die Suche nach einer Taschenlampe zu machen. Irgendwann kniete er auf allen vieren und durchwühlte den unteren Teil des Küchenschranks, da fiel sein Blick auf sein Handgelenk. Unterhalb der linken Hand ragte eine Glasscherbe hervor. Und obwohl es kein kleiner Splitter war, spürte er keinen Schmerz. Die ganze Zeit hatte er sie übersehen: eine tödliche Glasscherbe in seinem Handgelenk.

Vorsichtig zog Jimmy sie heraus. Sie steckte tief im Fleisch, doch es blutete nicht. Erleichtert wackelte er mit den Fingern. Dann ballte er sie zur Faust. Alles schien in Ordnung. Dort wo die Glasscherbe gesteckt hatte, war ein Schnitt in seiner Haut. Aber die Wunde war nicht blutig rot, sondern darunter befand sich eine weitere Hautschicht, die irgendwie grau aussah. Er hatte sich früher häufiger geschnitten, aber nie etwas Ähnliches bemerkt. Eigentlich hätte ich inzwischen längst verblutet sein müssen, dachte er. Er überlegte, ob er ein Pflaster auf den Schnitt kleben sollte, drückte sogar einige Male darauf herum. Aber da er keine Schmerzen empfand, schien es ihm reine Zeitverschwendung. Er tastete nach der Taschenlampe und warf sie in seinen Rucksack. Dann ließ er sich auf einen der Küchenstühle sinken.

Im Haus war es ruhig. Jimmy war noch nie aufgefallen, wie verloren man sich in der Stille fühlen konnte. Er starrte zur Tür, und ohne es zu wollen, stellte er sich vor, wie seine Eltern lächelnd und Späße machend hereinspaziert kamen. Er hatte sich noch nie so einsam gefühlt und versuchte sich abzulenken, indem er noch einmal alles durchging, was sich seit dem abendlichen Ringkampf mit seiner Schwester ereignet hatte. Er hörte wieder die panische Stimme seiner Mutter. Sie hatte verhindern wollen, dass er in die Hände dieser Männer fiel. Aber warum hatte sein Vater diese Leute ohne Zögern ins Haus gelassen? Und später waren seine Eltern ihnen völlig ruhig gefolgt. Wenn diese Leute tatsächlich so gefährlich waren, dass Jimmy vor ihnen abhauen musste, wieso kannten seine Eltern sie dann so gut? Und warum wollte Jimmys Vater nicht um Hilfe rufen, obwohl er die Gelegenheit dazu hatte?

Jimmy war klar, dass die Männer in Anzügen auf der Suche nach ihm zurückkehren und Verstärkung mitbringen würden. Er schnappte sich seinen Rucksack und verließ das Haus. Wenn er seiner Familie helfen wollte, dann durfte er vorerst nicht wieder zurückkehren.

Jimmy schlug die Richtung ein, in die der Transporter verschwunden war. Die Vororte von London verschluckten ihn; Tausende Menschen schliefen ruhig in ihren Betten, während Jimmy an ihren Eingangstüren vorbeischlich und sich daran zu erinnern versuchte, wo sich das Polizeirevier befand. Nach einer Weile hatte er jedes Orientierungsgefühl verloren. Das Licht der Straßenlaternen ließ die Schatten, in die er hineinwanderte, nur noch finsterer erscheinen. Wachsam hielt er nach Personen Ausschau, die schwarze Wagen mit grünen Streifen fuhren. Doch die Straßen waren menschenleer.

Jimmy gähnte so mächtig, als wolle er die gesamte Stadt verschlucken. Und er war mit seinen Gedanken so sehr bei einem warmen Schlafplatz, dass er nicht das Geringste von der dünnen, dunklen Gestalt bemerkte, der einzigen weiteren Person in den Schatten dieser Nacht. Sie hatte begonnen, ihn zu verfolgen.

KAPITEL 3

Mitchell hatte einen harten Tag hinter sich. Zweimal hätte man ihn beinahe dabei erwischt, wie er einen Geldbeutel aus jemandes Tasche klaute, und beide Male musste er alles fallen lassen und davonflitzen. Das wäre jetzt schon der dritte Tag, an dem er leer ausging. Gestern Abend war er in einen ihm bekannten Vorort gefahren, um sich die Pendler vorzunehmen, die aus der U-Bahn-Station kamen. Aber sie hingen immer in dichten Trauben zusammen, sodass es verdammt schwer war, sich unauffällig unter sie zu mischen.

Jetzt waren die Straßen total verlassen. Sie kamen Mitchell einsamer vor als je, und langsam verlor er die Hoffnung, dass er heute noch einen Fang machen würde. Doch dann dachte er an den erbärmlichen Gestank im Apartment seines Bruders und verspürte keinen Drang, so bald dorthin zurückzukehren. Außerdem wusste er genau, wie umwerfend komisch sein Bruder es finden würde, wenn er wieder einmal mit leeren Händen nach Hause zurückkehrte. Es bereitete Mitchell kein Vergnügen, ein Dieb zu sein. Seinen Bruder mochte er auch nicht sonderlich. Und am allerwenigsten gefiel es ihm, mit ihm zusammenzuleben. Doch es war der einzige Ort, wo er Unterschlupf finden konnte, bis er alt genug war und Geld hatte, um etwas Eigenes zu mieten. Doch das lag beides noch in weiter Ferne. Und sein Bruder ließ Mitchell nur unter der Bedingung bei sich wohnen, dass er für ihn stahl.

Zuerst war er ganz gut darin gewesen – Anfängerglück vermutlich. Wenn es um das schnelle Davonrennen ging, war er unschlagbar. Außerdem hatte es Vorteile, kleiner zu sein; da wurde man gern mal übersehen. Doch die letzten Tage waren echt hart gewesen. Mitchell fühlte sich müde und elend. Fast hätte er aufgegeben, doch da tauchte plötzlich jemand auf.

Mitchell hörte das leise Quietschen von Turnschuhen und wandte sich in die Richtung. In dem trüben Licht konnte er einen einzelnen gebückten Schatten mit einem Rucksack erkennen. Sieht aus, als ob es jemand in meinem Alter ist