J.C. - Agent zwischen den Fronten - Joe Craig - E-Book

J.C. - Agent zwischen den Fronten E-Book

Joe Craig

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Beschreibung

Halb Junge, halb Waffe – 100% tödlich!

Jimmy Coates, der 13-jährige, genetisch veränderte Superagent ist zurück in London. Verzweifelt versucht er, den drohenden Krieg zwischen seinem Heimatland und Frankreich in letzter Minute zu verhindern. Doch geschwächt durch die radioaktive Vergiftung, die er sich bei seinem letzten Abenteuer zugezogen hat, läuft ihm die Zeit davon. Und seine Gegner beim britischen Geheimdienst sind bereit, für den Erhalt ihrer Macht alles zu tun. Nun ist es an Jimmy, sich als Agent zwischen alle Fronten zu wagen ...

Die Abenteuer von Agent J.C. sind atemberaubende actionreich und bieten Spannung der Extraklasse - Lesevergnügen pur für alle Fans von rasanten Szenen und überraschenden Wendungen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 347

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JOE CRAIG

Agent zwischen den Fronten

Aus dem Englischen von

Alexander Wagner

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© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2009 Joe Craig

Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel:

»Jimmy Coates – Power« bei HarperCollins Children’s Books,

einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Ltd, London

Übersetzung: Alexander Wagner

Umschlagkonzeption: Isabelle Hirtz, Inkcraft

unter Verwendung der Motive von

© Shutterstock (Syda Productions; Arten Kniaz; Trass)

MP • Herstellung: RW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23258-0 V003

www.cbj-verlag.de

KAPITEL 1

»Hier ist Jimmy Coates …«

Der Junge zögerte kurz und starrte in die winzige Kamera am oberen Rand des Computermonitors. »Ich wollte sagen, ich bin Jimmy Coates.« Seine Stimme zitterte ein bisschen, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er musste diese Botschaft rüberbringen und seine Geschichte erzählen. Die Menschen mussten endlich die Wahrheit erfahren.

»Es klingt vielleicht verrückt –« Jimmy unterbrach sich mitten im Satz, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er blickte sich um. Das orangefarbene Licht der Straßenlaterne, gefiltert durch die Jalousie und die Regentropfen auf der Fensterscheibe, warf düstere Schatten auf den Boden des kleinen Büros im ersten Stock. Aber sonst konnte Jimmy nichts Ungewöhnliches entdecken.

Er spähte hinauf zu dem Infrarotdetektor an der Zimmerdecke. Die Anlage würde ihn nicht warnen. Erst vor wenigen Minuten hatte er das Alarmsystem des Büros selbst ausgeschaltet, damit sein Eindringen nicht bemerkt wurde. Allerdings hätte ein zufälliger Passant den bläulichen Schimmer des Monitors im Büro wahrnehmen können. Und wenn so jemand genauer nachgeforscht hätte und Jimmys provisorische neue Verdrahtung des Sicherheitssystems an der Eingangstür entdeckt, hätte er mit Sicherheit die Polizei verständigt. So spät in der Nacht hielt sich üblicherweise niemand mehr in den Redaktionsräumen der Hailsham Gazette auf.

»Ich weiß, ich wirke wie ein ganz normaler Junge«, fuhr Jimmy fort und versuchte ruhig zu atmen. »Ich bin dreizehn. Aber …« Erneut hielt er inne. Es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu formulieren. Am liebsten hätte er laut herausgebrüllt: Ich bin ein perfekter Agent und Killer. Sie haben mich dazu gemacht. Sie haben meine DNA in einem Reagenzglas erschaffen …

Gleichzeitig war ihm klar, dass bestimmte Teile der Wahrheit besser ungesagt blieben. Niemand würde ihm glauben, und selbst wenn, würde das die Menschen eher in Panik versetzen, als sie zum Zuhören zu bewegen.

Jimmy konzentrierte sich und richtete die Webcam neu ein, damit sein Gesicht auf dem Monitor scharf zu sehen war. Er fand es merkwürdig, sich selbst so zu betrachten. Seine Gesichtszüge wirkten irgendwie fremd. Seine Wangen wirkten eingefallen und seine Augen waren matt.

Doch vor ihm auf dem Schreibtisch lag etwas, dass ihm Kraft und Entschlossenheit gab. Es war die aktuelle Ausgabe der Gazette. Auf der Titelseite prangte die Schlagzeile:

NACH FRANZÖSISCHER ATTACKE

AUF UNSERE ÖLBOHRINSEL

DROHT GROSSBRITANNIEN

MIT VERGELTUNGSSCHLAG

»Die Regierung lügt«, setzte Jimmy seine Rede fort. »Die Franzosen haben die Ölbohrinsel gar nicht angegriffen. Die britische Regierung behauptet das nur, und sie kontrolliert die Zeitungen, das Fernsehen und das Internet …« Aufgebracht knüllte Jimmy die Gazette zusammen.

»Aber jetzt sollen Sie die Wahrheit erfahren. Ich habe die Ölbohrinsel in die Luft gesprengt – aus Versehen.« Die Worte sprudelten jetzt nur so aus Jimmy heraus. »Jeder soll das wissen. Die Öffentlichkeit muss erfahren, dass die Gründe der Regierung für einen Krieg auf Lügen beruhen. Menschen werden für nichts und wieder nichts sterben.«

Jimmy holte tief Luft. Es gab noch so viel mehr zu sagen, doch plötzlich bemerkte er eine Spiegelung im Monitor – ein blaues Flackern. Die Polizei war im Anrücken. Er war schon zu lange hier.

»Verbreiten Sie diese Botschaft«, sagte Jimmy drängend in die Webcam. »Und protestieren Sie auf alle möglichen Arten. Ich weiß, Sie dürfen nicht wählen, aber …« Erneut schweiften seine Gedanken ab. Die Regierung hatte schon vor Jahren freie Wahlen abgeschafft und die sogenannte Neodemokratie eingeführt. Jimmy fragte sich, welche Arten von Protest überhaupt möglich sein würden. Das Geheul einer Sirene unterbrach seine Gedanken.

»Verbreiten Sie einfach diese Botschaft«, wiederholte Jimmy flehend. »Erzählen Sie es allen weiter.«

Er schaltete die Webcam aus. Es kostete ihn weniger als eine Minute, um seinen Clip auf so vielen Websites wie möglich zu posten. Natürlich würden die Zensoren der Regierung das Video sofort entfernen. Möglicherweise würden sie sogar die Webseiten komplett schließen. Er konnte nur hoffen, dass es vorher genügend Menschen sehen und auf anderen Seiten teilen würden.

Als Nächstes rief Jimmy die Software der Zeitung auf und gestaltete rasch eine neue Schlagzeile für die Gazette:

FRANZOSEN HABEN NICHT ANGEGRIFFEN.

