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Eine einsame Gestalt steht hoch oben auf dem Mausoleum des Hadrian - ein Mann. Hinter ihm geht die Sonne unter, weit unter ihm führt der Fluss Hochwasser. Am anderen Ufer liegt der Mittelpunkt der Welt: Rom. Schritte hallen die Stufen hinauf. Der Feind! Marcus Clodius Ballista sitzt in der Falle - und springt. Es bleiben ihm nur 24 Stunden, um den Imperator zu retten, auf den am nächsten Abend ein Attentat verübt werden soll. Eine blutige Jagd durch die Stadt beginnt. Eine Jagd, auf der Ballista selbst verfolgt wird. Und nur die Götter wissen, wer ein Freund ist - und wer Feind ...
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Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2019
Eine einsame Gestalt steht hoch oben auf dem Mausoleum des Hadrian – ein Mann. Hinter ihm geht die Sonne unter, weit unter ihm führt der Fluss Hochwasser. Am anderen Ufer liegt der Mittelpunkt der Welt: Rom. Schritte hallen die Stufen hinauf. Der Feind! Marcus Clodius Ballista sitzt in der Falle – und springt. Es bleiben ihm nur 24 Stunden, um den Imperator zu retten, auf den am nächsten Abend ein Attentat verübt werden soll. Eine blutige Jagd durch die Stadt beginnt. Eine Jagd, auf der Ballista selbst verfolgt wird. Und nur die Götter wissen, wer ein Freund ist – und wer Feind …
Harry Sidebottom wuchs in den Rennställen von Newmarket auf, wo sein Vater als Trainer arbeitete. Dennoch entschied er sich für eine Laufbahn als Historiker – er promovierte in Alter Geschichte in Oxford und lehrte an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Oxford. Nach einem gefeierten Sachbuch über antike Kriegsführung und zahlreichen Fachartikeln veröffentlichte er diverse Abenteuerromane aus dem antiken Rom. Jagd durch Rom – XXIV ist sein erster historischer Thriller.
Harry Sidebottom
XXIV
Jagd durch Rom
Ein Mann. Tausend Feinde.24 Stunden, die über Lebenund Tod entscheiden
Roman
Aus dem Englischenvon Rainer Schumacher
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Harry Sidebottom
Titel der englischen Originalausgabe: »The Last Hour«
Originalverlag: Bonnier Zaffre
Originally published in the English language as THE LAST HOUR by Bonnier Zaffre, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Rainer Delfs, Scheeßel
Titelillustration: © Jacket design by Cherie Chapman; Jacket front artwork by Larry Rostant; Jacket flap image © Shutterstock.com
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-7264-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Tante, Terry Bailey
»Die letzte Stunde.«
Der Sterbende lag an der Wand auf dem Boden und presste beide Hände auf die Wunde in seinem Bauch.
Ballista beugte sich über ihn. »Die letzte Stunde von was?«
»Morgen. Die – die letzte Stunde des Tages. Sie werden den Kaiser töten, wenn er aus dem Kolosseum kommt.«
Von irgendwo unter ihnen, aus den Tiefen des Grabmals, ertönte ein Geräusch.
Ballista ging zur Tür und stieg vorsichtig über die beiden Leichen hinweg.
Er hörte Schritte von mit Eisen beschlagenen Stiefeln und das Klirren von Waffen. Unten, am Eingang des Mausoleums, waren Bewaffnete. Viele. Und sie kamen hoch.
Ballista kehrte wieder in den Raum zurück.
»Hilf mir!«, flehte der Verletzte.
Ballista schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Wer?«
»Das haben sie nie gesagt.«
Ballista schlug ihn erneut.
»Bitte. Ich weiß es nicht.«
Ballista glaubte ihm.
»Lass mich nicht hier.«
Ballista hatte die beiden Messerstecher getötet, als er durch die Tür gestürmt war, doch den Informanten hatte er nicht mehr retten können. Trotzdem kannte er jetzt Ort und Zeit.
»Bitte.«
Die Mission war noch nicht gescheitert, nicht, wenn Ballista die Flucht gelang. Er stand auf.
»Sie werden mich umbringen!«
Ballista bewegte sich zur Tür. Die Geräusche kamen immer näher.
»Du kannst mich doch nicht alleinlassen.«
Der Weg nach unten war versperrt. Also musste er nach oben. Ballista wandte sich nach links und lief die Treppe hinauf.
»Barbaren-Bastard!«
Ballista lief weiter.
»Bastard!«
Der Gang wand sich spiralförmig durch das Herz des riesigen Monuments. Vor vielen Jahren war Ballista schon mal hier gewesen, damals, als er zum ersten Mal in die Stadt gekommen war. Vom Dach hatte man einen fantastischen Blick über die Stadt. Er erinnerte sich daran, dass es dort oben einen Dachgarten gab sowie eine Statue Kaiser Hadrians auf einem Streitwagen. Und vielleicht würde es von dort auch einen anderen Weg nach unten geben – so der Allvater Odin denn wollte, hieß das.
Das Treffen war eine Falle gewesen. Scarpio hatte ihn zu dem Treffen mit dem Informanten geschickt, und er hatte darauf bestanden, dass Ballista allein gehen solle. Hatte der Präfekt der Vigiles gewusst, dass das eine Falle war? Ballista hatte keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken. Sollte er die nächste Stunde überleben, konnte er sich noch immer darum kümmern.
Ballista rannte und hielt dabei das Schwert an seiner Seite fest, damit es nicht gegen seine Beine schlug. Es ging immer links herum und hinauf. Immer weiter und weiter, stets zwei Stufen auf einmal. Und während Ballista unter den Lichtschächten an der Decke entlanglief, rannte er immer wieder durch unwirkliche Lichtsäulen, doch nur, um sofort wieder im Zwielicht zu verschwinden.
Seine Brust schmerzte, und auch seine Beine wurden schwer. Wie weit war es denn noch bis oben?
Auf der Innenseite der spiralförmigen Treppe kam Ballista immer wieder an geschlossenen Türen vorbei, aber er hielt nicht an. Wenn die in Kammern wie die führten, die er gerade verlassen hatte, dann würde er dort nichts finden außer der Asche von schon lange verstorbenen Mitgliedern alter Kaiserdynastien. Einen Weg hinunter gab es dort mit Sicherheit nicht.
Laute Stimmen hallten von unten zu Ballista hinauf, gefolgt von einem Schrei.
Die heraufstürmenden Männer hatten ihre Freunde und den Informanten gefunden. Dass Erstere tot waren, erfreute sie bestimmt nicht, und dass Letzterer ihnen von Ballista erzählen würde, machte jetzt auch keinen Unterschied mehr. Die Bewaffneten würden sie beide tot sehen wollen, und Ballista konnte nur nach oben geflohen sein.
Erneut hallte ein Schrei durch das steile Treppenhaus und verstummte sofort wieder.
Mittlerweile schmerzte Ballistas Brust bei jedem Atemzug, und der Schweiß rann ihm über die Stirn. Würde diese Treppe denn niemals enden? Er fühlte sich schon wie Sisyphos in der Unterwelt.
Eine letzte Ecke, und da war die Tür. Ihr Götter, lasst sie unverschlossen sein!
Die Tür öffnete sich nach außen. Ballista schloss sie hinter sich, lehnte sich dagegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dreiundvierzig Winter war er nun schon auf Midgard. Das war schlicht zu viel für diese Art von Anstrengung.
Der Dachgarten war auf einer flachen Kuppel angelegt, wie auf einem kleinen Hügel, und auf der Kuppe stand eine überlebensgroße Statue des Kaisers Hadrian auf einem Triumphwagen, der von vier Pferden gezogen wurde. Die furchtbaren Stürme der letzten Tage waren zwar vorbei, doch die Luft roch immer noch nach Regen und die Steine waren feucht.
Von hier musste es doch noch einen anderen Weg nach unten geben. Ballista stieß sich von der Tür ab und stieg zur Kuppe hinauf.
Die Sonne senkte sich über dem Horizont, und die Zypressen hier oben warfen lange Schatten. In noch nicht einmal einer Stunde würde es dunkel sein.
Ballista umrundete die Statue. Nichts. Noch nicht einmal eine Falltür. Aber die Gärtner, Pflanzen und Diener mussten doch irgendwie hier raufkommen. Er schaute sich wild um.
Unter den Zypressen war der Garten mit Obstbäumen und Blumen bepflanzt. Pfade führten von der Kaiserstatue in alle Richtungen. Und es gab auch Hecken, Topfpflanzen, schwere Gartenmöbel, Springbrunnen und kleine Statuen. Sicher hatte man den Zugang für die Gärtner gut getarnt. Schließlich wollten die Patrizier keine Sklaven sehen, wenn sie hier oben die Aussicht genossen. Doch Ballista hatte keine Zeit zum Suchen.
