Jack the Ripper – ein Fall für „Verbrechen von nebenan“ - Philipp Fleiter - E-Book
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Jack the Ripper – ein Fall für „Verbrechen von nebenan“ E-Book

Philipp Fleiter

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Beschreibung

Der SPIEGEL-Bestseller und Gewinner bei den LovelyBooks Community Awards 2023

Kannst du entschlüsseln, wer Jack the Ripper wirklich war?

Er ist der bekannteste Mörder der Welt. Doch bis heute kennt niemand seine wahre Identität. Jack the Ripper war im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts für fünf brutale Frauen-Morde verantwortlich. So glaubt zumindest die Polizei, denn gefasst wurde er nie. In einem Bekennerschreiben nannte er sich selbst »Jack the Ripper«. Wer er wirklich war? Das weiß man bis heute nicht. Er suchte seine weiblichen Opfer vermeintlich wahllos aus, tötete sie in den dunklen Gassen des Londoner East Ends und wurde zur Legende. »Verbrechen von nebenan«-Podcast-Star und Bestseller-Autor Philipp Fleiter rollt den berühmtesten True-Crime-Fall der Welt neu auf – als Kriminalgeschichte mit Miträtseln. Spannend, spielerisch und klug recherchiert. Ein True-Crime-Game-Buch für Erwachsene und nichts für schwache Nerven!

• Vom SPIEGEL-Bestsellerautor Philipp Fleiter vom Nr.1-Podcast »Verbrechen von nebenan«

• Mit Rätseln von Peter & Johannes Sich, den Masterminds und Erfindern von »MicroMacro: Crime City«

• 1 Story, 10 Rätsel mit Lösungsseiten und ein interaktives Ende, bei dem man selbst entscheiden muss

»Alle berühmten Detektive haben sich bereits die Zähne an den Ripper-Morden ausgebissen – aber jetzt hat True-Crime-Experte Philipp Fleiter den Fall mit einer ebenso spannenden wie cleveren Auflösung neu aufgerollt, dass einem die Spucke wegbleibt.«

Andreas Gruber, SPIEGEL-Bestsellerautor

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Seitenzahl: 438

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Buch

Er ist der bekannteste Mörder der Welt. Doch bis heute kennt niemand seine wahre Identität. Jack the Ripper war im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts für fünf brutale Frauenmorde verantwortlich. So glaubt zumindest die Polizei, denn gefasst wurde er nie. In einem Bekennerschreiben nannte er sich selbst »Jack the Ripper«. Wer er wirklich war? Das weiß man bis heute nicht. Er suchte seine weiblichen Opfer vermeintlich wahllos aus, tötete sie in den dunklen Gassen des Londoner East Ends und wurde zur düsteren Legende. Verbrechen von nebenan-Podcast-Star und Bestseller-Autor Philipp Fleiter rollt den berühmtesten True-Crime-Fall der Welt neu auf – als Kriminalgeschichte zum Miträtseln. Spannend, spielerisch und klug recherchiert. Ein True-Crime-Rätselbuch für Erwachsene und nichts für schwache Nerven!

Autoren

Philipp Fleiter wurde in Ostwestfalen geboren und wollte als Kind am liebsten Wetten, dass ..? moderieren. Stattdessen studierte er Pädagogik und Psychologie und arbeitete nach seinem Abschluss als Radiojournalist und Moderator. 2019 startete er den Podcast Verbrechen von nebenan, der schnell zu einem der erfolgreichsten deutschen Podcasts geworden ist. Bei SKYmoderierte Fleiter eine eigene Fernseh-Adaption des Podcasts und ging außerdem mit dem Format auf Live-Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Als Experte für Kriminalität ist er ein gern gesehener Gast im TV und in anderen Podcasts. Fleiter lebt in Gütersloh.

Johannes Sich ist Illustrator und Spieleentwickler. Geboren in Köln und aufgewachsen zwischen Rhein und Ruhr, entdeckte er früh seine Leidenschaft fürs Zeichnen, für Geschichten, Spiele, Rätsel und das Kaffeetrinken. 2021 erschien der erste Teil seiner Krimispiel-Serie MicroMacro: Crime City, der den Titel Spiel des Jahres sowie zahlreiche weitere internationale Auszeichnungen erhielt. Seitdem ist er fast ausschließlich damit beschäftigt, Kriminalfälle zu entwickeln, Kaffee zu trinken und kriminelle Charaktere zu zeichnen.

Peter Sich kennt sich aus mit Rätseln und guten Geschichten, immerhin hat er u. a. Philosophie und Literaturwissenschaften studiert. Anschließend hat er an verschiedenen Unis unterrichtet, als Lektor gearbeitet und war als Reporter für die Süddeutsche Zeitung unterwegs. Mittlerweile kümmert er sich um Kommunikation und PR und sorgt bei der Brettspielreihe MicroMacro: Crime City dafür, dass nicht nur die Stories, sondern auch die Texte stimmen.

Außerdem von Philipp Fleiter im Programm:

Verbrechen von nebenan

auch als E-Book erhältlich

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe Oktober 2023

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Carla Felgentreff

Karte: © Peter Palm

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

JE ∙ cb

ISBN 978-3-641-28575-3V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Personen

Vorwort

Kapitel 1

Rätsel 1: Der Mord in der Sackgasse

Kapitel 2

Rätsel 2: Durchschaut

Kapitel 3

Rätsel 3: Der Schlüssel zum Hof

Kapitel 4

Rätsel 4: Der geheimnisvolle Treffpunkt

Kapitel 5

Rätsel 5: Entführt

Kapitel 6

Rätsel 6: Die Gästeliste

Kapitel 7

Rätsel 7: Das Zahlenschloss

Kapitel 8

Rätsel 8: Kauderwelsch

Kapitel 9

Rätsel 9: Die Kutschfahrt

Kapitel 10

Rätsel 10: Der letzte Brief des Rippers

Wer ist Jack?

Lösungen

Danksagung

Personen

Mary Ann »Polly« Nichols, ehemalige Haushaltshilfe ohne festen Job

Dick, Nachtportier des Willmott’s

Emily Holland, Freundin von Polly

Charlotte Frances Foster, Reporterin der New York Tribune

Berta Paddington, Wirtin von Charlotte

Thommie, Straßenjunge, Informant von Charlotte

Ken & Paddy O’Ryan, Droschkenkutscher

Frederick Abberline, Inspector bei Scotland Yard

Simon Green und Brady Baker, Constables

Pavel, Paul und Pinky, Stadtstreicher

Mary Jane Kelly, ehemalige Prostituierte

Joseph Barnett, Freund von Mary Jane Kelly

Zahnlose Miranda, Inhaberin des Red Lion

Eliza Ann Chapman, Blumenverkäuferin

William Nichols, Exmann von Mary Ann Nichols

Isabelle Beaufort, Inhaberin des Maison D’Amour

Tim Donovan, Wächter des Wohnheims Crossingham’s

Amelia Richardson, Vermieterin des Hauses 29 Hanbury Street

PrinzAlbert Victor Christian Edward, Enkel von Queen Victoria

John Netley, Kutscher des Prinzen

Dora Ferguson, Zimmermädchen

Charles Moore, Inhaber der Central News Agency

Henry Lamb, Constable

Minerva Wilkins, Wirtin der Pension in der Berner Street

Israel Schwartz, Zeuge

Catherine Eddowes, verkauft Schmuck auf der Straße

Elizabeth Stride, Putzkraft ohne festen Job

Alfred Long, Constable

Aaron Kosminski, ehemaliger Barbier, gilt als geisteskrank

Arthur Wilson, Mitglied der Bürgerwehr

George Lusk, Gründer der Bürgerwehr

Hank Harding, arbeitsloser Ganove

Jakob Ludwig, arbeitsloser deutscher Auswanderer, Spitzname »Messer-Jake«

Dr. John Williams, Geburtsmediziner

Lizzie Williams, Ehefrau von Dr. Williams

John McCarthy, Vermieter von Mary Jane Kelly

Matilda Kosminski, Schwester von Aaron Kosminski

Polydore de Keyser, Bürgermeister von London

Sir James Whitehead, de Keysers Nachfolger im Amt

Vorwort

Ein Buch ist eine Reise mit unbestimmtem Ausgang, hat irgendein schlauer Mensch mal gesagt. Für dieses Buch stimmt das definitiv, wir haben gemeinsam eine weite Reise hinter uns – ziemlich genau 700 Kilometer nach Westen und knapp 150 Jahre in die Vergangenheit. Wahrscheinlich habe ich die letzten zweieinhalb Jahre mehr Zeit in London im Jahr 1888 verbracht als in meiner Lieblingsbar. Und eigentlich fängt die Geschichte dieses Projektes auch in einer Bar an: Im August 2020 treffe ich meinen Lektor Johannes zum allerersten Mal in einer Hipster-Kneipe in der Nähe des Sendlinger Tors in München. Der Vertrag für mein erstes Buch ist da noch gar nicht unterschrieben, aber ein kluger Verlagsmensch fragt seinen Autor natürlich, welches Buch er gerne als nächstes schreiben würde.