KEIN GRUND FÜR EINEN KRIEG MIT FRANKREICH.

DIE REGIERUNG LÜGT.

Natürlich würde die Zeitung niemals wagen, etwas Derartiges zu veröffentlichen, aber vielleicht ließ sich der ein oder andere Journalist ja dazu bewegen, seine Botschaft auf anderem Wege zu verbreiten.

Das Sirenengeheul wurde immer lauter und das ganze Büro war jetzt von blauem, rotierendem Licht erfüllt. Jimmy sprang auf, schnappte sich die halb zerknüllte Zeitung und flitzte zur Tür. Sein Gehirn berechnete die Sekunden bis zum Eintreffen der Polizei. Jeder einzelne Muskel drängte ihn, sich in Sicherheit zu bringen, aber obwohl seine Hand bereits auf dem Türgriff lag, hielt ihn ein Gedanke zurück: Möglicherweise fände er in der Zeitungsredaktion Informationen über den Verbleib seiner Familie. Vielleicht konnte er sie sogar aufspüren und sich dann gemeinsam mit ihnen ein neues Leben aufbauen. Ein normales Leben.

Jimmy spürte die leichten Vibrationen im Fußboden. Jemand war in das Gebäude eingedrungen. Die Muskeln seiner Oberschenkel machten sich zur Flucht bereit. Bleib, forderte ihn eine innere Stimme auf. In Jimmys Innerstem kämpften zwei Anteile seiner Persönlichkeit gegeneinander. Und nur einer davon war menschlich.

38 Prozent von Jimmys DNA-Bestandteilen waren identisch mit denen aller übrigen Menschen auf dieser Welt. Doch die anderen 62 Prozent bestanden aus etwas völlig Neuem. Er war der Prototyp eines organisch konstruierten Agenten. Kein Roboter und keine Maschine, sondern etwas noch viel Gefährlicheres. Ein im Labor erschaffenes Wesen, das im Auftrag der britischen Regierung handeln und töten sollte. Jimmys Zukunft war in seine Zellen eingeschrieben. Doch sein menschlicher Anteil wehrte sich beharrlich gegen diese vorherbestimmte Zukunft. Das hatte ihn von der gefährlichsten Waffe der Regierung zu ihrem meistgesuchten Feind werden lassen.

Doch die Agenten-Instinkte in Jimmy wurden mit jedem Tag stärker. Eigentlich war er so konditioniert, dass erst mit achtzehn Jahren seine menschliche Seite komplett von seiner Agenten-DNA kontrolliert würde. Doch extreme Gefahren hatten seine Entwicklung beschleunigt. Jimmy hatte keine Ahnung, wann genau der Killer in ihm die vollständige Kontrolle übernehmen würde. Doch eines wusste er mit Sicherheit: Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

Er spürte diese innere Zerrissenheit in jedem Moment seines Lebens. Aber jetzt empfand er sie so schmerzhaft wie nie zuvor. Der Agent in ihm kommandierte seinen Körper, als wäre er auf einer Mission. Flucht. Überleben. Und verstandesmäßig wusste Jimmy, dass er diesen Instinkten vertrauen konnte. Gleichzeitig sah er die Gesichter seiner Mutter Helen, seiner Schwester Georgie und seines besten Freundes Felix vor sich. Waren sie immer noch zusammen? Lebten sie noch? Am liebsten hätte er dieses Büro auf den Kopf gestellt und jede Notiz, jeden Artikel und jede Reportage gesichtet. Irgendjemand muss doch Nachricht haben, was mit ihnen geschehen war.

BOOM!

Er hatte zu lange gezögert. Die Tür flog auf. Das Holz krachte gegen Jimmys Schulter und der Türgriff bohrte sich in seine Rippen. Bevor er reagieren konnte, stürmte eine riesige Gestalt in den Raum. Eine weitere folgte – zwei Polizisten, die durch ihre Hawk-801-Panzerwesten noch mächtiger wirkten. Jimmy wurde zu Boden geschleudert, doch seine außergewöhnlichen Energien hatten sich bereits aktiviert und pumpten durch seinen Körper.

Seine Finger hatten sich um den Türgriff gekrallt, und während er fiel, hieb er den Absatz mit aller Kraft gegen das untere Türscharnier. Splitternd löste sich die Tür aus dem Rahmen. Und bevor die beiden Polizisten auch nur den Kopf drehen konnten, hatte Jimmy sein Gleichgewicht wiedergefunden und wirbelte das Türblatt herum. Es krachte gegen den ersten Polizisten und traf den zweiten frontal, sodass auch er zu Boden ging.

Über ihr Stöhnen hinweg hörte Jimmy zwei Geräusche. Das erste war das Knistern eines Polizeifunkgerätes. Verstärkung nahte. Das zweite war das Klicken einer Pistole – eine Sig Sauer P229.

Jimmy hatte keine Lust herauszufinden, ob sie wirklich auf einen Jungen schießen würden. Vielleicht hatten sie ihren Angreifer nicht einmal richtig gesehen – so schnell, wie er sich bewegt hatte. Also rannte Jimmy stattdessen zur Eingangstüre. Wenn jetzt erst Verstärkung unterwegs war, dann hatten sie möglicherweise noch niemanden im Korridor oder vor dem Gebäude postiert.

Dann krachte ein Schuss. Doch für Jimmy kam er nicht überraschend. All seine menschlichen Gefühle hatten sich jetzt tief in sein Inneres zurückgezogen und er wurde nur noch von seinen Agenteninstinkten gesteuert. Der Schuss klang geradezu lächerlich im Vergleich zu dem, was Jimmy bereits in seinem Bewusstsein vorweggenommen hatte. Und seine besonderen Fähigkeiten hatten wieder einmal sein Leben gerettet.

Jimmy hatte das lose Türblatt blitzschnell hinter seinen Rücken geschwungen und hielt es nun dort wie einen Schild. Die Kugel bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in das Holz. Ein weiterer Schuss folgte, doch da hatte Jimmy die Tür bereits fallen gelassen und war verschwunden.

Seine Arme und Beine pumpten mit ungeheurer Kraft und Geschwindigkeit, trotzdem blieb Jimmy völlig ruhig. Seine Nerven waren nun gewappnet gegen jede Angst und gleichzeitig im höchsten Wachsamkeitsmodus. Er preschte aus dem Gebäude und fühlte sich fast, als würde er fliegen. Die Regentropfen auf seinem Gesicht erfrischten ihn. Die Polizeisirenen klangen mittlerweile wie Jagdhörner, die ihn vorwärtstrieben.

Jimmy wusste genau, wohin er lief. Hailsham war ein kleiner Ort und er hatte sich das Straßennetz mit Leichtigkeit eingeprägt. Mehr als das, seine Beine trugen ihn fast automatisch auf eine vorbestimmte Fluchtroute. Seine Agenteninstinkte hatten den Weg im Vorfeld exakt abgespeichert.