Dann fielen ihm die Lichtschächte wieder ein. Nein. Selbst, wenn er einen davon finden könnte, wäre er zu schmal. Außerdem gab es dort nichts, was ihm als Kletterhilfe hätte dienen können. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Ballista ging den Pfad nach Osten runter.
Dort befand sich ein kleines Holzgeländer auf einer niedrigen Ziermauer am Rand des Gartens, an dem in regelmäßigen Abständen kleinere Statuen standen. Ballista schaute nicht auf die Stadt am Ufer hinab, ja noch nicht einmal auf die Wasser des Tibers, die sich an dem Mausoleum entlangwanden. Stattdessen packte er das in Marmor gehauene Bein des zum Untergang verdammten Antoninus, den Hadrian so sehr geliebt hatte. Einen Römer mochte diese Assoziation beunruhigen, doch Ballista, den Sohn des Nordens, kümmerte das nicht. Zum Glück war er außerdem schwindelfrei, und so lehnte er sich so weit es ging über das Geländer.
Das Mausoleum war mit weißem Marmor verkleidet. Die Blöcke waren derart kunstvoll eingepasst, dass man die Trennlinien kaum erkennen konnte. Halt für die Finger fand man dort jedenfalls nicht. Insgesamt führten über siebzig Fuß glatte Wand bis zur Basis, und dann ging es noch einmal vierzig Fuß bis zu dem schmalen Flussufer hinunter. Da konnte man nicht runterklettern.
Ballista rannte wieder zur Treppe hinauf und öffnete die Tür. Seine Verfolger kamen immer näher. Deutlich hörte er ihr angestrengtes Keuchen. Ohne nachzudenken wanderte Ballistas Hand zum Dolch an seiner Hüfte. Er zog ihn ein Stück heraus, steckte ihn aber sofort wieder weg. Seine Linke lag auf der Schwertscheide. Auch diese Klinge zog er ein paar Zoll heraus, ehe er sie wieder zurückfallen ließ. Schließlich legte er die Hand auf den magischen Stein, den er an seine Schwertscheide gebunden hatte.
Allvater Odin, wache über deinen Abkömmling. Lass nicht zu, dass ich Schande über meine Vorfahren bringe. Wenn ich sterbe, dann lass mich ihnen Ehre machen.
Ballista zog seinen Mantel aus und wickelte den dicken Stoff als Schild um seinen linken Unterarm. Ein paar Falten ließ er dabei in der Hoffnung herunterhängen, dass sich die Waffe eines Gegners darin verfangen würde.
Ballista wollte nicht sterben. Es gab viel zu viel, wofür es sich zu leben lohnte: seine Frau Julia, ihre gemeinsamen Söhne Isangrim und Dernhelm und sein bester Freund Maximus. Ballista schob diese Gedanken rasch beiseite. Ihm blieb keine Wahl. Entweder kämpfte er sich durch, oder aber er würde mit dem Schwert in der Hand fallen. Und sollte er hier wirklich sterben, dann zumindest nicht als Feigling.
Schwungvoll zog Ballista sein Schwert.
Denke nicht, handle.
Ballista ging durch die Tür, zog sie hinter sich zu und positionierte sich an der letzten Ecke der Treppe.
Die Männer waren fast da.
Leider war die Treppe breit genug für zwei Angreifer nebeneinander, ja sogar für drei, wenn sie es in Kauf nahmen, sich leicht zu behindern.
Schwere Schritte, Stöhnen und das Klirren von Waffen. Gleich würden sie ihn erreichen.
Mit dem Schwert vor sich und mit dem Rücken zur Tür atmete Ballista tief durch und verteilte sein Gewicht auf beide Beine. Und jetzt warte. Es dauert nicht mehr lang. Warte.
Das Geräusch der näher kommenden Feinde hallte von den Wänden wider und wurde stetig lauter.
Jetzt!
Ballista trat um die Ecke und schwang in einer fließenden Bewegung das Schwert mit der Rückhand.
Die Klinge traf den ersten Mann mitten ins Gesicht. Blut spritzte aus der Wunde und brannte Ballista in den Augen. Die anderen erstarrten. Sie waren wie benommen von dem Angriff, der so unerwartet gekommen war wie eine Geistererscheinung.
Götter der Unterwelt, was sind das viele!
Ballista riss die Klinge aus dem zerschmetterten Gesicht und stieß den Mann die Treppe runter. Der tödlich Verwundete versuchte, sich links und rechts an seinen Gefährten festzuhalten, und fiel in die dahinter. Die Männer standen so dicht beisammen, dass sie alle dadurch ins Wanken gerieten und Mühe hatten, nicht zu Fall zu kommen.
»Tötet ihn!«, brüllte jemand weiter unten.
Ballista rückte vor und stieß mit dem Schwert nach einer Gestalt zu seiner Rechten. Der Mann wehrte den Stoß zwar mit militärischer Präzision ab, wich aber auch zurück.
Zehn, zwölf oder sogar mehr – Ballista konnte sie nicht alle sehen. Sie standen zwar dichtgedrängt, aber auch um die Ecke herum.
»Er ist allein. Tötet ihn!« Die Stimme, die von unten kam, war schrill vor Wut und kam Ballista irgendwie vertraut vor.
Zwei Männer machten sich zum Angriff bereit. Die anderen warteten ein paar Stufen darunter. Das war schlecht. Diese Kerle verstanden offenbar ihr Geschäft, und sie hatten nicht die geringste Absicht, sich gegenseitig in den Weg zu kommen. Sie trugen Zivilkleidung, waren jedoch bewaffnet. Jeder hielt ein Gladius in der Hand. Bei den Legionen war das Kurzschwert zwar nicht mehr in Gebrauch, doch in der Enge dieses Treppenhauses war es weit effektiver als Ballistas deutlich längere Waffe.
Die beiden Männer schauten einander an und stürmten dann herauf. Der Linke setzte zum Schlag gegen Ballistas Beine an. Ballista fing den Hieb mit seinem herunterhängenden Mantel ab und nutzte den Schwung, um den Mann zwischen sich und den zweiten Angreifer zu ziehen. Zustechen, immer zustechen, niemals schlagen. Der Stahl musste nur ein Zoll tief eindringen, um tödlich zu sein. Der Mann versuchte, wieder zurückzuweichen, doch sein eigener Schwung arbeitete gegen ihn. Der Stoß war nicht sauber. Ballistas Klinge rutschte am Brustbein ab, bevor sie sich in das weiche Fleisch am Hals des Mannes bohrte.
Ballista riss sein Schwert wieder zurück, und erneut spritzte Blut. Der Mann brach zusammen und fiel gegen seinen Kameraden. Ballista ließ sich auf ein Knie fallen und schlug um den Sterbenden herum nach dem Oberschenkel des Unverletzten. Manchmal konnte man schlicht nicht zustechen. Manchmal musste man hacken wie ein Metzger. Der Mann heulte auf und ging zu Boden. Sein Schwert fiel klappernd auf die Marmorstufen. Er würde zwar nicht sterben – es sei denn, er verblutete –, aber er war außer Gefecht.
Jetzt war der Augenblick zum Angriff gekommen. Es galt, die Entschlossenheit des Gegners zu brechen und ihn die Treppe hinabzutreiben.
Ballista stieg hinunter, schnell, aber vorsichtig. Die Stufen waren glatt von Blut. Das Schwert hielt er vor sich, um die größere Reichweite seiner Waffe auszunutzen. Und Ballista stieß den barbarischen Kriegsschrei seiner Jugend aus. Urtümlich und furchterregend hallte der Schrei von den Marmorwänden wider.
Die Männer verloren jedoch nicht die Nerven, und sie flohen auch nicht panisch die Treppe hinunter. Tatsächlich zuckten sie noch nicht einmal. Sie hatten die Reihen geschlossen. Jetzt standen sie zu dritt nebeneinander, und zwischen ihnen war kein Durchkommen mehr. Geduckt, die Schwerter nach vorn gerichtet und die Mäntel um die linken Arme gewickelt, hatten sie eine improvisierte Schlachtreihe gebildet. Das waren keine Anfänger. Sie wussten ganz genau, was sie taten.
Ballista täuschte nach links an und stieß nach dem Schwertkämpfer in der Mitte. Der Mann parierte. Sein Kamerad zur Linken verkürzte die Distanz und stieß seinerseits zu. Der Stoß traf Ballistas Arm mit voller Wucht. Er spürte, wie der Stahl durch den Stoff des Mantels schnitt, doch er drang nicht tief genug ein, um auch seinen Unterarm zu erreichen. Schnell wie eine Schlange stieß Ballista nach dem Gesicht des Mannes, aber der Kerl duckte sich unter dem Stoß weg und zog sich zwei, drei Schritte zurück. Die anderen beiden taten es ihm nach. Die Hinteren machten ihnen Platz. Diese Kerle waren geradezu unheimlich diszipliniert. Unbeirrt blieben sie in Formation.
