Verbrechen von nebenan - Philipp Fleiter - E-Book
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Verbrechen von nebenan E-Book

Philipp Fleiter

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Beschreibung

Die schlimmsten Verbrechen passieren meist nicht in der Großstadt, sondern direkt nebenan. Wenn die nette Nachbarin angeblich im Urlaub ist, in Wirklichkeit aber einbetoniert unter der Garage liegt oder wenn ein kleines Mädchen plötzlich spurlos vom elterlichen Bauernhof verschwindet, sind das Fälle, die man nicht vergisst. Radiojournalist Philipp Fleiter berichtet schon seit Jahren über Verbrechen und ihre Hintergründe. In seinem Nr.-1-True-Crime-Podcast »Verbrechen von nebenan« spricht er mit verschiedenen Gästen über die spannendsten Kriminalfälle im deutschsprachigen Raum. Das Besondere: Viele dieser Fälle werden zum ersten Mal überhaupt in einem Podcast besprochen. Seine Hörer lieben vor allem seine Stimme und seine gründliche Recherche. Jetzt erscheinen seine spektakulärsten Folgen plus zehn bisher unveröffentlichte Kriminalfälle und zahlreiche Experteninterviews erstmals als Buch.

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Seitenzahl: 472

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Buch

Die schlimmsten Verbrechen passieren meist nicht in der Großstadt, sondern direkt nebenan. Wenn die nette Nachbarin angeblich im Urlaub ist, in Wirklichkeit aber einbetoniert unter der Garage liegt oder wenn ein kleines Mädchen plötzlich spurlos vom elterlichen Bauernhof verschwindet, sind das Fälle, die man nicht vergisst. Radiojournalist Philipp Fleiter berichtet schon seit Jahren über Verbrechen und ihre Hintergründe. In seinem Nr. 1-True-Crime-Podcast »Verbrechen von nebenan« spricht er mit verschiedenen Gästen über die spannendsten Kriminalfälle im deutschsprachigen Raum. Jetzt erscheinen seine spektakulärsten Folgen plus zehn bisher unveröffentlichte Kriminalfälle und zahlreiche Experteninterviews erstmals als Buch.

Autor

Philipp Fleiter wurde in Ostwestfalen geboren und wollte als Kind am liebsten »Wetten, dass..?« moderieren. Stattdessen landete er beim Radio und wurde dort schnell zum Experten für Kriminalität. Anfang 2019 startete er den Podcast »Verbrechen von nebenan«, der schnell zu einem der erfolgreichsten deutschen Podcasts überhaupt geworden ist. Wenn Fleiter nicht gerade auf irgendeiner Bühne in Deutschland echte Kriminalfälle präsentiert, lebt er in Gütersloh.

Philipp Fleiter

Die spektakulärsten Kriminalfälle aus dem Nr.1-Podcast

Mit 10 neuen Fällen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe Oktober 2021

Copyright © 2021: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Uno Werbeagentur, München

Covermotiv: Marina Weigl

Redaktion: Carla Felgentreff

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

JE ∙ cb

ISBN 978-3-641-27696-6V003

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Fall 1: Ein Leben als Lüge

Interview mit Strafverteidigerin Arabella Pooth

Fall 2: Der Kreuzworträtsel-Mord

Fall 3: Graue Gangster

Fall 4: Der St.-Pauli-Killer

Interview mit Rechtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel

Fall 5: Der Tod der Sonnentempler

Fall 6: Der Kindermord von Mörlenbach

Fall 7: Dagobert

Fall 8: Harry Wörz – Einer gegen alle

Interview mit Kriminalhauptkommissar Oliver Huth

Fall 9: Tod einer Lehrerin

Fall 10: Pumpgun-Ronnie

Fall 11: Die Bestie von Beelitz

Interview mit Kriminalpsychologin Lydia Benecke

Fall 12: Die Soldaten-Morde von Lebach

Fall 13: Gendarm und Räuber

Fall 14: Der Parkhausmord von München

Fall 15: Mister Money

Interview mit der forensischen Psychiaterin und Gutachterin Nahlah Saimeh

Anhang

Danksagung

Quellen

Bildnachweis

Register

Für Joel

Vorwort

»Alle auf Position«, sagt die Stimme in meinem Ohr, »wir starten.« Äußerlich bin ich ganz ruhig, aber mein Herz klopft so laut, dass ich sicher bin, dass die anderen in diesem stillen Studio es hören müssen. Dann zerschneiden auch schon helle Scheinwerfer die Dunkelheit, und eine große Kamera fährt auf mich zu. Ich begrüße meine unsichtbaren Zuschauer, dann startet der Vorspann, und ich atme tief durch. Das Video wird überlebensgroß auf eine weiß verputzte Backsteinwand geworfen: kurze Szenen, Bilder, ein Gesicht – mein Gesicht. Ich moderiere hier gerade meine erste eigene Fernsehshow. Wenn mir das irgendwer vor einem Jahr erzählt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich für bekloppt erklärt. Die letzten zweieinhalb Jahre sind die wildesten in meinem Leben gewesen, und doch ist alles so schnell gegangen, dass es sich anfühlt, als wäre dieses Leben jemand anderem passiert und nicht mir selbst.

Wie so viele gute (und weniger gute) Ideen beginnt alles mit einem Bier. Ich sitze mit einem Freund zusammen im Biergarten und wir reden über Beziehungen, gemeinsame Bekannte und über die Arbeit. Er fragt mich nach dem »Horrorhaus von Höxter«, einem Kriminalfall, der sich keine 100 Kilometer von unserer Heimat abgespielt hat und über den gerade ganz Deutschland spricht. In meinem Job bei einem Radio-Sender berichten wir in den letzten Wochen über gefühlt nichts anderes. Verbrechen haben mich schon immer fasziniert, aber zu diesem Fall habe ich wirklich jedes Detail verschlungen und fange an zu erzählen. Keiner von uns beiden merkt, wie schnell die Zeit verfliegt. Am Ende sagt mein Kumpel: »Wow, da solltest du was draus machen.« Dieser Satz spukte tagelang in meinem Kopf herum. Zu dieser Zeit im Jahr 2018 habe ich mich seit einigen Monaten in das Medium Podcast verliebt und höre Podcasts beim Sport, beim Kochen oder beim Autofahren. Meistens Talk-Podcasts, bei denen sich zwei Menschen über dies und das und jenes unterhalten. Gibt es so was eigentlich auch über echte Kriminalfälle? Nach einer kurzen Suche in meinem Smartphone finde ich etwa fünf verschiedene deutschsprachige True-Crime-Podcasts. Einige sehr professional und gut recherchiert, andere wild zusammengeschustert aus Spekulation und vielen Ähs, klanglich irgendwo zwischen einem Skype-Call mit schlechter Internetverbindung und Schüler-Radio. Und wieder beginne ich nachzudenken: So schwer kann es doch eigentlich nicht sein, einen eigenen Podcast zu starten, oder? Einigermaßen sprechen kann ich, recherchieren habe ich in meiner Journalismus-Ausbildung gelernt und die passende Technik steht bei uns im Sender sowieso rum. Als ich meinem Chef von meiner Idee erzähle, fragt er mich nur: »Was ist ein Podcast?«, findet meinen Plan dann aber doch ziemlich gut. Und so wird aus einer Idee bei einem Bier ein Projekt, das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Hobby nach der Arbeit ist.

Zweieinhalb Jahre später. Ich habe gerade meine erste eigene Fernsehshow moderiert und sitze am Vorwort meines ersten eigenen Buches. Aus dem Hobby ist mein Hauptjob geworden, und ich arbeite wahrscheinlich so viel, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich habe das Glück, aus meiner Leidenschaft einen Beruf machen zu können und dafür bin ich unglaublich dankbar. Natürlich bin ich kein Herzchirurg, der Leben rettet, aber ich darf anderen Leuten ein paar spannende Stunden schenken und, wenn es gut läuft, auch mal ein paar Dinge, über die man vielleicht etwas länger nachdenkt. Ich hoffe, dass mir das nicht nur mit meinem Podcast, sondern auch mit diesem Buch hier gelingt. Diese Seiten haben mich ziemlich viele Stunden Arbeit, einige Hektoliter Kaffee und wahrscheinlich viel zu viele Zigaretten gekostet. Ich habe schon öfter gelesen, dass Autorinnen und Autoren ihre Bücher als ihre Babys bezeichnen. Das fand ich früher immer bescheuert, aber jetzt kann ich es verstehen. Nach mehr als einem Jahr Buch-Schwangerschaft ist das Baby jetzt alt genug und läuft hoffentlich in die Welt hinaus: Zu euch auf den Nachttisch, mit in die Bahn oder auf die Liege am Pool. Hoffentlich habt ihr damit genauso viel Spaß wie ich beim Recherchieren und Schreiben.

Erzählt mir gerne, wie euch das Buch gefallen hat, zum Beispiel auf der Instagram- oder Facebook-Seite von »Verbrechen von nebenan«. Jetzt lasse ich euch aber erst mal in Ruhe lesen.

Fall 1

Ein Leben als Lüge

Fallname: Ein Leben als Lüge

Zeitpunkt: 15.12.2015

Tatbestand: Bankraub

Ein letztes Mal

Es ist kurz vor Weihnachten, als die Lüge, die Hanno M. sein Leben nennt, für immer zerbricht.