Er bog von der Hauptstraße ab und rannte durch die Stille der Nacht, ein heißer Blitz im kühlen Regen. Seine Schritte hallten lauter, jetzt, wo das Geheul der Sirenen zurückblieb. Jimmys Weg führte kreuz und quer durch das Wohnviertel mit seinen endlosen Reihen identischer Häuser, dann durch ein Industriegebiet und schließlich sprang er mit einem einzigen gewaltigen Satz über ein Eisengitter.

Jenseits des Gitters herrschte Dunkelheit, aber Jimmy wusste genau, wo er sich befand. Er war wieder auf dem Sportplatz der All Saints-Schule, wo er früher an diesem Abend gelandet war. Trotz des schlammigen Bodens verlangsamte sich sein Tempo kaum. Innerhalb von Sekunden hatte er die beiden Fußballfelder überquert und kletterte in das Cockpit des Tiger Hellfire IV-Helikopters, den er genau an dieser Stelle zurückgelassen hatte.

Jimmy atmete schwer, doch mit der kalten Luft schien er zugleich frische Energie aufzusaugen. Und noch bevor er seinen Helm richtig festgeschnallt hatte, huschten seine Hände bereits über das Steuerpult, und der Helikopter erhob sich mehrere Meter. Vorsichtig wendete er die Maschine, während er gleichzeitig in seine Tasche griff und die zerknüllte Zeitung herauszog. Es gab etwas, das er jetzt unbedingt erledigen musste: Er brauchte einen Arzt.

Für einen Augenblick starrte Jimmy gebannt auf seine Fingerspitzen. Dort machten sich unter seinen Nägeln und der Haut tiefblaue Flecken breit. Sie schienen im schwachen Licht des Cockpit-Displays zu leuchten. Bei dem Anblick wurde Jimmy ganz übel. Es war bisher der einzig sichtbare Schaden, den sein letzter und gefährlichster Einsatz hinterlassen hatte. Er war, mit der Polizei auf seinen Fersen, vom britischen Geheimdienst gejagt worden. Beständig hatte er gegen die bedrohlichen Killerinstinkte in sich ankämpfen müssen, die sein menschliches Bewusstsein Stück für Stück verdrängten. Aber als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, war er dabei auch noch radioaktiv verstrahlt worden.

Der französische Geheimdienst hatte ihn hereingelegt und ihn auf eine Mission geschickt, bei der er massiver radioaktiver Strahlung durch Uran und Actinium ausgesetzt worden war. Ein normaler menschlicher Körper wäre inzwischen längst zerstört, da war Jimmy sich sicher. Er hatte keine Ahnung, wie sich die Strahlung bei jemandem wie ihm auswirken würde. Dennoch musste er so bald wie möglich einen Arzt aufsuchen. Hastig blätterte er mit einer Hand die Zeitung durch. Seine Augen scannten den Text mit dem Tempo eines Computers und jede rasch überflogene Seite warf er hinaus in die Nacht. Schließlich stieß er auf ein Verzeichnis von Ärzten und Kliniken.

Inzwischen schwebte der Helikopter auf der Höhe der Hausdächer rund um den Sportplatz. Wohin sollte er sich wenden? Er studierte die winzigen Adressen, wobei seine Nachtsichtfähigkeit das wenige, verfügbare Licht verstärkte.

Es würde schwierig werden, einen geeigneten Arzt zu finden. Immerhin war Jimmy ein gesuchter Staatsfeind, und jeder, der ihm half, würde irgendwann aufgespürt und bestraft werden. Dennoch gab es in diesem Land auch Menschen, die sich dem System der Neodemokratie widersetzten. Jimmy musste also einen Arzt finden, der nicht nur seine radioaktive Verstrahlung behandeln konnte, sondern auch bereit war, sich gegen die Regierung zu stellen.

Ein Gedanke durchzuckte ihn. Wenn der Arzt zu viel Angst hat, dann wende einfach Gewalt an.

Bei diesem brutalen Gedanken krampfte sich Jimmys Herz zusammen. Die dunkle Macht in seinem Inneren wuchs, und sie erschreckte ihn, obwohl sie in diesem Falle sicher recht hatte. Möglicherweise musste er mit Gewalt drohen, um einen Arzt zu Hilfeleistungen zu bewegen.

Er zerknüllte die letzte Seite der Hailsham Gazette und schleuderte sie aus dem Cockpit. Es gab nur einen Ort, an dem Jimmy ein Krankenhaus mit dem nötigen Equipment und einem hoch qualifizierten Arzt finden konnte. Jimmy ließ seine Finger über die Kontrollinstrumente des Helikopters gleiten und gleich darauf schoss er durch den Nachthimmel in Richtung London. Innerhalb von Sekunden hatte er Hailsham hinter sich gelassen und knatterte über offenes Land.

Plötzlich hörte Jimmy ein Geräusch. Ein entferntes Dröhnen. Seine Augen richteten sich auf den Horizont. Zuerst sah er nur die dunklen Wolken gegen den Nachthimmel. Doch dann bemerkte er das Aufblitzen eines Lichts. Und gleich daneben ein weiteres. Die Lichter verschwanden für einen Augenblick hinter einer Wolke, dann tauchten sie umso heller wieder auf. Nicht heller, dachte Jimmy. Näher.

Und erst jetzt bestätigte das Vier-Kanal-Doppler-Radarsystem des Helikopters Jimmys Wahrnehmung. Zwei Flugzeuge. Die Polizei hatte in kürzester Zeit herausgefunden, wer der Einbrecher in der Zeitungsredaktion gewesen war, und der britische Geheimdienst überwachte ständig deren Kommunikation. Jimmy war fast überrascht, dass sie so lange gebraucht hatten, ihm die Royal Air Force auf den Hals zu hetzen.

Für einen kurzen Moment stieg Panik in ihm auf, doch seine Konditionierung unterdrückte sie sofort. Weiter, hörte er in seinem Kopf. Schneller. Doch der Helikopter war nicht schnell genug. Die beiden Flugzeuge näherten sich dröhnend durch die Wolken. Er war ihnen hilflos ausgeliefert. Ein einziger gezielter Schuss würde ihn vernichten.

Mit dem Zeigefinger schnipste er die Lichter des Helikopters aus. Die Nomex-Wabenkern-Konstruktion und die Kevlar-Beschichtung würden den Helikopter im günstigsten Fall für Radarsysteme unsichtbar machen. Wenn Jimmy ohne Licht und tief genug flog, könnte er den Präzisionslenksystemen der Bordraketen entkommen. Jetzt mussten sich die Piloten auf ihre Sicht verlassen und das gab Jimmy eine Chance.