Das funktionierte nicht. Ballista musste sich etwas Neues einfallen lassen, und zwar schnell.
»Macht ihn fertig!« Das war wieder die körperlose Stimme von unten.
Die Meuchelmörder schauten einander an, rührten sich aber nicht.
Rückwärts, das Gesicht zum Feind, stieg Ballista über die Toten hinweg hinauf. Als er bei dem Verwundeten war, packte er ihn am Kragen, zog ihn halb in die Höhe und drückte ihm das Schwert an den Hals.
»Nur ein Schritt und euer Kamerad ist tot.«
Im Zwielicht schauten die Männer einander an. Jeder wartete darauf, dass ein anderer die Initiative ergriff.
»Ich gehe jetzt aufs Dach. Wenn ihr mir folgt, wenn der Erste von euch den Kopf durch die Tür streckt, dann schneide ich eurem Freund die Kehle durch.«
Die Männer schwiegen und rührten sich nicht.
»Und er wird nicht der Einzige sein, den ich in die Unterwelt mitnehme. Man hat euch für das Töten bezahlt, nicht fürs Sterben.«
Ballista zog sich zurück und schleppte den Verletzten mit.
Die Männer machten keinerlei Anstalten, ihm zu folgen.
Als er außer Sicht war, zerrte Ballista seinen Gefangenen durch die Tür, aber er schloss sie nicht, denn er wollte hören, was unten vor sich ging.
Nichts deutete darauf hin, dass man ihn verfolgte, doch das würde sich bald ändern.
»Lass mich leben«, flehte der Mann leise.
Ballista schaute sich um und dachte nach. Allmählich gingen ihm die Möglichkeiten aus.
»Ich habe Frau und Kinder. Da konnte ich das Geld gut gebrauchen.«
Ballista zog den Kopf seines Gefangenen zurück. »Du hast dir einfach die falsche Arbeit ausgesucht.«
»Ich will nicht sterben.«
»Keine Angst«, erwiderte Ballista. »Der Tod ist nur ein langer Schlaf.«
Mit geübter Hand schnitt Ballista ihm die Kehle durch, und wie ein Opfertier sackte der Mann in sich zusammen.
Ballista wischte die Klinge an der Tunika des Toten ab. Er glaubte seine eigenen Worte nicht.
Dann kam wieder die Stimme von unten. »Ihr Feiglinge! Macht, dass ihr da raufkommt, und bringt den Barbaren um!«
Ballista hatte entdeckt, wonach er gesucht hatte. Er steckte das Schwert weg, und als er die Tür zustieß, hörte er vorsichtige Schritte näher kommen.
Ein paar Schritte entfernt befand sich eine Gartenbank, ein massives, reich verziertes Ding aus Eisen. Dank seiner geschmiedeten Bärenklaublätter und Lotosblüten sollten sich jene, die hier saßen, im Einklang mit den Pflanzen des Gartens fühlen. Es kostete Ballista all seine Kraft, um die schwere Bank zur Tür zu schleppen und sie damit zu verbarrikadieren. Lange würde das seine Gegner zwar nicht aufhalten, aber ihm wenigstens etwas Zeit verschaffen.
Nach dieser Anstrengung keuchte Ballista wie ein Hund und machte sich auf den Weg durch den Garten auf die Flussseite des Monuments. Ihm blieb nur eine Möglichkeit, und die war nicht gut.
Das zerbrechliche Geländer an der Statue des Antoninus brach nach einem kräftigen Tritt und war nach weiteren ganz verschwunden. Es zu zertrümmern hatte nicht viel Zeit gekostet.
Ballista stand am Rand des Abgrunds. Der Fluss lag tief unter ihm. Am anderen Ufer erstreckte sich die Stadt wie ein Bühnenbild im Theater. Zu Ballistas Linker erhob sich das riesige Mausoleum des Augustus mit seinem gewaltigen künstlichen Hügel über dem eigentlichen Grab. Daneben konnte man flache, grüne, offene Gärten sehen, durchsetzt mit kleineren Denkmälern. Daran anschließend sah man das Nördliche Marsfeld, das die Kaiser zu einem riesigen Garten umgebaut hatten, wo die Plebejer spazieren gehen und einen Eindruck vom Luxusleben in den Villen der Patrizier bekommen konnten. Nur die vereinzelten Rauchfahnen von den Feuern der Obdachlosen störten das makellose Bild – rus in urbe, das Land in der Stadt.
Unmittelbar davor lagen die sorgfältig angeordneten Monumente des Südlichen Marsfelds. Ballistas Blick wanderte vom Stadion des Domitian zu den Thermen des Nero. Dahinter und leicht rechts davon erhob sich der Kapitolhügel mit dem Capitolium, dem Tempel des Jupiter Optimus Maximus auf der Spitze, dessen goldenes Dach im Licht der untergehenden Sonne funkelte. Und hinter dem Capitolium ließ das Licht die Dächer des Palatins erstrahlen, unter denen der Kaiser jetzt vielleicht gerade seine letzte Nacht auf dieser Erde verbrachte, es sei denn, Ballista konnte ihn warnen.
Aber erst einmal konzentrierte sich Ballista wieder auf die Gegenwart. Der Fluss unter ihm war bereits in Schatten gehüllt. Das Wasser des Tiber war dunkelgelb. Dank der Schneeschmelze in den Bergen des Apennins und den Regenfällen der letzten Tage führte er Hochwasser. Rechts vom Mausoleum wurde gerade der letzte Getreidetransport des Tages zu den Lagerhäusern getreidelt. Angesichts der starken Strömung im Augenblick musste das eine verdammt harte Arbeit sein. Vermutlich benötigten die Treidler jetzt vier Tage vom Hafen bis in die Stadt statt der üblichen zwei oder drei. Unmittelbar links vom Mausoleum war die Pons Aelius, die Brücke des Aelius, als dünnes weißes Band über dem Fluss zu erkennen. Und jenseits der Brücke wurden gerade ein paar Flöße am gegenüberliegenden Ufer festgemacht. Eines war mit Marmor beladen, und auf einem anderen stand Vieh, das vermutlich von den Weiden flussaufwärts stammte. Aus dieser Entfernung wirkten die Kühe so klein wie Kinderspielzeug aus Ton.
Ballista hörte einen dumpfen Schlag hinter sich. Die Kerle hatten vermutlich nur ihre Stiefel, Fäuste und die Knäufe ihrer Schwerter, um die Tür aufzubrechen. Er hatte also noch ein wenig Zeit.
Ballista wickelte den Mantel von seinem linken Arm und ließ ihn auf die feuchte Erde fallen. Dann zerrte er die Stiefel von den Füßen und zog das Wehrgehänge über seinen Kopf. Allerdings wollte er nicht, dass sein Schwert den Feinden in die Hände viel. Schlachtsonne war nicht einfach nur ein Schwert. Geschmiedet am Anbeginn der Zeit war es über Generationen von Helden weitervererbt worden, bis Hetel, König der Harier, es seinem Ziehsohn Ballista vermacht hatte. Kurz dachte Ballista darüber nach, es in den Fluss zu werfen, doch dann drehte er sich um und suchte nach einem Versteck für die Klinge.
Als er die Waffe mitsamt Scheide und Wehrgehänge unter einen Rhododendron schob, fiel sein Blick auf die Ornamente am Gürtel und die verzierte Börse. Geld hatte ihn nie sonderlich gekümmert. Der Hauptschmuck am Wehrgehänge war die Mauerkrone, die er sich vor vielen Jahren verdient hatte, als er als erster römischer Soldat über die Mauer einer afrikanischen Stadt gestürmt war. Daneben war der juwelenbesetzte Raubvogel zu sehen, der ihn sogar noch viel länger begleitete, tatsächlich schon seit seiner ersten Reise aus dem Norden, ein Geschenk seiner Mutter. Aber für solche Gefühlsduselei war jetzt keine Zeit. Sollte er das hier überleben, konnte er seiner Mutter immer noch eine Nachricht senden und sie bitten, ihm einen neuen zu schicken.
Das Hämmern wurde immer lauter und rhythmischer.
Ballista trat wieder an den Rand des Dachs. Bis zum Fluss waren es mehr als hundert Fuß, vielleicht sogar hundertfünfzig. Das war zwar gefährlich, aber nicht unbedingt auch tödlich. In seiner Jugend war er schon von genauso hohen Klippen gesprungen. Allerdings musste er erst einmal über die Basis des Mausoleums und das schmale Ufer hinaus.