Überall auf den Straßen von Hemmerde, das seit 1968 zu Unna gehört, leuchten an diesem 15. Dezember 2015 die Lichter der Weihnachtsdekoration in der Dämmerung. Es ist ruhig hier in dem kleinen 2800-Einwohner-Örtchen, das gefällt dem 32-Jährigen. Er ist das erste Mal hier, sein Ziel hat er sich vorher bei Google Maps ausgeguckt. Irgendwie hat ihm der Ort auf der digitalen Landkarte gefallen, und er wusste: Hier wird es passieren. Schon seit einer halben Stunde geht der schmächtige Mann in der Innenstadt auf und ab, schaut immer wieder verstohlen zu der Volksbank-Filiale an der Hemmerder Dorfstraße. Im Gesicht trägt er fünf Pflaster, um sich wenigstens ein bisschen zu tarnen – eine Sturmhaube wäre zu auffällig. In seine Jackentasche hat er einen Zettel aus dem Rollenspiel Shadowrun gestopft, in seinem Hosenbund steckt eine Pistole, die früher mal seinem Bruder gehört hat. Als er mit der linken Hand über den Griff der Waffe streicht, ist seine Handfläche schweißnass. Er atmet tief durch und zieht seine schwarze Baseballkappe noch ein Stückchen tiefer ins Gesicht. Es geht los.

Um 16:45 Uhr geht der schmächtige junge Mann in der schwarzen Jacke die vier gemauerten Stufen zum Haupteingang der kleinen Volksbank-Filiale hoch, dann öffnet er die Tür, geht an den Geldautomaten vorbei und durch die Glastür in den Schalterraum. Er muss es tun, nur noch dieses eine Mal.

Mareen G. arbeitet erst seit einigen Tagen in der Bankfiliale an der Hemmerder Dorfstraße. Der schlanke, dunkel gekleidete Mann mit den vielen Pflastern im Gesicht fällt der 22-Jährigen sofort auf. Als er auf einen der unbesetzten Schalter zugeht, steht die Bankangestellte von ihrem Bürostuhl auf, um sich um den Kunden zu kümmern. Sie begrüßt den Mann, doch der sagt kein Wort. Schweigend schiebt er ihr einen Zettel über die Theke. Mareen G. schluckt, als sie liest, was da auf dem Blatt Papier steht: »Dies ist ein Überfall – bitte verhalten Sie sich ruhig. Ich will 10.000 Euro, und ich bin bewaffnet. Wenn Sie den Zettel zu Ende gelesen haben, schieben Sie ihn mir wieder zurück.« Sie dreht sich zu ihrem zwei Jahre älteren Kollegen Björn R. um, der hinter ihr an seinem Schreibtisch sitzt. »Bitte schau dir mal den Zettel an«, sagt sie mit belegter Stimme, während sie versucht, möglichst flach zu atmen.

Der 24-jährige Björn R., der zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren in der Bank in Hemmerde arbeitet, bleibt ganz ruhig und spult das Programm ab, das er gelernt hat. »Der Tresor ist im Keller«, sagt er zu dem Mann mit den Pflastern im Gesicht, »allerdings gibt er das Geld nur mit einer Verzögerung von fünf Minuten heraus. Wenn Sie möchten, können Sie mich nach unten begleiten.«

Doch der Bankräuber schweigt weiter. Also steht R. auf und geht runter in den Tresorraum, während der Räuber mit der schwarzen Baseballkappe hin und her trippelt. Er geht zum Ausgang der Bank und schaut kurz nach draußen, dann kommt er zurück zum Schalter. Seine linke Hand bleibt dabei die ganze Zeit in der Jackentasche und umklammert einen Gegenstand. »Der hat eine Waffe«, denkt Mareen G. in diesem Moment. Mittlerweile sind drei Kunden in die Bank gekommen, keiner von ihnen scheint den Überfall zu bemerken. Bisher.

Ihr Kollege Björn R. kommt wieder zurück. »Ich habe den Zeitmechanismus des Tresors aktiviert, das dauert jetzt einen kleinen Moment«, erklärt er dem Räuber mit den Pflastern im Gesicht. Außerdem muss R. unten den stillen Alarm der Bank ausgelöst haben, zumindest hofft seine 22-jährige Kollegin das. Auch ihre Chefin Martina M., die die Filiale seit mehr als zehn Jahren leitet, ist mittlerweile dazugekommen: »Ist das hier ein Überfall, oder was?«, fragt sie in die Runde. Da klingelt in ihrem Büro das Telefon und die 52-Jährige geht zurück, um den Hörer abzunehmen. Ihre Chefin sagt nur ein Wort, dabei schaut sie den Bankräuber direkt an: »Ja!«

Hanno M. scheint zu ahnen, was das bedeutet: Die Polizei ist am Apparat, um zu überprüfen, ob der Alarm aus Versehen ausgelöst wurde, oder ob die Bank wirklich überfallen wird. Hastig stopft der junge Mann den Zettel mit seinen Forderungen zurück in seine Tasche, dreht sich zum Ausgang und verlässt die Bank. Mareen G. atmet auf, während ihr Kollege Björn R. dem Mann ein paar Schritte hinterhergeht, um zu erkennen, in welche Richtung der Räuber flüchtet. Er sieht gerade noch, wie der Bankräuber etwa 200 Meter entfernt in einen silbernen VW mit Unnaer Kennzeichen springt und davonrast.

»Scheiße«, flucht Hanno M. in dem silbernen VW Up, der eigentlich seiner Oma gehört. Hastig reißt er sich einige der Pflaster vom Gesicht und fährt in Richtung der B1. Kurz vor der Bundesstraße biegt er links ab, dann entscheidet er sich um und fährt doch rechts auf die B1 Richtung Unna-Dortmund. Er muss hier weg – irgendwie. Ein Polizeiwagen rast auf der Gegenspur an ihm vorbei. M. atmet schnaufend aus, das war knapp. Doch keine 30 Sekunden später sieht er den Wagen im Rückspiegel hinter sich. Der Streifenwagen hat auf der Bundesstraße gedreht und kommt ihm immer näher. Hanno M. reißt das Lenkrad herum und biegt von der B1 rechts auf einen Feldweg ab. Kurz rutscht er über ein Feld, dann hat er den Wagen wieder unter Kontrolle. Der VW Up rumpelt mit 100 Stundenkilometern über den schmalen Weg, rechts und links rauschen abgeerntete Felder vorbei.

Hanno M. hört die Sirenen hinter sich, sieht das Blaulicht im Rückspiegel zucken. Seine Hände umklammern das Plastiklenkrad des Kleinwagens jetzt noch fester. Er fährt viel zu schnell auf diesem engen Weg – viel zu schnell, um in der T-Kreuzung direkt vor ihm abzubiegen. Der Wagen rast geradeaus über die Kreuzung und kracht in eine Hecke links neben einem Toreingang. Metall verbiegt sich, Plastik splittert und die Airbags lösen aus. Die Flucht von Hanno M. endet um 16:55 Uhr zwischen Blättern und Ästen – genau wie sein bisheriges Leben.

Ein »normales« Leben – Erster Teil

Hanno M. wird am 25. Februar 1983 in Dortmund als erstes von zwei Kindern geboren. Zwei Jahre später kommt sein jüngerer Bruder zur Welt. Die Jungen wachsen in einer Familie auf, in der Bildung alles ist: Hannos Vater Walter arbeitet als Bildungsreferent bei der katholischen Kirche, seine Mutter Johanna als Lehrerin an einem Dortmunder Gymnasium. Die Eltern erziehen ihre beiden Söhne christlich, manche sagen streng. Hanno selbst sagt, er sei in »stabilsten Verhältnissen aufgewachsen« und sein Elternhaus »war und ist immer noch toll«. Er besucht den Kindergarten, dann eine Dortmunder Grundschule und kommt schließlich auf dasselbe Gymnasium, an dem auch seine Mutter unterrichtet. In der achten Klasse wechselt er auf ein anderes Gymnasium, um nicht von seiner Mutter unterrichtet zu werden. Dort bleibt er in der zehnten Klasse fast sitzen und schafft die Versetzung nur durch die Nachprüfung. In einer Lehrerfamilie macht man Abitur – mit viel Lernen und einem Schnitt von 2,1. Nach der Schule geht Hanno im Auftrag des Erzbistums Paderborn für ein Jahr nach Argentinien, um als »Missionar auf Zeit« auf einem Bauernhof mit Straßenkindern zu arbeiten. Geld bekommt er für seine Arbeit nicht, aber die Zeit wird ihm als Zivildienst anerkannt.

Als er 2003 wieder in Deutschland ankommt, ist die Frage nicht, ob er studiert, sondern nur wo und was. Hanno entscheidet sich für ein VWL-Studium in Kiel, erst mal weg von zu Hause. »Was ich mit dem Studienabschluss machen will, wusste ich nicht«, erzählt er später in einer Vernehmung über das Studium, das er nach vier Semestern abbricht. »Das war fast nur Mathe, und ich kann kein Mathe.« Am liebsten würde er stattdessen Medizin studieren, aber dafür reicht sein Notendurchschnitt nicht. Einfach etwas anderes mit seinem Leben zu machen als zu studieren, kommt in seiner Familie nicht infrage. Seine Eltern wollen, dass er zügig das nächste Studium startet und empfehlen ihm die Wilhelms-Universität in Münster, an der sie auch beide studiert haben. Am Ende wird es Lehramt – eine sichere Bank. Und auch bei seiner Fächerwahl folgt Hanno M. seinen Eltern: Er entscheidet sich für Geschichte (wie seine Mutter) und Deutsch (wie sein Vater). Seine Eltern wollen über sein Studium ständig auf dem Laufenden sein, fragen regelmäßig nach seinen Leistungen und Noten. Ein Arzt wird bei Hanno später eine narzisstische Persönlichkeitsprägung diagnostizieren: Sein schwaches Selbstwertgefühl macht ihn abhängig vom Urteil seiner Eltern. Er darf, nein er kann sie nicht enttäuschen. Auch wenn der Preis dafür eine Lüge ist.