Das Display auf dem Steuerpult leuchtete immer noch, ebenso wie die zahlreichen LED-Anzeigen und Schalter. Selbst das war noch zu hell. Jimmy wollte den Piloten der beiden Kampfjets nicht das kleinste Ziel bieten. Seine Hände huschten über das Kontrollpult und überlisteten den Bordcomputer, sämtliche Beleuchtungssysteme herunterzufahren.

Jimmys Sinne waren hellwach. Beim leichtesten Luftstrom stellten sich die Haare an seinen Unterarmen auf. Sein Blick erfasste hundert Details zugleich, erahnte die ideale Flugbahn in Sekundenbruchteilen, was ihm vorausschauende Flugmanöver ermöglichte.

Er spürte, wie sich die Agenteninstinkte seiner Muskeln bemächtigten, sie ruhig und präzise agieren ließen. Die Kraft des Tiger Hellfire-Helikopters vibrierte in seinem ganzen Körper. Es war, als stünde sein Organismus in direkter Verbindung zu den 1200-kW-Wellenleistungstriebwerken. Noch bevor er es bewusst wahrnahm, setzte sich jeder seiner Gedanken sofort in eine Kurskorrektur um.

Jimmy überquerte eine Autobahn, und der Helikopter flog jetzt so tief, dass die Landekufen knapp über die Autodächer hinwegzischten. Routiniert manövrierte Jimmy die Maschine zwischen zwei riesigen Lastwagen hindurch. Er spürte nach wie vor die Präsenz der beiden Jets über sich, wie Adler, die darauf lauerten, sich auf eine Wühlmaus zu stürzen.

Trotz der Dunkelheit sah Jimmy, wie unter ihm auf den Feldern Tiere davonstoben. Er tauchte unter Stromleitungen hindurch, sauste knapp über Zäune hinweg und direkt an den Eingangstüren von Bauernhöfen vorbei. Die Motoren des Helikopters heulten wütend, weil Jimmy immer neue Höchstleistungen aus ihnen herauskitzelte.

Die Kampfjets über ihm hielten mit. Ihre Suchscheinwerfer tanzten über die Felder, manchmal erwischten sie Jimmy, aber nur für Bruchteile einer Sekunde. Jimmy machte ihnen das Feuern unmöglich, auch wenn er ihnen nicht entkommen konnte. Doch das reicht nicht, dachte er. Selbst wenn er es nach London schaffte, würde er dort niemals landen können.

Dann wurde ihm schlagartig klar, dass der NJ7 gar nicht vorhatte, ihn in die Stadt gelangen zu lassen.

Vor ihm am Horizont tauchte über ein Dutzend schwarzer Schemen auf. Ein Geschwader supermoderner Kampfhubschrauber. Sie schwebten bewegungslos wenige Meter über dem Erdboden. Und dann, wie auf ein Zeichen hin, blendeten ihre Scheinwerfer auf. Jimmy blinzelte gegen den grellen Lichtschein an und Schweiß trat auf seine Stirn.

Der NJ7 konnte vermutlich jeden einzelnen Tropfen sehen.

KAPITEL 2

Jimmy konnte sich nirgendwo verbergen. Am liebsten hätte er sich zusammengekrümmt und den Kopf mit den Armen geschützt, um sich auf die Raketeneinschläge vorzubereiten, doch sein Körper ließ es nicht zu. Sein innerer Agent hatte einen neuen Ausweg entdeckt, dank der Scheinwerfer der feindlichen Hubschrauber. Sie beleuchteten Eisenbahngleise, die genau zwischen ihnen und Jimmy verliefen. Auf ihnen näherte sich von rechts, so langsam wie eine heranmarschierende Kolonne auf dem Schlachtfeld, ein Zug.

Anstatt den Helikopter zu wenden oder das Tempo zu drosseln, donnerte Jimmy weiter. Ebenso wie das Rudel Kampfhubschrauber. Sie waren auf der Jagd, konstruiert, eine Mission in tödlicher Effizienz auszuführen – mit einer Fehlerquote von null Prozent.

Doch Jimmy stand ihnen darin in nichts nach. Er fixierte den Zug. Seine Muskeln lockerten sich, obwohl sie sich eigentlich hätten anspannen müssen. Es schien, als wäre irgendeine Chemikalie in sein System injiziert worden, um seine Glieder geschmeidiger zu machen und ihm mehr Kontrolle zu verleihen. Doch in Wahrheit kam alles aus seinem eigenen Inneren.

Schneller als die Kampfhubschrauber näherte er sich den Gleisen. Die Jets über ihm feuerten zwei Raketen ab, doch Jimmy hatte sein Ausweichmanöver bereits gestartet. Es erfolgte so rasant, dass er nicht einmal Zeit hatte, einen Einschlag zu befürchten. Die Detonationen erschütterten die Kabine, doch es war nur der Ackerboden hinter ihm, der in einem Flammenball explodierte.

Endlich erreichte Jimmy die Gleise. Das kleine Ausweichmanöver erwies sich jetzt als Vorteil. Es hatte dem Zug Zeit gegeben, sich weiter zu nähern. Jimmy drosselte sein Tempo und flog nun direkt neben dem Zug. Erneut brachte er den Hubschrauber so tief wie möglich und surrte haarscharf an Strommasten, Kabeln und Signalanlagen vorbei, immer im Schutz des letzten Waggons.

Die Staffel der NJ7-Helikopter dröhnte erst über ihn hinweg, dann wendeten sie, um ihm zu folgen. Jimmy musste unwillkürlich lächeln. Etwas in ihm genoss die Gefahr, das rasante Tempo, und stachelte ihn zu weiteren Höchstleistungen an.

Jimmy schaltete sein Display wieder ein. Die Lichter der Steuerkonsole konnten ihn nun nicht mehr verraten, und er wollte seine Verfolger über Radar im Blick behalten. Was er sah, überraschte ihn. Sie zogen sich zurück. Erst als Jimmy aufblickte, wurde ihm klar, warum. Nur ein paar Hundert Meter weiter führten die Gleise in einen Tunnel. Jimmy schoss direkt auf eine Hügelflanke zu.

Reiß die Maschine hoch, schrie es in ihm. Doch sein Körper fegte die Angst beiseite. Bitte, flehte er und kämpfte gegen seine eigenen Instinkte an. Doch sein Körper reagierte nicht. Er näherte sich weiter mit rasender Geschwindigkeit dem Hügel. Ist das etwa Teil meiner Konditionierung?, fragte er sich. Vielleicht war er ja darauf programmiert, sich selbst zu zerstören, um eine Gefangennahme zu vermeiden.

Die Welt um ihn herum schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Jeder Erdklumpen auf dem Hügel wurde durch das Flutlicht hinter ihm in scharfem Relief hervorgehoben. Der Schatten seines eigenen Helikopters wurde immer größer und größer. Er saß in der Falle. Über ihm und rings um ihn befand sich ein Netz aus Kampfmaschinen, die vom NJ7 kontrolliert wurden. Vor ihm erhob sich ein massiver Hügel, ohne jedes Schlupfloch.