Holz splitterte, gefolgt von einem heiseren Jubelschrei.
Ballista trat zwölf lange Schritte vom Rand zurück. In der Ferne war die Kuppel des Pantheons zu sehen. Aus irgendeinem Grund fiel Ballista just in diesem Augenblick auf, dass sie perfekt in einer Linie mit der Trajanssäule stand, die sich sogar noch weiter weg befand.
Schreie. Männer brachen durch die Büsche. Und sie kamen näher.
Denke nicht, handle!
Ballista zwang sich, loszulaufen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nach exakt elf Schritten musste er abspringen und sich in die Tiefe stürzen. Und er durfte den rechtzeitigen Absprung nicht verpassen.
Ballista ruderte im Fallen mit den Armen in der Luft und griff panisch nach einem nicht vorhandenen Halt. Die Stadt, der Fluss und das Mausoleum wirbelten sinnlos um ihn herum.
Odin, verschone mich!
Der dunkle Fluss und das weiße Ufer rasten auf ihn zu. Hilflos fuchtelte Ballista weiter mit den Armen.
Reiß dich zusammen oder stirb!
Ballista hörte auf zu rudern, zwang seine Arme an die Brust und packte das rechte Handgelenk mit der linken Hand. Mit übermenschlicher Kraftanstrengung lehnte er sich zurück, drückte die Beine zusammen und beugte leicht die Knie. So kontrollierte er seinen Sturz und fiel mit den Füßen voran.
Allvater …
Wasser und Steine näherten sich schier unglaublich schnell. War er weit genug gesprungen? Würde er über das Ufer hinauskommen? Falls nicht …
Sei ein Mann …
Die bleichen Ziegel waren schon sehr nah. Jeden Augenblick würde er nun aufschlagen, sich sämtliche Knochen brechen und zerplatzen wie ein Insekt.
Dann raste die Ufermauer vorbei, und der Fluss griff nach ihm.
Brutal schlug er ins Wasser. Heißer Schmerz schoss Beine und Rücken hinauf und trieb Ballista die Luft aus der Lunge. Immer tiefer drang er ein, bis seine Füße im Schlamm versanken. Sediment stieg um ihn herum auf. Er konnte nichts mehr sehen. Kurz überkam ihn Furcht, denn er glaubte, nicht mehr loszukommen, doch dann riss ihn die Strömung weg. Das Wasser klärte sich ein wenig, und einen Augenblick später schlug er mit Kopf und Rücken gegen die Ufermauer.
Natürlich war es besser, noch ein wenig unter Wasser zu bleiben, bis er außer Sichtweite des Mausoleums war, doch er hatte keine Luft mehr in der Lunge. Ballista musste atmen. Und über ihm war Luft, Licht und Luft. Ballista machte einen kräftigen Zug zur Oberfläche, doch er musste erkennen, dass die Strömung ihn nach unten zog. Er kam nicht voran. Erneut stieg die Furcht in ihm hoch, und er konnte sie kaum beherrschen. Seine Brust brannte. Sie war wie eingequetscht, und das Licht wollte einfach nicht näher kommen.
Im trüben Wasser sah er die Umrisse der Ufermauer, und als er sich drehte, fand er die Ziegel mit den Füßen. Verkrampft stieß er sich ab, und diesmal schoss er tatsächlich nach oben.
Ballista durchbrach die Oberfläche, schnappte nach Luft, hustete und spie Wasser.
Das riesige Mausoleum wurde immer kleiner. Auf der Kuppel waren winzige Gestalten zu erkennen. Konnten sie ihn sehen? Der Fluss lag in den Schatten. War er schon weit genug weg?
Ballista füllte seine Lunge, tauchte unter und ließ sich von der Strömung tragen.
Doch der Schmerz in seiner Brust und die Reste der Angst ließen ihn nicht lange unter Wasser bleiben.
Als er erneut an die Oberfläche kam, war das Mausoleum noch einmal deutlich kleiner geworden. Die Gestalten waren verschwunden. Vielleicht rannten sie ja schon zum Ufer runter.
Das Wasser brandete gegen die Ufermauer. Ballista wurde an mehreren kaiserlichen Gärten vorbeigetragen. Da waren verwaiste Stege und dort die Dächer von Pavillons, die über die Bäume ragten. Weiter flussabwärts gab es eine Brücke, und durch deren Bögen hindurch sah Ballista eine Reihe großer Lagerhäuser und dahinter wiederum die Hütten der Fischer. Jenseits der Brücke gab es also Menschen. Wenn er unbemerkt entkommen und keine Spuren hinterlassen wollte, musste er jetzt raus. Da es immer dunkler wurde, sollten die Gärten eigentlich verlassen sein.
Ballista näherte sich einem weiteren Steg, und er begann zu schwimmen. Sein Rücken schmerzte noch immer, und auch der Schmerz in seiner Brust hatte nicht nachgelassen. Doch er verdrängte den Schmerz und schwamm quer zur Strömung.
Er war nur noch wenige Züge vom rettenden Ufer entfernt, als der Fluss ihn wieder packte, und das mit aller Macht. Ein paar Augenblicke lang kämpfte er dagegen an, doch dann gab er auf und ließ sich wieder in die Mitte des Flusses treiben.
Bei Hochwasser war der Tiber für seine starke Strömung und die unberechenbaren Strudel berüchtigt. Ballista war zwar ein guter Schwimmer, aber um dem zu entkommen, verfügte er weder über die nötige Technik noch die Kraft. Er musste nachdenken, die Strömung »lesen« und die Nachteile in einen Vorteil für sich verwandeln. Schließlich konnte niemand hoffen, einen direkten Kampf mit den Flussgöttern zu gewinnen.
Plötzlich war da ein weiterer Landungssteg: solide Pfeiler und eine Leiter.
Ballista ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche wandern. In Ufernähe raste das Wasser förmlich, brach sich an der Ufermauer und schäumte zwischen den Pfeilern des Stegs hindurch. Direkt vor Ballista trieb der aufgequollene Kadaver eines Hundes. Er tanzte auf den Wellen und wurde immer weiter auf den Fluss hinausgetragen. Vielleicht begann da ja ein Strudel. Gegen jeden Instinkt schwamm Ballista weg vom Ufer.
Nach nur wenigen Augenblicken spürte er bereits, wie er immer schneller wurde, als das tosende Wasser von ihm Besitz ergriff. Er wurde noch immer nach vorn gezogen, als der tote Hund plötzlich kehrtmachte und wieder auf den Kai zutrieb. Unwillkürlich fühlte sich Ballista an einen Spruch der Stoiker erinnert: Ein Mann ist an sein Schicksal gebunden wie ein Hund an einen Karren.
Jetzt ging es nur noch darum, den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Ballista beobachtete den Kadaver. Das Schicksal war nicht unveränderlich. Gut fünf Schritte vom nächsten Pfeiler des Landungsstegs entfernt erfasste eine Querströmung den Hund und riss ihn in einem Wirbel den Fluss hinunter.
Noch nicht. Warte. Dort, wo die Strömungen aufeinanderprallten, herrschte Chaos im Fluss.
Fünfzehn Schritt, zehn …
Ballista sammelte all seine Kraft.
Jetzt! Er stürzte sich in den Mahlstrom.
Drei Schwimmzüge, und die Strömung drückte ihn zur Seite. Fünf Schwimmzüge. Der massive Holzpfosten war nur knapp außer Reichweite, und dahinter lag die Leiter. Noch einmal nahm Ballista all seine Kraft zusammen und hielt darauf zu.
Nach einem letzten verzweifelten Zug erreichte er den Pfeiler. Das Holz war jedoch voller Schleim, und Ballista fand keinen Halt. Er rutschte ab, und das Wasser zog an ihm. Ein Sterblicher konnte eben doch nicht gegen die Götter des Flusses kämpfen.
Ein hervorstehender Nagel riss Ballistas Handfläche auf. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Arm. Ungeachtet der Verletzung packte er den Nagel. Der Fluss war jedoch fest entschlossen, ihn wieder loszureißen, aber irgendwie gelang es Ballista, sich hochzuziehen und ein Bein um das faulige Holz zu schlingen.
Die Leiter war rechts von ihm, nicht weit weg. Ein kurzer Sprung, und er wäre dort. Das Wasser brach sich über seinen Schultern, und Ballista brachte es einfach nicht über sich, seine neue Zuflucht loszulassen.
Das war absurd. Jetzt konnte sein Mut ihn doch nicht im Stich lassen. Sei ein Mann!
Doch er rührte sich noch immer nicht.
Denke nicht, handle!
Ballista sprang nach der Leiter und bekam eine Sprosse zu fassen. Mit einem deutlich hörbaren Knacken verschob sie sich leicht. Tatsächlich drohte das ganze Ding nachzugeben. Panisch kletterte Ballista das rutschige Holz hinauf und zog sich auf den Steg.
