Der wahnsinnige Kaiser - Harry Sidebottom - E-Book

Der wahnsinnige Kaiser E-Book

Harry Sidebottom

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Beschreibung

8. Juni 218 n. Chr. Ein 14-jähriger syrischer Junge, angetrieben von seiner Großmutter, führt ein Heer in die Schlacht gegen die Truppen des amtierenden römischen Kaisers Macrinus. Wider Erwarten ist er siegreich: Varius Avitus Bassianus, bekannt als Heliogabalus oder Elagabal, wird zum Kaiser ausgerufen. Die vier Jahre seiner Herrschaft suchen ihresgleichen in der römischen Geschichte: Er brüskiert die konservative Führungsschicht und befördert Männer niederer Herkunft in hohe Ämter. Er erschüttert die römische Staatsreligion, indem er Jupiter von seinem Thron verdrängt und ihn durch den Sonnengott seiner Heimatstadt Emesa ersetzt. Er heiratet eine Vestalin, hat Sex mit Frauen wie Männern und prostituiert sich sogar. Legendär sind seine extravaganten Gelage. Harry Sidebottom erzählt mitreißend die Geschichte von Elagabals Aufstieg und Scheitern. Gleichzeitig vertieft er vor dem Hintergrund der Biografie Fragen, die für die römische Kaiserzeit zentral waren. Er diskutiert Themen wie Rassismus und Identität, Sexualität, Religion und Macht und widmet sich auch der bunten Rezeptionsgeschichte, die Elagabal erfahren hat. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Harry Sidebottom

Der wahnsinnige Kaiser

Elagabal und der Niedergang Roms

Aus dem Englischen von Jörg Fündling

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Mad Emperor. Heliogabalus and the Decadence of Rome bei Oneworld Publications, 10 Bloomsbury Street, London WC1B 3SR England.

© Harry Sidebottom, 2022

wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Covermotiv: Kopf des Kaisers Elagabal, Marmorskulptur, 211 n. Chr., Rom, Musei Capitolini. © akg-images / Nimatallah

E-Book-Konvertierung: Zerosoft, Timișoara

Alle Karten im Buch: Erica Milwain

ISBN Print: 978-3-534-61036-5

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61062-4

ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61067-9

Für die drei Frauen, die dieses Buch möglich gemacht haben: meine Frau Lisa, meine Mutter Francesund meine Tante Terry

Inhalt

 

 

 

Stammbaum

Karte

Einleitung: Die Rosen des Heliogabalus

Kapitel 1: Der Aufstand

I. Die Flucht

II. Domnas Verschwörung

III. Maesas Verschwörung

IV. Die Akklamation

V. Maesas Gesicht

VI. Die Belagerung 1

VII. Ein Vater wird gefunden

VIII . Die Belagerung 2

Kapitel 2: Die Vorgeschichten

I. Rom: Die Kinder der Wölfin

II. Emesa: Die Kinder der Sonne

Kapitel 3: Die Schlacht

I. Der Bart des Macrinus

II. Tod in Apameia

III. Das Festmahl

IV. Nachrichten

V. Der Marsch

VI. Die Schlacht

VII. Nach Antiochia

Kapitel 4: Identitäten und Rassismus

I. Antiker Rassismus?

II. Emesas Identität

III. Elagabal entsteht

Kapitel 5: Die Reise

I. Wo war Macrinus?

II. Gegenstand der Schmach

III. Sicherung des Ostens

IV. Sicherung des Westens

V. Das Gesicht Elagabals 1

VI. Die Reise

VII. In Nikomedia

Kapitel 6: Macht

I. Der legitime Kaiser – über dem Gesetz

II. Der passive Kaiser – „Petition and response“

III. Der aktive Kaiser – vier „Wählergruppen“

Kapitel 7: In Rom

I. Adventus

II. Entscheidungen: Was Elagabal nicht tat

III. Entscheidungen: Was Elagabal tat

IV. Elagabals Gesicht 2

Kapitel 8: Religion

I. Die sichtbaren Götter

II. Kaiser: zwischen Menschen und Göttern

III. Der schwarze Stein Elagabals

IV. Der allerhöchste Priester der unbesiegbaren Sonne

V. Der Stein des Anstoßes – was ging schief?

Kapitel 9: In den Provinzen

I. Über Gott sprechen in Anazarbos

II. Geld, ein Daimon und ein Schreiber

Kapitel 10: Sex

I. Gelähmt vor lauter Verboten?

II. „Nenn mich nicht Herr, denn ich bin eine Herrin“

Kapitel 11: Tod

I. Ein Sohn wird gefunden

II. Frauenmacht

III. In den Tiber

Kapitel 12: Die Abrechnung

I. Insignien und Titel eines Kaisers

II. Der Hass aller

Kapitel 13: Das Nachleben Elagabals

Nachwort des Autors

Danksagungen

Zum Weiterlesen

Literatur

Endnoten

Register

Abbildungsverzeichnis

Über den Autor

EINLEITUNG

Die Rosen des Heliogabalus

 

 

 

Bild 1:The Roses of Heliogabalus von Alma-Tadema

 

Die falsche Decke bewegte sich und die Rosenblätter begannen herabzufallen. Gab es für die Festgäste eine Vorwarnung – ein Klicken, das Surren eines Räderwerks oder vielleicht irgendeine Andeutung des jungen Kaisers? Angespannt waren sie auf jeden Fall. Elagabals Festmähler waren für ihre Überraschungen berüchtigt. Häufig waren es entwürdigende oder furchteinflößende. Die Liegen waren so präpariert, dass sie die Benutzer platt auf den Boden warfen. Wilde Tiere wurden zwischen den Tischen losgelassen. Das kaiserzeitliche Rom hatte eine mal erfreuliche, mal düstere Tradition, wonach Abendessen unter Scheindecken stattfanden. Ein Esszimmer in Neros Goldenem Haus besaß drehbare Paneele, durch die Parfüm und Blüten auf die Gäste herabregnen konnten. Unter der Herrschaft des Tiberius schlichen sich Denunzianten in den Zwischenraum zwischen eingebauter und echter Decke, um Senatoren zu belauschen, die der Wein und ihre vertrauenswürdigen Gefährten zu verräterischen Plaudereien verlockte.1

Wann merkten Elagabals Gäste, dass sie in Gefahr waren? Wie schnell wurde aus dem Geriesel der Blütenblätter eine Flut, die sie zu ersticken drohte? Wann begannen sie um sich zu schlagen, um ihr Leben zu kämpfen? Wann begriffen sie, dass sie sterben mussten?

The Roses of Heliogabalus von Sir Lawrence Alma-Tadema wurde erstmals 1888 in der Londoner Royal Academy ausgestellt.2 Auf dem Bild wirken alle merkwürdig ruhig. Elagabal in der Mitte der Empore, in goldene Gewänder gehüllt, schaut unbeteiligt zu. Sein Interesse scheint weniger geweckt als das der anderen, die in Sicherheit rund um den besten Tisch liegen: Sie beugen sich zumindest vor, um besser sehen zu können. Noch seltsamer sind die Reaktionen der Opfer unter ihnen. Zwei Frauen in der Mitte bewegen sich zwar, aber nur träge – eher so, als wollten sie sich in den Blumen aalen, als um dem Ersticken zu entgehen. Zwei weitere Frauen blicken den Betrachter an. Ihre Gesichter, alles andere als entsetzt, verraten nicht den Hauch eines Gefühls. Vielleicht dämmert ihnen die schreckliche Wahrheit noch nicht. Allerdings: Das kommt einem unwahrscheinlich vor, weil die Frau, die auf der linken Bildseite herausschaut, schon so tief begraben ist, dass ihr rosa Gesicht beinahe im Rosa der Blüten verschwunden ist. Eher soll man ihre Reaktionslosigkeit wohl als Endergebnis römischer Dekadenz verstehen. Sie sind allesamt so übersättigt mit Luxus und Sinnlichkeit, dass jede neue Erfahrung, selbst die Todesnähe, nichts als Langeweile auslöst – das überaus viktorianische Gefühl des Ennui.

Ganz egal, dass The Roses of Heliogabalus komplett erfunden ist. Alma-Tadema hatte die Geschichte von einem spätantiken historischen Romancier. Die „Veilchen und anderen Blumen“ des Originals (HA Heliog. 21,5) machte er zu Rosen und ersetzte die mechanische Decke gleich noch durch einen Baldachin. Für Viktorianer standen Rosen für Sinnlichkeit und Verfall zugleich. Alma-Tadema, der stets obsessiv detailgenau war und in der Kälte eines englischen Novembers arbeiten musste, ließ sich für Unsummen Tausende frischer Blumen ins Atelier bringen – eine Extravaganz, die ganz nach seinem Thema riecht. Seine Quelle, der unbekannte Autor der als Historia Augusta bekannten Sammlung von Kaiserbiografien, hatte die Anekdote aus einem Festmahl Neros, das er bei Sueton beschrieben fand, ließ das Parfüm weg und fügte die Todesfolge hinzu. Über The Roses of Heliogabalus gibt es viel zu sagen und wir werden im letzten Kapitel auf das Bild zurückkommen. (Vielleicht möchten Sie sich schon einmal die Ausstattung des Raumes und den Mann auf der rechten Seite mit der ausgefallenen Frisur ansehen – und eventuell auch die Landschaft.) Vorläufig genügt die Bemerkung, dass Alma-Tademas Gemälde, so sehr es eine komplizierte, vielschichtige Fiktion ist, perfekt die viktorianische Sicht auf die Dekadenz des kaiserzeitlichen Rom und die finstersten Seiten des jungen Kaisers abbildet.