Ein »normales« Leben – Zweiter Teil

2005 zieht Hanno nach Münster in eine kleine Wohnung, die Miete übernehmen seine Eltern, außerdem überweisen sie ihm monatlich 300 Euro Taschengeld. Am Anfang läuft alles nach Plan: 2008 soll Hanno nach sechs Semestern seinen Bachelor machen, 2010 dann nach vier Semestern seinen Master – alles in Regelstudienzeit. Aber dann kommen die Bologna-Reformen, die Struktur seines Studiengangs ändern sich. Auf einmal überschneiden sich Veranstaltungen in Hannos Stundenplan, und sein streng getakteter Zeitplan gerät aus dem Konzept: »Mich hat das absolut demotiviert«, erzählt er später. Außerdem leidet er unter Prüfungsangst. Einige Klausuren verhaut er direkt zweimal hintereinander. Den dritten, finalen Versuch das Modul zu bestehen, tritt er aus Angst gar nicht erst an.

Anfangs erzählt er seinen Eltern noch von seinen Problemen in der Uni, aber die meinen nur, dass er seinen Abschluss schaffen muss, weil er ja immer älter wird. Also sagt er irgendwann gar nichts mehr, er »verschwindet hinter seine Matrikelnummer«, wie Stern Crime später schreiben wird.

Stattdessen spielt er nächtelang Rollenspiele, vor allem »Shadowrun« – ein sogenanntes Pen-&-Paper-Rollenspiel, das man nicht am Rechner oder der Konsole, sondern mit anderen am Küchentisch spielt: eine wilde Fantasiewelt in einer dystopischen Zukunft voller Elfen, Trolle und Orks, in der die Spieler in verschiedene Rollen schlüpfen. Die Welt von »Shadowrun« wird von multinationalen Konzernen regiert. Es ist eine Welt, in der die Spieler sich als illegale Söldner irgendwie durchschlagen müssen: »Du hast kein Büro, kein sicheres Zuhause, keinen festen Halt. Du bist, was du aus dir machst. Chaos säen? Gerechtigkeit suchen? Machtgleichgewichte verschieben? Oder einfach möglichst schnell viel Geld verdienen? Alles ist möglich, aber eines solltest du immer bedenken: Stillstand ist der Tod, denn bleibst du stehen, frisst dich das Straßenleben bei lebendigem Leben auf.« So steht es in den Regeln für das Spiel, die bald auch genau so auf das Leben von Hanno M. zutreffen werden.

Seine Lage verschlimmert sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Hanno beschließt, unabhängiger von seinen strengen Eltern zu werden. Er findet einen Nebenjob in einem Callcenter, manchmal nimmt er auch Jobs über eine Zeitarbeitsfirma an. Zwar verdient er jetzt Geld, aber ihm fehlt die Zeit beim Lernen. Hanno fällt durch mehrere Module durch, die er unbedingt für seinen Bachelor-Abschluss braucht. Gleichzeitig bohren seine Eltern immer häufiger nach: »Wie läuft’s denn mit dem Bachelor?« Oder: »Müsstest du nicht schon längst fertig sein?« Hanno traut sich nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen, er weiß ja, wie sie reagieren werden. Also behauptet er irgendwann im Jahr 2009 einfach, dass er seinen Bachelor in der Tasche hat.

Es ist die erste große Lüge im Leben des Hanno M., auf die noch viele weitere folgen werden. Natürlich weiß er aus der Bibel, dass man nicht lügen darf. Aber er kennt auch die Erwartungen seiner Eltern: »Dieser Abschluss war ihnen einfach total wichtig!«, sagt er. Also gibt er ihnen, was sie hören wollen und erfindet einen Notenschnitt. Die Eltern sind glücklich und gratulieren ihrem Sohn – die bohrenden Fragen bleiben erst mal aus. Sein Studium hat Hanno mittlerweile geschmissen, aber das sagt er seinen Eltern natürlich nicht.

Eine Weile kommt er damit durch, dann geht es wieder los: »Wann machst du denn endlich deinen Master?«, fragen die Eltern. »Bald«, sagt der brave Sohn, der sich in Wahrheit mit Gelegenheitsjobs und dem Geld seiner Eltern über Wasser hält und sein eigenes Scheitern weit von sich weggeschoben hat. Irgendwann Ende 2011 ruft er seine Eltern an und sagt, dass er seinen Master endlich geschafft hat. Die sind glücklich: Endlich startet ihr Sohn, der jetzt fast 30 ist, ins Berufsleben. Seine Mutter will wissen, wo er denn sein Referendariat machen will. »In Rheine«, antwortet Hanno, die 50 Kilometer dorthin will er von Münster aus pendeln – seine Oma hat ihm ihr Auto überlassen. »Super. Dann brauchen wir dir ja kein Geld mehr zu überweisen, wenn du jetzt einen Job hast«, sagt seine Mutter. Hanno schluckt, stimmt aber zu. Was bleibt ihm auch anderes übrig?

Absturz

Die Referendariatsstelle am Gymnasium in Rheine gibt es ebenso wenig wie das Geld, das Hanno dort angeblich verdient. Solange er den Job im Call-Center hat, kommt er über die Runden. Aber dann wird ihm gekündigt, und er kann die Miete für seine Wohnung nicht mehr bezahlen. Natürlich könnte er jetzt seine Eltern anrufen und um Geld bitten, aber wie soll er ihnen das erklären?

Also packt Hanno M. seine paar Sachen zusammen und zieht Anfang 2012 in den Mercedes A-Klasse, den seine Oma ihm überlassen hat. Seine neue Nachbarschaft wird ein Sportplatz an der Sentruper Straße in Münster. Hier kann er in der Sporthalle wenigstens zwischendurch duschen. Irgendwann geht die alte A-Klasse der Oma kaputt – Getriebeschaden. Seine Oma kauft Hanno einen silbernen VW Up, der sein neues Zuhause wird. Mit dem Wagen zieht er um an den Campus Nord in Dortmund-Dorstfeld. Hier kann er in den Duschen der Sportfakultät warm duschen.

In dieser Zeit verdient Hanno sein Geld damit, Pfandflaschen aus Abfalleimern zu fischen. Die Angst, dass ihn dabei jemand erkennen könnte, sitzt immer auf seiner Schulter. Er lebt von 2,50 Euro am Tag, aber wenn er seine Eltern besucht, ist er immer frisch rasiert und trägt seine besten Klamotten.

Hanno geht zur ARGE in Münster, um staatliche Hilfen zu beantragen. Doch die Sachbearbeiter dort behandeln ihn unmenschlich, sagt er später. Im Dezember 2013 sperrt die Bank sein Konto, weil es so tief im Minus ist. Sein »letzter Anker zu einem bürgerlichen Leben« ist weg. Lange dachte er, dass ihm sowieso kein Arbeitslosengeld zusteht, weil er keine abgeschlossene Ausbildung hat, jetzt hat er nicht mal mehr ein Konto, auf das die Hilfen überwiesen werden könnten.

Während sein echtes Leben in sich zusammenbricht, hält er sein äußeres Leben für seine Eltern weiter aufrecht. Sie denken nach wie vor, dass er mitten im Referendariat steckt, während er bis nachts um eins in der Bibliothek der Uni Dortmund sitzt, um sich aufzuwärmen. Um ihn herum brüten Studierende über ihren Büchern und lernen für Prüfungen, Hanno M. versucht einfach nur, die Zeit totzuschlagen.

Aber seine Zeit läuft ab. Seine Mutter weiß genau, wie lange ein Referendariat in NRW dauert, und fragt immer wieder nach, wann er denn endlich fertig ist. Also verkündet er Anfang 2014: »Mama, ich bin fertig!« Und Mama hat auch direkt die passende Stelle für ihn: Im Dortmunder Schiller-Gymnasium wird ein Vertretungslehrer für Geschichte gesucht, für 13 Stunden in der Woche. Als Hanno zum Vorstellungsgespräch geht, klopft sein Herz so laut, dass er denkt, jeder im Raum müsste es hören. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Hanno kann sein Glück selbst kaum fassen: Niemand fragt ihn nach seinen Noten oder seinem Abschluss, schließlich kennt man hier seine Mutter. Er muss weder seine nicht vorhandenen Zeugnisse vorlegen, noch seine nicht existierende Kontonummer angeben.

Sein rissiges Lügengebäude hält ein weiteres Mal, aber es klopft schon das nächste Problem an die Tür. Er traut sich nicht, zur Bank zu gehen, um ein neues Konto zu eröffnen – aus Angst vor den Fragen, die man ihm dort bestimmt stellen würde. Weil in der Schule zu diesem Zeitpunkt so viele Aushilfslehrer und Lehramtsstudenten eingestellt werden, fällt im Schulsekretariat niemandem auf, dass der neue Kollege Herr M. gar kein Gehalt für seine Arbeit bekommt. Hanno jedenfalls hat kein Interesse daran, danach zu fragen, er hat viel mehr zu verbergen als ein fehlendes Konto. In seinem neuen Job geht es ihm weniger um die Bezahlung, als um die »passende Außendarstellung«: Jeder soll sehen, dass er einen anerkannten Job als Lehrer hat. Und trotzdem: »Je bürgerlicher meine Fassade geworden ist, desto größer sind auch meine Probleme und meine Lügen geworden«, wird er später sagen.