Dort blieb er kurz liegen, schnappte nach Luft und blinzelte in den Himmel hinauf. Hoch oben kreisten Schwalben. Das versprach gutes Wetter.
Ballista rollte sich herum, kroch zu einem der Pfeiler und lehnte sich dagegen.
Wenn er zu den Lustgärten gelangte, dann würde er auch einen Ort finden, um sich kurz auszuruhen. Dafür musste er jedoch zunächst einmal feststellen, ob er überhaupt noch laufen konnte. Zum Glück würden die Meuchelmörder eine Weile brauchen, um vom Dach des Mausoleums herunterzuklettern, und er war von der Strömung auch noch ein gutes Stück flussabwärts getragen worden.
Natürlich hatte Ballista keine Zeit zu verschwenden, aber für eine kurze Verschnaufpause reichte es. Rasch, aber vorsichtig tastete er sich ab und schaute an sich hinab. An der rechten Handfläche hatte er einen üblen Schnitt. Die Wunde musste ausgespült und verbunden werden. Der Fluss war schmutzig. Ohne ein Messer konnte Ballista jedoch keinen Streifen aus seiner Tunika schneiden, um sich daraus einen Verband zu machen. Das würde warten müssen.
Seine Füße waren nackt und rot, und bald würden sie auch voller Blutergüsse sein. Beine und Rücken schmerzten. Ballista streckte sie, um sicherzugehen, dass nichts gebrochen war. Mit seiner Brust war es jedoch anders. Jede Bewegung versetzte ihm einen Stich. Er nahm einen tiefen Atemzug. Sein linker Brustkorb schmerzte, doch der Schmerz war nicht so stark, als hätte er sich die Rippen gebrochen. Wahrscheinlich waren ein oder zwei verstaucht oder ein paar Muskeln gerissen.
Mithilfe des Pfeilers zog sich Ballista in die Höhe. Sofort wurde ihm übel, und er lehnte sich gegen das Holz, bis die Übelkeit verflogen war. Die Planken, auf denen er gesessen hatte, waren dunkel von dem Wasser, das ihm aus Tunika und Hose gesickert war.
Plötzlich ließ sein angeborener Instinkt für Gefahr Ballista flussaufwärts schauen. Eine Gruppe von Männern arbeitete sich nicht weit vom Mausoleum den Fluss entlang vor. Allerdings waren sie noch mehrere Hundert Schritte von ihm entfernt. Es waren mindestens zwanzig, und sie suchten das Ufer ab. Bis jetzt hatten sie ihn jedoch noch nicht entdeckt.
Am Ende des Landungsstegs führte ein Pfad zu den Gärten. Aber Ballista durfte nicht rennen. So würde er sich nur verraten. Er musste sich so natürlich wie möglich verhalten, dann würden sie ihn auf diese Entfernung vielleicht nicht erkennen.
Langsam ging Ballista den Steg hinauf. Den linken Arm drückte er dabei auf die Rippen. Irgendetwas stach bei jedem Schritt in seine Füße. Ballista betrat den Pfad. Auf halbem Weg hörte er einen Ruf.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Männer zu laufen begannen.
Ballista rannte los wie ein Hase, und wenige Augenblicke später war er außer Sicht. Zu beiden Seiten erstreckte sich nur noch Garten.
Sollte er nach links oder rechts laufen? Weg von seinen Verfolgern oder auf sie zu? Hinter sich hörte er sie wie Hunde hecheln.
Ballista lief nach links.
Dort gab es wieder einen Pfad, doch der bestand aus Kies, und seine Füße waren nackt. Ballista sprang über eine niedrige Hecke und rannte über einen Rasen. Vor ihm lag ein Wäldchen. Am Rand standen niedrige Obstbäume.
Ballista duckte sich unter den Blüten hindurch. Fast musste er dabei kriechen. Und schließlich erreichte er ein freies Areal, eine kunstvoll nachempfundene Waldlichtung. In deren Mitte stand eine große Figur mit einer gewaltigen Erektion und einem Kopfputz aus Schilf. Zu Füßen der Statue lagen Blumen. Das war Priapus, der Sohn des Dionysos, den man hier aus Holz geschnitzt hatte, und er diente sowohl als Vogelscheuche als auch als Warnung für alle Menschen mit bösen Absichten, die diese Lichtung entweihen wollten.
Ballista ging um den Gott herum und zwischen die Bäume jenseits davon. Das waren Eichen, und sie waren schon uralt gewesen, als man diesen Garten angelegt hatte. Beinahe sofort bemerkte er, dass der unterste Ast einer dieser Eichen nahezu horizontal zum Boden verlief und das nur wenige Fuß über seinem Kopf.
Ballista sprang und packte den Ast mit beiden Händen. Sein geschundener Körper protestierte vehement, als er hinaufkletterte und die raue Rinde seine Arme zerkratzte. Dann kletterte er von diesem Ast auf den nächsthöheren, und schließlich schob er sich zwischen einen besonders dicken Ast und den Stamm.
Ballista war nicht sicher, wie gut er versteckt war. Plötzlich fiel ihm eine Passage aus der Germania des Tacitus ein. Darin beschrieb Tacitus irgendeine Schlacht, die vor langer Zeit in den Wäldern des Nordens stattgefunden hatte. Dabei hatten die Germanen Zuflucht auf den Bäumen gesucht, und die römischen Legionäre hatten sie wie Vögel abgeschossen. Manchmal bot einem eine klassische Bildung auch keinen Trost, dachte er mit einem Seufzen. Andererseits gab es einen Unterschied zwischen einem einzelnen Flüchtling und vielen. Die meisten Menschen, besonders die, die in der Stadt aufgewachsen waren, schauten nur nach unten und so gut wie nie nach oben.
Die Zeit lief immer langsamer. Die Luft war voller Vogelgesang. Durch das Laub sah Ballista den hölzernen Kopf des Priapus. Das Schilf der Krone raschelte im Abendwind. Er wartete. Neun Nächte und neun Tage hatte Odin am Baum des Lebens gehangen. Niemand hatte ihn mit Brot getröstet oder ihm mit einem Schluck aus einem Horn Leben eingehaucht. Neun Tage und neun Nächte, und Allvater Odin hatte die Geheimnisse der Toten gelernt. Ballista wartete.
Das Sonnenlicht berührte nur noch die Wipfel der Eichen, und der abendliche Chor verstummte langsam, als sich die Vögel für die Nacht in ihre Nester zurückzogen.
Ballista hörte die Männer kommen: gebellte Befehle und geknurrte Antworten. Sie polterten zwischen den Obstbäumen hindurch. Offensichtlich hielten sie es nicht für nötig, unauffällig vorzugehen. Die Vigiles kümmerten sie ebenso wenig wie alle anderen, die nachts am rechten Ufer des Tibers Streife gingen.
Ballista sah, wie drei stark behaarte, ungepflegte Männer die Lichtung betraten. Sie bewegten sich in einem Abstand von gut fünfzehn Schritten zueinander wie Treiber bei einer Jagd. Am Leib trugen sie ein Sammelsurium von Kleidern, und einer hatte schulterlanges Haar, doch die Schwerter in ihren Händen, die Ornamente an ihren Gürteln und die Art, wie sie sich bewegten, verrieten, dass sie in der Legion gedient hatten. Einer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte eine Tätowierung am Handgelenk. Zwar war er noch zu weit weg, um zu erkennen, von welcher Legion sie stammte, aber das war der letzte Beweis dafür, dass Ballista es tatsächlich mit Soldaten zu tun hatte.
An den Eichen gab es nur wenig Unterholz, und die Jäger verließen es so schnell wie möglich und schauten nach rechts und links. Einer hielt direkt auf den Baum zu, auf dem sich Ballista versteckt hatte.
Ballista hielt die Luft an. Odin, lass ihn nicht nach oben schauen!
Der Mann blieb unter der Eiche stehen. Er streckte sich und rollte mit den Schultern, um sie zu lockern. Dann schaute er sich wieder um und wartete auf die anderen: ein gut ausgebildeter Soldat, der die Schlachtreihe prüfte.
Plötzlich sah der Mann nach oben, als ahne er, dass er beobachtet wurde.
Ballista schloss die Augen.
Geräusche verrieten, dass weiter entfernt noch immer Männer durch das Wäldchen liefen, doch vom Fuß des Baums kam kein Laut.
Ballista lugte nach unten.
Der Soldat rieb sich die Schultern. Ein Veteran bei einer Übung, nirgends auch nur der Hauch einer Bedrohung. Stoisch wartete er einfach nur.
Dann ein Pfiff, und die Schlachtreihe setzte sich wieder in Bewegung.