Springen wir über hundert Jahre nach vorn ins 21. Jahrhundert, stellen wir fest, dass die römische Dekadenz insgesamt immer noch gut im Geschäft ist. Die Grausamkeit und Abartigkeit eines Caligula und Nero sind Teil des populären Geschichtsbilds – Beweise gibt’s massenhaft im Internet. Elagabal jedoch ist fast vollkommen verschwunden (und auch diesem Verschwinden werden wir im nächsten Kapitel nachgehen). Finden lässt sich der junge Kaiser noch in den Abhandlungen einiger Gelehrter, zwischen Haufen aus Fußnoten und babylonischen Büchertürmen – einiger weniger Gelehrter, muss man sagen, denn der akademische Betrieb ignoriert ihn weithin. Ansonsten hat er sich an den Rand zurückgezogen. Ab und zu erscheint er in der Gegenkultur in den wilderen Ausläufern der LGBT+-Community. Hin und wieder erwischt man einen Blick auf ihn (stets durch die Linse von Alma-Tademas Bild) in der zeitgenössischen Kunst und deren oft so schwülstiger Kritik. Alle Jubeljahre schleift man ihn (wiederum immer vermittelt durch The Roses of Heliogabalus) durch die geistlose Publicity mancher Modehäuser. Aber im Mainstream hat sich Elagabal – wie ein Gott, den seine Gläubigen verlassen haben – in Luft aufgelöst.

In der römischen Welt ist Elagabal immer im Rampenlicht geblieben. Das ist ironisch, schließlich wurde sein Andenken nach seinem Tod förmlich verdammt.3Damnatio memoriae ist zwar, wie die Forschung uns häufig erinnert, ein moderner Begriff. Das Konzept selbst jedoch war römisch, und im Fall Elagabals wurde die Strafe mit aller Härte vollzogen. Manche seiner Statuen wurden entfernt und in Lagerhäuser verbracht, wo sie darauf warteten, in jemand anderen umgearbeitet zu werden; der Rest wurde verstümmelt. Die Hammerschläge zielten auf die Sinnesorgane – Augen, Ohren, Nase und Mund. Danach schleifte man die übel zugerichteten Statuen weg, verwendete sie als Baumaterial oder warf sie in Schande auf den Müll. Elagabals offizielle Namen – Marcus Aurelius Antoninus – wurden ganz oder teilweise aus Inschriften ausgemeißelt und in Papyri durchgestrichen. Selbst seine Münzen blieben nicht verschont. Einige, die überdauert haben, wurden mit der Initiale seines Nachfolgers gegengestempelt. Manche wurden wie die Inschriften mit spitzen Werkzeugen entstellt. Paradoxerweise hat gerade diese gründliche damnatio memoriae dazu beigetragen, die Erinnerung an den Kaiser zu bewahren. Seine Abwesenheit war es, die ihm eine bedeutsame Anwesenheit verlieh: der leere Statuensockel und der Freiraum auf der Inschrift.

In der römischen Fantasie blieb der tote Kaiser überaus lebendig. Er legte sich eine ganze Menge Spitznamen zu. Obwohl seine Herrschaftszeit so kurz war (218–222 n. Chr.), kennen wir viele davon, mehr als für jeden anderen Kaiser. Sie alle sind abschätzig und verhöhnen seine illegitime Herkunft, seine Effeminiertheit, sein Sexualverhalten, seine ethnische Zugehörigkeit und Religion sowie das Schicksal seiner Leiche: Pseudo-Antoninus, unheiliger kleiner Antoninus, Gynnis („weibischer Mann“), Bassiana (die weibliche Form eines Familiennamens), Koryphos („Jungfrauenschänder“ oder vielleicht auch „Lustknabe“), Assyrer (also „Orientale“), Sardanapalus (nach einem sagenhaften Assyrerkönig), Tractitius („der Geschleifte“, weil das mit seiner Leiche geschah), Tiberinus (nach dem Fluss, in den seine Überreste geworfen wurden), Elagabalus und Heliogabalus (beide abgeleitet von Elagabal, dem Gott, den er verehrte).4

Das ist ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten und über die Namen des Kaisers nachzudenken. Als Kind war er höchstwahrscheinlich Sextus (oder Gaius) Varius Avitus Bassianus. Als er auf den Thron kam, wurde er zu Marcus Aurelius Antoninus. Nach seinem Tod bekam er diese ganzen anderen Namen. Soweit man ihn in der modernen Welt überhaupt noch kennt, ist er normalerweise Elagabal(us) oder Heliogabalus. Ein einsamer Forscher hat vorgeschlagen, ihn „Varius“ zu nennen.5 Das hat den Nachteil, dass weder seine Untertanen noch jemand heute weiß, wer damit gemeint sein soll. Elagabal, die Bezeichnung, die die Forschung normalerweise gebraucht (und die auch in dieser Übersetzung verwendet wird), ist andererseits nicht oder nur durch Hinweise von der Gottheit Elagabal zu unterscheiden. Im Leben dieses Kaisers wird das nicht die letzte Mehrdeutigkeit bleiben …

Literatur fiel übrigens nicht unter die damnatio memoriae. Das ist seltsam, wenn man einen Augenblick überlegt. Manchmal drückten antike Autoren ihren Widerwillen aus, die Laster schlechter Kaiser festzuhalten, und gleich danach vertieften sie sich mit der Berufsethik eines Sensationsjournalisten in alle Feinheiten der Verdorbenheit. „Mein Blatt ist schmutzig, so wie sein Leben war; aber mein Leben ist rein“ – so hätten sie die Standardausrede lateinischer Erotikdichter erweitern können.

Zu Elagabal sind drei wichtige Texte erhalten, die allesamt in verschiedenen Abstufungen schlüpfrig sind. Zwei davon stammen von Zeitgenossen. Der erste ist Cassius Dio, der eine Geschichte Roms von der Ankunft des Aeneas und der Gründung der Stadt bis in sein eigenes Leben unter Elagabals Nachfolger schrieb. Anders als den Großteil des Textes, der nur in späteren Kurzfassungen erhalten ist, haben wir den Teil über Elagabal noch im Original (obwohl es Textlücken gibt). Cassius Dio Cocceianus, ein Grieche aus Kleinasien, machte in der römischen Politik erfolgreich Karriere. Zweimal wurde er zum Konsul ernannt, in die höchste Magistratur, und er nahm am Rat von mindestens zwei Kaisern teil. Sein Werk stammt von einem gut informierten Insider, dessen Sichtweise vom Blickwinkel des Senatorenstandes geprägt ist. An Elagabals Regime war er beteiligt, suchte sich aber, als er sich zur Ruhe gesetzt hatte, von dem toten Kaiser zu distanzieren.6

Der zweite ist Herodian, noch ein Grieche und ein jüngerer Zeitgenosse Cassius Dios. Seine Geschichte des Römischen Reichs vom Tod Marc Aurels (180 n. Chr.) bis zum Herrschaftsantritt Gordians III. (238 n. Chr.) ist vollständig erhalten (falls nicht ein bis zwei abschließende Bücher fehlen sollten). Herodian hatte keinen so hohen Status wie Cassius Dio – man hat vermutet, er sei ein ehemaliger Sklave – und seine Geschichte enthält weniger Details, besonders was Senatoren und den Senat betrifft. Doch durch sein Interesse an Religionsfragen und den Frauen des Kaiserhauses bietet er eine andere Perspektive, im Wesentlichen die eines gebildeten griechischen Untertanen.7

Die letzte Hauptquelle ist die wohl verwirrendste der ganzen antiken Literatur – es ist die Historia Augusta (der Name ist modern und die ältere Forschung spricht von den Scriptores Historiae Augustae), aus der Alma-Tadema die Geschichte des tödlichen Festmahls hatte. Die Historia Augusta oder kurz HA ist eine Serie aus Kaiserbiografien von Hadrian (117–138) bis Carinus (282–285), die vorgibt, um das Jahr 300 von sechs verschiedenen Männern geschrieben zu sein. Tatsächlich sind die Viten das Werk eines einzigen Autors, der um 400 n. Chr. lebte. Mehr als einem Jahrhundert intensiver moderner Forschung zum Trotz besteht noch immer kein Konsens über die Motive des unbekannten Hochstaplers (antichristliche Propaganda oder schlichter Spaß am Schabernack sind die vorherrschenden Thesen). Die Vita Elagabals liest man am besten als antiken historischen Roman, der zuverlässige Informationen mit Pauschalisierungen, puren Erfindungen sowie raffinierten gelehrten Anspielungen und literarischen Witzen mischt.8

Man sollte sich vor Augen halten, dass die überwiegende Mehrheit der antiken Autoren nicht aus reinem Zufall überlebt. Erhalten sind sie, weil ganze Generationen von Schreibern sie das ganze Mittelalter über immer wieder abgeschrieben haben. Der Grund, wieso man sie kopierte, liegt darin, dass ihre Werke von Anfang an als hochwertige Literatur erkannt wurden. Natürlich spielte der Zufall beim Überleben eine Rolle: ein Brand in einem Kloster, ein Banause, der sich mit dem einzigen Manuskript den Arsch abwischte … Doch je schlechter der Autor war, desto anfälliger waren seine Werke für solche Unglücke. Sie waren dann in der Antike seltener abgeschrieben worden und es gab weniger Handschriften. Die erhaltenen antiken Klassiker sind nicht nur klassisch, weil sie schon sehr alt sind, sondern weil ihre Schöpfer literarische Könner waren. Teil ihrer Kunst war es, raffiniert Themen zu behandeln, die sprechend für ihre eigene Zeit waren und in späteren Zeiten einen Nerv trafen. Elagabal mochte der schlimmste aller Menschen sein, das beste aller Themen war er auch. Cassius Dio, Herodian und die Historia Augusta schildern den Kaiser – wenn auch mit wechselnden Akzenten – als das tyrannischste Ungeheuer, das je den Thron bestiegen hat. Grausam und blutdürstig, lasterhaft und pervers, Verehrer eines barbarischen Gottes, Übertreter jeglicher sozialen und kulturellen Grenzen – Elagabal war eine furchtbare Warnung vor den äußersten Exzessen autokratischer Macht an Herrscher und Beherrschte, ob es nun Zeitgenossen oder Zukünftige waren.

Ein weiterer Teil der literarischen Kunstfertigkeit, die zur Erhaltung dieser drei antiken Autoren – zweier Historiker und eines Biografen/ Romanciers – geführt hat, ist ihre Erzählkunst. Cassius Dio, Herodian und der Autor der Historia Augusta waren große Geschichtenerzähler und das Leben Elagabals war eine Fundgrube für Geschichten.