»Ein True-Crime-Rätselbuch«, antworte ich ihm in meinem Aperol-getriebenen Leichtsinn, ohne zu zögern. Viele andere Verlagsmenschen würden wahrscheinlich sowas sagen wie »Aha« und dann schnell die Rechnung bestellen. Aber überraschenderweise findet Johannes die Idee genauso gut wie ich. Und bevor mein erstes Buch überhaupt erschienen ist, habe ich auch schon einen Vertrag für das nächste unterschrieben, also für genau das Buch, das ihr gerade in der Hand haltet. Spoiler: Ganz so einfach, wie ich mir das Ganze nach drei bis vier Aperol in der Münchner Spätsommersonne vorgestellt habe, war es dann doch nicht. Woher sollten die Rätsel kommen? Wie baut man die am besten in die Geschichte ein, und was ist mit den Leuten, die vielleicht gar nicht rätseln und nur lesen wollen? Und überhaupt: Um welchen Fall soll es gehen?

Die Frage nach dem richtigen Kriminalfall klärt sich zum Glück schnell: Jack the Ripper ist wohl der bekannteste True-Crime-Fall der Welt und fasziniert die Menschen (mich eingeschlossen) bis heute. Ziemlich schnell ist auch die Frage mit den Rätseln geklärt, als wir mit den Brüdern Peter und Johannes Sich zwei echte Experten mit ins Boot holen. Und doch stellt sich schnell heraus, dass ich dieses Buch eben doch nicht so einfach schreiben kann, wie mein erstes. Ich brauche einen Rahmen für den Fall, eine spannende Handlung, die die historischen Ereignisse miteinander verknüpft und aus den Fakten eine Geschichte macht. Zum allerersten Mal in meinem Leben (mal abgesehen von meinen selbst aufgenommenen Kassetten als Kind) muss ich mir also Charaktere ausdenken und sie mit Leben füllen. Gleichzeitig müssen die Opfer, die Tatorte und auch das Leben in London zu dieser Zeit möglichst historisch korrekt recherchiert sein – basierend auf realen Ereignissen eben. Habe ich mich in den letzten zweieinhalb Jahren mehr als einmal gefragt, ob das ganze Projekt eigentlich eine gute Idee war? Definitiv. Bin ich trotzdem (oder gerade deshalb?) unglaublich stolz und glücklich über dieses Buch? Absolut.

Ihr könnt auf den nächsten Seiten also einiges über die Ripper-Morde lernen oder es einfach lesen wie einen True-Crime-Roman und Charlotte Foster bei ihren Ermittlungen folgen. Aber mehr Spaß macht es definitiv mit den insgesamt zehn Rätseln, die im gesamten Buch verteilt sind. Noch nie in meinem Leben habe ich so lange an einem einzelnen Projekt gearbeitet wie an diesem hier. Ich hoffe, ein bisschen merkt man das beim Lesen.

Viel Spaß dabei!

Kapitel 1

Freitag, der 31. August 1888 – Polly

Als Polly Nichols aus dem lauten, verrauchten Pub in die Londoner Nacht trat, hatte sie keine Ahnung, dass sie in wenigen Stunden tot sein würde. Die Tür des »Frying Pan« war noch nicht mal hinter ihr zugefallen, da traf sie der eiskalte Wind schon wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Alles drehte sich, und Polly musste sich an die Mauer lehnen. »Scheiße, das waren eindeutig ein paar Gin zu viel«, murmelte sie.

Die Uhr im weißen Kirchturm der Christ Church hatte gerade Mitternacht geschlagen, und nur noch wenige dunkle Gestalten huschten an diesem sehr frühen Freitagmorgen durch die schäbigen Gassen. Mit zitternden Fingern wühlte sich Polly durch die Taschen ihres Rocks und ihrer Weste und fand ein weißes Taschentuch und einen Kamm, aber nicht einen einzigen Pence. Sie hatte ihr letztes Geld auf der klebrigen Theke des Wirtshauses gelassen und keine Ahnung, wo sie heute Nacht ein warmes Bett herbekommen sollte.

Polly drückte sich von der Mauer weg und taumelte auf dem Kopfsteinpflaster in Richtung Thrawl Street, zum Wohnheim Willmott’s. Sie kannte den Weg und hatte schon einige Nächte in dem Heim verbracht. Die kleinen, stickigen Kammern hier waren vielleicht nicht die saubersten der Stadt, aber zumindest musste sie sich das Zimmer nicht mit irgendwelchen fremden Männern teilen, denn das Willmott’s war ein reines Frauenwohnheim. Für ein paar Pence bekam man hier einen Platz auf einer fleckigen Stroh-Matratze in einem Stockbett und eine dünne, kratzige Decke. Alles war besser, als noch eine Nacht hier draußen im eiskalten Wind zu verbringen, der durch ihr braunes Kleid pfiff und sie trotz zweier Unterröcke übereinander zittern ließ.

Als Polly beim Willmott’s klopfte, musste sie sich an der Wand abstützen. Die Tür öffnete sich quietschend, und Dick, der Nachtportier des Wohnheims, streckte seinen Glatzkopf heraus und musterte die Besucherin. Unter seinem buschigen Schnurrbart zogen sich seine Mundwinkel nach unten. »Du bist doch schon wieder besoffen, Polly! Hast du dieses Mal wenigstens Geld dabei?«

Polly wühlte ein weiteres Mal in ihren Taschen, auch wenn sie genau wusste, dass sie dort keine einzige Münze finden würde. Ihr Gesicht wurde ganz heiß – was wollte dieser Typ eigentlich von ihr? Schließlich war sie hier so was wie ein Stammgast und hatte bisher immer pünktlich gezahlt. Genau das wollte sie dem massigen Portier gerade erklären, aber irgendwie klebten die Worte in ihrem Mund fest, und sie bekam nur ein »Hab gerade nix dabei« heraus.

Sofort gingen Dicks Mundwinkel noch weiter nach unten, und in seinen Blick mischte sich eine Spur von Verachtung. »Dann verpiss dich und such dir einen anderen Platz zum Pennen!«

Was glaubte der eigentlich, wer er war? Fieberhaft suchte Polly nach einer schlagfertigen Antwort, aber ihre Gedanken zogen sich wie Sirup, und aus ihrem Mund kam ein lautes, kreischendes Lachen. »Ich bekomme die Kohle für die Nacht schon noch zusammen, verlass dich drauf!« Dann straffte sie die Schultern und kam dabei fast wieder ins Wanken, aber das konnte Dick nicht mehr sehen, er hatte ihr die Tür des Willmott’s schon vor der Nase zugeknallt.

»Arschloch«, zischte Polly und stolperte auf die Straße zurück. Erst mal an die Mauer gelehnt durchatmen. Irgendwie musste sie jemanden finden, der ihr ein paar Pence für ein Bett leihen konnte. Wenn es nur nicht so beschissen kalt wäre heute Nacht. So ein kleines Schlückchen Gin könnte schon helfen, ihren dünnen Körper wieder warm zu bekommen. Bei dem Gedanken an einen guten Schluck musste Polly sogar ein bisschen lächeln, auch wenn das hier in der Dunkelheit niemand sehen konnte. Ein bisschen Kohle zusammenschnorren, dann einen guten Schluck oder vielleicht zwei und danach ein trockenes Plätzchen irgendwo in einem Hauseingang – das war es, was sie jetzt brauchte. Trotzig schob Polly die schwarze, mit Samt besetzte Haube auf ihrem Kopf zurecht, auf die sie so stolz war.