Ballista rührte sich nicht. Er wagte kaum zu atmen.
Kurz darauf verhallten die Geräusche der Jäger in der Ferne.
Einige Centurionen der Hilfstruppen und alle in den Legionen hätten solch ein schlampiges Vorgehen nie geduldet. Vielleicht waren das ja doch keine Soldaten, sondern Deserteure. Davon gab es schließlich zu Genüge. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit, in der Regierungszeit des Commodus, hatte ein Mann mit Namen Maternus eine ganze Armee von ihnen aufgestellt. Damit hatte er dann Gallien und Spanien in Angst und Schrecken versetzt, ganze Städte verwüstet und geplündert und sogar versucht, den Kaiser zu töten.
Die Geräusche der Jäger wichen dem Seufzen des Windes in den Wipfeln. Ballista hatte keine Ahnung, wie schnell sie wieder kehrtmachen und zurückkommen würden. Er kletterte hinunter. Seine Rippen und Füße schmerzten, und die Wunde an seiner Hand pochte. Er musste sich ausruhen, aber dafür musste er erst einmal einen sicheren Ort finden. Also verdrängte er Schmerz und Müdigkeit und ging auf demselben Weg zurück, den er gekommen war.
Als er den Gartenpfad wieder erreichte, wandte er sich nach links, weg vom Fluss. Auf den Pflastersteinen war noch immer die Hitze des Tages zu spüren, sie brannte auf den wunden Sohlen seiner nackten Füße.
Plötzlich mündete der gepflasterte Weg in einen Trampelpfad, und der Garten endete auf beiden Seiten. Das Land dahinter war nur raue Heide. Die Hälse halb vergrabener Amphoren ragten aus der Erde. Einige waren ausgegraben worden und zerbrochen. Und überall lagen weiße Knochen. Das war einer der vielen Armenfriedhöfe von Rom – nicht der Bettler, die wurden in Massengräbern bestattet. Hierher brachten Diener die Leichen von Haussklaven, und Plebejer bestattete man hier in billigen Bretterkisten. Und dieser Friedhof stand direkt neben den schattigen Gärten, in denen die Adeligen und Wohlhabenden lustwandelten, plauderten und Delikatessen von Silbertellern aßen. Kein Wunder, dass die Einwohner der Ewigen Stadt gemischte Gefühle in Bezug auf die Vorstädte hatten. Die Vorstädte waren Orte des Vergnügens, voller Parks und Pavillons, wo man die Zeit genoss, gleichzeitig aber auch die Müllhalden der Stadt und die Friedhöfe. Auch zum Tode Verurteilte richtete man hier hin, und täglich brannten hier die Scheiterhaufen.
Weiter vorn lag eine Nekropole für die Bessergestellten. Ballista hatte sich schon lange an die römische Sitte gewöhnt, Gräber wie Häuser zu bauen und daraus eine Totenstadt zu bilden. Zwei Straßen führten nach links. Ballista nahm die zweite.
Verstecke dich nie in einem alleinstehenden Gebäude. Das zieht die Verfolger magisch an. Doch in einem unter vielen wurde man zumindest vorgewarnt, denn man konnte hören, wie sich die Verfolger zu einem vorarbeiteten. Nicht alle diese Gräber waren gepflegt. Ballista kam an mehreren mit weit aufstehenden Türen vorbei. An der fünften offenen Tür blieb er stehen. Das Grab lag ein Stück vom Weg zurück.
Für gewöhnlich lauerte finsteres Volk in solchen Umgebungen: Vagabunden, heruntergekommene Huren und ihre Freier und Mitternachtshexen auf der Suche nach Zutaten für ihre Kunst. Wenn man so jemanden störte, würde er vielleicht Alarm schlagen, und Ballista wusste nicht, ob er im Augenblick noch in der Lage war, das zu verhindern.
Ballista atmete tief durch, und sofort breitete sich ein brennender Schmerz in seinem Brustkorb aus. Was auch immer die Nornen bestimmten, es würde geschehen.
Vorsichtig betrat er das Grab.
Kurz stand er einfach nur da und wartete auf einen Schrei oder einen Angriff, während sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten.
Es roch nach Staub, Schimmel und schwach auch nach Fäulnis. Die Luft war vollkommen still. Das Grab war leer.
Müde setzte sich Ballista mit dem Rücken an die Wand, zog die Knie an und dachte darüber nach, was ihn an diesen Ort geführt hatte, und an den Mann, den er zum Sterben im Mausoleum zurückgelassen hatte.
Scarpio, der Präfekt der Vigiles, hatte gesagt, der Informant würde nur mit einem Einzelnen sprechen. Ballista müsse allein gehen, hatte er gesagt, und da man nicht wisse, wie weit die Verschwörung schon um sich gegriffen hatte, dürfe er auch mit niemandem darüber sprechen. Der Informant war ein ehemaliger Sklave und Dieb. Auf einem Raubzug durch die Thermen auf dem Caelius am Tag zuvor hatte er drei Männer näher kommen gehört und sich versteckt. Nur einer der Männer hatte gesprochen, doch der Lauscher behauptete, jedes Wort verstanden zu haben.
Gallienus wird das Amphitheater zur letzten Stunde verlassen. Sobald er aus der kaiserlichen Loge heraus ist und den Gang betritt, präsentiere ihm deine Petition. Wenn er dann abgelenkt ist, schlag zu. Verschwende keine Worte, kein Gerede von Freiheit. Sei schnell. Und hab keine Angst. Die Wachen werden dich nicht aufhalten. Vergiss nicht, dass wir alle dort sein werden.
Ballista fragte sich, wie genau diese Darstellung wohl sein mochte. Selbst der große Thukydides hatte zugegeben, dass die Reden in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges nicht die exakten Worte wiedergaben, sondern vielmehr den Sinn. Ballista nahm an, dass der Informant das ähnlich gehandhabt hatte.
Die Verschwörer hatten den Spion nicht gesehen, doch als sie gegangen waren, hatte er einen kurzen Blick auf ihre Gesichter erhascht. Beide waren alt und gut gekleidet. Der Stille war kahl, und der Sprecher hatte ein Bauerngesicht. Das war zwar wenigstens etwas, aber in einer Stadt mit einer Million Seelen bei Weitem nicht genug, um jemanden zu finden.
Nun, da Ballista sich an das schwache Licht im Grab gewöhnt hatte, sah er Fresken an den Wänden und der Decke. Im Zwielicht war ein von weißen Pferden gezogener und von einem Gott gelenkter Streitwagen zu sehen, und auf der gegenüberliegenden Wand trug ein Schäfer ein Schaf auf den Schultern. Verwirrender war jedoch das Bild eines Mannes auf der anderen Wand, der aus einem Boot gefallen war und offenbar drohte, von einem Monster verschlungen zu werden, vermutlich von einem Wal. Der Held von Lucians Wahrer Geschichte war von einem Wal verschluckt worden, aber solch eine Satire war dann doch eine eher unwahrscheinliche Wahl für ein Grab.
Stellte das vielleicht Jona und den Wal dar? Eine Geschichte dieses seltsamen Kults um den gekreuzigten Gott? Im Osten war Ballista Christen schon begegnet. Eine ihrer Sekten hatte seine Verteidigung der Stadt Dura Europos am Euphrat verraten. Daraufhin war ihm die unangenehme Aufgabe zugefallen, die Verfolgung der Christen in Ephesos zu beaufsichtigen. Dieser Kult verbreitete sich wirklich überall, offenbar sogar hier, auf dem fauligen, ungesunden ager vaticanus.
Das Licht wurde immer schwächer, und schließlich verschmolzen die Bilder mit der Wand. Jetzt war es fast vollkommen dunkel.
Morgen. In der letzten Stunde des Tages. Dann werden sie den Kaiser töten.
Und nur Ballista konnte ihn retten.
Cui bono? Wer würde vom Tod Kaiser Gallienus’ profitieren?
Ballista lehnte sich in der Dunkelheit zurück und dachte nach.
Postumus, der Usurpator im Westen, war der offensichtlichste Kandidat. Während Gallienus in Rom überwintert hatte, hatten sich seine Truppen auf den Ebenen Norditaliens versammelt. In vier Tagen würde Gallienus sie über die Alpen führen. Postumus hatte mehrere Gesandte geschickt und erklärt, er wolle einen Kampf vermeiden. Stattdessen sollten er und Gallienus sich lieber zusammentun und den Rhein gegen die Barbaren verteidigen, hatte er vorgeschlagen. Außerdem sei er mit den Provinzen zufrieden, über die er nun herrschte. Doch die Gesandten hatten nur ihre Zeit verschwendet. Solange Gallienus lebte, konnte nichts den Krieg verhindern, denn zu Beginn seiner Rebellion, vor fünf Jahren, hatte Postumus Gallienus’ Lieblingssohn ermordet.