Ein syrischer Jugendlicher (er war gerade dreizehn, vierzehn Jahre alt) siegte gegen jede Wahrscheinlichkeit in einem Bürgerkrieg, den seine alte Großmutter ausgelöst hatte. Seine Herrschaft begann mit einer Reihe von Tötungsakten – sein Erzieher starb durch die Hand des Kaisers selbst. In den vier Jahren extravaganter Missherrschaft, die sich anschlossen, brachte der Kaiser Favoriten niederer Herkunft in Führungspositionen und schien alles zu tun, um die etablierte Elite zu demütigen. Verheiratet war er mit mindestens vier Frauen und zur Empörung traditionell Denkender zweimal mit einer Vestalin. Ebenso sehr missachtete er die römischen Sitten und Gebräuche, indem er die passive Rolle im Sex zwischen Männern sichtlich genoss, und man sagte ihm nach, dass er einen Mann heiratete, als Prostituierter arbeitete und seine Ärzte nach der Möglichkeit einer physischen Geschlechtsumwandlung fragte. Der Gott seiner Väter, der sich als großer schwarzer Steinkegel zeigte, wurde nach Rom importiert und in einem prächtigen Tempel auf dem Palatin untergebracht. Ein weiterer Tempel entstand in einer Vorstadt. Die Würde, die in einer römischen Toga lag, schätzte der Kaiser gering, er kleidete sich stattdessen in ‚barbarische‘ Gewänder, schminkte sich und tanzte bei öffentlichen Riten zu Ehren seines Gottes. Um seine Religion gab es Gerüchte der Zauberei, ja sogar Totenbeschwörung. Andere Gottheiten mussten seinem Gott Elagabal weichen. Zwei Göttinnen wurden mit dem Neuen verheiratet. Schlimmer noch, Jupiter Optimus Maximus wurde abgesetzt. Fortan stand Elagabal, die Gottheit aus dem Osten, an der Spitze der staatlichen Götterwelt. Tempel, Hochzeiten (menschliche wie göttliche), Feiern und der Lebensstil des Kaisers verschlangen riesige Geldsummen. Die normalen Pflichten eines Kaisers vernachlässigte Elagabal und es hieß, er widmete sich dem Fahren von Wagen, die mal nackte Frauen zogen, mal Hunde oder noch unwahrscheinlichere Tiere. Und dann waren da noch die Festmähler: das ganze Essen in derselben Farbe, jeder Gang in einem anderen Palast serviert, Zuhälter und Spaßmacher als Gäste und schließlich das berüchtigte Mahl mit der tödlichen Blütenlawine. Am Ende wurde der Kaiser zusammen mit seiner Mutter von der Prätorianergarde ermordet. Wieder hatte seine Großmutter den Coup eingefädelt. Die Leichen Elagabals und seiner Mutter wurden nackt ausgezogen und an Haken durch die Straßen Roms geschleift. Damit er nicht begraben werden konnte, wurde der tote Kaiser mit Gewichten beschwert in den Tiber geworfen.

Viele dieser Geschichten, nicht nur die mit den Rosen, wirken nicht plausibel. Historiker wie Cassius Dio und Herodian standen mit ihren Methoden den heutigen Autoren historischer Romane viel näher als einer modernen Historikerin. In der Antike war die Literaturgattung Geschichtsschreibung der heutigen ganz unähnlich. Sie nannte ihre Quellen ungern und bestand auf erfundenen Dialogen in Form öffentlicher Reden. Fragen der Chronologie, ja sogar das Erfinden ganzer Episoden sah sie entspannt. Antike Biografien konnten zwar Dokumente wie Briefe und ähnliches enthalten, waren aber noch weniger an Faktentreue gebunden als die Geschichtsschreibung. Zu den übermütigen Fiktionen der Historia Augusta zählen viele eindeutig falsche Dokumente. Unsere Quellen versuchten keine unparteiische Rekonstruktion der Vergangenheit nach deren eigenen Maßstäben. Stattdessen nutzten sie das Material der Vergangenheit für die Zwecke ihrer Zeit. Geschichten erzählten sie entweder, um ernsthafte politische und kulturelle Argumente vorzubringen, oder zu Unterhaltungszwecken. Im Idealfall taten sie beides.

So viele Geschichten ranken sich um die Figur Elagabal. Noch komplizierter wird die Sache, weil unsere drei Hauptquellen nicht völlig unabhängig voneinander sind. Herodian hat Cassius Dio gelesen, allerdings ist der Grad, in dem er von seinem Vorgänger abhängt, umstritten. Der Autor der Historia Augusta wiederum kannte sowohl Cassius Dio als auch Herodian. Hier lautet die Frage eher, wie sehr der boshafte Biograf absichtlich verändert hat, was er in den Berichten der griechischen Historiker fand. Damit all diese miteinander verzahnten Geschichten Sinn ergeben, hat die heutige Forschung eine Daumenregel aufgestellt: Cassius Dio ist zuverlässiger als Herodian, während die Historia Augusta abgeschlagen auf dem letzten Platz landet. Nur drehen einige Forscher, wenn es um Elagabals Herrschaftszeit geht, die Reihenfolge der vorderen Plätze um: Herodian wird nun vertrauenswürdiger als Cassius Dio. Die Historia Augusta bleibt mit Abstand Dritte, bis wir den letzten Herrschaftsmonat erreichen, denn es herrscht eine merkwürdige Einstimmigkeit, dass sie dort einer soliden, heute verlorenen Quelle zu folgen beginnt und dadurch äußerst glaubhaft wird.

Von dieser Hierarchie der Verlässlichkeit sollten wir uns verabschieden. Um eine Entscheidung zu versuchen, welche Geschichten wahr oder zumindest plausibel sind, muss vielmehr jede einzelne im Licht der Ziele und Methoden ihres Erzählers betrachtet werden. Jede muss gegen sämtliche erhaltenen Informationen gehalten werden. Wie Detektive müssen wir jedes einzelne Beweisstück ohne vorgefasste Annahmen für sich allein beurteilen, ehe wir eine Rekonstruktion versuchen.

Wir werden unsere Quellen untersuchen und verschiedene Interpretationen verfolgen. Diese Geschichte mit abgenommenem Gehäusedeckel, deren Innenleben sichtbar wird, zeigt, was Historiker tatsächlich machen. Diese Detektivarbeit – halb forensische Analyse, halb Intuition – ist mit das Schönste am Nachdenken über die Vergangenheit. Manchmal ist der Weg ebenso wichtig wie das Ziel.9

Nicht nur erzählende Quellen werden wir unters Mikroskop legen. Wir werden uns Inschriften, Münzen, Papyri, archäologische Funde und viele Kunstwerke ansehen, darunter mehrere Statuen und Büsten, ein Paar Reliefs und einen außergewöhnlichen Kameo.

Außer Sex und Tod und Dekadenz ist die Geschichte von Elagabal das ideale Prisma, durch das wir andere Fragen betrachten können, die für die römische Kaiserzeit zentral waren. Wo lagen die Grenzen politischer Macht? Wie tief sollte ein Herrscher ins Leben seiner Untertanen eingreifen? Welches Handeln erwartete man überhaupt von einem Kaiser? Wo fing religiöser Extremismus an? Wann schlug bewundernswerte Frömmigkeit in Aberglauben und gefährlichen Fanatismus um? Wie konstruierte man Ethnizität? Wurde Elagabal so gehasst, weil er Syrer war? Waren die Römer rassistisch? Solche Fragen – in anderer Form, aber durchaus noch wiederzuerkennen – sind bis heute lebenswichtig. Wenn wir die Vergangenheit aufhellen, werfen wir ein Licht auf uns selbst: Worin sind wir verschieden und worin gleich? Mit Rom „lässt sich“, wie oft gesagt wird, „gut denken“.

Genug mit den Rosen und falschen Decken, mit Quellen und Methoden. Es ist Zeit, die Geschichte Elagabals zu erzählen. Anfangen müssen wir am Anfang. Wie nur wurde dieser Junge, von dem man es nie gedacht hatte, Kaiser von Rom? Dafür müssen wir zurückgehen in eine milde syrische Frühlingsnacht, zurück in die Nacht nach den Iden des Mai 218 n. Chr.

KAPITEL 1

Der Aufstand

Syrien, Mai 218 n. Chr.

I Die Flucht

Nach Einbruch der Dunkelheit schnappten sie sich den Jungen und schlichen sich aus der syrischen Stadt Emesa. Die Zeit war nicht auf ihrer Seite. Es war die Nacht nach den Iden des Mai – nur zehn Stunden Dunkelheit und über 35 Kilometer bis zur Festung in Raphaneai. Ein sehr langer Fußmarsch für ein Kind und noch härter für eine alte Frau. Sie hätten einen Wagen nehmen können, aber das hätte ihre Abreise vielleicht auffälliger gemacht. Nahe der Stadt befand sich ein hochrangiger Offizier mit Truppen, von denen man wusste, dass sie kaisertreu waren. Die Mitglieder der Verschwörung durften nicht entdeckt werden und mussten die Festung deutlich vor der Morgendämmerung erreichen.10

Emesa war eine ummauerte Stadt, eher aus Bürgerstolz als zu Verteidigungszwecken. Es war über zwei Jahrhunderte her, dass Barbaren hier im oberen Orontestal geplündert hatten, und Roms letzte Kriege im Osten waren entweder im Norden Mesopotamiens ausgetragen worden oder aber fern im Osten, im Gebiet des Partherkönigs. Womöglich war der Torhüter bestochen worden, damit er ein Auge zudrückte und sie durchließ, oder vielleicht hatte auch der örtliche Status der Familie ihren Abgang in aller Stille erlaubt.11

Gleich vor den Toren lag die Nekropole, die Stadt der Toten. Beide Seiten der Straße waren wohl von Gräbern gesäumt. Sie konnten verschiedene Formen annehmen und Türmen, Pyramiden oder Häusern ähneln. Die Architekturformen konnten zwar wechseln, aber die Praxis war in allen Siedlungen üblich. Nachts jedoch mieden die Achtbaren und die Abergläubischen solche Orte. Prostituierte, die ganz unten gelandet waren und kein Zimmer hatten, übten ihr Gewerbe in verlassenen Grabmälern aus. Und endlose Geschichten berichteten, wie ruhelose Tote umherwandelten. Die letzten Lemuria, ein Fest, an dem die Tore zur Unterwelt offenstanden, waren erst zwei Nächte her. Der Junge, Varius, war vierzehn (vielleicht auch erst dreizehn) und vom Übernatürlichen fasziniert. Falls er solchen Themen nachsann, während er zwischen den düsteren Bauwerken hindurchging, war das verzeihlich.12