Schlupfloch, dachte Jimmy. Natürlich. Jetzt erst wurde ihm klar, was seine Konditionierung plante. Blitzschnell bewegten sich Jimmys Hände über das Kontrollpult. Der Helikopter wurde für einen Augenblick langsamer, schwenkte zur Seite und jagte dann direkt hinter dem Zug über den Gleisen dahin.

Jimmy flog in den Tunnel, doch die Rotorblätter waren zu lang. Mit einem gewaltigen Krachen brachen sie ab und ihre Splitter surrten in alle Richtungen. Jimmy hatte jetzt keine Kontrolle mehr. Die Landekufen rutschten mit einem durchdringenden Kreischen über die Gleise. Im Funkenregen erkannte Jimmy, dass sich sein Cockpit direkt hinter dem Zug befand.

Sollte auch der Rest des Plans aufgehen, musste er sich schneller bewegen als je zuvor. Er schwang sich von seinem Sitz und seitlich aus der Öffnung des Helikopters. Die äußere Metallhülle des Cockpits glühte heiß unter seinen Fingern, als er sie kurz berührte. Die Reibung auf den Gleisen bremste den Helikopter, während der Zug immer weiterdonnerte. Und bevor eine zu große Lücke zwischen beiden entstehen konnte, hechtete sich Jimmy nach vorne und legte all seine Kraft und Geschicklichkeit in den Sprung, um sicher zu landen.

Der hintere Zugteil schien sich aufzubäumen und der Aufprall presste sämtliche Luft aus Jimmys Lungen. Seine Fingerspitzen erwischten eine Art Metallbügel, an dem er sich blindlings festklammerte. Irgendwie gelang es ihm, sich zur Seite des Waggons zu hangeln, wo er besseren Halt fand. Er schloss die Augen gegen den Fahrtwind und den aufgewirbelten Staub.

Der Zug schoss aus dem Tunnel und das Wrack des Helikopters polterte hüpfend hinter ihm her.

Jimmy öffnete die Augen und sah, dass die versammelte Luftstreitmacht bereits auf ihn wartete. Innerhalb von Sekunden war der Himmel hell erleuchtet von den Antriebsstrahlen der Raketen. Jimmy schnappte nach Luft und spannte sämtliche Muskeln an. Er konnte es nicht fassen – der NJ7 wollte tatsächlich einen Zug voller unschuldiger Passagiere in die Luft jagen, nur um ihn zu töten.

Doch das Ziel der Raketen war der völlig verbeulte Helikopter, den er gerade verlassen hatte. Sein rotorloses Wrack ging in einem gewaltigen Feuerball auf. Dabei schlitterte er weiter über die Gleise und verstreute brennende Trümmer in alle Richtungen.

Jimmy dagegen ratterte unverletzt in Richtung London.

Das Cavendish Hotel in der Londoner Jermyn Street war eine Fünf-Sterne-Unterkunft mit eher altmodischem Charme. Es war eines der ältesten noch verbliebenen unabhängigen Hotels der Stadt, aber jeder wusste, dass es sich nicht mehr lange halten würde. Es durften kaum noch Touristen ins Land, und für Briten gab es keinen Grund, dort zu übernachten, selbst wenn sie es sich hätten leisten können. So blieben nur reiche ausländische Geschäftsleute, und die hatten meistens nur wenig Sinn für die endlosen labyrinthischen Korridore, die abblätternde Farbe und die schummrige Beleuchtung, die trotzdem die fleckigen Tapeten kaum verbergen konnte.

Doch was für Zafi Sauvage fast noch entscheidender war: Das Servicepersonal war ziemlich nachlässig. So interessierte sich hier kaum jemand für sie – ein hübsches dreizehnjähriges Mädchen, das seit kurzer Zeit beim Reinigungspersonal aushalf. Solange ihre Uniform sauber war und sie irgendwie beschäftigt erschien, gingen die wechselnden Manager davon aus, dass sie für einen ihrer Kollegen auf Probe arbeitete. Dieses Gerücht wurde von Zafi auf geschickte Weise genährt.

Sie hatte sogar den Empfangschef davon überzeugt, dass sie sechzehn und die Tochter eines ausländischen Investors wäre, die undercover Informationen über das Hotel einholen sollte. Das war zwar ziemlich weit hergeholt, aber der Mann hatte es ihr abgekauft. Vermutlich war es sogar plausibler als die Wahrheit. Wer hätte Zafi schon geglaubt, dass sie eine genetisch modifizierte Agentin war, die für den DGSE – den französischen Geheimdienst – arbeitete?

Während Zafi weiter den Handlauf des Haupttreppenhauses polierte, spähte sie auf die Uhr in der Lobby. Es war 4 Uhr 50. In zehn Minuten würde die Schicht wechseln und ein neues Team mit der Arbeit beginnen. Sich die wechselnden Dienstpläne und ihr Personal genau einzuprägen, war einer der ersten Schritte an ihrem neuen Arbeitsplatz gewesen.

Nachdem sie das Gold des Handlaufs auf Hochglanz poliert hatte, trottete Zafi hinauf zu dem Treppenabsatz, von dem aus eine Personaltür in die labyrinthische Welt hinter den Kulissen des Cavendish führte. Die sich windenden Verbindungsgänge und spiralförmigen Treppenhäuser des alten Gebäudes waren perfekt, um darin zu verschwinden.

Doch das war nur die erste Stufe von Zafis Plan. Von hier aus würde die ganze Welt ihr Labyrinth werden, in dem sie unterzutauchen gedachte. Reisedokumente waren leicht zu erhalten und zu kopieren. Komplette falsche Identitäten konnten aufgebaut werden, während unaufmerksame Rezeptionistinnen in der Kaffeepause waren. Die Küchen boten Nahrungsmittel im Überfluss und dank der vielen leeren Zimmer hatte sie stets einen guten Schlafplatz. Die einzige Frage war: Wie ging es weiter? Würde sie jemals nach Frankreich zurückkehren können? Ihre letzte Mission für den DGSE war perfekt verlaufen, bis auf die letzten Momente. Anstatt ihre Zielpersonen zu töten, hatte sie ihnen zur Flucht verholfen.

Zafi lief durch die Korridore des Hotels und versuchte sich die Lage im Hauptquartier in Paris vorzustellen. Wussten ihre Geheimdienstbosse bereits, dass ihre Zielpersonen noch am Leben waren? Ahnten sie, dass Zafi bei ihrer Mission bewusst versagt hatte? Plötzlich wurde sie von Verzweiflung heimgesucht. Würde sie je wieder die Chance erhalten, ihnen zu beweisen, dass sie eine hocheffektive Agentin war?