Es war gar nicht so lange her, da war sie auch eine von den feinen Damen mit den schicken Hauben gewesen, die sie jetzt immer so mitleidig von der Seite anschauten. Vor einem Vierteljahr hatte das Ehepaar Cowdry sie aus dem Armenhaus in ihr Häuschen in Wandsworth, im Süden von London, geholt. Als Haushaltshilfe. Ein freundliches älteres Paar, wenn auch ein bisschen zu christlich für Pollys Geschmack. Lady Sarah Cowdry hatte ihr ein Zimmer unter dem Dach gegeben und ihr neue Kleidung besorgt. Es war eine gute Stelle gewesen, denn Polly hatte nichts weiter tun müssen, als das Haus sauber zu halten und den Herrschaften drei Mahlzeiten am Tag zu kochen. Am schönsten waren die Wochenenden gewesen, wenn die Cowdrys Freunde aus ihrer Gemeinde besuchten. Dann hatte Polly das hübsche kleine Haus ganz für sich gehabt und es sich auf einer Decke im gepflegten Garten der Cowdrys bequem gemacht, als wäre sie selbst eine feine Dame. Aber die Abende waren schlimm gewesen. Sobald die Sonne in Wandsworth unterging, wurde es totenstill im Haus. Die Herrschaften gingen früh zu Bett, und Polly hatte die Abende alleine auf ihrem Zimmer verbracht. Diese furchtbare Stille hatte sie fertig gemacht: keine Musik, kein Stimmengewirr von der Straße, kein lautes Lachen aus irgendeiner Bar. Wenn sie sich wenigstens ein Schlückchen Schnaps hätte genehmigen können, aber für Baptisten wie das Ehepaar Cowdry war Alkohol Teufelszeug. Das war kein Leben für eine Frau von 43 Jahren wie Mary Ann »Polly« Nichols, da hätte sie sich ja direkt begraben lassen können. Also packte Polly eines Nachts ihre gesamte Kleidung, ihre Ausrüstung und ein paar andere Kleinigkeiten zusammen, für die sie bei einer der Pfandleihen im East End bestimmt ein hübsches Sümmchen bekommen würde.

Drei Monate später war von dem Geld, das Polly für die Klamotten bekommen hatte, nichts mehr übrig – nur die hübsche kleine Haube mit dem schwarzen Samtbesatz erinnerte sie noch ein wenig an ihren letzten Versuch, ein »anständiges Leben« zu leben.

Während Polly weiter durch die Straßen irrte, huschten ihr mehr Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Irgendwann hatte sie mal eine Familie gehabt, einen Ehemann und fünf Kinder. Wie alt war ihr jüngster Sohn Henry jetzt, neun oder zehn? Sie schob den Gedanken weg. Wäre ihr Mann nicht dauernd fremdgegangen, dann würden sie wahrscheinlich immer noch zusammen in der kleinen Wohnung in der Blackfriars Road wohnen. Über eine Nacht mit einer anderen hätte sie ja noch hinwegsehen können, aber dass William wochenlang mit ihrer Hebamme ins Bett gestiegen war, während sie sich von der Geburt ihrer jüngsten Tochter Eliza erholte? Das war zu viel gewesen. Polly war abgehauen und hatte William mit den Kindern sitzengelassen.

Seit acht Jahren schlug sie sich jetzt schon alleine durch, auf den Straßen hier im East End, und irgendwie hatte sie es noch immer geschafft, das Geld für ein Zimmer zusammenzubekommen. Polly Nichols zog den Kragen ihres Kleides noch ein Stückchen nach oben und setzte sich in Bewegung. An der Whitechapel High Street musste sie eine kurze Pause einlegen, in ihrem Kopf drehte sich immer noch alles. Polly stolperte, ihre Hände ruderten durch die Luft und suchten nach etwas zum Festhalten. Verdammt, war da nicht gerade noch eine Mauer gewesen?

Eine Sekunde später lag sie auf dem kalten Pflaster. Mühsam versuchte sie, wieder hochzukommen, und fiel ein weiteres Mal, dieses Mal in einen Stapel Holzkisten, die ein Gemüsehändler wohl vor seinem Laden vergessen hatte.

Plötzlich hörte sie eine Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam: »Polly? Bist du das?«

Und dann stand da auch schon Emily vor ihr und schaute sie mit gerunzelter Stirn an. Polly und Emily hatten sich im Willmott’s schon ein paarmal ein Doppelbett geteilt, um Geld zu sparen. Eine nette junge Frau, aber für Pollys Geschmack eindeutig zu neugierig.

»Was machst du denn ganz allein hier draußen?«, war direkt ihre erste Frage, dabei wollte Polly doch nur ihre Ruhe und einen guten Schluck Gin.

Aber Emily plapperte einfach weiter: »Komm, ich helf dir, und dann gehen wir zusammen ins Willmott’s du kannst ja nicht hier auf der Straße pennen.«

»Keine Kohle«, murmelte Polly, »kannst du mir nicht was leihen?«

Emily schüttelte den Kopf. »Hab selber gerade genug für mein eigenes Bett, tut mir leid, Polly.«

»Dann lass mich in Ruhe!«, fuhr Polly sie an, und es klang härter, als sie es eigentlich gemeint hatte.

Nach kurzem Zögern drehte Emily sich kopfschüttelnd um und ließ Polly alleine.

Eine Stunde später wankte Polly durch eine heruntergekommene enge Straße, rechts von ihr leer stehende Lagerhäuser, links flache, zweistöckige Mietsbaracken aus Backstein. Mit den Händen tastete sie nach einem Mauervorsprung oder einem Hauseingang, nach irgendeinem Platz, an dem der Wind nicht so eisig pfiff. Das Klackern der metallverstärkten Absätze ihrer Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster war das einzige Geräusch in der dunklen Gasse. Ihre Finger ertasteten ein Tor, das ein bisschen versetzt vom Gehweg lag – endlich. Sie rüttelte an dem Holzgriff, aber das Tor war fest verschlossen. Polly brauchte eine Pause, nur ganz kurz, sie lief schließlich schon die halbe Nacht durch die Stadt. Kaum hatte sie sich an das Tor gelehnt und auf den Boden rutschen lassen, fielen ihr auch schon die Augen zu.

Polly Nichols erwachte, als sich eine kalte Hand um ihren Hals legte. Sie riss die Augen auf und sah ein Gesicht, eigentlich mehr einen Schatten unter einem breitkrempigen Hut. Sie wollte schreien, doch die andere Hand der dunklen Gestalt drückte ihr den Mund und die Nase zu. Das Adrenalin fegte die Müdigkeit aus ihrem Blut, und ihre Gedanken wurden ganz klar: Luft, sie brauchte unbedingt Luft. Aber die beiden Hände umklammerten ihre Kehle und ihr Gesicht wie ein Schraubstock. Alles drehte sich, und dieses Mal war nicht der Alkohol schuld. Vor Pollys Augen begannen kleine Lichter zu tanzen, dann wurde alles schwarz. Dass die Klinge durch die Haut an ihrem Hals schnitt, ihre Luft- und Speiseröhre zerfetzte und bis auf ihre Halswirbel drang, bemerkte sie nicht mehr. Als ihr zierlicher Körper zurück auf das kalte Pflaster fiel, war Polly Nichols bereits tot.

Freitag, der 31. August 1888 – Charlotte

Ein Klopfen. Erst zögernd, dann immer lauter und schneller. Charlotte Foster wühlte sich durch ihr Bettzeug aus ihrem Traum zurück in die Wirklichkeit.

»Verdammt, wer klopft denn da mitten in der Nacht?« Sie schob sich aus dem Bett, vorbei an ihrem Schreibtisch, der unter Bergen von Notizen und Büchern kaum noch zu sehen war, und stieß dabei mit dem Fuß eine halb volle Kanne Kaffee um, deren Inhalt sich schwarz und klebrig auf dem Teppich verteilte. Das Klopfen wurde noch lauter.

»Ich komme ja schon!« Wütend riss Charlotte die Tür auf und blickte direkt in ein verkniffenes Gesicht.