Unsere beiden zeitgenössischen Quellen weichen voneinander in der Frage ab, wer da durch die Nacht eilte. Cassius Dio sagt, Varius sei von seinem Lehrer Eutychianus ins Lager gebracht worden, und das habe der junge grammaticus (so gut wie sicher ein Exsklave) ohne Wissen der Familie getan. Herodian erwähnt den Freigelassenen nicht, sondern behauptet, es sei die Großmutter des Jungen, Maesa, zusammen mit seiner Mutter Soaemias gewesen. Man könnte versuchen, beide Versionen in Einklang zu bringen: Die Initiative hätte dann bei den Frauen gelegen, die Eutychianus losschickten, selbst aber in Emesa blieben. Nur brachte ein solches Verfahren keine großen Vorteile. Jeder, der zurückblieb, schwebte in großer Gefahr, wie die tragischen Ereignisse des nächsten Tages zeigen sollten. Moderne Forscher spielen den Quellenwert Herodians oft herunter und verweisen auf sein Bedürfnis, die Rolle der Frauen aus Gründen der Dramatik hervorzuheben.13 Doch damit ignoriert man das ebenso ausgeprägte literarische Ziel Cassius Dios, zu unterstreichen, alle in den Aufstand Verwickelten seien anrüchig und aus den unteren Ständen gewesen. Außerdem schrieb Dio dies – und machte glänzend Karriere – unter dem folgenden Kaiser, dessen Herrschaft anfangs unter Maesas Kontrolle stand. Es wäre taktlos gewesen, seine Leser daran zu erinnern, dass sie einen inzwischen abgesetzten und in Schande geratenen jungen Kaiser an die Macht gebracht hatte.

Orakel, darunter auch die Schutzgottheit Emesas, hatten von einem Wandel gesprochen. Ihre mehrdeutigen Sprüche könnten Eutychianus ermutigt haben, auf eigene Faust zu handeln. Noch heute tun junge Männer Erstaunliches und Schreckliches im Namen Gottes.14 Aber Eutychianus war ein Geschöpf dieser Familie. Er war im Haus der Großmutter aufgezogen worden (weswegen wir eine unfreie Herkunft für ihn vermuten) und war der Liebhaber der Mutter. Soaemias war zwar Witwe, dennoch war die Affäre in den Augen der Zeitgenossen schockierend – desto mehr, als der Mann, den sich Soaemias ins Bett holte, früher ein Sklave gewesen war. Egal, wie nahe er der Familie stand, und ob auf die übliche oder auf sonstige Art, Eutychianus hatte kaum Zugang zu deren streng bewachten Geldtruhen oder ihren kostbarsten Erbstücken, und in dieser Nacht würde man beides brauchen. Beide Frauen neigten nicht dazu, vor einer direkten Beteiligung zurückzuschrecken, wenn es im politischen Geschehen um alles ging.

Laut Cassius Dio hatte Eutychianus nur eine Handvoll weiterer Mitverschwörer: einige Mitglieder des Stadtrats von Emesa (vielleicht nur sechs Ritter, Angehörige des zweithöchsten Standes der römischen Gesellschaft, aber der Text ist hier lückenhaft), dazu ein paar Freigelassene und Soldaten. Eine dieser Personen lässt sich als der Freigelassene Festus identifizieren, dem Eutychianus in Raphaneai eine wichtige Rolle zuweisen sollte. Zu den Ratsherren zählte ein gewisser Aurelius Eubulus. Später war der Mann aus Emesa ein enger Vertrauter Elagabals und wurde in Rom mit einer Funktion im Ritterrang betraut, die für den Kaiser lebenswichtig war.15

Herodian zufolge fungierten die Soldaten als Führer und noch zwei andere gehörten zur Gruppe. Maesa hatte noch eine Tochter und einen weiteren Enkel. Der Junge, Alexianus, war noch kleiner als Varius, ungefähr neun. Alexianus und seine Mutter Mamaea waren keine Schlüsselfiguren des geplanten Dramas, aber wie gefährlich es gewesen wäre, sie zurückzulassen, ist offensichtlich. Mindestens ein anderes Enkelkind, höchstwahrscheinlich aber zwei, lebten in der Nähe und wurden ihrem Schicksal überlassen. Maesa war unerbittlich. Wenn die Götter gnädig waren, konnte man sie ja am nächsten Morgen holen lassen.

Also machte sich eine kleine, wenig imposante Reisegesellschaft – drei Frauen, zwei Kinder, ein paar Exsklaven und Soldaten und vielleicht ein halbes Dutzend Einheimische – ins Umland auf. Von Raphaneai aus führte der Weg nach Emesa nach Nordwesten. Die mittelalterliche Kopie einer spätantiken Karte, die sogenannte Tabula Peutingeriana, zeigt eine Verbindungsstraße zwischen beiden Orten. Der Weg war nicht beschwerlich, er ging durch Hügelland und Olivenhaine. Und die Nacht muss mild gewesen sein, um die 13° C. Aber das flache Land war eine fremde Welt. In Hirtengedichten und Romanen war es ein Ort vorzeitlicher Unschuld, wo bäuerliche Verehrer um die Liebe jungfräulicher Schäferinnen warben. Tatsächlich war es eine Zone, die die Elite durcheilte, um aus der Sicherheit einer Stadt in die nächste oder in den Schutz eines Landguts zu kommen. Auf dem Land wimmelte es von Banditen. Im ganzen Imperium findet sich auf Grabsteinen immer wieder interfectus a latronibus (von Räubern getötet) oder dergleichen. Menschen verschwanden einfach. Es war ratsam, vor dem Aufbruch sein Testament zu machen.16

Nachts machte Schlimmeres als bloß Räuber das Land unsicher. Dann nämlich war die dünne Wand, die die Menschheit von den Bewohnern der Anderswelt trennte, besonders durchlässig. Dämonen, Vampire, Werwölfe – alle möglichen Wesen streiften durch die dunklen Hügel und Felder, so glaubte man. Kreuzwege waren besonders schlimm. Auf seinen Reisen im Osten war der Philosoph Apollonios von Tyana einem Gestaltwandler begegnet. Als er schrie, floh die Kreatur. Nur war Apollonius selbst göttlich begnadet und seine Methode passte nicht für heimlich Reisende.17

Viel mehr als nur das Dunkel und das Land konnten den Jungen Varius verunsichern. Er trug die Kleider eines anderen und hatte einen neuen Namen, eine neue Identität. Der Mann, der ihn aufgezogen hatte, war vor einigen Jahren gestorben. Jetzt sagte man ihm, jener Mann sei nicht sein Vater gewesen. Nicht länger war er Varius Avitus Bassianus, der Sohn eines römischen Senators aus Syrien, jetzt war er Marcus Aurelius Antoninus, das illegitime Kind des als Caracalla bekannten ermordeten Kaisers – ein weit gefährlicheres Erbe.18 Wie die Erwachsenen wusste auch der Junge, dass niemand von ihnen, wenn es im Lager schlecht lief, die nächste Nacht erleben würde.

II Domnas Verschwörung

In der Nacht des 15. Mai 218 n. Chr. war der Einsatz so hoch, wie er nur sein konnte. Hoffnung auf Gnade konnte es nicht geben. Dies war nicht das erste Mal, dass eine Frau der Familie sich gegen den Kaiser verschworen hatte.

Julia Domna, die Schwester Maesas, war die Frau des Kaisers Septimius Severus (193–211 n. Chr.) und die Mutter Kaiser Caracallas (211–217 n. Chr.) gewesen. Während der letzten drei Jahre von Caracallas Herrschaft, als er einen Feldzug gegen die Parther führte, war Domna in der syrischen Stadt Antiochia geblieben. Alle Briefe an den Kaiser gingen damals zuerst an Domna. Sie entschied, was an Caracalla weitergeleitet wurde. Den Rest erledigte sie selbst. In einer Autokratie war der Zugang zum Herrscher Macht. Abgesehen von der Expeditionsarmee hatte Domna praktisch alle anderen Aspekte der Kaiserherrschaft kontrolliert.19

Die Botschaft, völlig unerwartet und niederschmetternd, erreichte Domna per Kurier. Ihr Sohn war tot. Am 8. April 217 n. Chr. hatte Caracalla sein Winterquartier im mesopotamischen Edessa verlassen, um im Tempel des Mondgottes Sin vor der Stadt Carrhae zu opfern. Weil er Bauchbeschwerden hatte, stieg er vom Pferd, um sich zu erleichtern. Damit ihm etwas Privatsphäre blieb, hatte seine Eskorte sich ein Stück entfernt und schaute weg. Ein Soldat namens Martialis näherte sich, als wäre er mit einem Wink hergerufen worden. Martialis trug einen versteckten Dolch bei sich. Caracalla drehte ihm den Rücken zu und hatte die Hose um die Knöchel hängen. Nur ein Stich wurde geführt, der den Kaiser dicht am Schlüsselbein traf. Martialis kam bis zu seinem Pferd und versuchte zu fliehen, wurde aber von den Wurfspeeren der Barbaren-Leibgarde Caracallas aus dem Sattel geholt und getötet. Hochrangige Offiziere, darunter der Prätorianerpräfekt Macrinus, eilten zum verwundeten Kaiser. Es war zu spät. Die Wunde war tödlich. Macrinus weinte und klagte. Ein nachtragender Einzeltäter hatte den Kaiser getötet. Das zumindest war die offizielle Geschichte.