Nach der Schule verdient Hanno M. jetzt ein paar Euro mit Nachhilfe dazu, außerdem hat er seine Eltern nach Geld gefragt. Die beginnen jetzt, ihn wieder zu unterstützen – sie wissen ja, dass man mit einer halben Stelle nicht besonders viel verdient. So kann sich Hanno wenigstens wieder eine Wohnung leisten. Aber schon nach kurzer Zeit ist der Stapel unbezahlter Rechnungen so hoch, dass er sich nicht mal mehr traut, die Briefe zu öffnen. Wieder Flaschen sammeln gehen will er auch nicht: Was ist, wenn jemand den Herrn Lehrer dabei sieht? Mittlerweile haben die Stadtwerke ihm gedroht, ihm wegen unbezahlter Rechnungen den Strom abzustellen, und sein Kühlschrank ist mindestens genauso leer wie sein Portemonnaie.

Der Mumien-Räuber

Also wickelt sich Hanno M. am 2. Dezember 2014 eine Rolle Mullbinden um den Kopf, klappt den Kragen seiner schwarzen Sportjacke nach oben und tritt durch die gläserne Eingangstür der kleinen Volksbankfiliale an der Westerfilder Straße in Dortmund. Es ist 17:24 Uhr – kurz vor Feierabend. Er geht zum Tresen. In seiner linken Jackentasche steckt eine Plastikpistole, die sein Bruder irgendwann mal als 6-Jähriger geschenkt bekommen hat. Ohne ein Wort zu sagen, schiebt er einen Zettel über den Tisch: »In meiner linken Tasche habe ich eine Waffe. Ich möchte 6500 Euro in unterschiedlichen Scheinen. Die Hände da lassen, wo ich sie sehen kann.« Der Bankangestellte dreht sich um und geht zum Tagestresor, nach kurzer Zeit kommt er mit einer Geldkassette zurück. Mit zitternden Händen zählt er die Scheine. Das geht dem Mann mit den Mullbinden im Gesicht nicht schnell genug, er umklammert die Waffe in seiner Jackentasche jetzt noch fester. Den Bankangestellten macht die Ausbuchtung in der Jacke so nervös, dass er sich verzählt und dem Bankräuber 8500 Euro über den Tresen schiebt. Hanno stopft das Geld in die Jacke und verlässt die Bank. Die Mullbinden reißt er sich noch im Auto vom Gesicht, später wird er sie in einem Mülleimer in der Dortmunder Innenstadt entsorgen.

Während die Polizei überall nach dem Räuber mit dem verbundenen Gesicht sucht, räumt Hanno zu Hause das Geld aus dem Überfall in seine Küchenschublade. Und während die Zeitungen vom »Mumien-Räuber« oder vom »Mullbinden-Mann« schreiben, gibt der stille Herr M. wieder Unterricht und korrigiert Klausuren. Einmal geht es in der Klasse darum, wie man eine Bank überfällt. Am wichtigsten sei es, unauffällig zu sein, erklärt Hanno M. seinen Schülern. Man dürfe nicht zu viel Geld erbeuten, das errege zu viel Aufmerksamkeit.

Mit dem Geld aus seiner Schublade kauft Hanno Winterschuhe für sich selbst und Weihnachtsgeschenke für seine Familie. An Weihnachten 2014 sitzen die Eltern Walter und Johanna M. und ihre beiden Söhne unterm Weihnachtsbaum. Es wird das letzte Mal sein.

Im August 2015 ist die Küchenschublade dann leer, und auch Hannos Nebenjob als Nachhilfelehrer, der ihm im Monat immerhin 100 Euro einbringt, endet mit Beginn des neuen Schuljahres. Nicht mal die 186 Euro Miete kann er jetzt noch bezahlen. Sein Lügengebäude beginnt wieder zu wackeln.

Hanno überlegt sogar, seinen Eltern endlich alles zu beichten, da klingelt sein Telefon: Am anderen Ende ist sein zwei Jahre jüngerer Bruder, der ihm erzählt, dass er die ständigen Einmischungen seiner Eltern satthat und nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Jetzt ist Hanno zwar immer noch der Sohn mit dem dunklen Geheimnis, aber auch der einzige, den seine Eltern im Moment haben. Johanna und Walter M. rufen immer häufiger an. Er kann es ihnen nicht sagen, das würden sie nach dem Streit mit seinem Bruder nicht verkraften – da ist sich Hanno sicher.

Seine Eltern erzählen ihm in der Zwischenzeit immer wieder, dass sie sich schon so darauf freuen, mit ihm gemeinsam Weihnachten zu feiern. Er ist doch jetzt alles, was sie haben. Und schon klafft der nächste Riss in dem Lügenkonstrukt, das Hanno M. sein Leben nennt: Irgendwie muss er seinen Eltern jetzt ein paar kleine Geschenke zu Weihnachten kaufen. Nur um den Schein zu wahren. Aber sein letztes Geld sind die paar Cent in seinem Portemonnaie – die reichen noch nicht mal für einen Liter Milch. In seiner Wohnung findet er einen zwei Jahre alten Zettel, den er damals bei einem Kumpel für eine Runde »Shadowrun« ausgedruckt hat: »Dies ist ein Überfall – bitte verhalten Sie sich ruhig. Ich will 10.000 Euro, und ich bin bewaffnet. Wenn Sie den Zettel zu Ende gelesen haben, schieben Sie ihn mir wieder zurück.« Er muss es wieder tun. Nur dieses eine Mal noch. Er steckt den Zettel aus dem Rollenspiel in die eine und die Spielzeugpistole seines Bruders in die andere Tasche seiner Jacke. Dann dreht er noch mal um und klebt sich ein paar Pflaster auf die Haut, die sein Gesicht wenigstens ein bisschen verdecken sollen. Er steigt in den silbernen VW Up seiner Oma. Die Dortmunder Kennzeichen des Autos hat er in den Kofferraum gelegt und stattdessen Nummernschilder aus Unna angeschraubt, die er knapp eine Woche vorher in Schwerte geklaut hat. Eigentlich wollte er die Schilder nutzen, um an einer Tankstelle Sprit zu klauen, jetzt sollen sie aus dem Kleinwagen seiner Großmutter ein Fluchtfahrzeug machen.

Am 15. Dezember 2015 um 16 Uhr fährt Hanno M. in Dortmund los, eine Viertelstunde später parkt er seinen VW wenige Meter von der Volksbank in Unna-Hemmerde entfernt vor einer Pizzeria. Über der Straße glitzern die Sterne der Weihnachtsbeleuchtung.

Das Ende der Lügen

Am Mittwoch, den 17. August 2016, drängeln sich Fotografen und Kamerateams im Saal 129 des Dortmunder Landgerichts. Alle wollen wissen, wie der Mumien-Räuber ohne Mullbinden aussieht. Hanno versteckt sein Gesicht hinter einer roten Mappe aus Papier. Er trägt Jeans und einen grauen Pulli, seine Verteidigerin Arabella Liedtke ist bei ihm. Seine Eltern sind nicht gekommen.

Als vor Gericht die Trümmer des Lügengebäudes von Hanno M. besichtigt werden, ist der schmächtige 33-Jährige fast schon erleichtert: »Das ist ein großer psychischer Druck, der jetzt weg ist«, hat er schon in seiner ersten Vernehmung am Abend seiner Festnahme gesagt. Seine Verteidigerin erklärt vor Gericht, dass ihr Mandant seinen zweiten Banküberfall freiwillig abgebrochen habe, juristisch nennt man das einen freiwilligen Rücktritt. So erzählt es auch ihr Mandant Hanno M. vor Gericht: »Vor mir die Mitarbeiterinnen der Bank voller Angst, hinter mir brave Kunden. Da wusste ich: Das ist falsch, das ist dumm.«

Liedtke schlägt vor, ihren Mandanten zu einer Bewährungsstrafe zu verurteilen. Genau das macht das Gericht sechs Tage später. Hanno M. wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Das Gericht hält ihm zugute, dass er sofort gestanden, ehrlich bereut und seinen Opfern von sich aus Schmerzensgeld gezahlt hat. »Wir glauben, dass dieser Angeklagte seine Lektion bereits gelernt hat«, sagt der Vorsitzende Richter Helmut Hackmann bei seiner Urteilsverkündung: »Ihn jetzt ins Gefängnis zu schicken, würde ihn nur wieder zurückwerfen.«

Auch für seine Arbeit als Lehrer ohne die dafür nötige Ausbildung wird Hanno M. nicht belangt – zum einen, weil er dafür nie Geld bekommen hat, zum anderen, weil in seiner Schule auch Lehrer ohne Abschluss unterrichten durften. Einige Klausuren seiner Schüler, die er noch zu Hause hatte, hat seine Anwältin zurückgegeben.