Vor ihr stand schnaufend ihre Hauswirtin Berta Paddington, die den Türrahmen fast komplett ausfüllte und sie mit großen Augen über noch größeren Tränensäcken entsetzt anstarrte: »Sie haben ja nur ein Nachthemd an!«

»Das könnte daran liegen, dass es mitten in der Nacht ist.« Mühsam versuchte Charlotte, wenigstens ein bisschen Ordnung in ihre braunen Locken zu bringen. »Ich hoffe, Sie haben mich nicht geweckt, um mit mir über meine Nachtwäsche zu sprechen.«

Ihre Hauswirtin nahm sofort Haltung an. »Natürlich nicht! Draußen vor der Haustür steht so ein Straßenbengel und verlangt nach Ihnen. Ich habe schon versucht, ihn wegzuscheuchen, aber er ließ sich nicht abwimmeln.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?« Mit einem schnellen Griff angelte Charlotte nach ihrem Morgenmantel und fegte dabei den überquellenden Aschenbecher von ihrem Nachttisch. Sie nahm immer gleich mehrere Treppenstufen auf einmal und stand Sekunden später vor dem kleinen Thommie, einem der vielen Straßenkinder, die jede Nacht unter den überdachten Marktständen am Covent Garden schliefen. Charlotte hatte keine Ahnung, wie alt der Junge sein mochte. Sein kleiner dünner Körper ließ sie ihn auf höchstens zwölf schätzen, aber die großen grauen Augen in seinem schmutzigen Gesicht schienen zu einem viel älteren Menschen zu gehören.

»Sorry, Miss Charlotte, dass ich Sie so früh wecken tu.« Thommie versuchte sich an einem entschuldigenden Grinsen, das einige fehlende Zähne in seinem Mund zeigte. »Aber Sie hatten mir ja gesagt gehabt, dass ich Bescheid geben soll, wenn es für Sie was zu schreiben gibt.«

Nach etwas mehr als einem Jahr als Reporterin in der Hauptstadt des Britischen Empire hatte Charlotte sich eine ganze Reihe von Informanten organisiert, die sie wie Thommie für ein paar Pence auf dem Laufenden hielten, falls etwas Spannendes passierte. Und es musste schon etwas sehr Spannendes passiert sein, wenn der kleine Thommie mitten in der Nacht an ihre Tür klopfte.

»Drüben in Whitechapel habense eine Leiche gefunden, das ham Sie noch nie gesehen, Miss Charlotte! Aufgeschlitzt wie ein Schwein!«

Die Müdigkeit in Charlottes Kopf war augenblicklich wie weggeblasen. »Kannst du mich hinführen?«

Thommie nickte eifrig mit dem Kopf.

»Sehr gut! Mrs Paddington, könnten Sie bitte Ken und Paddy Bescheid sagen, dass ich eine Droschke brauche? Ich ziehe mir eben etwas an, und dann können wir los.«

Reporterinnen im 19. Jahrhundert

Der Journalismus ist im 19. Jahrhundert wie viele andere Berufsfelder sehr von Männern dominiert, aber eben nicht komplett: Eine der bekanntesten Journalistinnen dieser Zeit ist Elizabeth Jane Cochran (1864–1922), besser bekannt unter ihrem Pseudonym Nellie Bly. Cochran schreibt unter anderem für die New York World und gilt als eine Pionierin des investigativen Journalismus. 1889 geht sie für die Zeitung als eine der ersten Frauen überhaupt auf Weltreise und berichtet aus fernen Ländern. Sie ist das reale Vorbild für Charlotte Foster.

Freitag, der 31. August 1888 – Abberline

Frederick Abberline hatte schon bessere Freitage erlebt. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitete der Inspector bei der Metropolitan Police, der Dreck der Stadt zwischen Whitechapel und Spitalfields war sein Alltag. Doch an diesem Tag spürte der 45-Jährige in jedem Knochen, dass die unzähligen viel zu kurzen Nächte seiner Karriere ihren Tribut forderten. Um drei Uhr früh hatte ihn die Nachricht aus dem warmen Ehebett gerissen, dass hier in Whitechapel wieder ein Mord geschehen war. Knapp eine Stunde später stand Abberline in einer ebenso schmalen wie verdreckten Sackgasse und zupfte an seiner Weste, die ihm in den letzten Monaten etwas zu eng geworden war. Ihm gegenüber stand ein junger Constable mit einem sommersprossigen Gesicht und abstehenden Ohren, der sich als Simon Green vorgestellt hatte und ganz außer Atem war.

»Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Sir! Wir haben hier einen Mord unter Stadtstreichern, aber zum Glück konnten wir die drei Verdächtigen noch am Tatort festsetzen, sodass wir nur noch herausfinden müssen, wer von ihnen der Täter ist!«

Abberline rieb sich seinen gepflegten dunklen Bart. Jetzt wurde er schon für einen ermordeten Penner mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen. Er streckte seinen schmerzenden Rücken und sagte: »Jetzt mal ganz ruhig, Constable Green. Erzählen Sie bitte von Anfang an.«

Der junge Polizist lief rot an, bemühte sich dann aber sichtlich, alles ruhig und in der richtigen Reihenfolge zu schildern: »Also, ich war mit meinem Kollegen Brady Baker hier in der Gegend auf Streife, als wir aus dieser kleinen Gasse einen Schrei gehört haben. Wir sind dann zügig zum Eingang der Gasse hinüber gelaufen und konnten gerade noch verhindern, dass diese drei hier sich vom Tatort entfernen.«

Mit diesen Worten wies der sommersprossige Polizist auf drei Männer in zerlumpter Kleidung und mit vor Dreck starrenden Gesichtern, ganz offensichtlich ebenfalls Stadtstreicher.

»Das heißt, die Gasse ist leer, und Sie können ausschließen, dass der Täter sich in eine andere Richtung entfernt hat?«, hakte Abberline nach.

»Ja Sir, diese Sackgasse endet an einer Hauswand, und außer dem Opfer ist da niemand mehr. Brady und ich sind sofort hergelaufen, als wir den Schrei gehört haben, der Mörder hatte keine Chance zu fliehen. Einer der drei muss unser Opfer dahinten also getötet haben …«

»Das würde ich mir gerne selbst ansehen«, unterbrach Abberline den jungen Polizisten und machte sich mit einer Gaslaterne in der Hand auf den Weg zum Ende der Sackgasse. Zwischen Bergen von Müll, alten Fässern und halb zerbrochenen Kisten lag das Opfer. Der ungewöhnlich große Mann war durch einen heftigen Schlag auf den Kopf getötet worden, das erkannte der Inspector auf den ersten Blick. Die Wunde an der Stirn war nicht zu übersehen, das Blut war über das ganze Gesicht gelaufen und hatte den ohnehin schon verfilzten Vollbart des Mannes weiter verklebt. Offenbar hatte das Opfer auf einer großen Kiste gesessen, als ihn der Schlag von vorne traf. Durch die Wucht des Angriffs war sein Körper nach hinten gekippt, und seine großen Füße, die in löchrigen braunen Socken steckten, ragten über der Kiste in die Luft. Direkt neben der Leiche lag eine rostige Eisenstange, an der Blut und Reste einer grauen Masse klebten. Nach der Tatwaffe musste Abberline also nicht lange suchen.

»Ganz klarer Fall, Herr Inspector«, bemerkte Simon Green, der neben ihm aufgetaucht war. »Wir haben es hier mit einem Raubmord zu tun! Dem Opfer wurden die Schuhe geklaut. Unglaublich, wozu diese Leute fähig sind, eine Schande ist das!«

»Ganz so klar ist der Fall nicht, fürchte ich«, erwiderte der Inspector. »Oder haben Sie bei einem der drei Verdächtigen da drüben die Schuhe unseres Opfers gefunden?«

»Nein, Sir«, antworte der Constable mit den Segelohren deutlich leiser.

Nachdenklich schaute Abberline die ungepflasterte Gasse hinunter. Es hatte kurz vorher geregnet, und der feuchte Boden war mit gut sichtbaren Fußspuren übersät.

»Geben Sie mir eine Viertelstunde«, sagte er zu dem jungen Kollegen, »in der Zwischenzeit könnten Sie und Ihr Kollege Brady mir einen Gefallen tun und die Schuhe der drei Verdächtigen vermessen. Ich will ihre Schuhgrößen!«

Dann zog Inspector Abberline ein Notizbuch aus der Tasche seines schweren Mantels und begann, jede Fußspur auf dem Boden der Gasse abzugehen. Zu seinem Glück war es nicht besonders schwer, die Spuren der schweren Polizeistiefel von den Abdrücken der löchrigen Sohlen der Stadtstreicher zu unterscheiden.