Als Domna vom Mord an ihrem Sohn erfuhr, entschloss sie sich zu sterben. Durch Schläge auf ihre Brust entzündete sich ein ruhender Tumor. Domna verweigerte die Nahrung und begann sich zu Tode zu hungern. Macrinus, inzwischen zum Kaiser ausgerufen, schickte ihr zusammen mit der Asche ihres Sohnes einen gütigen Kondolenzbrief. An ihrem kaiserlichen Gefolge oder ihrer Leibwache aus Prätorianern sollte sich nichts ändern. Domna erholte sich und nahm etwas zu sich. Doch dem neuen Kaiser schrieb sie keine Antwort. Statt irgendwelche Dankbarkeit zu äußern, begann sie mit den Soldaten ein Komplott gegen Macrinus zu spinnen.20

Zu der Geschichte von Caracallas Ermordung gab es noch eine andere Version. Martialis’ Stich sei nicht tödlich gewesen und er habe nicht allein gehandelt. Unter dem Vorwand, dem verwundeten Kaiser zu Hilfe zu kommen, gaben ihm zwei Brüder den Rest, Nemesianus und Apollinaris, Tribune bei den Prätorianern. Der Großteil des kaiserlichen Stabes war Mitwisser der Verschwörung, darunter Agrippa, der Befehlshaber der Flotte, und Triccianus, der Präfekt der zweiten Legion Parthica, der zur berittenen Eskorte abgestellt war. Ausgeheckt habe die ganze Verschwörung gegen Caracalla sein Nachfolger Macrinus.21

Sowohl Cassius Dio als auch Herodian entscheiden sich für die zweite Geschichte: Macrinus war für den Mord verantwortlich. Man hat vermutet, sie könnten bloß Propaganda aus der Herrschaftszeit Elagabals wiedergegeben haben.22 Das wirkt unwahrscheinlich. Beide Historiker verabscheuten Elagabal. Da sie erst nach seinem Tod schrieben, hatten sie keinen Grund, eine Version vorzulegen, die geholfen hätte, seinen Aufstand zu rechtfertigen. So gut wie sicher wucherten von Anfang an die Gerüchte, dass Macrinus hinter Caracallas Tötung steckte. Sie müssen Domna zu Ohren gekommen sein. Cassius Dio sagt, sobald sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr, habe sie Macrinus heftig beschimpft.

Rache am Mörder ihres Sohnes war für Domna ein starkes Motiv. Ein fragmentarischer Abschnitt bei Cassius Dio fügt ein weiteres hinzu: Angst, man könnte ihr den Titel Augusta aberkennen und sie zwingen, in ihre Heimatstadt Emesa zurückzukehren. Wie wir noch sehen werden, bedeutete Status den Frauen dieser Familie alles.23

Domnas Komplott durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die einfachen Soldaten hatten Caracalla geliebt. Fast ein Vierteljahrhundert lang hatten die Truppen ihren Soldateneid auf das „Göttliche Haus“ der severischen Dynastie abgelegt. Domna mit dem Ehrentitel „Mutter des Lagers“ war die Hauptfigur der Kaiserfamilie. Geld war vorhanden. Abgesehen von ihrem eigenen Vermögen und dem ihrer Verwandten befand sich Domna im reichen Antiochia, der kaiserlichen Hauptstadt im Osten.24 Teile verschiedener Truppeneinheiten und die Domna zugewiesenen Prätorianer müssen in der Stadt stationiert gewesen sein. Von ihrem Hafen Seleukeia Pieria strömten Nachschub und Verstärkungen durch Antiochia zum Feldheer, das mit Macrinus in Edessa stand. Unzufriedenheit konnte sich also rasch verbreiten.

Macrinus handelte entschieden, aber umsichtig. Die offene Hinrichtung der Mutter Caracallas würde Unruhen unter den Truppen auslösen. Stattdessen wurde Domna angewiesen, Antiochia zu verlassen und zu gehen, wohin sie wollte. Falls sie noch Prätorianer begleiteten, waren sie zweifellos handverlesen und überwachten sie. Domnas Unglück steigerte noch, dass in Rom Jubel über Caracallas Tod herrschte. Anders als die Soldaten hatten der Senat und das Volk in Rom ihren Sohn gehasst. Weiterleben war sinnlos. Zwar starb sie sowieso schon an Krebs, aber nun machte sie Ernst damit, sich zu Tode zu hungern. So der Bericht bei Cassius Dio. Der Herodians ist kürzer und finsterer: „sie tötete sich [das griechische Verb kann Suizid entweder durch Verhungern oder durch Erhängen meinen], vielleicht von sich aus oder vielleicht auf Befehl.“ (5,3,11)

Was war das Ziel von Domnas Komplott gewesen? Eine neuere Studie mutmaßt, dass sie, da „eine Frau nicht herrschen konnte“, eigentlich vorhatte, ihren Großneffen Elagabal (wie wir Varius ab jetzt nennen werden) auf den Thron zu setzen.25 Eine ältere Verschwörung, ein Jahr vor der Flucht nach Raphaneai, ist eine verlockende Idee, letztendlich überzeugt sie aber nicht. Eventuell war Elagabal nicht die offensichtliche Wahl innerhalb der Familie. Sein Vater war vor einigen Jahren gestorben, sein Großvater vor kurzer Zeit und ein unbekanntes Geschwisterkind (wir wissen nicht, ob es ein Bruder oder eine Schwester war) irgendwann zwischen beiden Ereignissen. Doch lebten noch andere männliche Verwandte. Es gab einen angeheirateten Onkel mit zwei Kindern. Eines war eine verheiratete Tochter, das andere – falls es auf die leibliche Abstammung ankam – ein Sohn. Dieser Mann, der aus einer Inschrift bekannt und wahrscheinlich auch in einer fragmentarischen Passage Cassius Dios erwähnt ist, war 214 n. Chr., drei Jahre zuvor, in das Priesterkollegium der Arvalbrüder kooptiert worden. Damit war er anders als Elagabal erwachsen und Senator.26

Von anderen Kandidaten ganz abgesehen: Wenn Domna Elagabal als Thronanwärter präsentiert hätte, dann hätte er wahrscheinlich die üblichen Konsequenzen eines Scheiterns zu spüren bekommen – den Tod oder allermindestens die Verbannung auf eine sichere Gefängnisinsel. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, ließ Macrinus Maesa ihren kompletten Besitz und schickte sie nach Emesa, wo sie mit Elagabal leben sollte. Das wäre eine gigantische politische Dummheit gewesen, hätte Maesas Schwester gerade versucht, eine Rebellion im Namen des Jungen zu starten. In seiner Zusammenfassung von Macrinus’ Herrschaft schrieb Cassius Dio, gestürzt worden sei er „von einem grünen Jungen, von dem er vorher nicht einmal den Namen gekannt hatte“ (79,40,3).

Schließlich lohnt sich ein genauer Blick auf das, was CassiusDio über Domnas Motive sagt. „Sie hoffte Alleinherrscherin zu sein [autarchēsē, wörtlich: „aus eigener Kraft zu herrschen“] wie Semiramis und Nitokris, da sie ja gewissermaßen aus derselben Gegend kam wie diese.“ (79,23,3) Semiramis und Nitokris waren Sagenherrscherinnen im Osten: die eine Königin von Assyrien, die andere von Ägypten. Indem Dio auf Domnas syrische Herkunft verwies, wollte er seine griechischen und römischen Leser der Ansicht näherbringen, sie habe eine so ‚barbarische‘ Rolle angestrebt. Tatsächlich sollte noch jahrhundertelang keine Frau das Römische Reich aus eigenem Recht regieren – bis Irene, die Witwe Leons IV., lange nach dem Verlust Roms in Konstantinopel den männlichen Titel Basileus annahm (797–802 n. Chr.). Doch das muss nicht automatisch heißen, dass Domna nicht doch die Alleinherrschaft wollte. Seit Beginn des Römischen Reichs hatte zweieinhalb Jahrhunderte lang kein Kaiser eine ritterliche Herkunft gehabt, bis 217 n. Chr. Macrinus auf dem Thron kam. Doch schon zur Zeit des zweiten Kaisers Tiberius (14–37 n. Chr.) soll der Prätorianerpräfekt Seianus, ein Ritter, Pläne geschmiedet haben, den Purpur an sich zu reißen.

Zwar mag es unrealistisch gewesen sein, aber nach fünfundzwanzig Jahren im Herzen des Kaiserhofs, von denen sie die letzten drei praktisch mit der Führung des Reichs verbracht hatte, könnte Domna den Griff nach der Alleinherrschaft versucht haben. Vielleicht lag Cassius Dio doch nicht so weit daneben. Wie wir sehen werden, gaben mehrere Aspekte der Familiengeschichte Domnas im Osten ihren Ambitionen Auftrieb. Und die Frauen aus der Dynastie von Emesa sollten noch mehrmals die Erwartungen der Zeitgenossen durchkreuzen.

III Maesas Verschwörung

Zwar war Maesa mit einem führenden Senator verheiratet, aber die ganze Herrschaftszeit des Septimius Severus und Caracallas verbrachte sie mit ihrer Schwester am Hof. Während der letzten angespannten Monate war sie mit Domna in Antiochia. Von ihrer Rolle bei den damaligen Ereignissen erfahren wir zwar nichts, aber später musste sie dafür leiden. Macrinus befahl ihr, abzureisen und in ihrer Heimatstadt Emesa zu leben. Genau dieses Schicksal hatte Domna ironischerweise für sich selbst befürchtet. Maesa durfte ihren gesamten Besitz behalten, auch den riesigen Reichtum, den sie in den Jahrzehnten in Herrschernähe angehäuft hatte.27

Maesas Mann, der Senator Gaius Julius Avitus Alexianus, war vor Kurzem an Altersschwäche gestorben. Er hatte als Berater des Statthalters von Zypern gedient. Also kehrte Maesa in die Provinzstadt, wo sie geboren war, als gealterte Witwe zurück. Auf den ersten Blick war das keine aussichtsreiche Ausgangsposition, um den Sturz des Kaisers zu planen. Was brachte sie dazu, das enorme Risiko einzugehen?