Sie huschte so leicht über das Parkett, dass man kaum etwas hörte. Dann betrat sie einen Raum, in dem Fundsachen aufbewahrt wurden, und schnappte sich ihre Jacke und eine Umhängetasche, in die sie ihre notwendigsten Dinge gepackt hatte. In der Tasche der Uniformjacke konnte sie die Umrisse ihres Handys spüren. Sicher hatte der DGSE bereits versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, aber sie wagte nicht, die Nachrichten abzurufen.

Durch eine Notausgangstür schlüpfte Zafi hinaus in das Sträßchen hinter dem Hotel. Das Timing war perfekt. Gerade in diesem Moment tauchte am Ende der Gasse ein Müllwagen auf. Die Silhouetten zweier stämmiger Müllmänner stapften auf den Hinterausgang des Hotels zu. Zafi verbarg sich im Schatten eines großen Haufens schwarzer Plastiksäcke. Dann huschte sie unbemerkt an den beiden Männern vorbei.

Als sie den Müllwagen erreichte, zog sie ihr Handy heraus. Wie leicht wäre es gewesen, es einfach wegzuschmeißen. Ihr altes Leben wäre ausgelöscht – zermalmt von der Presse eines Müllwagens. Der DGSE würde sie suchen, aber niemals finden. Dazu war sie einfach zu gut. Sie würde vortäuschen, in Ausübung ihres Dienstes vom britischen Geheimdienst eliminiert worden zu sein.

Ihre Faust ballte sich so fest um das Handy, dass sie beinahe die Plastikhülle zerbrochen hätte. Doch sie warf es nicht weg. Ihr Arm weigerte sich. Ihr Atem wurde flacher und ihr Körper spannte sich. In wenigen Sekunden würden die Müllmänner zurückkommen und die Gelegenheit wäre verstrichen. Warum nur hielt ihr Agenteninstinkt sie zurück?

Zafi warf einen Blick auf das Display. Eine neue Nachricht. Sie fürchtete sich vor dem Inhalt. Sie hatte ihre Mission nicht erfolgreich zu Ende gebracht. Möglicherweise beorderte man sie zurück nach Paris, wo irgendeine Art Strafe auf sie wartete. Vielleicht bereitete man aber auch schon eine Art Hinterhalt für sie vor. War sie von Frankreichs gefährlichster Waffe zu einer gewaltigen Enttäuschung oder sogar zu einer Staatsfeindin geworden? Zafi knirschte mit den Zähnen und ermahnte sich, nicht so zu überreagieren. Es war ja nur eine Mission, dachte sie. Aber ohne eine neue Mission bin ich nichts.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Müllmänner mit schwarzen Plastiksäcken auf dem Rücken zurückkehrten. Zafi holte tief Luft. Ich bin eine Agentin, versicherte sie sich. Ich kann damit fertigwerden. Vorsichtig tippte sie auf das Display und las die Nachricht.

Sie war wie üblich verschlüsselt und bestand aus einer Kolonne von Buchstaben und Zahlen. Zafi genoss das warme Summen in ihrem Kopf, während sie den Code so leicht entzifferte, als wäre es ein französischer Kinderreim. Und als sie den Inhalt erfasst hatte, breitete sich die Wärme vom Kopf bis in den gesamten Körper aus. Ganz offensichtlich hatte der Geheimdienst keine Ahnung, was vorgefallen war – und man war auch nicht an Details interessiert. Für den Augenblick sah es ganz so aus, als würde man ihr vertrauen. In Zafi regte sich ein Gefühl der Freude. Man brauchte sie. Eine wichtige neue Mission würde ihre ganze Aufmerksamkeit erfordern.

Zafi lächelte. Das war ihre Chance. Niemand würde sich noch für die Vergangenheit interessieren, wenn sie diese neue Mission abgeschlossen hätte. Es würde der bedeutsamste Einsatz eines französischen Agenten in der Geschichte des Landes. Sie würde beweisen, dass sie immer noch die Beste war – dem DGSE und sich selbst.

Sie schlüpfte aus ihrem Zimmermädchen-Dress und darunter kam ein dünner schwarzer Trainingsanzug zum Vorschein. Zafi warf die Uniform hinten in das Müllauto, schob das Handy zurück in ihre Tasche und trabte los. Sie lief in Richtung Süden, nach Westminster. Ihre neue Zielperson war nicht schwer zu finden.

Sie hatte ihn schon mehrfach zu eliminieren versucht, doch jedes Mal war ihr jemand in die Quere gekommen. Sie hatte ihn erschießen wollen, doch Jimmy Coates war im letzten Moment dazwischengegangen. Erst vor Kurzem hatte sie geplant, die Zielperson mit dem unbehandelten Fleisch eines Grönland-Hais zu vergiften. Doch ein NJ7-Agent hatte ihr in Island aufgelauert und das giftige Fleisch unbrauchbar gemacht.

Doch diesmal würde es gelingen. Es musste einfach so sein. In letzter Zeit war sie ein wenig abwesend und unsicher über ihre wahre Identität gewesen, doch jetzt war sie zurück. Und um das zu beweisen, musste nur ein Mann sterben. Die vier Worte der Nachricht hallten in ihrem Kopf wieder: »Eliminiere den britischen Premierminister«.

Jimmy konnte kaum fassen, dass der Zug nach einer derartig gewaltigen Explosion seine Reise ungehindert fortsetzte – und das ohne die geringste Verspätung. Es war sehr ungewöhnlich, dass ein Zug auf dieser Strecke pünktlich war, selbst ohne eine solche Katastrophe. Er konnte nur vermuten, dass der NJ7 das kleine Drama geheim halten wollte – so geheim man eben ein lokales Feuergefecht und diverse Explosionen halten konnte.

Trotzdem erwartete Jimmy bei jeder geringsten Änderung im ratternden Rhythmus des Zuges das Schlimmste. Sie werden den Tunnel und das Wrack durchsuchen, dachte er. Sie werden herausfinden, dass ich noch am Leben und in diesem Zug bin.

Am hinteren Ende des Waggons hatte er eine Ecke gefunden, wo er unbemerkt sitzen konnte. Nachdem er durch ein Fenster eingestiegen war, hatte er ein Buch aufgesammelt, das aus einem Gepäcknetz gefallen war, und nun lehnte er an der Toilettentüre und tat, als würde er darin lesen.

In Wahrheit tanzten die Buchstaben vor seinen Augen. Sein Blick fand keine Sekunde Ruhe, obwohl nichts Besorgniserregendes in seiner Umgebung geschah. Niemand suchte nach ihm. Dennoch vibrierten und zuckten seine Nerven. Die Kälte aus dem Fußboden kroch in seinen Körper. Gleichzeitig spürte er tief in seinem Inneren eine Hitze, mit der seine Konditionierung ihn wärmen und seine Nerven beruhigen wollte. Doch Jimmy kämpfte dagegen an.