Nach 15 Minuten hatte der Inspector eine schematische Skizze der Spuren angefertigt. Drei Fußspuren führten zum Opfer hin und auch wieder zurück zum Eingang der Gasse, wo die drei Verdächtigen von den Polizisten aufgegriffen worden waren. Es gab eine weitere Spur, die nur zum Opfer hin führte, aber nicht wieder weg. Diese Spur war von Schuhen der Größe 10, wie Abberline mit dem Maßband herausgefunden hatte. Die anderen Abdrücke passten eindeutig zu den Schuhgrößen der drei Verdächtigen, die die beiden Constables mittlerweile ebenfalls vermessen hatten.

Als Nächstes nahm Abberline sich die Aussagen der drei Stadtstreicher vor. Alle drei hatten, wie auch das Opfer, die ruhige Sackgasse als Unterschlupf für die Nacht genutzt. Jeder von ihnen gab zu, kurz zuvor auch im hinteren Teil der Sackgasse gewesen zu sein, wo sich das Opfer befand. Doch alle bestritten, den Mann getötet zu haben.

Pavel (Schuhgröße 5): »Ich war kurz bei ihm, um ihn nach etwas Tabak anzuschnorren. Hat mir aber nichts gegeben. Da bin ich zurück zu meinen Sachen, und kurze Zeit später hörte ich den Schrei. Natürlich wollte ich schnell abhauen, aber da kamen auch schon die Polizisten angerannt.«

Paul (Schuhgröße 6,5): »Ich bin mal hingegangen, um ihn zu fragen, wie es ihm so geht. Aber er hat nur gegrunzt, dass ich mich verziehen solle. Also bin ich zurück zu meinem Platz am Eingang der Gasse. Ein paar Minuten später hörte ich ihn schreien, aber als ich gerade meine Sachen gepackt hatte, um mich zu verziehen, stand da schon die Polizei.«

Pinky (Schuhgröße 11): »Ich bin zum Ende der Gasse, um zu schauen, ob da vielleicht noch ein trockenes Plätzchen wäre. Aber der Kerl war nicht gerade freundlich, also bin ich wieder zurück zu meiner Decke. Wollte mir gerade ein Schlückchen aus meiner Flasche genehmigen, da hörte ich seinen Schrei. Ich hab ein bisschen gebraucht, bis ich aufgestanden war und wollte gerade gehen, da kamen diese beiden Polizisten um die Ecke.«

Abberline hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah nachdenklich in die Gasse. Während Constable Baker bei den drei Verdächtigen geblieben war, wandte sich der Inspector an seinen Kollegen mit den Segelohren: »Constable Green, wenn das hier wirklich ein Raubmord sein soll, dann fehlt uns die Beute. Schauen Sie doch mal bitte da hinten bei der Leiche zwischen den Kisten und Fässern nach, irgendwo muss unser verschwundenes Paar Schuhe ja stecken!«

Der junge Polizist nickte und machte sich sofort auf die Suche. Keine zwei Minuten später hielt er triumphierend ein Paar ziemlich zerschlissener Männerstiefel in die Höhe. »Sie hatten recht, Sir! Die hier mit Größe 10 lagen hinter einer Kiste, direkt neben dem Opfer. Hätte ich nicht danach gesucht, hätte ich sie wahrscheinlich nie entdeckt. Aber wie sollen wir jetzt damit den Mörder finden?«

Abberline konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Den haben wir schon gefunden.«

Gerade als Abberline dazu ansetzte, den Constables Green und Baker seine Lösung des Falles zu erklären, kam ein junger Sergeant angelaufen und blieb direkt vor ihnen stehen. Schweißtropfen liefen über sein hochrotes Gesicht, und sein blondes Haar klebte an seiner Stirn. Offenbar war er ziemlich in Eile.

»Inspector Abberline? Mir wurde gesagt, dass ich Sie hier finde. Wir brauchen Sie in der Buck’s Row. Ein Kollege hat dort eine tote Frau gefunden. Sieht echt übel aus. Sie sollen sofort kommen und sich das ganze anschauen.«

Auch das noch, dachte Abberline, ließ sich aber nichts anmerken. Hastig verabschiedete er sich von den beiden Constables: »Baker, Green, ich werde woanders gebraucht. In der Zwischenzeit nehmen Sie bitte unsere drei Stadtstreicher mit auf das nächste Polizeirevier. Wenn Sie sich meine Notizen, den Tatort und unsere drei Verdächtigen anschauen, haben Sie alles, um herauszufinden, welcher von ihnen der Mörder ist. Vielleicht kommen Sie selbst drauf, ansonsten verrate ich Ihnen meine Theorie gerne später beim Yard.«

Damit tippte sich der Inspector an die Mütze und folgte dem verschwitzten Sergeant zum nächsten Tatort. Wenn er gewusst hätte, was dort und in den nächsten Wochen auf ihn wartete, hätte sich Abberline wahrscheinlich mehr Zeit gelassen.

Scotland Yard

Der Name Scotland Yard hat einen historischen Hintergrund: An der Stelle, wo sich zum Zeitpunkt dieser Geschichte das Hauptquartier der Metropolitan Police befindet, soll früher die Londoner Residenz des schottischen Königs und seiner Botschafter gestanden haben. Schnell wurde der Straßenname Scotland Yard zum Spitznamen der dort ansässigen Polizeistation. Auch wenn sich die Behörde seit 2016 am Victoria Embankment befindet, ist der Name geblieben.

Rätsel 1:Der Mord in der Sackgasse

Welcher der drei Stadtstreicher hat den Mord begangen?

Die Lösung findest du hier.

Freitag, der 31. August 1888 – Charlotte

Als Charlotte und der kleine Thommie in Whitechapel ankamen, hatte die Uhr der Christ Church gerade fünf Mal geschlagen. Langsam begann der Morgen in den Straßen und Gassen des East End. Die Straßenhändler sortierten ihre Waren, die Bettler stritten sich um die besten Plätze für den Tag, und die Arbeiter machten sich auf den Weg zu ihren Zwölf-Stunden-Schichten in den Fabriken.

»Hier habense die Leiche gefunden«, sagte Thommie und zog Charlotte in die Buck’s Row, eine schmale Gasse, die noch heruntergekommener wirkte als der Rest des Viertels.

Am Ende der Gasse sah Charlotte ein paar uniformierte Polizisten stehen, die versuchten, neugierige Nachbarn vom Tatort fernzuhalten, ansonsten war sie leer. Thommie deutete auf ein Holztor, und die beiden schlichen so leise und unauffällig wie möglich hinüber, ohne den Blick von den wild diskutierenden Polizisten abzuwenden, die etwa einhundert Yards entfernt mit den Rücken zu ihnen standen. Selbst auf dem schmutzigen Bürgersteig war der etwa sechs Inches große Blutfleck gut zu erkennen. Hier musste die Leiche gelegen haben.

Britische Längenmaße

Mit dem »Weights and Measures Act« wird in England 1824 das über Jahrhunderte gewachsene System verschiedener Maßeinheiten erstmals komplett gesetzlich reguliert. Die wichtigsten Längeneinheiten sind bis heute Inch (2,54 cm), Foot (30,48 cm), Yard (0,914 m) und Mile (1,609 km).

»Thommie, wo ist hier die nächste Leichenhalle?« Charlotte musste unbedingt einen Blick auf die Tote werfen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Wahrscheinlich hatten die Polizisten die Leiche weggebracht, um sie in Ruhe und geschützt vor neugierigen Blicken untersuchen zu lassen.

Thommie musste nicht lange überlegen, und Charlotte wunderte sich ein weiteres Mal, warum der Junge in diesem Alter schon solche Dinge wusste: »In der Old Montague Street, das ist gut zehn Minuten zu Fuß.«

»Dann sollten wir uns beeilen, mit etwas Glück ist der Arzt noch nicht da.«

Kurze Zeit später standen die beiden vor einem dunklen Gebäude, das völlig ausgestorben wirkte, auch die Tür war fest verschlossen.

»Keiner da, Miss Charlotte«, bemerkte Thommie.

Charlotte dachte nach. »Irgendwo müssen sie die Leiche ja hingebracht haben, wenn die Leichenhalle noch zu ist. Wahrscheinlich an einen Ort hier ganz in der Nähe.«

Gemeinsam umrundeten sie und ihr junger Begleiter das Gebäude und wären fast einem uniformierten Constable in die Arme gelaufen, der mit verschränkten Armen vor dem Tor zum Hinterhof der Leichenhalle Wache stand.