Der Mann, dessen letzten sechs Lebensjahre eine einzige Lüge waren, macht eine Psychotherapie. Sein Arzt sagt ihm, dass das Problem im Verhältnis mit seinen Eltern liegt. Er hat mittlerweile einen neuen Job bei einem Baumarkt in Rheda-Wiedenbrück, zu dem er jeden Tag mit der Bahn pendelt. Sein silberner VW Up ist nach der Verfolgungsjagd und dem Crash in der Hecke ein Totalschaden. Die 1500 Euro netto, die Hanno M. damit verdient, Natursteinfliesen in Kartons zu verpacken, nutzt er, um der Versicherung der Dortmunder Volksbank die geklauten 8500 Euro in Raten zurückzuzahlen. Er mag seine neue Arbeit. Wenn ihn jemand fragt, was er beruflich macht, sagt er: »Verpacker.« Mit seinen Eltern hat er sich mittlerweile ausgesprochen. Das härteste Urteil über Hannos Leben bis zum 15. Dezember 2015 fällt er selbst: »Nicht nur meine Verkleidung war lächerlich, mein ganzes Leben war lächerlich«, sagt er. Das ist keine Lüge.

Philipps Fazit

Der Fall Hanno M. ist einer der Fälle, die mein Interesse an True Crime überhaupt erst geweckt haben. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich auf einer Zugfahrt an einem Bahnhof zufällig eine Ausgabe der Stern Crime entdeckte und mir spontan gekauft habe, weil mir das schwarz-weiße Cover so gut gefallen hat. In der Ausgabe habe ich dann zum ersten Mal die ganze Geschichte des Mannes gelesen, den ich vorher nur als »Mumien-Räuber« aus den Medien kannte: Alles fängt mit einer Lüge an, die immer größer wird. Am Ende wird das Lehrerkind aus gutem Hause zum Bankräuber. Das fasziniert mich noch heute.

Die Frage, warum jemand zum Verbrecher wird, und ob wir alle vielleicht selber durch eine oder mehrere falsche Entscheidungen auf die schiefe Bahn geraten könnten, beschäftigt mich in meiner Arbeit immer wieder. Für mich war schnell klar, dass der Fall, der meine Leidenschaft für Verbrechen und ihre psychologischen Hintergründe überhaupt erst entfacht hat, unbedingt in dieses Buch muss. In meiner Recherche hatte ich die Chance, zahlreiche Akten, Vernehmungsprotokolle und Zeugenaussagen zu dem Fall auszuwerten und daraus diese Geschichte zu schreiben. Die Geschichte dieses Lebens, in dem sich immer mehr Lügen auftürmen, bis das ganze Konstrukt zusammenbricht, hat für mich nichts an ihrer Faszination verloren. Es ist schön, dass es auch Fälle gibt, die gut ausgehen. Es ist sogar noch schöner, wenn sich damit für mich nach fünf Jahren Leidenschaft für True Crime ein Kreis schließt.

In dieser Fallgeschichte wurden die Namen der Beteiligten aus Gründen der Vertraulichkeit geändert.

Interview mit Strafverteidigerin Arabella Pooth

Arabella Pooth, geborene Liedtke, arbeitet seit 2013 als Strafverteidigerin in Dortmund und hat sich dabei auf besonders schwere Straftaten spezialisiert. Unter anderem war sie die Verteidigerin des sogenannten Mumien-Räubers aus diesem Fall. Außerdem hat sie in mehreren Prozessen Mitglieder sogenannter Clans verteidigt. 2014 promovierte sie an der Ruhr-Uni Bochum und war seitdem immer wieder als Strafrechtsexpertin in Zeitschriften und im TV zu sehen, zum Beispiel auch bei der »Verbrechen von nebenan«-Show auf Sky.

Philipp Fleiter: Du hast damals Hanno M. als Verteidigerin vertreten – wie ist dir der Fall in Erinnerung geblieben?

Arabella Pooth: Den Fall werde ich nie vergessen. Er war einer meiner spannendsten Fälle und gleichzeitig einer meiner größten Erfolge als Strafverteidigerin. In diesem Fall bin ich verteidigungstaktisch von der ersten Sekunde volles Risiko gegangen und habe es nicht bereut. Ich erinnere mich auch sehr gern an Hanno, der mir als sehr intelligenter und freundlicher Mensch in Erinnerung geblieben ist.

In diesem Fall war es eine einzige Lüge, die sich dann zu immer mehr Lügen aufgetürmt hat und schließlich zu den Banküberfällen führte. Ist es wirklich so, dass manchmal nur eine einzige falsche Entscheidung im Leben reicht, um auf der Anklagebank zu landen?

Definitiv! Von einer Sekunde auf die andere kann aus dem netten Familienvater ein Mörder werden. Gerade Tötungsdelikte entstehen nämlich oft aus einer plötzlich auftretenden, subjektiv aussichtslosen Situation, die eskaliert und dann in der Tötungshandlung mündet. Nach der Tat sind die Täter manchmal selbst geschockt über das, was sie getan haben. Sie fühlen sich auch dann, wenn die Tat rechtlich als Mord zu qualifizieren ist, selbst nicht als Mörder und sind fassungslos, wenn sie den Begriff »Mord« in der Anklageschrift lesen.

Warum bist du Strafverteidigerin geworden?

Verbrechen haben mich schon immer fasziniert. Vor allem die Frage, warum ein Mensch schwere Verbrechen begeht. Deshalb habe ich darüber nachgedacht, forensische Psychiaterin zu werden. Dabei hätte mir aber der sportliche Wettkampf gefehlt, den ich in meinem Leben einfach brauche. Mein Vater hat mir schon während meiner Kindheit vorgeworfen, meine Lieblingsworte seien »aber« und »doch«. Ich wollte immer das letzte Wort haben, wollte nie eine Situation als ausweglos akzeptieren. Mein Vater hat mir damals geraten, mich zu ändern. Ich habe mich aber dazu entschieden, »aber« und »doch« zu perfektionieren und zu meinem Beruf zu machen. Als Strafverteidigerin stehe ich allein mit meinem Mandanten dem übermächtigen Machtapparat des Staates gegenüber. Da muss man schon sehr laut »aber« und »doch« sagen können, um etwas zu bewegen. Das kann ich, und ich liebe es, in einem ausweglosen Fall das einzige Schlupfloch zu suchen, das zum Freispruch führt.

Was fasziniert dich so am Strafrecht, im Gegensatz zum Beispiel zum Sozialrecht?

Im Sozialrecht hat man es, wie im Strafrecht, natürlich auch mit interessanten Menschen und Lebenssachverhalten zu tun, und man hat auch hier die Situation, dass man allein mit dem Mandanten gegen den Staat antritt. Trotzdem können die Fälle, was die Spannung angeht, mit einem Strafverfahren nicht mithalten. Mir ist das Sozialrecht schlicht zu langweilig.

Heute verteidigst du viele Schwerstkriminelle wie Mörder, Totschläger und auch Sexualstraftäter. Hast du manchmal Zweifel, weil du zum Beispiel einen Kinderschänder vertreten musst?

Nein, das habe ich nicht. Ich verteidige unser Rechtssystem und den Täter. Niemals die Tat.

Gibt es für dich Grenzen – also würdest du einen Mandanten ablehnen? Und wenn ja, aus welchem Grund?

Ich verteidige niemanden, der mir zu Beginn des Mandats sagt, dass er von § 31 BtMG Gebrauch machen und Aufklärungshilfe leisten will. Das ist eine Verteidigungsstrategie, von der ich nicht überzeugt bin. Und wenn von Anfang an keine Einigkeit über die Verteidigungsstrategie zustande kommt, lehne ich ein Mandat direkt ab. Das gilt nicht nur für die Fälle des § 31 BtMG, sondern für alle Fälle, in denen die Vorstellungen über die Verteidigungsstrategie zu weit auseinanderliegen. Ansonsten lehne ich Mandate meist ab, weil ich keine freien Kapazitäten habe. Wenn ich einen Fall übernehme, gebe ich einhundert Prozent. Deshalb kann ich nicht jeden Fall annehmen.

In deinem Job hast du täglich mit wirklich schlimmen Taten und Tätern zu tun – gab es einen Moment, in dem du deshalb Angst hattest?

Angst hatte ich nur ein einziges Mal. Ich habe zum ersten Mal einen neuen Mandanten in Haft besucht, der vor vielen Jahren mehrere Frauen vergewaltigt und getötet und auch in der Haft mehrere Frauen angegriffen hat. Sofort habe ich bemerkt, dass er mich sehr eindeutig anstarrt. Dann hat er mir sein aktuelles psychiatrisches Gutachten rübergeschoben, in dem ich gelesen habe, dass er als impulsgestört und brandgefährlich eingestuft wird und seine dringend notwendigen Medikamente verweigert. Für einen Moment habe ich unfassbare Angst gehabt. Dann habe ich mich zusammengerissen und das Mandat trotzdem übernommen.

Hast du Fälle, die dich mehr belasten als andere?

Meine Fälle belasten mich in der Regel nicht. Wenn ich allerdings ausnahmsweise als Nebenklagevertreterin auftrete, wie im Fall Nicole Schalla, sieht das anders aus. Nach meinem ersten Gespräch mit den Schallas habe ich geweint, weil mich ihr Schicksal so berührt hat. Wenn man die Nebenklage vertritt, ist man viel näher dran am Leid der Opfer. Es fällt schwerer, den Fall objektiv und distanziert zu betrachten.

Nicole Schalla wurde 1993 im Alter von 16 Jahren auf dem Nachhauseweg ermordet. Erst nach 25 Jahren finden die Ermittler mithilfe moderner DNA-Technik ihren mutmaßlichen Mörder, der trotz einer Verurteilung wegen Verfahrensfehlern (noch) auf freiem Fuß ist. Du hast Nicoles Eltern in der Nebenklage vertreten und dieser Fall war extrem öffentlichkeitswirksam. Ist das große Medieninteresse in solchen Fällen eher Hilfe oder Hindernis?

Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Manchmal lässt sich mit guter Pressearbeit erreichen, dass die Öffentlichkeit auf der Seite des Mandanten steht. Das kann in Einzelfällen sogar im Gerichtssaal hilfreich sein und Einfluss auf das Urteil nehmen. In anderen Fällen geht es eher darum, eine einseitige Berichterstattung zulasten des Mandanten zu durchbrechen, indem man die Ansichten der Verteidigung in die Berichterstattung einfließen lässt. Oft ist die mediale Berichterstattung aber auch sehr hinderlich und bedeutet für den Mandanten – unabhängig vom Ausgang des Verfahrens – das Ende seiner beruflichen Karriere. In solchen Fällen wird man als Verteidiger darauf hinwirken, eine Berichterstattung so weit wie möglich zu vermeiden.

Außerdem hast du bereits mehrfach Mitglieder sogenannter Clans verteidigt – wie ist deine Meinung zu der von den Medien immer wieder berichteten Gefahr, die von solchen Familien-Clans ausgeht?

Ich sage aus voller Überzeugung, dass es diese Gefahr in dem medial behaupteten Ausmaß nicht gibt. Natürlich gibt es spektakuläre Fälle, wie den Diebstahl der Goldmünze aus dem Bode-Museum. Aber erstens ist das eher die Ausnahme und zweitens könnte jede beliebige Einbrecher-Truppe eine solche Straftat begehen. Das hat nichts mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie zu tun. Und schon gar nicht kann man daraus schließen, dass alle Mitglieder einer bestimmten Familie kriminell sind. Manche »Clan-Mitglieder«, die ich verteidige, sind beispielsweise überhaupt nicht vorbestraft. Wer öffentlich behauptet, sie seien kriminell, muss aufpassen, dass er sich nicht selbst strafbar macht, etwa wegen Verleumdung oder übler Nachrede. Ich mache mir wenig Sorgen wegen »Clan-Kriminalität«, aber ganz erhebliche Sorgen um unseren Rechtsstaat, wenn ich sehe, mit welcher Willkür die Behörden zum Teil gegen Menschen vorgehen, die bestimmten arabischen Großfamilien entstammen. Ist es wirklich notwendig, bestimmte Personen mehrmals täglich rein zufällig einer anlasslosen allgemeinen Verkehrskontrolle zu unterziehen? Nein, das ist reine Schikane. Und ist es in Ordnung, einen Menschen, dem Betäubungsmittelhandel oder Einbruchdiebstahl vorgeworfen wird, über Monate oder gar Jahre auf einer speziellen Sicherheitsstation in Einzelhaft zu sperren? Nein, das ist nicht verhältnismäßig. Und muss man wegen eines drei Jahre zurückliegenden Geldwäschevorwurfs bei jemandem mit einem Panzerfahrzeug vorfahren und die Tür einrammen, um sein Haus zu durchsuchen? Nein, das würde bei einem Herrn Meier, Müller oder Schulze wahrscheinlich selbst dann nicht passieren, wenn ihm ein Mord vorgeworfen wird. Eine solche Ungleichbehandlung darf in einem Rechtsstaat nicht stattfinden.

Nach wie vor ist der Frauenanteil in deutschen Gerichten, Kanzleien und Staatsanwaltschaften nicht so hoch. Ist es für dich eher ein Vor- oder ein Nachteil, eine Strafverteidigerin unter vielen Männern zu sein?

Weder noch. Die Hauptsache ist, dass man sich selbst in seiner Haut wohlfühlt. Ich werde mit Rock, High Heels und rotem Lippenstift genauso ernst genommen wie meine männlichen Kollegen. Ich glaube, das liegt daran, dass ich mich in meiner Rolle als Frau sehr wohl fühle und das auch ausstrahle. Ein Mann darf sich in meiner Gegenwart gern wie ein Mann benehmen. Er darf mir die Tür aufhalten und er muss mich nicht mit Handschlag begrüßen, wenn seine Religion ihm das verbietet. Ich fühle mich trotzdem, vielleicht sogar gerade deshalb respektiert. Ich möchte mich nicht wie ein Mann benehmen, und ich möchte auch nicht wie ein Mann behandelt werden.

Wie gehst du damit um, wenn du vor Gericht scheiterst?

Ich will zwar immer gewinnen, aber ich bin auch eine gute Verliererin. Wenn ich vor Gericht scheitere, beschäftigt mich das nur dann längere Zeit, wenn ich das Urteil wirklich für falsch halte. Lange beschäftigt hat mich beispielsweise das erstinstanzliche Urteil im Fall der Schießerei in Oer-Erkenschwick. Das Gericht wollte erstinstanzlich nicht anerkennen, dass mein Mandant in einem Fall in Notwehr gehandelt hat und in einem anderen Fall das Unrecht durch einen Täter-Opfer-Ausgleich wiedergutgemacht hat, und hat ihn zu einer nicht mehr bewährungsfähigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das war rechtlich falsch und damit ungerecht. Erst in der Revision habe ich es geschafft, dass das Urteil geändert wurde. Bis dahin hatte ich etliche schlaflose Nächte.

Du bist für deine Mandanten immer erreichbar, deine Handynummer ist öffentlich. Kann man dann überhaupt abschalten?

Natürlich habe ich keinen klassischen Nine-to-five-Job, bei dem ich nach getaner Arbeit abschalten kann. Abschalten kann ich am besten in der Badewanne und selbst aus der musste ich schon rausspringen, weil ein Mandant festgenommen wurde. Ich habe auch schon einmal einen Urlaub für einen Mandanten abgebrochen. Mein Beruf ist meine Leidenschaft. Ich kann mit voller Überzeugung sagen, dass es keinen einzigen Tag gab, an dem ich morgens aufgestanden bin und keine Lust hatte zu arbeiten. Wenn mein Handy klingelt, ärgere ich mich nicht, sondern ich freue mich auf einen spannenden Fall.

Sind vor dem Gesetz wirklich alle gleich oder kann man sich mit mehr Geld auch einfacher aus Verfahren »herauskaufen«?

Leider haben gut situierte Menschen deutlich bessere Chancen vor Gericht. Wer es sich leisten kann, beauftragt sofort mit der ersten Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung einen sehr guten Strafverteidiger, der das Verfahren vom ersten Moment an steuert und oft in der Lage sein wird, es in diesem frühen Stadium zu beenden. Wenn zu viel belastendes Material vorhanden ist, kann er gleichwohl in vielen Fällen aushandeln, dass das Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt wird. Wer kaum Geld zur Verfügung hat, wird keinen Anwalt beauftragen und sich möglicherweise bei der Polizei um Kopf und Kragen reden. Bei schwereren Straftaten bekommt zwar jeder unabhängig von seiner finanziellen Situation einen Pflichtverteidiger gestellt. Viele gute Strafverteidiger werden aber in umfangreichen Verfahren wegen der schlechten Bezahlung nicht als Pflichtverteidiger tätig. Im Verfahren kann es außerdem nötig sein, teure Privatgutachten einzuholen, um das Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen. So war es beispielsweise im Kachelmann-Prozess, wenn ich mich recht erinnere. Vor Gericht herrscht also definitiv eine Zweiklassengesellschaft.

Wann ist ein Urteil gerecht?

Das ist für einen Strafverteidiger leicht zu beantworten. Ein Urteil ist immer dann gerecht, wenn das Gesetz richtig angewendet wurde und das Urteil nach den Spielregeln der Strafprozessordnung zustande gekommen ist.

Was ist für dich als Anwältin schlimmer: Ein Unschuldiger, der zu Unrecht verurteilt wird, oder ein Schuldiger, der zu Unrecht freigesprochen wird?

Unschuldig im Gefängnis zu sitzen ist in meiner Vorstellung eine der furchtbarsten Situationen, die einem Menschen im Leben widerfahren können. Ein solcher Fehler darf einem Staat nicht unterlaufen, so etwas darf ein Staat einem Menschen nicht antun. Deshalb sind mir zwanzig Schuldige auf freiem Fuß lieber als ein einziger Unschuldiger in Haft.

Wie gehst du damit um, wenn du für einen Mandanten einen Freispruch erwirkst und derjenige in Freiheit dann ein schweres Verbrechen (wie einen Mord begeht)? Belastet dich das?

Natürlich würde mich das in gewisser Weise belasten. Aber ich würde mich nicht schuldig fühlen, nur weil ich meinen Job richtig und gut gemacht habe.

Glaubst du aus deiner eigenen Erfahrung, dass es Verbrecher gibt, die nie wieder freikommen sollten?

»Nie wieder« würde ich so nicht sagen. Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur nicht aufhören können, schwerste Straftaten wie Tötungs- oder Sexualdelikte zu begehen, sollten so lange in einer Maßregelvollzugsklinik oder in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden, bis sie nicht mehr gefährlich sind. Bei den meisten Menschen ist dies ab einem gewissen Alter anzunehmen. Bereits ab dem 40. Lebensjahr sinkt nämlich die Gefahr, dass jemand Straftaten begeht. Spätestens im Rentenalter geht von den meisten Menschen keine Gefahr mehr aus.

Warum, glaubst du, sind viele Menschen so sehr von Verbrechen fasziniert?