Ballistas Beine schmerzten. Vorsichtig versuchte er, sie zu strecken.
Postumus war jedoch bei Weitem nicht der einzig mögliche Verschwörer. Odaenathus von Palmyra herrschte über die Ostprovinzen Roms, wenn auch formal in Gallienus’ Namen. Ballista kannte Odaenathus und glaubte zu wissen, dass der Mann keinen größeren Ehrgeiz hatte. Aber es gab da noch andere in Palmyra, besonders Odaenathus’ Frau Zenobia. Sollte Gallienus ermordet werden, dann könnte das Odaenathus zwingen, den Thron für sich zu beanspruchen.
Das Strecken half nicht. Ballista stützte sich an der Wand des Grabes ab und rappelte sich mühsam auf.
Auch der Senat in Rom liebte Gallienus nicht gerade. Viele Senatoren hatten öffentlich erklärt, sie fänden den Lebenswandel des Kaisers anstößig: die Jungen und Mädchen, die Trinkgelage inmitten von Blumenmeeren, die Philosophie und die Dichtkunst. Wichtiger war jedoch die Tatsache, dass Gallienus sie bei der Neubesetzung hoher militärischer Ränge nicht mehr berücksichtigte. Deshalb glaubten sie, der Kaiser behandele sie nicht mit dem Respekt, den sie verdient hatten. Außerdem dachte so mancher Patrizier, seine Abstammung qualifiziere ihn mehr für den Purpurmantel als Gallienus.
Aber wer auch immer hinter der Verschwörung stecken mochte, war den Verschwörern eigentlich klar, was für ein Chaos sie anrichten würden, sollten sie erfolgreich sein? Wenn Gallienus stürzte, würde sich das komplizierte Netz von Bündnissen sofort auflösen, das er entlang der Donau geknüpft hatte. Die Barbaren – Goten, Alemannen und Sarmaten – würden über den Fluss strömen und die Grenze mit Feuer und Schwert überziehen. Und das wiederum bedeutete die totale Zerstörung für die friedliebenden, unbewaffneten Provinzen südlich der Donau. Auch Griechenland, die Wiege der Zivilisation, läge offen vor ihnen, und Athen würde brennen.
Und Ballista wusste, dass es sogar noch schlimmer kommen würde. Wenn ein Kaiser ermordet wurde, dann starben auch jene, die ihm am nächsten standen. Ihre Besitzungen wurden konfisziert, ihre Familien gejagt. Politischer Opportunismus und der Bedarf an Geld, um die Unterstützer der neuen Herrscher zu belohnen, würden zu einem Blutbad führen.
Auch Ballista galt als Freund des Gallienus. Sollte er hingerichtet werden, dann würde seine Familie …
Rasch verdrängte er den Gedanken.
Gehörte Scarpio auch zu den Verschwörern? Der Präfekt der Vigiles hatte an Ballistas Loyalität appelliert, aber hatte er ihn auch in den Tod geschickt? Scarpio hatte darauf bestanden, dass Ballista allein ging. Sie hätten keine Zeit, hatte er gesagt, und man wisse ja nicht, wie weit die Verschwörung reichte. In jedem Fall könne man bei Hofe niemandem mehr vertrauen. Vor diesem Gespräch hatte Ballista den Präfekten nur ein einziges Mal getroffen. Nach Ballistas Rückkehr aus dem Norden hatte Gallienus ihn willkommen geheißen, und er hatte im Zirkus zur Rechten des Kaisers gesessen. Scarpio, der im hinteren Teil der kaiserlichen Loge gestanden hatte, war einer von jenen Würdenträgern gewesen, die man Ballista flüchtig vorgestellt hatte. Aber obwohl Ballista den Präfekten nicht wirklich kannte, waren seine Argumente logisch gewesen. Es war also durchaus möglich, dass Scarpio in gutem Glauben gehandelt hatte.
Mit der Langsamkeit eines alten Mannes schlurfte Ballista durch die Dunkelheit zur Tür.
Ein plötzliches Geräusch draußen ließ ihn erstarren. Schritte hallten an dem alten Grab vorbei.
Ballista schlug das Herz bis zum Hals. Er war nicht in der Verfassung dafür: allein und unbewaffnet, geschunden und voller Schmerzen, barfuß, ohne Geld oder Freunde und am falschen Flussufer. Dann dachte er wieder an seine Familie. Nein, er würde sich nicht der Verzweiflung ergeben. Eigentlich war es ganz einfach: Er musste Gallienus retten, dann würde alles wieder gut.
Als Jünglinge waren sie zusammen aufgewachsen, als Geiseln auf dem Palatin, um die Treue ihrer Väter zu garantieren, der eine ein führender Senator, der andere ein Vasallenkönig. Jahre später, als er im Osten gedient hatte, war Ballista gezwungen worden, sich zum Kaiser ausrufen zu lassen. Nach ein paar Tagen hatte er jedoch wieder abgedankt. Trotzdem: Unter den meisten Herrschern hätte eine solche Anmaßung direkt auf den Richtblock geführt. Doch Gallienus hatte ihn verschont und ihn in der Folge mit wichtigen Missionen betraut. Einmal von allem anderen abgesehen, verlangte es die Ehre von Ballista, den Kaiser zu retten.
Aber dafür brauchte er einen Plan.
Ballista drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Er versuchte, den Schmerz aus seinen Gliedern zu laufen und seine chaotischen Gedanken zu sortieren.
Im Süden lag Transtiberim, das Areal jenseits des Flusses. Dort lebten dicht gedrängt Einwanderer aus dem Osten: Syrer, Juden, Armenier und sogar Parther und Perser von jenseits der Grenze. Sie verehrten fremdartige Götter – Hadad, Jarchibol und Malakbel –, und Ballista hatte keinen Freund unter diesen Menschen. Dann waren da noch die Barracken der Seeleute, die von der Ravenna-Flotte in die Stadt verlegt worden waren. Ballista hatte nie mit ihnen gedient. Also konnte er auch nicht auf ihre Hilfe rechnen. Und natürlich gab es hier auch einen Außenposten der Vigiles, doch unter den gegebenen Umständen sollte Ballista denen wohl lieber aus dem Weg gehen.
Ballista musste über den Fluss. Schwimmen kam jedoch nicht infrage. Einige Ärzte empfahlen das Schwimmen im Fluss als Heilmittel gegen Schlaflosigkeit, doch da der Tiber gerade Hochwasser führte, würde das ein ewiger Schlaf werden. Die Strömung war allerdings nicht so stark, als dass man nicht hätte hinüberrudern können, aber Ballista hatte nichts dabei, womit er die Überfahrt hätte bezahlen können, und ein Boot zu stehlen würde unweigerlich für Aufruhr sorgen. Also musste er eine Brücke nehmen; doch die würden die Meuchelmörder aus dem Mausoleum vermutlich überwachen.
Ballista blieb an der Tür stehen.
In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in Rom gelebt. Der Rhythmus der Straßen war ewig und ihm so vertraut wie sein eigener Herzschlag. Sollte es ihm gelingen, unbemerkt hinüberzuschlüpfen, dann war das genau die richtige Stunde, um in diesen Straßen unterzutauchen.
Ein Teil von ihm wollte das Grab jedoch nicht verlassen. Sei ein Mann, ermahnte er sich. Ihm blieb keine Wahl.
Zuerst ging er über den Friedhof und durch die Gärten in Richtung Fluss. Die Wege hier waren so gut wie verlassen. Nur ein einziger Wagen fuhr in entgegengesetzter Richtung an ihm vorbei. Er quoll vor Leichen förmlich über, die niemand mehr haben wollte. Jede Nacht produzierte die Metropole eine reiche Ernte von Armen. Nackt und wächsern traten sie ihre letzte Reise in ein Massengrab an. Niemand würde die Stelle mit einem Stein markieren oder ihnen eine Münze für den Fährmann in den Mund legen.
Die Totensammler sprachen Ballista nicht an, und er ignorierte sie. Sie lebten außerhalb der Stadt und durften sie nur betreten, um ihr Handwerk auszuüben, das sie vom Rest der Menschheit ausgrenzte.
An einer Kreuzung stand ein kleiner Brunnen, wo Wasser aus dem Maul eines Drachen sprudelte. Ballista wusch sich so gründlich es ging. Das kalte Wasser brannte und öffnete die Wunde an seiner Hand wieder. Ballista spülte das lange Haar aus und strich es zurück. Allerdings bezweifelte er, dass er jetzt wirklich respektabler aussah.