»Treffer!«, flüsterte Charlotte. »Wahrscheinlich haben sie die Tote erst mal im Hinterhof abgestellt, weil die Leichenhalle noch geschlossen ist. Manchmal muss man auch Glück haben.«

So leise wie möglich schlichen die beiden zurück um die Ecke der Hofmauer in eine Gasse, wo der Polizist sie nicht sehen konnte. Die glatte Backsteinmauer ragte locker sechs Fuß in die Höhe – zu hoch, um einen schnellen Blick in den Hof zu werfen.

»Thommie, kannst du auf meine Schultern steigen, über die Mauer gucken und mir sagen, was du siehst? Dafür gibt’s auch ein paar Pence extra.«

Thommies Augen begannen zu leuchten. »Klar, Miss Charlotte.«

Der Junge war erschreckend leicht auf ihren Schultern, wog höchstens 40 oder 50 Pfund. Charlotte hoffte nur, dass jetzt keiner von den Polizisten um die Ecke kam: »Kannst du irgendwas erkennen?«

»Ja, Miss Charlotte. Keiner da. Aber auf dem Hof steht ein Handkarren, da liegt eine Decke drauf.«

»Das wollte ich hören!« Sie bedeutete Thommie, von ihren Schultern zu klettern. »Pass auf, Kleiner, ich werde jetzt mal versuchen, über die Mauer zu kommen. Du schleichst dich zurück um die Ecke und sorgst dafür, dass mir der Constable nicht in die Quere kommt.«

Während Thommie um die Ecke bog, schwang Charlotte sich, so elegant wie es ihr bodenlanger Rock zuließ, die Mauer hoch. Dann war der Turnunterricht zu Hause in den USA doch für irgendwas nützlich, dachte Charlotte, als sie in den leeren dunklen Hinterhof sprang. Vor ihr stand ein großer Handkarren aus Holz, auf dem ein in eine grobe graue Decke gewickeltes Bündel lag. Vorsichtig zog die junge Frau die Decke zur Seite. Sie hatte bei ihrer Arbeit als Reporterin für die New York Tribune schon viele schlimme Dinge gesehen, seit sie vor drei Jahren dem damaligen Verleger der Zeitung so lange mit ihren gepfefferten Leserbriefen auf die Nerven gegangen war, bis der sie eingestellt hatte. Seitdem arbeitete sie als Auslandsreporterin und schrieb nun seit etwas mehr als einem Jahr über das Leben und Sterben der armen Bevölkerung von London. Aber so etwas hatte Charlotte Foster in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen: Auf dem Karren lag eine etwa fünf Fuß große und zierliche, fast dürre Frau in ärmlicher Kleidung. Die Tote hatte hohe Wangenknochen, und ihr braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. An ihrem Kiefer und ihrer linken Wange leuchteten zwei blaue Flecke. Als Charlottes Blick vom Gesicht der Frau nach unten wanderte, spürte sie, wie die Übelkeit in ihr hochkroch. Der Hals der toten Frau war von links nach rechts regelrecht aufgeschlitzt worden. Ihr Mörder musste das Messer mit unglaublicher Kraft oder mit unbändiger Wut angesetzt haben, der Schnitt ging bis an die Rückenwirbel. Das Mieder der Toten war aufgeknöpft, ihr Kleid und ihre beiden Unterröcke waren hochgeschoben und gaben den Blick auf noch mehr furchtbare Verletzungen frei. Im Unterleib der Toten fand Charlotte mehrere tiefe Schnitte, die teilweise bis zum Bauch reichten. Hier war es nicht nur darum gegangen, einen Menschen zu töten, der Mörder hatte sein Opfer regelrecht zerfetzt.

Charlotte spürte, dass sie trotz der morgendlichen Kälte schwitzte, und tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab, während sie versuchte, in der Dämmerung auf dem Hinterhof weitere Details zu erkennen. Die beiden Hämatome am Kiefer und an der Wange der Frau kamen ihr nicht zufällig vor. Vorsichtig legte sie ihre rechte Hand auf das kalte Gesicht der Leiche, und tatsächlich: Die beiden blauen Flecke lagen genau dort, wo bei einer größeren Hand der Daumen und der Zeigefinger wären. Der Mörder hatte seinem Opfer also wahrscheinlich mit rechts den Mund zugehalten und mit der linken Hand die Kehle durchtrennt. Und trotz der Gewalt und der Grausamkeit waren die Schnitte präzise und ohne ein Zittern der Hand durchgeführt, als würde ein routinierter Angler einen Karpfen ausnehmen. Das hier war kein gewöhnlicher Mord unter den Ärmsten der Armen, das war Charlotte Foster in diesem Moment klar. Der Mörder war eiskalt, wusste genau, was er tat – und er würde höchstwahrscheinlich weiter morden.

Dieser letzte Gedanke ließ Charlotte trotz ihres dicken Mantels zittern, während sie nachdenklich auf ihre Unterlippe biss. Vor lauter Grübeln hörte sie die leisen Schritte hinter sich erst, als es schon zu spät war und sich eine schwere, kalte Hand auf ihre Schulter legte. »Hab ich dich!«

Kapitel 2

Freitag, der 31. August 1888 – Mary Jane

Der Teller verfehlte Mary Jane Kelly nur um vielleicht zwei Inches, bevor er mit einem lauten Krachen an der Wand zerschellte und das laute Geschrei ihres Freundes Joseph direkt hinterherflog: »Das kannst du dir von der Backe putzen, du gehst auf keinen Fall wieder auf den Strich!«

Streit war in ihrer fast anderthalbjährigen Beziehung fast zum täglichen Begleiter geworden, und meist ging es entweder um Schnaps – oder um Geld, so auch heute.

»Wag es nicht, auch noch unseren zweiten Teller nach mir zu werfen, Joseph Barnett!«, fuhr die 25-Jährige ihren fünf Jahre älteren Freund an. »Wenn wir wegen dir keine Teller mehr haben, dann kannst DU vom Boden fressen.« Sie kannte ihren Freund: Wenn er sich etwas Mut angetrunken hatte, wurde er gerne laut, aber meistens brachte sie ihn ziemlich schnell wieder runter. »Wer von uns beiden war denn so dämlich, sich in seinem Job beim Klauen erwischen zu lassen?«

Joseph brummelte seine Antwort unverständlich in seinen blonden Schnurrbart.

»Jetzt mal im Ernst, wie, bitte schön, willst du viereinhalb Shilling Miete für diese Bude hier zusammenkriegen, nachdem sie dir deine Lizenz als Fischträger weggenommen haben?«, schleuderte ihm Mary Jane entgegen, während sie sich mit verschränkten Armen einmal in dem spärlich möblierten Zimmer herumdrehte. »Oder hast du etwa einen neuen Job in Aussicht, von dem ich nix weiß?«

Josephs Antwort klang schon wesentlich weniger laut und wütend. »Nee. Aber ich finde bestimmt irgendwas, ich kenne Leute … viele Leute … Der Billingsgate Fischmarkt ist so was wie mein Zuhause!«

»Dann hättest du vielleicht nicht in deinem eigenen Zuhause klauen sollen! Ich gebe dir drei Tage, dir einen neuen Job zu suchen, dann melde ich mich bei der alten Beaufort und frage, ob sie Arbeit für mich hat – notfalls auch auf dem Rücken!«

Joseph wusste anscheinend nicht, was er darauf antworten sollte, also drehte er sich auf dem Absatz um und stiefelte aus dem Zimmer. Mary Jane schaute ihm wütend hinterher, während sie sich eine Tonscherbe aus dem rotblonden Haar zupfte.

Freitag, der 31. August 1888 – Charlotte

Blitzschnell drehte Charlotte sich um. Hinter ihr in dem Innenhof stand ein dunkel gekleideter Mann in seinen 40ern mit einem beeindruckend präzise getrimmten, dunklen Backenbart und einer schwarzen Melone, der sie wütend anfunkelte. »Was in Gottes Namen machen Sie hier?«

Sofort hatte Charlotte sich wieder gefangen. »Ich arbeite hier, und Sie?« Mit einer fließend eleganten Bewegung, die jahrelange Erfahrung in der höheren Gesellschaft verriet, reichte Charlotte dem Mann die Hand. »Charlotte Frances Foster, Auslandsreporterin der New York Tribune.«

Die Mundwinkel ihres Gegenübers zuckten für den Bruchteil einer Sekunde, als er ihre Hand ergriff und fest drückte. »Inspector Frederick Abberline, Scotland Yard.« Er musterte sie von oben bis unten. »Ich hatte Sie für eine von diesen Leichenfledderern gehalten, die hier seit einiger Zeit unterwegs sind und versuchen, den Toten ihre Wertsachen zu stehlen.