Die meisten Menschen finden es spannend, sich zu gruseln und zu fürchten. Wenn man sich mit Verbrechen beschäftigt, indem man Bücher darüber liest, Filme schaut oder einen True-Crime-Podcast wie »Verbrechen von nebenan« hört, kann man sich dieser spannenden Illusion von Gefahr hingeben, ohne sich selbst in eine reale Gefahrensituation begeben zu müssen.

Fall 2

Der Kreuzworträtsel-Mord

Fallname: Der Kreuzworträtsel-Mord

Zeitpunkt: 15.1.1981

Tatbestand: Mord

Ein Kind verschwindet

Am letzten Tag im Leben des 7-jährigen Lars Bense liegt Schnee auf den grauen Betonbauten, die die DDR-Regierung stolz als »Sozialistische Stadt der Chemiearbeiter« bezeichnet. Halle-Neustadt im heutigen Sachsen-Anhalt ist eine am Reißbrett geplante Schlafstadt für die Arbeiter der benachbarten Chemiewerke Buna und Leuna, die von oben so aussieht, als hätte ein sehr großes Kind seine grauen Bausteine einfach auf einem Acker liegen lassen. »Chemie ist Wohlstand« heißt die Losung der DDR-Führung und die wird umgesetzt – ohne Rücksicht auf Verluste. 90.000 Menschen leben in dieser Stadt, in der die Straßen keine Namen haben.

Lars Bense wohnt zusammen mit seiner Mutter und seiner 12-jährigen Schwester in Block 483, einem sechsgeschossigen Klotz mit orangenen Balkonen und ein paar Bäumen davor. Lars ist ein fröhlicher, aufgeweckter Junge mit leuchtenden Augen, der in die erste Klasse der Polytechnischen Oberschule in Halle-Neustadt geht. Sein Vater arbeitet wie die meisten hier bei den Chemiewerken. Er wohnt nicht bei seiner Familie, sondern in einer Junggesellenwohnung einige Kilometer entfernt. Für Lars ist es schwer zu verstehen, warum seine Eltern nicht zusammenleben. Mit seinem Vater hat er nur gelegentlich Kontakt.

Es ist der Nachmittag des 15. Januar 1981, Lars freut sich schon: Seine Mutter hat ihm an diesem Donnerstag endlich erlaubt, zusammen mit seiner Schwester zum Stadtteilzentrum »Treff« zu gehen, wo seine Freunde schon auf ihn warten. Im Kino des Zentrums läuft heute der japanische Zeichentrickfilm »Däumelinchen« in der DEFA-Fassung.

600 Meter sind es von der Wohnung der Benses im ersten Stock bis zum Stadtteilzentrum, den größten Teil geht Lars zusammen mit seiner Schwester. Vorbei an der großen Kaufhalle und der Poliklinik. Als das Stadtteilzentrum schon in Sichtweite ist, verabschiedet sich Lars gegen 15:30 Uhr von seiner Schwester – die letzten Meter will der 7-Jährige alleine laufen. Er wird dort niemals ankommen.

Die Suche

Als Lars zum Abendessen immer noch nicht zurück ist, hält es seine Mutter nicht mehr aus: Sie sucht nach ihrem Sohn, schaut auf den nahe gelegenen Spielplätzen nach und telefoniert die Eltern von Lars’ Freunden ab. Niemand hat den Jungen gesehen. Gegen 20 Uhr geht sie auf das 4. Volkspolizeirevier Halle-Neustadt, das genau gegenüber ihrer Wohnung liegt. Die Polizisten versuchen zuerst, die Frau zu beruhigen. Es sei doch normal, dass Kinder zwischendurch mal die Zeit vergessen. Aber Lars’ Mutter bleibt hartnäckig: Ihr Sohn sei noch nie so lange weg gewesen, außerdem ist es kalt und dunkel draußen. Irgendwann geben die Polizisten nach und starten eine erste Suchaktion. Mehrere Schutzmänner durchsuchen die Gegend zwischen der Wohnung der Benses und dem Stadtteilzentrum, befragen Lars’ Freunde und schauen auf Spielplätzen, Hinterhöfen und in Kellern nach. Unterstützt werden die Volkspolizisten von einer Gruppe freiwilliger Helfer. Aber sie finden nicht die geringste Spur.

So langsam kommt der Verdacht auf, dass hier etwas Schreckliches passiert ist.

Gegen Mitternacht wird Lars’ Mutter mit einem Polizeiwagen auf das Kreisamt der Volkspolizei gebracht, wo sie ganz offiziell eine Vermisstenanzeige bei der Kriminalpolizei aufgeben muss. Eine Eilfahndung wird ausgelöst. Aber auch als die Nacht in Ha-Neu, wie Halle-Neustadt damals genannt wird, vorbei ist, bleibt Lars Bense verschwunden. Die Suche wird ausgeweitet. In den riesigen Plattenbauten der Stadt gibt es Hunderte Versteck-Möglichkeiten wie leere Treppenhäuser oder einsame Flure mit leeren Abstellkammern. Die Polizisten befragen Zeitungsausträger, Taxifahrer und Angestellte des Kinos im Stadtteilzentrum »Treff«. Keiner von ihnen hat Lars irgendwo gesehen. Also werden am 16. Januar 1981 einige Büros im Volkspolizeirevier freigeräumt und eine Ermittlungskommission gegründet. Die Polizei glaubt, dass Lars einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.

Und das ist ein großes Problem: In drei Monaten wird sich die SED im Ost-Berliner Palast der Republik zu ihrem X. Parteitag treffen, bei dem 2700 Delegierte erwartet werden. Alle fünf Jahre organisiert die Staatspartei der DDR hier ein ganz großes Schaulaufen der Funktionäre. Dieses Mal soll ein großer Wirtschaftsplan beschlossen und Erich Honecker nach zehn Jahren im Amt als Generalsekretär des Zentralkomitees der Partei bestätigt werden. Hier will sich die DDR-Führung von ihrer besten Seite zeigen. Ein verschwundener Junge in Halle-Neustadt, der vielleicht sogar einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, passt da nicht ins Bild. Also macht die SED-Bezirksleitung Druck: Der Fall Lars Bense muss so schnell wie möglich aufgeklärt werden.

Die Leitung der Ermittlungsgruppe übernimmt der damals 52-jährige Hauptmann Siegfried Schwarz. Er ist ein erfahrener Ermittler, der seit ihrer Gründung für die Volkspolizei arbeitet. Bei seinen Vorgesetzten macht er sich nicht immer beliebt: Hauptmann Schwarz ist ein schlagfertiger Mann mit spitzer Zunge, eine Eigenschaft, die in der DDR ziemlich schnell Probleme machen kann. Er hat im Fall Lars Bense schnell den Verdacht, dass der Junge ermordet worden sein könnte.

In Abstimmung mit der SED-Bezirksleitung und der Parteiführung in Berlin entscheiden sich die Ermittler zu einem zu dieser Zeit äußerst ungewöhnlichen Schritt: Am 17. Januar, also schon zwei Tage nach dem Verschwinden von Lars Bense, erscheint in der Tageszeitung »Freiheit« ein Artikel mit der Überschrift »Volkspolizei bittet um Mithilfe«. Solche offiziellen Fahndungsaufrufe der Polizei in den Medien hat es bisher in der DDR kaum gegeben. Der Sozialismus muss unter allen Umständen weiter als friedlich und menschenfreundlich gelten. Kriminalität entsteht laut der SED-Führung aus schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen. Die gibt es vielleicht im Westen, aber sicher nicht in der Deutschen Demokratischen Republik. Aus Sicht des Regimes haben die Menschen in der DDR absolut keinen Grund zu morden. Deshalb werden gerade Kapitaldelikte wie Mord oder Entführung zu diesem Zeitpunkt in der DDR mit einem größtmöglichen Einsatz von Personal und Ressourcen und den kleinstmöglichen Informationen für die Öffentlichkeit aufgeklärt. Eine Vermisstenanzeige in einer regionalen Zeitung wie der »Freiheit« mit einer Auflage von einer halben Million Exemplaren ist deshalb damals etwas absolut Außergewöhnliches.

Währenddessen suchen die Polizisten auch im Untergrund der Stadt: Halle-Neustadt ist unter der Erde durchzogen von einem Netz von Versorgungsgängen und -schächten, die Kollektoren genannt werden. Hier finden die Fahnder zwar verstecktes Diebesgut und Hehlerware, aber keine Spur von Lars. Mehr als 100 Personen, die am 15. Januar bei der Kinovorführung von »Däumelinchen« im Stadteilzentrum waren, werden befragt. Außerdem durchsuchen die Ermittler die Gewässer der Gegend, wie die Angersdorfer Teiche oder den Kirchteich. Vielleicht ist Lars ja ins Eis eingebrochen? Außer alten Kinderschuhen, benutzten Taschentüchern und weggeworfenen Fahrkarten finden sie nichts. Trotzdem wird alles protokolliert und abgeheftet, nach wenigen Tagen füllen die Akten zu dem Fall Lars Bense ein komplettes Zimmer.

Während der Druck bei der Ermittlungskommission immer weiter steigt, wird Familie Bense in der Wohnung direkt gegenüber immer verzweifelter. 30 Jahre nach dem Fall erinnert sich Siegfried Schwarz in einer ARD-Doku, dass er zu dieser Zeit oft am Fenster seines Büros steht und zur Wohnung der Familie rüberschaut, die ihren Sohn und Bruder seit Tagen nicht mehr gesehen haben.