Sie versuchen mich zu töten, ermahnte er sich selbst. Es ist gut, ständig hellwach zu sein. Das Letzte, was Jimmy jetzt brauchte, war Entspannung. Er war noch nicht bereit dafür. Vor seinem inneren Auge spielte sich wieder und wieder die Explosion ab, sie dröhnte immer noch in seinen Ohren. Aber vor allem empfand er eine rasende, kaum zu bändigende Wut.

Zuerst dachte er, er wäre zornig auf die Leute, die versucht hatten, ihn in die Luft zu jagen. Doch dann dämmerte ihm, dass es etwas anderes war. Diese gesichtslosen Piloten waren unbedeutend, selbst wenn sie mit ihren Raketen auf ihn gezielt und den Abzug gedrückt hatten. Jimmys Ärger galt vielmehr ihrem Boss. Nicht einfach der britischen Regierung, sondern einem einzigen Mann. Dem neuen Premierminister. Jener Mann, der den Geheimdienst mit größeren Machtbefugnissen als je zuvor ausgestattet hatte. Jener Mann, der die öffentliche Angst und den Hass auf die Franzosen schürte, um seine eigene Position zu stärken. Jener Mann, der das System der Neodemokratie noch weiter ausgebaut und den Menschen jede Chance auf freie Wahlen genommen hatte. Jener Mann, der einmal Jimmys Vater gewesen war – Ian Coates.

Jimmy musste das Buch beiseitelegen und den Kopf in die Hände stützen. Er hatte sich noch nie so verwirrt und durcheinander gefühlt. Er fürchtete, verrückt zu werden. Seine Hände zitterten, und ihm wurde klar, dass er seinen Agenten-Instinkten nachgeben musste. Sie dämpften seine unerträglich quälenden Gefühle. Er konzentrierte sich jetzt auf diese besänftigende innere Kraft und verfluchte sich dafür, dass er seiner Konditionierung so lange widerstanden hatte. Wenn er am Leben bleiben wollte, musste er völlig fokussiert sein. Und das bedeutete, er durfte nicht über seinen Vater nachdenken.

In den letzten Wochen hatte Jimmy geglaubt, genau zu wissen, wann er auf seine Konditionierung hören musste – zeitweise war er sogar in der Lage gewesen, sie zu kontrollieren. Doch sie entwickelte sich rasch weiter, und auch der menschliche Anteil in ihm veränderte sich. Die Grenze zwischen beidem war nicht mehr so scharf gezogen. Alles ging irgendwie ineinander über. Er schloss die Augen und ließ es trotz des Toilettengeruchs zu, dass seine Lungen den Atem verlangsamten. Er dachte an die vielen Male zurück, wo ihn diese rätselhafte innere Kraft gerettet hatte. Gleichzeitig versuchte er zu vergessen, dass er ohne sie niemals in all diese Schwierigkeiten geraten wäre.

Er gab sich selbst die Schuld für den katastrophalen Verlauf des Abends. Warum war er nicht gleich aus der Nachrichtenredaktion geflohen, als die Polizei sich näherte? Es war ein völlig bescheuerter Gedanke gewesen, er könnte dort Hinweise auf das Schicksal seiner Familie finden. Warum sollte eine Lokalzeitung im Süden Englands Interesse daran haben, über den Verbleib dreier unbedeutender Londoner zu berichten? Selbst wenn die Zensur es zugelassen hätte?

Nach Jimmys letzten Informationen hatten seine Mutter, seine Schwester und sein bester Freund unter Überwachung des NJ7 gestanden. Dann hatte der französische Geheimdienst ihnen einen Killer auf den Hals geschickt, weil Jimmy gegen eine Abmachung mit den Franzosen verstoßen hatte. Er hatte keine Ahnung, was danach mit ihnen geschehen war.

Jimmy war jetzt vollständig allein und isoliert. Diese besondere Kraft in seinem Inneren war im Augenblick sein einziger Verbündeter. Sie konnte den Schmerz der Einsamkeit lindern. Sie konnte seinen Vater komplett aus seinem Bewusstsein löschen. Diese besondere Kraft ist auf meiner Seite, versicherte er sich selbst. Das bin ich. Doch gleichzeitig spürte er Panik. Denn wenn diese Kraft in ihm tatsächlich er selbst war, dann war er bereits jetzt mehr Agent und Killer als Mensch.

KAPITEL 3

Mitchell rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und seine Beine zuckten unter dem Tisch. Die Blicke sämtlicher Anwesender im Raum schienen ihn zu durchbohren. Er war es nicht gewohnt, von den mächtigsten Menschen des Landes durchdringend gemustert zu werden.

Um den langen, rautenförmigen Konferenztisch saßen ein Dutzend Männer und Frauen, die in Großbritannien nach Gutdünken schalten und walten konnten. Dank der Neodemokratie mussten sie sich nicht mehr um die Meinung des britischen Volkes kümmern. Sie konnten effizient und ohne Kontrolle das Land regieren, und die Machtzentrale befand sich hier im Kabinettraum von Nummer 10 Downing Street.

Aber wie mächtig auch immer diese Menschen waren, sie standen unter der Kontrolle eines einzigen Mannes – Ian Coates. Der Premierminister saß am Kopfende des Tisches, hatte die Hemdsärmel hochgerollt und die Ellbogen aufgestützt. Direkt hinter seinem Kopf hing ein Porträtgemälde. Mitchell hatte keine Ahnung, wen es darstellte, aber er bemerkte die neue Fahne darüber – die englische Flagge, der Union Jack, mit dem zusätzlichen, genau durch die Mitte verlaufenden grünen Streifen. Dieser grüne Streifen war das Emblem des NJ7.

»Meine Damen und Herren«, verkündete Ian Coates, »dies ist Großbritanniens mächtigste Waffe.«

Mitchell brauchte eine Sekunde, bevor ihm klar wurde, dass sie immer noch über ihn redeten.

»Ein Wunderwerk der britischen Wissenschaft und der Gentechnologie.«

Der Premierminister sprach mit gedämpfter, ernster Stimme. Mitchell fragte sich, ob er absichtlich so leise redete, damit die Anwesenden ihren Hals verdrehen und aufmerksam jedem Wort lauschen mussten. Ian Coates war kein sonderlich charismatischer Sprecher. Üblicherweise reichte seine imposante körperliche Erscheinung aus – breite Schultern, dichtes braunes Haar und buschige Augenbrauen. Aber heute bemerkte Mitchell zum ersten Mal die dunklen Tränensäcke unter seinen Augen und seine bleiche, fast gelbliche Haut.