Aber wie auch immer: Sie werden jetzt sofort hier verschwinden, das ist eine polizeiliche Untersuchung und keine Teeparty für gelangweilte Damen.«

Instinktiv verschränkte Charlotte die Arme und tat so, als hätte sie den letzten Teil des Satzes nicht gehört. »Haben Sie schon eine Theorie zu diesem Mord? Sieht mir nicht nach einem Anfänger aus, der Mörder scheint gewisse Grundkenntnisse über die menschliche Anatomie zu besitzen.«

Schon wieder dieses Zucken in Abberlines Mundwinkeln, war das etwa eine Art Lächeln? »Sehr geehrte Miss Foster, ich freue mich sehr, dass Sie sich für unsere Arbeit interessieren, aber gibt es in London nicht spannendere Geschichten als eine ermordete Hure?«

»Wie kommen Sie darauf, dass die Frau eine Prostituierte war?« Die Frage war schneller und wütender gekommen, als Charlotte es beabsichtigt hatte, aber sie hasste es, wenn Männer sie abkanzeln wollten.

Erneut huschte die Spur eines Lächelns über Abberlines Gesicht, allerdings ein wenig verunsicherter als eben. »Welche anständige Frau würde sich mitten in der Nacht in irgendwelchen dunklen Gassen im East End rumtreiben? Zwei meiner Kollegen sind bei ihrem Kontrollgang gegen halb drei heute Nacht am Tatort vorbeigekommen, da lag die Frau noch nicht da.«

Charlotte spürte, dass sie noch wütender wurde. Diese offensiv zur Schau gestellte Ruhe des Inspectors und die Art, wie er über die ermordete Frau sprach, machten sie wahnsinnig. »Hier in Whitechapel gibt es Tausende Frauen die kein schönes, warmes Bett wie Sie oder ich zu Hause haben und sich jede Nacht einen neuen Schlafplatz organisieren müssen. Und wenn ich mir die Kleidung der Toten anschaue, gehörte sie wahrscheinlich genau zu dem Teil der Bevölkerung – was NICHT heißt, dass sie ihren Körper verkauft hat.«  

Abberlines Gesicht ließ keine Emotion erkennen. »Verehrte Miss Foster, es gibt überhaupt keinen Grund, sich aufzuregen. Hier im East End bringen sich jeden Tag Menschen gegenseitig um. Wir von Scotland Yard werden uns darum kümmern.«

Charlotte wollte gerade Luft holen, als ihr Gespräch von einem lauten Schimpfen unterbrochen wurde.

»Verdammt, du spinnst wohl!« Hinter ihnen kam der uniformierte Constable mit hochrotem Gesicht in den Hof gestapft und zog den sich heftig wehrenden Thommie am Ohr hinter sich her. »Herr Inspector, dieser Bengel hier hat mir in den Finger gebissen!« Die Stimme des Constables zitterte vor Wut. »Hab ihn draußen an der Straße rumlungern sehen, der wollte bestimmt gucken, ob es bei unserer Leiche was zu holen gibt – vielleicht gehört der auch zu dieser Leichenräuber-Bande?«

Abberline schaute erst zu seinem Kollegen und dann zu Thommie, der weiterhin versuchte, den rotgesichtigen Constable irgendwie mit seinen kleinen Fäusten zu treffen.

Bevor der Inspector etwas sagen konnte, schaltete Charlotte sich ein: »Der Junge gehört zu mir. Er ist mein … Assistent.«

Jetzt gab es doch eine Regung in Abberlines Gesicht, der Inspector runzelte leicht die Stirn. »Bisschen jung für einen Assistenten. Und sein Schreibzeug hat er auch vergessen.«

Thommie wollte gerade zu einem neuen Schwall Schimpfwörter ansetzen, aber Charlotte stoppte ihn. »Wir müssen jetzt leider zurück in die Redaktion, Herr Inspector, aber ich bin sicher, wir sehen uns ziemlich bald wieder.«

Ohne sich noch mal umzusehen, machten Charlotte und Thommie sich auf den Weg. Der erste Satz war natürlich gelogen, aber dass sie und der Inspector sich früher wiedersehen würden, als ihnen beiden lieb war, da war sich Charlotte Foster sicher.

Frederick Abberline

Frederick George Abberline (1843–1929) ist zum Zeitpunkt der Ripper-Morde Inspector bei Scotland Yard, dem Hauptquartier der London Metropolitan Police. Er hat zuvor lange in Whitechapel seinen Dienst verrichtet und bringt außerdem Erfahrung bei Mordfällen mit verstümmelten Leichen mit. Deshalb wird er in diesem Fall zum leitenden Ermittler ernannt.

Samstag, der 1. September 1888 – Charlotte

Mit einem Seufzen drückte Charlotte ihre Zigarette in dem übervollen Kristallaschenbecher aus, den Mrs Paddington erst vor wenigen Stunden mit einem abschätzigen Blick geleert hatte. Sie hasste es, dass ihre Vermieterin ständig in ihrem Zimmer auftauchte, um nach eigener Aussage »für Ordnung zu sorgen«.

Direkt nachdem sie Thommie gestern vor ihrer Haustür ein paar Münzen für seine Arbeit zugesteckt hatte, war Charlotte an ihre Remington gestürzt und hatte einen ersten kurzen Artikel zu der unbekannten Toten aus der Buck’s Row runtergetippt. Mittlerweile war es Samstagabend, und sie wartete immer noch auf eine Antwort von ihrem Chefredakteur aus New York. Sie hasste nichts mehr als Warten. Also schlüpfte Charlotte in ihren Mantel und machte sich auf zu einem kleinen Spaziergang. Vielleicht konnte sie in der Zwischenzeit mehr über die ermordete Frau herausfinden.

Eine Stunde später hockte sie im Red Lion, einer der berüchtigtsten Spelunken im East End. Hier trafen sich die Bettler, Betrüger und Blumenhändlerinnen des Viertels, um ihren hart verdienten Lohn in Bier und Schnaps zu investieren, und auch viele Prostituierte aus Whitechapel tranken sich hier ab mittags ihren Pegel für die Nacht an. Der Pub gehörte der zahnlosen Miranda, die ihr Geld fast 20 Jahre lang auf dem Strich verdient hatte, bis ihr ein reicher alter Freier ein hübsches Sümmchen vermacht hatte. Von dem Geld hatte sie sich erst mal ein knallweißes Porzellan-Gebiss gegönnt, das sie nach ein paar Schnäpsen gerne aus dem Mund nahm und stolz präsentierte. Mit dem Rest der Summe hatte sie den Pub gekauft und führte die Kneipe mit lauter Stimme und notfalls auch mit den Fäusten, falls ihr mal einer der Gäste krumm kam. Charlotte mochte die zahnlose Miranda und ihren Pub, vor allem weil man hier im Red Lion immer irgendwen traf, der den neuesten Tratsch aus dem East End im Gepäck hatte. Nicht nur einmal war aus diesem Kneipenklatsch am Ende eine Geschichte für die New York Tribune geworden.

Charlotte hatte sich gerade auf einen der wackeligen Holzstühle im Schankraum fallen lassen, als sie hinter sich eine Stimme hörte: »Charlie Foster! Dass sich dein gottverdammter Yankee-Hintern auch mal wieder hierher verirrt!«

Charlotte drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Und du siehst aus, als hätte sich dein englischer Hintern die letzten Wochen überhaupt nicht weg vom Tresen bewegt.«

Die Frau, die leicht schwankend auf Charlotte zukam, verzog ihr blasses Gesicht zu einer Art schiefem Grinsen und ließ ihren plumpen Körper auf den freien Stuhl an Charlottes Tisch fallen. Im funzeligen Licht der Kerze auf dem Tisch fiel Charlotte direkt auf, dass Dark Annie, wie ihr Gegenüber hier von allen genannt wurde, um Jahre gealtert war, seit sie sie das letzte Mal getroffen hatte.