Maesa mag sich glücklich geschätzt haben, das gescheiterte Komplott ihrer Schwester überlebt zu haben, aber in Sicherheit war sie bei Weitem nicht. Im römischen Recht gab es zwei Formen der Verbannung. Die zur strengeren deportatio Verurteilten wurden an einen bestimmten Ort verwiesen, üblicherweise eine Insel. Sie verloren ihre Rechte als Bürger und fast immer wurde ihr Vermögen beschlagnahmt. Die mildere Strafe war die relegatio, die eine Verbannung aus Rom, Italien und gegebenenfalls der Heimatprovinz der Betroffenen bedeutete. Wer einer relegatio unterlag, behielt normalerweise seinen Besitz, auch den eigenen Status und das Bürgerrecht.28 Offensichtlich passt Maesa in keine von beiden Kategorien. Der Wille des Kaisers hatte Gesetzeskraft und galt mehr als die Feinheiten des geschriebenen Rechts. Gegen Maesa mag kein förmliches Urteil ergangen sein, aber sie kann sich keine Illusionen gemacht haben: Ihre Lebensumstände waren nichts anderes als eine Form der Verbannung im Landesinnern.

Es gab ernsten Grund zur Besorgnis. Nur zu oft reiste dem Verbannten der Henker hinterher. Eine prominente Person wurde zunächst weggeschafft, dann diskret außer Sichtweite getötet. Das Todesurteil konnte rasch eintreffen oder erst nach Jahren der Angst. Maesa kannte das aus den Erlebnissen ihrer eigenen Familie genau. Plautilla, die Frau von Maesas Neffen Caracalla, wurde 205 n. Chr. Opfer einer Scheidung und nach Lipara verbannt. Die nächsten sieben Jahre verbrachte sie „in großer Furcht und Elend“ (Cass. Dio 77,6,3), bis 212 n. Chr. der Tötungsbefehl für sie die Insel erreichte.29

Maesas Riesenvermögen steigerte die Angst nur noch. Roms chronisch geldknappe Kaiser erlagen häufig der Versuchung, unschuldige Angehörige der Elite zu verurteilen, um deren Reichtum zu beschlagnahmen. Der Philosoph Dion Chrysostomos erfindet ein ländliches Idyll, indem er sich zwei Bauernfamilien vorstellt, die sich selbst überlassen sind, nachdem der Kaiser den Besitzer des Landguts hingerichtet hat, dessen abgelegener Teil ihr kleiner Hof einst gewesen ist.30 Der Kaiser wird nicht namentlich genannt. Das war auch gar nicht nötig. Dions Leser wussten, dass Kaiser so etwas halt machten – sie töteten die Reichen des Geldes wegen. Dieses Verhalten lässt sich eher als fester Teil der kaiserlichen Finanzpolitik deuten denn als Verirrung von Tyrannen. Auch dieser Gefahr war sich Maesa nur zu bewusst. Ihr Schwager Septimius Severus war für Verurteilungen aus Profitgründen berüchtigt gewesen.

Beide Ängste hingen untrennbar zusammen. Falls Maesa hingerichtet wurde, würde man ihre Familie in Armut stürzen. Gemeinsam ergab das ein starkes Motiv. Aber auch andere Faktoren trieben Maesa, alles auf eine Karte zu setzen.

Ganz zu Recht machte Maesa Macrinus für den Tod ihres Neffen und ihrer Schwester verantwortlich. Rache (ultio) war in Rom ein ehrbares Ziel, ja sogar eine Pflicht. Normalerweise töteten die Kaiser die Familie eines wegen Verrats Hingerichteten, und zwar nicht nur aus willkürlicher Grausamkeit oder Geldgier, sondern um ihre eigene Zukunft abzusichern. Gerechte Rache zu nehmen, mochte sie auch durch Milde (clementia) abgeschwächt sein, war fester Teil des Wertekanons der römischen Elite. Es war das Gegenstück zu ihren lauthals verkündeten Wohltaten an die, die es verdienten. Der Diktator Sulla hatte auf sein Grab schreiben lassen, dass niemand ihn in guten Diensten für seine Freunde oder im Schädigen seiner Feinde übertroffen habe. Wieder einmal stand Maesa hier das Beispiel ihrer Familie vor Augen. Sowohl Septimius Severus als auch Caracalla hatten vor dem Senat die Strenge Sullas gelobt und Caracalla hatte das Grab des Diktators samt Inschrift restauriert.31

Furcht und Rache waren starke Antriebe fürs Handeln. Herodian liefert einen weiteren. Maesa „hätte lieber jede Gefahr auf sich genommen, als wie ein einfacher Mensch und scheinbar verworfen zu leben“ (5,3,11). Sie hatte schlicht ein Statusbedürfnis, dasselbe Motiv, das Cassius Dio Domna zuschreibt. Da wir in einer nicht so hierarchischen Kultur leben, sind wir vielleicht versucht, diesen Gedanken zu verwerfen. Man könnte ihn als rein rhetorische Floskel abschreiben. Vielleicht war es bloß ein literarischer Topos, den sich Herodian von Cassius Dio ausborgte und auf eine andere Person übertrug? Sich auf diesen Standpunkt zu begeben, wäre ein Fehler. An den Standards ihrer Kultur gemessen waren sowohl Dio als auch Herodian scharfsichtige Beobachter von Motiven. In vieler Hinsicht waren die Römer uns zwar ähnlich, aber in anderen Punkten ganz verschieden. Das galt für ihre Denkweise ebenso wie für Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Essen. Der Kernbegriff des Sozialstatus war für sie die dignitas. „Würde“ oder „Prestige“ ist die gängige deutsche Übersetzung, „Dignität“ die direkte Übertragung, aber beides kann die wahre Bedeutung nicht vermitteln. In unseren Ohren ist Würde oft etwas Anrüchiges, etwas, worauf man pochen kann, was leicht in Selbstgefälligkeit und Aufgeblasenheit übergeht. Für die Römer war die dignitas ein zentraler Teil ihrer Identität. Als Caesar seinen eigenen Aufstand entfesselte, äußerte er den berühmten Satz, seine dignitas sei ihm wichtiger als sein Leben.32 Domna und Maesa hätten diese Empfindung genau gleich ausdrücken können – und Maesa sollte sie in die Tat umsetzen.

In vielerlei Hinsicht war die Zeit für eine Rebellion günstig. Der neue Kaiser Macrinus saß noch nicht fest auf dem Thron. Die Armee mochte ihn nicht. Als Nachfolger Caracallas hatte Macrinus dessen Partherkrieg geerbt. Der war nicht gut verlaufen. Im Sommer 217 n. Chr. hatte eine Schlacht beim mesopotamischen Nisibis riesige römische Verluste gefordert, aber keinen entscheidenden Sieg gebracht. Gerüchte wollten wissen, das liege daran, dass Macrinus die Nerven verloren habe und vom Schlachtfeld geflohen sei. Seine bisherige Karriere als Jurist hatte ihn eventuell nicht besonders kampfesmutig werden lassen und machte ihn bei den Truppen kein bisschen beliebter. Während ein Friedensvertrag ausgehandelt wurde – der weithin als nachteilig für Roms Interessen galt –, war die Armee während des Winters 217/18 notgedrungen im Feld geblieben. Der knappe Nachschub verärgerte die Soldaten, von denen viele die schlechte Jahreszeit auch noch in Zelten verbringen mussten – und das umso mehr, als Macrinus selbst angeblich in Saus und Braus in Antiochia lebte, seinen Bart pflegte und philosophische Gespräche hielt. Barbareneinfälle in die Provinz Dakien sorgten für Unruhe bei jenen Abteilungen im Expeditionskorps, die aus den Garnisonen entlang der Donau detachiert waren. Ihre Familien waren in Gefahr und sie forderten, heimkehren zu dürfen. Zu allem Überfluss verfügte Macrinus, dass neue Rekruten künftig nicht mehr die Solderhöhung und die zusätzlichen Privilegien erhalten sollten, die Caracalla dem Militär spendiert hatte. Dieser Versuch stärkerer Haushaltsdisziplin war zwar vielleicht notwendig, hätte aber zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Es überrascht wenig, dass die aktiven Soldaten darin den ersten Schritt zum Entzug ihrer eigenen Vorteile sahen. Und unter der Hand ging das Gerücht um, dass Macrinus für den Tod ihres Kameraden Caracalla verantwortlich war.33

Sollte ein Untertan des Kaisers jemals ein Handbuch verfasst haben, wie man Aufstände macht, und detailliert die Schritte dabei erklärt haben, dann ist sein praktischer Ratgeber uns nicht überliefert. Die moderne Forschung hat diese Literaturlücke zu schließen versucht.34 Erfolgreiche Militärrevolten wurden – im Unterschied zu Mordanschlägen oder Palastrevolutionen – von Männern mit großen Namen geführt: mindestens von Senatoren, besser noch von Mitgliedern der Senatsaristokratie, und zwar besonders von Kommandeuren einer Armee. Erst einmal hatten sie ein eigenes Gefolge und die in ihrer Provinz dienenden Funktionsträger griffbereit. Man konnte Orakel befragen; deren Weissagungen waren zwar immer mehrdeutig, konnten aber, falls nützlich, in Umlauf gebracht werden. Die Gunst der Götter war eine Menge wert – genug, um schwerer als das Risiko zu wiegen, von skrupellosen Priestern angezeigt oder erpresst zu werden.35 An die Mächtigen – Männer, die wie der Absender über Truppen verfügten – mussten Briefe geschickt werden. In ihnen standen Versprechen eines Aufstiegs für den Adressaten, dessen Familie und Freunde. Weitere Briefe gingen an reiche Provinzbewohner und wichtige Städte. Sie versprachen höheren Status und materielle Belohnungen. Schließlich verteilte man unter den Soldaten heimlich Geld. Jeder Schritt war Verrat und auf jeden stand die Todesstrafe, aber ohne eine möglichst breite Basis aus Unterstützern ging es nicht.

Maesa erreichte Emesa frühestens im August 217 n. Chr.36 Mitte Mai des folgenden Jahres brach sie mit Elagabal nach Raphaneai auf – ihr blieben höchstens neun Monate für die Organisation eines Aufstands. Sicher fing sie nicht sofort zu planen an. Sie brauchte Zeit, bis sie ihre Chance erkannte.