»Er ist erst vierzehn Jahre alt«, fuhr der Premier fort. »Aber Mitchells Heldentaten der letzten Zeit haben Großbritannien stärker gemacht und stehen für echten britischen Erfolg.«

Britischen Erfolg? Als Mitchell an seine Missionen zurückdachte, konnte er sich nur an echt peinliches Versagen erinnern. Er fragte sich, ob der Premierminister das damit meinte.

»Lernen wir von ihm.« Der Premierminister klopfte mit dem Stift auf den Tisch und holte tief Luft. »Ich habe ihn zu diesem Meeting eingeladen, weil er ein Vorbild für uns alle ist.«

Mitchell glaubte, einen Funken von Gefühl in Ian Coates blutunterlaufenen Augen zu sehen. Doch der war schnell wieder verflogen. Denkt der Mann gerade an seinen eigenen Sohn?, überlegte Mitchell. Offiziell durfte niemand auch nur erwähnen, dass Ian und Jimmy Coates einmal Teil derselben glücklichen Familie gewesen waren.

»Im Moment brauchen wir Menschen von Mitchells Format mehr denn je«, verkündete der Premierminister. »Uns droht eine neue Gefahr.«

Lasst mich endlich hier raus, schrie Mitchell innerlich. Er wollte wieder auf eine Mission geschickt werden oder zumindest zu dem einfachen, disziplinierten und anonymen Leben in den unterirdischen Bunkern des NJ7 zurückkehren. Helles Sonnenlicht, das durch die Vorhänge hereindrang, schien wie Gift durch seine Haut zu sickern.

Endlich wandte der Premierminister den Blick von Mitchell. »Ich habe William Lee gebeten, Sie alle über die Lage zu informieren«, verkündete er und wedelte knapp in Richtung des Mannes rechts von Mitchell.

»Danke, Herr Premierminister.« Der Mann erhob sich langsam – und der Vorgang schien gar nicht mehr aufzuhören. Er war bei Weitem der größte Mann, den die Anwesenden je gesehen hatten.

Mitchell hatte sich in den letzten Tagen langsam daran gewöhnt, aber einige Kabinettsmitglieder waren eindeutig überwältigt. William Lee ragte hoch vor ihnen auf und sein Schatten fiel über die gesamte Länge des Konferenztisches. Mitchell hätte das Gesicht des Mannes als indianisch bezeichnet, doch das erfasste die Besonderheit seiner Gesichtszüge noch nicht ganz: eine lange dünne Nase; Augen wie schwarze Oliven.

»Jimmy Coates lebt«, begann Lee. »Er hält sich in Großbritannien auf und er verbreitet Falschinformationen über die Regierung. Miss Bennett, die Akte bitte.« Er wandte sich um und blickte auf die Person links von Mitchell hinab: Die Chefin des NJ7, die furchteinflößendste und schönste Frau, der Mitchell je begegnet war. Sogar jetzt fand er kaum den Mut, sie anzuschauen.

Sie nickte Lee mit einem feinen Lächeln zu und warf dann einen braunen Aktenordner auf den Tisch. Sein Inhalt verteilte sich über die glänzende Tischplatte – Ausdrucke von Webseiten, Standfotos von Jimmys Videobotschaft, Bilder von dem Einbruch in die Zeitungsredaktion in Hailsham sowie zahlreiche andere Dokumente und Berichte.

Mitchells Blick hing weiter an Miss Bennett. Abgesehen von ihm selbst war sie die jüngste Person im Raum. Mitchell schätzte sie auf Ende dreißig, doch ihre glatte, straffe Haut und der leuchtend rote Lippenstift ließen sie noch jünger wirken. Wie üblich hatte sie den Mund zu einem wissenden Lächeln verzogen und ihr kastanienbraunes Haar war mit einer grünen Klammer straff zurückgebunden. Doch Mitchell war misstrauisch. Es kam ihm merkwürdig vor, dass sie so bereitwillig mit William Lee kooperierte. Mitchell fragte sich, ob ihre Assistenten wohl in diesem Augenblick in Lees Vergangenheit wühlten, in einem weiteren Versuch, seine Position zu untergraben.

Formal gesehen war William Lee eigentlich nur Chef der persönlichen Sicherheitsmannschaft des Premierministers, doch er hatte schnell Coates’ Vertrauen gewonnen und sich eine Position im Herzen der Macht erobert. Wenn er sprach, dann mit der Autorität eines machtbewussten Führers.

»Lügen haben lange Beine«, erklärte er. »Daher gehen wir nach Protokoll vor. Miss Bennett hat ein NJ7-Team darauf angesetzt, sämtliche Webseiten mit dieser Botschaft zu schließen, alle Posts zu blocken und so den Schaden zu begrenzen. Doch diese Lügen scheinen sich schneller zu verbreiten, als das regierungsfeindlichen Nachrichten bisher möglich war. Bei der Suche nach der ursprünglichen Sicherheitslücke sind wir auf die Redaktion einer Lokalzeitung in Hailsham gestoßen. Der Herausgeber und die Journalisten sitzen in Untersuchungshaft. Sie kooperieren mit uns.«

Mitchell schauderte. Er brauchte gar nicht erst auf die Fotos in dem Aktenordner schauen. Er wusste, was Lee mit: »Sie kooperieren mit uns«, meinte. Er hatte die getrockneten Blutspritzer auf dem Boden des NJ7-Verhörraums gesehen.

Plötzlich wurde Lee durch einen lauten Seufzer Miss Bennetts unterbrochen. Alle blickten zu ihr.

»Tut mir leid, dass ich Sie unterbreche.« An ihrem Tonfall wurde klar, dass es ihr kein bisschen leidtat. »Sollten Sie nicht erst einmal alle hier im Raum informieren, was genau die Botschaft dieses Jungen so gefährlich macht?«

Lee reagierte gelassen. »Gerne. Er behauptet, die Gründe der Regierung für einen Krieg gegen Frankreich würden auf einer Lüge basieren. Er verbreitet überall, wir wären gar nicht von den Franzosen angegriffen worden.«

»Und wurden wir?« Miss Bennetts Lächeln wurde breiter, aber ihre Augen blitzten wie Dolchklingen.

»Wurden wir was?«

»Wurden wir von den Franzosen angegriffen? Oder lagen wir falsch?«

»Ob wir falschlagen?«, schnappte Lee. »Die Beweise sind eindeutig, sie wurden ausgiebig diskutiert und abgesegnet. Sie waren doch selbst dabei und stimmten der Entscheidung des Premierministers zu.«

»Ich habe nur auf Basis der damals vorliegenden Beweise zugestimmt«, erwiderte Miss Bennett. »Falls sich jedoch herausstellen sollte, dass diese Hinweise irreführend waren und neue Indizien vorliegen …«

»Die Entscheidung, Frankreich anzugreifen, ist bereits gefallen«, unterbrach sie Lee. »Und wir werden dabei bleiben.«