Das Kind im Koffer

Erst zwei Wochen nach seinem Verschwinden taucht Lars Bense wieder auf. Es ist der 28. Januar 1981 auf der Bahnstrecke zwischen Halle und Leipzig, nahe der Stadt Schkeuditz. Der 19-jährige Uwe Theuerkorn, Streckenläufer der DDR-Reichsbahn, ist an diesem kalten Tag wie immer auf seinem Kontrollgang entlang der Schienen unterwegs. Zwischen ausgemusterten Betonschwellen macht er eine ungewöhnliche Entdeckung: Im Schnee liegt ein verbeulter brauner Pappkoffer. Theuerkorn ist neugierig. Vielleicht sind Jeans aus dem Westen in dem Koffer oder Geldscheine? Die würde er natürlich wegpacken und niemandem von seinem Fund erzählen. Trotzdem will er erst mal vorsichtig sein und öffnet den Koffer mit einem Schraubenschlüssel, ohne ihn zu berühren: »Anscheinend hab ich früher zu viele Kriminalromane gelesen«, erinnert er sich später.

Als Erstes sieht er den Oberschenkel. Zwischen Plastiksäcken schimmert hell die Haut eines Jungen hervor. Theuerkorn drückt mit dem Schraubenschlüssel vorsichtig auf das Bein. Vielleicht ist ja noch Leben in dem Jungen? Ist es nicht.

Streckenläufer Theuerkorn ist völlig schockiert. Er hält einen Güterzug an, der auf dem Gleis nebenan fährt. Der Triebfahrzeugführer verständigt den Fahrdienstleiter und kurze Zeit später ist die Polizei vor Ort. Das Kind im Koffer ist Lars Bense, das steht für die Ärzte vom Leipziger Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik sehr schnell fest. Durch die kalten Temperaturen ist der kleine Körper kaum verwest.

Lars Bense ist durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf und massive Stichverletzungen in die Brust getötet worden. Außerdem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass der 7-Jährige vor seinem Tod sexuell missbraucht wurde. An seiner Kleidung finden sich jede Menge Haare, Fasern und andere Spuren. Der Mörder hat seine Leiche in Plastik eingewickelt und in den Koffer gepackt. Wahrscheinlich um zu verhindern, dass Blut aus dem Koffer läuft, hat er ihn außerdem mit zerknüllten nassen Zeitschriften und Zeitungen ausgestopft. Die Ermittler finden unter anderem Ausgaben der Tageszeitung »Junge Welt«, des Frauenmagazins »Für Dich« und gleich mehrere Exemplare der Zeitung »Freiheit«, in der vor Kurzem der Suchaufruf nach Lars Bense veröffentlicht wurde. Alle Zeitungen und Zeitschriften stammen aus dem Januar.

Ermittlungsleiter Schwarz lässt den Koffer und die Zeitungen nach Halle bringen, um sie dort untersuchen zu lassen. Leider geben die Zeitungen keinen Hinweis darauf, wo sie gekauft wurden, aber die Ermittler finden eine andere Spur: In allen Zeitungen entdecken sie ausgefüllte Kreuzworträtsel. Sechs Kreuzworträtsel sind komplett ausgefüllt, in manchen stehen nur wenige kurze Wörter wie Ei, Arena und Moskwa – immer in derselben Handschrift. Führen diese Buchstaben zum Mörder von Lars Bense?

Das Versprechen

Siegfried Schwarz hat jetzt eine besonders schlimme Aufgabe vor sich. Der vierfache Vater muss Lars’ Eltern informieren. Der Vater regiert wütend und schreit: »Wenn ich das Schwein kriege, dann mach ich ihn kalt«. Frau Bense ist gefasster als ihr Mann, sie fragt den Ermittler nur: »Wie geht es jetzt weiter?« In diesem Moment gibt Hauptmann Schwarz den Eltern ein Versprechen: »Familie Bense, sie können sich darauf verlassen: Egal wie lange es dauert, eins verspreche ich Ihnen: Der Mörder ihres Sohnes wird gefunden und seiner gerechten Strafe zugeführt.« Dabei hat er zu diesem Zeitpunkt bis auf ein paar hingekritzelte Buchstaben nicht die geringste Spur.

Zunächst versuchen die Ermittler deshalb, den Besitzer des Koffers zu finden, der ein auffälliges Innenfutter hat. Hunderte Schaulustige drücken sich an einem Schaufenster des Centrum-Kaufhauses am Hallenser Marktplatz die Nasen platt – in dem Schaufenster ist neben einem Fahndungsplakat auch der Koffer ausgestellt, in dem die Leiche von Lars Bense gefunden wurde. Das allerdings dürfen die Ermittler nicht dazuschreiben. Auf dem Plakat ist nur von einer schweren Straftat die Rede. Sexueller Missbrauch an Kindern ist in der damaligen DDR ein absolutes Tabuthema, über das nie öffentlich gesprochen wird. Der Theologe und Missbrauchs-Experte Christian Sachse spricht später in einem Interview mit dem MDR von einem »staatlich betriebenem Schweigen« einer »Tabuisierung, die vom ganzen Staatsapparat eingehalten« wurde. Daran müssen sich auch die Ermittler der Mordkommission halten. Für die Bevölkerung soll es unbedingt so aussehen, als ob sexueller Missbrauch in der DDR so gut wie gar nicht existiert. Wahrscheinlich gibt es auch deshalb trotz vieler neugieriger Menschen vor dem Schaufenster keinen einzigen verwertbaren Hinweis. Allerdings hofft die Polizei, dass sich vielleicht auch der Täter den Koffer im Schaufenster noch mal genauer anschauen will. Deshalb wird in dem Schaufenster eine versteckte Kamera installiert, die einen möglichen Verdächtigen, der vielleicht ein bisschen zu lange vor dem Fenster steht, aufzeichnet. Aber auch das passiert nicht.

Bleibt die Befragung von allen potenziellen Verdächtigen im Umkreis. Insgesamt überprüfen die Ermittler Tausende Personen in Halle-Neustadt und dem gesamten Saale-Kreis, darunter 100 Bekannte der Familie Bense, 200 polizeilich bekannte Pädophile, mehr als 250 vorbestrafte Sittlichkeitsverbrecher und rund 1000 Menschen, die sich regelmäßig am Versorgungszentrum beim Stadtteilzentrum aufhalten. Es ist die verzweifelte Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Für einen »Polizeiruf 110« aus dem Jahr 1986 stellt Schauspieler Ernst-Georg Schwill den Fund von Lars’ Leiche nach

Das Rätsel

Als die Ermittler zwei Wochen vor dem SED-Parteitag immer noch keine Erfolge vorweisen können, macht die Parteiführung Druck: Der Vorgesetzte von Siegfried Schwarz wird am 27. März 1981 zum Chef seiner Bezirksbehörde zitiert. Mittlerweile ist es zwei Monate her, dass die Leiche von Lars Bense gefunden wurde, und immer noch gibt es nicht die geringste Spur von seinem Mörder. Die SED-Führung will Erfolge sehen und weist die Ermittler deshalb an, das zeitaufwendige Überprüfen von potenziellen Verdächtigen einzustellen. Stattdessen soll sich die Polizei auf die Kreuzworträtsel aus dem Koffer konzentrieren.

Schriftsachverständige haben die Kreuzworträtsel untersucht und sind dabei zu zwei Ergebnissen gekommen: Alle Rätsel wurden von einer Person ausgefüllt, und diese Person hat eine sehr ungewöhnliche Handschrift. So finden sie zum Beispiel beim großen A zwischen dem linken senkrechten Strich und dem oberen Bogen immer wieder eine kleine Lücke, eine »Schreibunterbrechung« nennen es die Experten. Ähnliches finden sie auch bei anderen Buchstaben und auch das große Z ist auffällig: Es hat in der Mitte einen kleinen Querstrich.

Kriminalpsychologen glauben, dass es sich um die Handschrift einer Frau mittleren Alters handelt. Aber eine Frau wäre körperlich höchstwahrscheinlich gar nicht dazu fähig, dem Jungen so schwere Verletzungen zuzufügen. Also kann die Person, die die Kreuzworträtsel ausgefüllt hat, nicht der Mörder sein. Aber sie kennt den Mörder, da ist sich Ermittler Siegfried Schwarz sicher. Jetzt müssen die Ermittler diese Person nur noch irgendwie finden. Die Parteiführung sagt den Ermittlern ihre Unterstützung zu.

Was jetzt folgt, ist die weltweit größte Auswertung von Schriftproben. Insgesamt werden die Ermittler weit mehr als eine halbe Million Proben sammeln und vergleichen – aber das wissen sie jetzt noch nicht. Die Suche gestaltet sich äußerst mühsam: Hunderte Polizisten und freiwillige Helfer klappern nach und nach die Haushalte in Halle-Neustadt ab, klingeln an den Türen und bitten die Menschen, den folgenden Satz in großen Druckbuchstaben aufzuschreiben: »Ein zweitägiges Kolloquium, das am Dienstag in Berlin begann, befasst sich mit Karl-Friedrich Schinkels Werk und dessen Bedeutung für die DDR.« Später stellen die Ermittler ihr Verfahren um und fragen nur noch nach einzelnen Wörtern, die besonders viele Buchstaben aus den Lösungswörtern der Kreuzworträtsel enthalten, zum Cello, Dame, Gage oder Raps.

Offiziell ist die Teilnahme freiwillig und die meisten Bürger machen bereitwillig mit. Einige weigern sich, vor allem Parteifunktionäre der SED