Die Schutzgottheit von Emesa war Elagabal, ein Sonnengott, der sich in einem großen schwarzen Stein von Kegelform manifestierte. Elagabals Tempel war reich. Herodian berichtet uns, dass alljährlich Barbarenkönige und die Statthalter benachbarter Provinzen teure Opfergaben schickten. Maesas Familie kontrollierte das Priesteramt. Einst waren sie die Könige von Emesa gewesen. Als Kaiser Domitian vor rund fünf Generationen ihre Monarchie abgeschafft hatte, hatten Maesas Ahnen ihre Energie in den Kult gesteckt und den Gott vielleicht sogar importiert, um ihre Führungsrolle in der Stadt zu erhalten. Der amtierende Priester war Maesas Großneffe. Regelmäßig kamen Soldaten aus der örtlichen Garnison zum Gebet.37 Die Legion III Gallica war schon über ein Jahrhundert in Raphaneai stationiert. Die meisten ihrer Rekruten waren Syrer. Elagabal war für einige der Familiengott und für alle kulturell akzeptabel. Manche Soldaten waren bereits Klienten von Maesas Familie. Die Patron-Klient-Beziehung, ein fester Bestandteil der römischen Gesellschaft, beruhte auf Gegenseitigkeit. Der Klient bekundete seinem Patron Respekt und unterstützte dessen Ziele, wogegen der Patron dem Klienten Vorteile sicherte. Herodian deutet an, die Soldaten, die den Tempel besuchten, hätten auch nichtreligiöse Motive gehabt und Lust empfunden, wenn sie den jungen Priester Elagabal bei den religiösen Feiern für seinen gleichnamigen Gott zelebrieren sahen. Angesichts der Tatsachen der römischen Sexualität, die wir in Kapitel 10 kennenlernen werden, ist das sehr wahrscheinlich.

Hier lag Maesas Chance – ein direkter Draht nach Raphaneai und von da aus in alle Militärlager im Osten. Sie wusste, dass die Soldaten mit Macrinus unzufrieden waren und das Andenken Caracallas hochhielten.38 Da Elagabal der Oberpriester war, ließen sich günstige Orakel nicht schwer fabrizieren. Dass aus anderen Heiligtümern ähnliche Sprüche kamen, zeigt den Einfluss der Familie in der ganzen Region. Maesa erzählte den Soldaten, Elagabal sei Caracallas unehelicher Sohn. Damit stempelte sie ihre Tochter zwar zur Ehebrecherin, aber egal. Selbst wenn sich Soaemias hätte wehren wollen, angesichts der Affäre mit Eutychianus war sie in keiner guten Position. Dazu unternahm Maesa einen Schritt, von dem es kein Zurück gab – sie versprach den Truppen Geld, wenn sie ihrer Familie wieder den Thron verschafften.

Ob Maesa persönlich mit den Soldaten sprach, wissen wir nicht genau. Da Eutychianus und Festus später so wichtige Rollen bei den Truppen spielten, könnten sie Maesas Abgesandte gewesen sein. Dass einige Soldaten bereits Klienten der Familie waren, muss das Herantreten an sie erleichtert haben. Im Frühjahr 218 waren schon mehrere für den Aufstand unerlässliche Faktoren zusammengekommen. Maesa hatte sich göttliche Rückendeckung verschafft, obwohl man annehmen darf, dass die so verrätselt ausfiel wie jedes Orakel. Sie hatte sich die Unterstützung der Freigelassenen ihrer eigenen Entourage und gewisser Honoratioren in Emesa gesichert und hatte mindestens einigen Angehörigen der nahen Garnison Geld geboten. Doch noch immer war es eine kleine Gruppe, zu denen nicht ein einziger ranghoher Offizier gehörte – eine beunruhigend dürftige Grundlage für eine bewaffnete Erhebung.

Aus Ägypten ist ein faszinierender Papyrus erhalten, der den Versuch einer Rebellion belegt. Zwar ist der Text brillant rekonstruiert worden, bleibt aber so fragmentarisch, dass er sich liest, als ob man eine beschädigte DVD ansieht: Das Bild verpixelt, friert ein, springt zu einem klaren Moment vor und verschwindet dann wieder.39 Es handelt sich um ein amtliches Dokument: Der Bericht über die Revolte ist der Morgenmeldung einer römischen Militäreinheit beigegeben. Das Jahr ist unsicher. Darauf kommen wir (in Kapitel 5) noch zurück, weil es in die Herrschaftszeit Elagabals fallen kann. Höchstwahrscheinlich fand der Aufstand in Ägypten statt, aber auch da sind wir nicht sicher. Die Meldung kann auch aus einer anderen Provinz stammen. Immerhin lassen sich einige Details erkennen. Wichtig war das Timing. Der Putsch wurde während einer Festzeit gestartet, als die Truppen frei hatten und die Disziplin locker war. Mehrmals wurde das Religiöse betont. Die Feldzeichen, das Lagerheiligtum und der Soldateneid sind erwähnt. Neben den Truppen wurde auch versucht, Zivilisten zu gewinnen. Ausgelöst wurde der Aufstand durch einen Offizier, der als „jener Präfekt“ (ille praefectus) bezeichnet wird. Vielleicht war es der Präfekt von Ägypten, der Kommandeur der dort stationierten Zweiten Legion Traiana Fortis oder einer Auxiliareinheit? Egal, wie ranghoch er war, jedenfalls handelte er wohl gemeinsam mit einem Zenturio und zehn Soldaten. Offenbar konnte auch eine kleine Gruppe ohne mächtige Unterstützer einen Aufstand starten. Doch die sorgfältige Vermeidung des Namens „jenes Präfekten“ zeigt außerdem, dass er scheiterte.

Der Papyrus belegt, dass Maesas Chancen sehr schlecht standen, als sie Elagabal nach Raphaneai brachte. Genau wie „jener Präfekt“ hatte sie keine hochrangigen, einflussreichen Unterstützer. Warum hatte sie nicht die Statthalter und Barbarenkönige mit Verbindungen zum Elagabal-Tempel eingespannt? Letztere für einen römischen Bürgerkrieg zu rekrutieren, konnte unklug sein. Mehrere Barbarenherrscher boten Hilfe an, als Kaiser Vespasian nach dem Thron griff. Man rechnete ihm hoch an, dass er ablehnte. Emesa lag in der römischen Provinz Syria Phoenice. Ihr Statthalter Marius Secundus war gerade in Amtsgeschäften in Ägypten. Secundus war noch nicht lange im Amt und stand treu zu Macrinus. Tatsächlich ließ sich die Verschwörung erst dank Secundus’ Abwesenheit umsetzen. Doch vom Werben um andere Statthalter hören wir nichts. Als beide Seiten später, nach Ausbruch der Revolte, Briefe versandten und die Provinzen auf ihre Seite zu bringen suchten, deutet Cassius Dio an, das sei das erste Mal gewesen.40 Ein Vierteljahrhundert bei Hof hatte Maesa gelehrt, wie wichtig die Legionen und deren Kommandeure waren. Etwas war geschehen, das den Zeitplan der Rebellion nach vorn verschoben hatte.

Ulpius Julianus, einer der beiden kürzlich von Macrinus eingesetzten Prätorianerpräfekten, war in Syria Phoenice eingetroffen. Wieso er dort war, erfahren wir nicht. In Abwesenheit von Secundus kann Julianus die Aufgabe erhalten haben, die Provinz zu leiten und die Truppen in ihren Winterquartieren zu inspizieren. Später hören wir von vielen Deserteuren in der Region, also fing Julianus vielleicht gerade welche ein.41

Es gibt die These, dass Maesa bei ihrem Aufbruch nach Raphaneai nicht wusste, dass Julianus in der Nähe war.42 Das ist extrem unwahrscheinlich. Ein Prätorianerpräfekt reiste ziemlich stilvoll. Julianus war in Begleitung einer maurischen Auxiliareinheit und verfügte über eine Eskorte aus seinen eigenen Gardisten. Maesas Familie war nicht nur die mächtigste in Emesa, sondern besaß auch Verwandte und Güter in den Nachbarstädten Apameia und Arca. Wie wir noch sehen werden, befand sich Julianus in der Nähe von Arca. Maesa wird über die Ankunft des Prätorianerpräfekten informiert gewesen sein.

Schon vor den Gerüchten, dass Julianus in den Mord an Caracalla verwickelt war, hatte er einen unappetitlichen Ruf. Zu seinen früheren Posten zählte unter anderem das Kommando über die frumentarii. Ihrem blassen Namen zum Trotz, der irgendeinen Zusammenhang mit Getreideversorgung oder Essensrationen andeutet, waren sie das, was in Rom einem Geheimdienst am nächsten kam. Sie waren die Geheimkuriere des Kaisers. Die düstere Seite an ihrem Beruf war, dass sie auch seine Spitzel und Meuchelmörder waren.43 Als Prätorianerpräfekt blieb Julianus auch weiter für ihre Aktivitäten verantwortlich.

Julianus’ Auftauchen in der Phoenice versetzte Maesa in Angst. Bestenfalls war er in einer guten Position, um ihre hochverräterischen Intrigen aufzudecken. Schlimmstenfalls war schon etwas durchgesickert und der Prätorianerpräfekt hatte Befehl, sie zu verhaften und zu exekutieren. Eigentlich hatte Maesa losschlagen wollen, solange die Armee noch in den Winterquartieren war, aber bevor Secundus zurückkehrte. Viele Elemente der Verschwörung standen schon bereit: die Orakel, ihre Freigelassenen, ein paar örtliche Würdenträger und einige Legionäre aus der Dritten Gallica. Aber noch hatte sie die Unterstützung nicht eines einzigen Armeekommandeurs. Dafür war jetzt keine Zeit mehr. Julianus’ Ankunft löste ihre hastige Flucht aus Emesa bei Nacht aus.

IV Die Akklamation

Mit Elagabal und dem Rest ihrer zusammengewürfelten kleinen Reisegesellschaft erreichte Maesa müde, vom Weg erschöpft und besorgt weit vor Tagesanbruch Raphaneai. Das letzte Wegstück war abschreckend. Als sie im Zwielicht von den Hügeln im Osten herabstiegen, war der Abhang zu ihrer Rechten pockennarbig vor lauter dunklen Steinbrüchen, der Horizont eine Zackenreihe aus Grabmälern. Raphaneai lag in einem Tal, das durch das Heiligtum einer Gottheit, die wir nicht kennen, auf einer Anhöhe im Westen dominiert wurde. Soweit wir wissen, besaß die Stadt keine Mauern.44 Sie gingen durch die stillen Straßen der Zivilsiedlung bis vor die Mauern der Legionsfestung. Bei ihrer Ankunft fanden sie die Tore verschlossen. Das war ein Moment höchster Gefahr. Wenn man sie nicht einließ, war die Revolte vorbei und das Leben aller bald schon verwirkt.