»Wir haben uns ja ewig nicht gesehen«, begrüßte sie Annie, deren dunkle Haare ihr strähnig ins Gesicht fielen. Die beiden hatten sich vor etwa einem Jahr bei einer von Charlottes Recherchen über das Leben der meist sehr jungen Blumenverkäuferinnen auf den Straßen von London kennengelernt. Auch Annie hatte damals versucht, mit dem Verkauf von Blumen und Häkelarbeiten ein paar Pence zu verdienen, aber gegen die süßen Gesichter und die großen, traurigen Kulleraugen der meist 10- bis 14-jährigen Flower Girls hatte eine nicht besonders ansehnliche Frau mittleren Alters wie Dark Annie keine Chance. Seit der Recherche waren sich die beiden im East End immer wieder über den Weg gelaufen. Charlotte mochte Annie, bei der man nie genau wusste, was gerade hinter ihrer runden Stirn vorging. Sie schien kultivierter und klüger zu sein als die meisten anderen Frauen hier, gab sich aber gleichzeitig alle Mühe, das zu verbergen.

»Lass uns auf unser Wiedersehen trinken«, schlug Charlotte vor, bestellte an der Theke bei der zahnlosen Miranda zwei Pints Bier und zwei Gin und wurde dafür mit einem breiten porzellanweißen Lächeln bedacht. Die Gläser hatten den klebrigen Holztisch noch nicht mal berührt, als Annie nach dem ersten grabschte und das Ale in einem Zug herunterstürzte. Mit einem zufriedenen Grinsen wischte sie sich den Schaum von ihren hängenden Wangen. Schon als Charlotte Dark Annie das erste Mal getroffen hatte, hatte sie getrunken – wie eigentlich fast jeder hier im East End, der ein paar Pence übrig hatte. Aber ihr Durst schien seitdem noch viel stärker geworden zu sein.

»Es sind harte Zeiten, da braucht man wenigstens ein kleines Schlückchen zwischendurch«, murmelte sie in Charlottes Richtung. Es gab Gerüchte, dass Dark Annie früher eine Frau der besseren Gesellschaft mit einem Ehemann und drei Kindern gewesen war, aber Annie sprach nie über ihre Vergangenheit, sie redete generell nicht viel. Gerade schien sie mal wieder in ihrer eigenen Welt zu versinken, und Charlotte wusste, dass sie das Gespräch irgendwie am Laufen halten musste, wenn sie auf Informationen von Annie hoffte. »Hast du das von dem Mord letzte Nacht in der Buck’s Row gehört?«

Annie hob ihren trüben Blick von ihrem Gin-Glas und ließ die Faust auf den Tisch krachen: »Goddamnit, es ist eine Schande! So was hat Polly nicht verdient, keiner hat das verdient …« Der Rest ihrer Worte ging in einem wütenden Murmeln unter.

Charlotte zog die Augenbrauen hoch. »Polly?«

»Ja genau, Polly Nichols, wir kennen uns von … Na ja, wir kennen uns halt.« Wieder verfiel Dark Annie in wütendes Schweigen und starrte auf ihr leeres Glas.

Sofort stand Charlotte auf, um für Nachschub zu sorgen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie jetzt dranbleiben musste.

Nach dem nächsten Pint schien Annie ihre Sprache wiedergefunden zu haben. »Ihr Mann William hat’s mir erzählt. Die beiden waren zwar nicht mehr zusammen, aber er hat ihr hin und wieder mal ein paar Shilling geschickt nach der Trennung. Und William musste ihre Leiche heute Morgen idennifi… ifennzidi…«

»Identifizieren?«

»Ja genau, sag ich doch. Polly wurde aufgeschlitzt wie eine gottverdammte Sau beim Schlachter! Wer macht denn so was? Zuletzt war sie wohl bei so einem Ehepaar im Süden zum Arbeiten, aber da hat sie es nicht lange ausgehalten, das waren so ganz Christliche, weißt du … Keine Musik, kein Tropfen Alkohol, kein bisschen Spaß, das ist doch nichts!« Annie versuchte sich an einem Grinsen, das mehr Lücken als Zähne entblößte. »Wo wir gerade dabei sind, ich könnte auch noch ein Schlückchen vertragen!«

Charlotte orderte bei der zahnlosen Miranda eine neue Runde und hoffte, dass Annie nicht gleich zu betrunken wäre.

»Weißt du, wie Polly mit ganzem Namen hieß?«, fragte sie Annie, während sie die Gläser auf dem Tisch abstellte.

»Mary Ann Nichols. Hat meistens im Willmott’s an der Thrawl Street gepennt oder einfach direkt auf der Straße.«

Charlotte kannte das Wohnheim, hier landeten nur Frauen, die nicht mehr viele andere Möglichkeiten hatten. »Weißt du«, sagte sie zu Annie, die auch ihr drittes Bier in einem Zug geleert hatte, »ich bin an der Geschichte dran und habe schon Bekanntschaft mit dem zuständigen Inspector gemacht, einem Frederick Abberline. Und der glaubt, dass Polly eine Hure war …«

Zum ersten Mal seit dem Beginn ihres Gesprächs schaute Annie sie direkt an. »Bloody Hell, eine was?« Der überraschende Gefühlsausbruch der Frau ging sofort in einen heftigen Hustenanfall über, den Annie mit einem schmutzigen Taschentuch zu ersticken versuchte. Charlotte bemerkte die Blutflecken auf dem Taschentuch, auch wenn Annie sich bemühte, es schnell wieder in ihrer Rocktasche verschwinden zu lassen. Eigentlich war die Schwindsucht hier in London seit einiger Zeit meldepflichtig, aber Dark Annie hatte wie die meisten Kranken wohl keine Lust, in ein städtisches Sanatorium zu gehen, das eher einem Gefängnis als einem Krankenhaus ähnelte.

Der Hustenanfall war vorbei, aber Annies Atem ging immer noch rasselnd. »Polly Nichols eine Hure? Im Leben nich! Polly ist so sehr auf den Strich gegangen, wie die Zähne unserer Miranda hier echt sind … Aber ich weiß schon, für die feinen Herren von Scotland Yard sind alle Frauen Huren, die abends nicht brav mit ihrem Ehemann und ihren Kindern zu Hause im Salon sitzen …« Irgendetwas an diesem Gedanken schien Dark Annie traurig zu machen, denn auf einmal wurde sie ganz still und starrte wieder in ihr Glas, als ob sie dort eine Antwort finden würde.

Charlotte dachte nach. Wenn das Opfer keine Prostituierte war, ermittelte die Polizei also gerade in die völlig falsche Richtung. Vielleicht konnte sie bei dem Ehemann des Opfers mehr erfahren. »Hast du zufällig eine Ahnung, wo ich diesen William finden kann? Ich würde gerne mit ihm sprechen.«

Ganz langsam, als ob sie das unglaubliche Anstrengung kosten würde, hob Annie den Kopf und schaute Charlotte an: »Der lebt mit seiner neuen Frau in der Coburg Road. Ich geb dir die Adresse.«

Nachdem Charlotte die Anschrift notiert hatte, tauchte Annie wieder in ihre eigene Welt ab. Sie schien gar nicht mitzubekommen, wie Charlotte sich verabschiedete, bei Miranda ihre Schulden bezahlte und sich auf den Weg machte.

Pubs im 19. Jahrhundert

Erste Überlieferungen von öffentlichen Häusern zum Trinken in England sind bereits 2000 Jahre alt, damals noch als Weinbar für die Römer. Im Laufe der Zeit bilden sich im heutigen Großbritannien drei verschiedene Formen heraus: Die Alehouses für die ärmere Bevölkerung, in denen es oft nur Ale und billiges Essen gibt, die Inns für Reisende, die auch ein Zimmer für die Nacht suchen, und die Taverns, in denen anfangs vor allem Wein für die reichere Bevölkerung ausgeschenkt wird. Im 19. Jahrhundert setzt sich dann die Bezeichnung »Pub« als Kurzform für »Public House«, also öffentliches Haus durch. Viele Pubs sind genau das, nämlich oft umgebaute Wohnzimmer von Familien, in denen sich die gesamte Nachbarschaft trifft. Auch wenn das Red Lion meiner Fantasie entsprungen ist, gibt es in London zu diesem Zeitpunkt Hunderte, wenn nicht Tausende ähnlicher Pubs für jede Bevölkerungsschicht.