Plötzlich erreichte ihn ein Geräusch: das Murmeln vieler Stimmen wie die Brandung an einem Kiesstrand, akzentuiert von den Rufen verschiedener Tiere. Und dann kam der Geruch: frisches Holz, Gemüse und Blumen, aber auch Schweiß und Dung, sowohl von Menschen als auch von Tieren.
Die Schlange reichte zweihundert Schritt bis zur Brücke des Nero. Da waren ganze Herden von Schafen, Schweinen und Rindern, Wagen voller Bauholz und Zunder und Karren mit Rosen, Jasmin, Spargel und Artischocken. Auch Hühner hockten auf den Ladeflächen, und Hunde streunten umher. Alle warteten sie darauf, dass sie an der Zollstation an der Reihe waren.
Das waren die Erzeugnisse der umliegenden Landgüter und Kleinbauern, die über die Straße in die Stadt gebracht wurden. Die Grundnahrungsmittel – Korn, Öl und Wein – kamen jedoch über den Fluss in die Riesenstadt. Einiges davon brachte man auf Flößen den Fluss herunter, das meiste treidelte man jedoch gegen den Strom von den Seehäfen herauf, wo es aus allen Provinzen angelandet wurde.
Dass Ballista nichts zu verzollen hatte, war klar, und so wurde er größtenteils auch ignoriert, als er sich an der Schlange entlang vorwärtsschob.
Vor ihm gingen zehn Ochsen durch. Ein alter Mann und ein Junge jagten ihnen hinterher. Niemand half ihnen. Ein paar der Zuschauer sprangen vor den herangaloppierenden Tieren mit ihren bedrohlichen Hörnern weg, andere lachten nur. Als Kind hatte Ballista den Sklaven dabei geholfen, das Vieh seines Vaters zusammenzutreiben, und das tat er jetzt auch.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, breitete die Arme aus – mal mit einem Heulen, mal stumm – und half dem alten Mann und dem Jungen, die Tiere wieder zu beruhigen, bis sie schließlich stehen blieben.
»Wir haben nichts, womit wir dich bezahlen könnten«, sagte der alte Bauer mit dem angeborenen Misstrauen eines Mannes vom Land.
»Ich will keine Münzen, Großvater«, erwiderte Ballista respektvoll.
Der Bauer grunzte und schickte sich an, wegzugehen.
»Ein Schluck Wein wäre allerdings ganz nett.« Ballista nickte zu dem Sack, den der Mann über dem Rücken trug. »Und ein Stück Brot vielleicht?«
Der alte Mann winkte Ballista, sich zu setzen, und befahl dem Jungen, auf die Ochsen aufzupassen. Dann setzte er sich neben Ballista an den Straßenrand, legte seinen Stock beiseite, öffnete den Sack und holte einen Weinschlauch hervor. Den reichte er Ballista.
Der Wein war mild und gut verdünnt. Er sollte erfrischen, nicht berauschen. Offenbar hatte der Mann jedoch nur einen Schlauch, und Ballista achtete sorgfältig darauf, dem alten Mann nicht alles wegzutrinken.
Ein Wucherer ging die Schlange entlang und bot jedem einen Kredit an, der den Zoll nicht bezahlen konnte. Der alte Mann schickte ihn verächtlich weiter.
»Man hat dir wohl übel mitgespielt.« Der Bauer gab Ballista einen Laib Brot.
Ballista kaute und nippte nur dann und wann am Wein, um das harte Brot aufzuweichen.
»Man hat mich ausgeraubt«, erklärte er. »Da hinten, am fünften Meilenstein.«
»Dann waren das sehr dumme Diebe.« Der Landmann nickte zu der Hand, in der Ballista den Weinschlauch hielt.
Am dritten Finger prangte der goldene Ring eines römischen Ritters. Den hatte Ballista ganz vergessen.
»Ein Gott hat sie geblendet – oder sie waren wirklich einfach nur dumm.« Ballista aß das letzte Stück Brot und gab den Wein wieder zurück.
Die Schlange setzte sich in Bewegung, und Ballista und der alte Mann standen auf, um das Vieh vorwärtszutreiben.
Knapp fünfzig Schritt von der Zollstation entfernt blieben sie wieder stehen. Der Posten war von Fackeln erleuchtet. Ballista sah, wie die vordersten Reihen geteilt wurden. Das Vieh wurde in Pferche getrieben, um es für den Zoll zu zählen. Die Fahrzeuge wiederum blieben auf der Straße. Dort wurden sie entladen und die Waren für die Handelssteuer geprüft. Acht Vigiles lungerten am Brückengeländer herum. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Ihre Ausrüstung – Äxte, Eimer und Fackeln – lag zu ihren Füßen. Die Spartoli, die Kleinen Eimermänner, wie sie genannt wurden, wirkten nicht angespannt. Abgesehen von den Zöllnern sah Ballista niemanden, der überprüfte, wer die Stadt betrat. Auch von den Männern aus dem Mausoleum war nirgends eine Spur zu sehen.
»Wo kommst du her?« Die Augen des alten Mannes waren blassblau und leuchteten förmlich in seinem wettergegerbten Gesicht.
»Ich bin Soldat und gerade aus Afrika zurückgekommen. Das meiste von meinem Geld habe ich auf dem Schiff beim Würfeln verloren. Deshalb musste ich auch zu Fuß vom Hafen laufen.«
»Und jetzt hast du gar nichts mehr – außer diesem Ring.« Der Bauer trank einen Schluck Wein. »Was wirst du in der Stadt tun?«
»Meine Dienstzeit ist vorbei. Meine Brüder in der Germanischen Garde werden sich um mich kümmern, bis ich mein Entlassungsgeld erhalte.«
»Ja, dein Latein ist gut, aber ich habe sofort gewusst, dass du ein Barbar bist. Bei deiner Größe, dem blonden Haar und der hellen Haut war das offensichtlich.«
Der Bauer schien Ballista die Geschichte abgekauft zu haben. Loki, du Listenreicher, ich danke dir, dachte Ballista.
»Und wirst du später wieder zurück zu deinen Leuten gehen?« Nun, da sie so miteinander plauderten, taute der alte Mann rasch auf.
Der Junge gesellte sich zu ihnen. »Hast du auch in der Schlacht gekämpft?«
Der alte Mann hob seinen Stock. »Du sollst doch den Mund halten, wenn Erwachsene reden.«
Der Junge wich zurück, wirkte aber nicht wirklich eingeschüchtert.
»Normalerweise kommt mein Bruder mit, wenn ich das Vieh in die Stadt treibe, aber er hat Fieber. Das da ist sein Sohn, ein nutzloser kleiner Träumer. Das ist sein erstes Mal in der Stadt. Wenn ich ihn auch nur einen Moment aus den Augen lasse, wird man ihm die Tunika vom Leib reißen, ihn in den Arsch ficken und in eine Hure verwandeln.«
Ballista war dankbar dafür, dass sie nicht länger über seine erfundene Lebensgeschichte sprachen, und so ermutigte er den Bauern, weiterzureden. »Magst du die Stadt nicht?«
»Mögen?« Der Landmann schnalzte mit der Zunge, um das Böse zu vertreiben. »Das ist ein verdammtes Drecksloch. Man riecht sie meilenweit. Bei all dem Rauch kann man ja kaum atmen. Diese Mietskasernen ragen über einem auf, sodass man noch nicht einmal die Sonne sehen kann, und in den Straßen watet man bis zu den Knöcheln durch die Scheiße. Überall sind Leute, drängeln und schreien. Bevor man sichs versieht, hat man sich in dieser Masse seine beste Tunika zerrissen. Kaum schaut man einmal nach unten, ist die Börse weg, und niemand hat eine Ahnung, wer das war. Es kümmert aber auch keinen. Man kann sich kaum bewegen, und in dem Gedränge hört man sich selbst nicht mal. Da schwankt ein großer Fichtenstamm auf einem Wagen, und dahinter ist ein anderer mit Pinien hoch beladen, und alles wartet nur darauf, dir auf den Kopf zu fallen. Wenn eine Achse bricht und eine Wagenladung Marmor runterfällt, was bleibt dann von dir übrig? Wer soll den Haufen Fleisch und Knochen dann noch identifizieren? Dann verschwindet dein platter Leib genauso wie deine Seele. Und zur selben Zeit hockt deine Frau daheim, schrubbt das Geschirr, facht das Feuer an, setzt die Suppe auf und füllt die Öllampen, und das alles, ohne auch nur das Geringste zu ahnen. Sie bereitet eine Mahlzeit, die du nie essen wirst, denn du sitzt da schon am Styx und hast keine Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen. Du hast ja keine Münze im Mund.«
Wie bei vielen Menschen, die keine Gesellschaft gewöhnt waren, sprudelte es aus dem Bauern nur so hervor, wenn er dann doch einmal Gelegenheit hatte, mit jemandem zu reden.