Das Lager war das Zuhause der Legio III Gallica, einer Legion mit einer langen, ruhmreichen Geschichte. In den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. hatte Caesar sie teils aus Veteranen seiner Eroberung Galliens aufgestellt – daher der Name; dann hatte sie in Spanien bei Munda gekämpft, in der letzten Schlacht der Bürgerkriege, die Caesar die Alleinherrschaft brachten. Ein Jahrzehnt später hatte sie unter dem Kommando von Marcus Antonius am anderen Ende des Imperiums Krieg gegen die Parther geführt, jenseits des Euphrats. Ein Jahrhundert lang blieb die Legion im Osten und legte sich bleibende östliche Angewohnheiten zu. Für kurze Zeit kehrte sie während eines weiteren Bürgerkriegs in den Westen zurück: in der zweiten Schlacht von Bedriacum in Italien 69 n. Chr. drehten sich ihre Soldaten, als die Dämmerung kam, nach Osten und begrüßten die aufgehende Sonne. Dieses syrische Ritual hielt der Rest der Armee für Freude über die Ankunft von Verstärkung. Im nächsten Jahr wurde die Legio III zurück in den Osten geschickt und schlug ihr Lager in Raphaneai auf – und dort blieb sie fast hundertfünfzig Jahre lang. Im Jahr 218 n. Chr. bestand die überwiegende Mehrheit ihrer Rekruten längst aus Einheimischen, aus Soldatensöhnen oder Einwohnern des Ostens mit römischem Bürgerrecht.45

Erleichtert sahen Maesa und ihre Anhänger, wie die Tore aufgestoßen wurden. Laut Herodian begrüßte die Garnison den Jungen augenblicklich als Kaiser. Höchstwahrscheinlich ist das eine Vereinfachung. Nicht alle Soldaten waren eingeweiht und die Ereignisse des Folgetags zeigen, dass die Legion nicht auf eine Revolte eingestellt war. Es muss zu Verhandlungen gekommen sein.46

Mit wem verhandelten die Rebellen? Von einer Meuterei hören wir nichts, also dürften es die Offiziere gewesen sein. Syria Phoenice war eine Provinz mit nur einer Legion, also war der Kommandeur der III Gallica der Statthalter Marius Secundus. Doch wie wir schon gesehen haben, war er gerade in Ägypten. Theoretisch war der zweithöchste Offizier in Abwesenheit des Legionslegaten der senatorische Militärtribun. Jede Legion hatte sechs Tribunen: fünf römische Ritter und einen aus einer Senatsfamilie. So hoch der Sozialstatus des letzteren auch war, er war ein junger Mann, der ganz am Anfang seiner Karriere Militärdienst leistete. In der Praxis fiel das Kommando an den praefectus castrorum, den Lagerpräfekten, einen Ex-Zenturio.47 Eine Minderheit der Zenturionen bestand aus Rittern und trat schon mit diesem Rang in die Armee ein. Die überwiegende Mehrheit jedoch waren Soldaten, die sich hochgedient hatten – harte Berufskrieger in den mittleren Jahren. Man ist versucht, als Präfekten der III Gallica einen gewissen Valerius Comazon anzusprechen. Ihm werden wir später noch begegnen, aber für Raphaneai gibt es einen besseren Kandidaten. Im weiteren Verlauf der Revolte verteilten die Rebellen Beförderungen an Männer in ihren Einheiten. Am Jahresende war ein Ex-Zenturio namens Verus der Legat der III Gallica.48 Wie sich zeigen sollte, war Verus ehrgeizig und risikofreudig. Da der Statthalter von Syria Phoenice normalerweise in der Provinzhauptstadt – wahrscheinlich Tyrus – residierte, waren die Legionäre in Raphaneai wohl daran gewöhnt, vom Lagerpräfekten Befehle zu erhalten. Verus war die Schlüsselperson, die man für sich gewinnen musste.

Wer übernahm in den letzten Nachtstunden die delikate Aufgabe, Verus und den Rest der Legion zu überzeugen? Soziologisch gesprochen war die Armee eine „totale Institution“. Für einen Rekruten überdeckte die Identität „Soldat“ weitgehend alle älteren Bindungen. Soldaten hatten wenig für Außenseiter wie die in Maesas Gruppe übrig. Sie machten sich nichts aus Zivilisten. Als der Philosoph Dion Chrysostomos – alt, waffenlos und ohne offizielle Stellung – ein Lager an der Donau besuchte, staunte er, dass man dort auch nur seinen Anblick ertragen konnte. Frauen hatten offensichtlich keinen Platz in der Armee. Als Agrippina „als Kommandeur auftrat“ und am Rhein eine Panik unterdrückte, trug ihr dies das lebenslange Misstrauen des Kaisers Tiberius ein. Als Narcissus, ein Freigelassener von Kaiser Claudius, sich vor der Invasion Britanniens an die Truppen zu wenden versuchte, ließen sie ihn nicht zu Wort kommen, sondern schrien „Io Saturnalia“ – der rituelle Ruf beim Fest, an dem Sklaven sich wie ihre Herren anziehen durften.49

All diesen Vorurteilen zum Trotz musste man es versuchen. Vielleicht sprachen erst die Freigelassenen – natürlich Eutychianus, vielleicht auch Festus –, dann die Frauen, Maesa und Soaemias. Soldaten wurden beim Anblick von Kindern des Kaiserhauses manchmal sentimental.50 Vielleicht hatte man Elagabal eine Rede eingetrichtert. Wenn ja, ist uns nicht überliefert, was er sagte. Aber Maesa war sieben Jahre zuvor in Rom gewesen, als ihr Neffe (mittlerweile Elagabals angeblicher Vater) in einem ähnlich angespannten Moment zu den Truppen gesprochen hatte. Nach dem Mord an seinem Bruder, als ungewiss war, ob die Soldaten zu ihm standen, ging Caracalla ins Prätorianerlager und sagte: „Ich bin einer von euch und nur wegen euch will ich leben, damit ich euch viel Gutes tun kann – denn alle Schätze gehören euch.“ (Cass. Dio 78,3,1–2) Etwas in dieser Richtung hätte in Raphaneai gut zu Maesas Versprechen gepasst, sie wolle ihren ganzen Reichtum an die Truppen verteilen.

Bei Sonnenaufgang akklamierten die Soldaten Elagabal als Imperator. Die Tageszeit war günstig, sowohl für die sonnenanbetenden Legionäre der Dritten als auch für den jungen Priester des speziellen Sonnengottes von Emesa. Der junge Mann wurde in einen Purpurmantel gehüllt. Hatte den die Familie mitgebracht oder fand er sich im Lagerheiligtum? Bei manchen improvisierten Ausrufungen musste man der Gottheit eines nahen Tempels einen Mantel von den Schultern rupfen.51 Es gab noch andere Kleidungsstücke für einen Kaiser: ein Diadem oder gar eine Krone, dazu spezielle Gewänder und Stiefel. Aber was zählte, war der Mantel. Elagabal fügte eine persönliche Note hinzu: er schnallte ein Schwert um – ein hübsches Detail, das sowohl für den Übergang ins Mannesalter stand als auch für seine enge Beziehung zu den Soldaten.52

Nach der Akklamation leisteten die Soldaten das sacramentum, den Diensteid. Dessen Wortlaut wechselte im Lauf der Zeiten. Im vorausgegangenen Jahrhundert war der Kern des Schwures gewesen, „die Sicherheit des Kaisers höher als alles zu stellen“. Nur ein Mann jeder Einheit sprach die gesamte Eidformel, der Rest sagte nacheinander bloß „idem in me“ (dasselbe für mich).53 Uns mag dieses Ritual zwar etwas komisch vorkommen – all die Soldaten, die nacheinander idem in me, idem in me … murmeln – und im 3. Jahrhundert brachen Soldaten häufig ihren Eid, aber als sinnloses Theaterstück sollte man es dennoch nicht abtun. Die Römer glaubten an ihre Götter (wie wir in Kapitel 8 sehen werden) und moderne Studien zeigen, dass der Diensteid Männern und Frauen im Militär der Gegenwart weiterhin etwas bedeutet.54

Was hatte die Männer der III Gallica dazu gebracht, ihren Eid auf den regierenden Kaiser zu brechen und alles auf einen vierzehnjährigen Jungen zu setzen? Egal wie man es sieht, es war ein leichtsinniger Schritt. In der Armee gab es rund 33 Legionen.55 Vielleicht liefen Geschichten über Caracallas frisch entdeckten Sohn um, aber niemand konnte sicher sein, dass irgendeine andere Legion dem Beispiel der Dritten in Raphaneai folgen würde. Mehrere miteinander verzahnte Motive waren hier zusammengekommen. Einmal Abneigung gegen Macrinus, der Feigheit vor dem Feind gezeigt hatte, in Saus und Braus in Antiochia lebte, im Verdacht stand, demnächst die hart verdiente Solderhöhung und die Zusatzprivilegien kassieren zu wollen, und der angeblich hinter dem Mord an ihrem „Kameraden“ Caracalla steckte. Dazu kam Zuneigung zu Caracalla, Loyalität zu seiner Dynastie und vielleicht auch Sympathie für sein Kind. Vielleicht spielte die gemeinsame Religion eine Rolle. Und dann war da noch das Geld.56 Heutige Forscher spielen das häufig herunter. Wenn sie persönlich Geld wichtig fänden, hätten sie einen anderen Beruf gewählt. Zeitgenossen, und zwar auch Mitglieder der Elite, hatten keinen Zweifel, dass Geld dem römischen Militär wichtig war. Die Soldaten wollten Bares, riesige Summen Bares.

Der erste öffentliche Schritt der Revolte war ein Triumph Maesas und ihres Reichtums gewesen: idem in me, idem in me …

V Maesas Gesicht