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Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2023 E-Book

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Beschreibung

Auch wenn die heutigen psychiatrischen Kliniken keine „Totalen Institutionen“ im Sinne Erving Goffmans mehr darstellen, sondern sich zumeist einem sozialpsychiatrischen Grundgedanken angenähert haben, spielen Faktoren aus den Anfängen des psychiatrischen Maßregelvollzugs sicherlich auch heute noch eine Rolle. Zwangsgemeinschaft, Baumaßnahmen zur persönlichen Einschränkung und tages- und lebensstrukturierende Regelwerke verändern die Lebenssituation der Patientinnen und Patienten innerhalb der Institution der Forensischen Psychiatrie. Vor allem Gesetzesänderungen und Gerichtsurteile prägen die Unterbringung im Maßregelvollzug und verdeutlichen die Wichtigkeit, ethische Fragen und auch Fragen der Schuldfähigkeit, Sicherungsbedingungen und unterschiedliche Krankheitsbilder im Kontext der Straftatbegehung zu thematisieren und zu diskutieren. Die Eickelborner Schriftenreihe publiziert die in den Fachtagungen angesprochenen Themen aus unterschiedlichen Berufsfeldern und ist so maßgeblich an der Entwicklung des Feldes und dem forensisch-psychiatrischen Diskurs beteiligt.

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Seitenzahl: 328

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Eickelborner Schriftenreihe

Herausgeber: Bernd Wallenstein

Die Eickelborner Schriftenreihe präsentiert die fachübergreifenden Themen und Beiträge der Fachtagungen:

Psychiater, Psychotherapeuten, Pflegende und Sozialtherapeuten, aber auch Juristen, Kriminologen, Kriminalisten sowie Philosophen, Theologen und Medienvertreter treten in einen interdisziplinären Fachdialog. Dabei werden Wissenschaft und Praxis der psychiatrischen Diagnostik, Therapie oder Prognosebeurteilung im gesellschaftlichen Kontext erörtert.

Die Schriftenreihe publiziert zeitnah die wesentlichen Beiträge aus den Tagungen und bildet so über Jahrzehnte hinweg die Entwicklung des Faches selbst und des forensisch-psychiatrischen Diskurses mit gesellschaftlichem Bezug ab.

Bernd Wallenstein (Hrsg.)

Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2023

Maßregelvollzug. Therapieverfahren. Pflege. Rechtsfragen. Ethik.

mit Beiträgen von

B. Borchard | I. D’Angelo | D. Deimel | M. Durrer | H. Foullois | H. Gaub | P. Gloxin | G. Hahn | S. Heisiep | G. Herwig | K. Hoffmann | U. Kobbé | H.J. Kolbe | M. Koller | K. Kollmitz | G. Konrad | C.M. Loddo | A. Maasch | J. Meinhof | A. Nienaber | J. Nitschke | P. Türk Pereira | U. Rauchfleisch | S. Risy | M. Winkelkötter

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Der Herausgeber

Bernd Wallenstein

LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt

Eickelbornstr. 19

59556 Lippstadt

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstr. 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-856-4 (eBook: PDF)

ISBN 978-3-95466-857-1 (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2024

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Im vorliegenden Werk wird zur allgemeinen Bezeichnung von Personen nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer alle Geschlechter, sofern nicht gesondert angegeben. Sofern Beitragende in ihren Texten gendergerechte Formulierungen wünschen, übernehmen wir diese in den entsprechenden Beiträgen oder Werken.

Die Verfassenden haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Der Verlag kann insbesondere bei medizinischen Beiträgen keine Gewähr übernehmen für Empfehlungen zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen oder für Dosierungsanweisungen, Applikationsformen oder ähnliches. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden.

Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.

Produkt-/Projektmanagement: Meike Daumen, Berlin

Copy-Editing: Monika Laut-Zimmermann, Berlin

Layout, Satz und Herstellung: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin

Cover: © Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

das LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt hat sich seit der Gründung vor fast 40 Jahren immer als Ort verstanden, an dem über aktuelle Entwicklungen und Trends der Forensischen Psychiatrie berichtet oder diskutiert wird. Aus diesem Grund sind wir sehr froh, dass die 36. Eickelborner Fachtagung zu Fragen der forensischen Psychiatrie nach den coronabedingten Absagen in den Jahren 2020 und 2021 und der reinen Online-Tagung im Jahr 2022 im März 2023 auch wieder vor Ort stattfinden konnte. Neben der Teilnahme vor Ort mit den Möglichkeiten eines direkten fachlichen und multiprofessionellen Austausches haben zahlreiche Interessierte auch die Gelegenheit nutzen können, online aus der Ferne an dem breit gefächerten Angebot der 36. Eickelborner Fachtagung teilzuhaben.

Dem Organisationsteam der Eickelborner Fachtagung ist es wieder gelungen, namhafte Referentinnen und Referenten für eine Teilnahme und einen Beitrag zu diesem Fachtagungsband zu gewinnen. Den Vortragenden der Eickelborner Fachtagung 2023 gilt an dieser Stelle nochmals unser herzlicher Dank für die Zusage, sich mit interessanten forensisch-psychiatrischen Themen am Fachdiskurs nicht nur zu beteiligen, sondern diesen durch ihre Beiträge maßgeblich zu gestalten.

Ich freue mich außerordentlich, Ihnen mit dem „Jahrbuch Forensische Psychiatrie 2023“ zahlreiche gelungene Beiträge der Eickelborner Fachtagung 2023 präsentieren zu können.

Bernd Wallenstein

November 2023

Inhalt

1Dissozialität – Zur Schuldfähigkeit und über Folgen für Behandlungsmilieus und BehandlungsüberlegungenBernd Borchard

2Zum Erleben von Zwangsmaßnahmen von Patienten in der forensischen PsychiatrieIsabella D’Angelo

3Der Einsatz von Pflegeexpert:innen – Von der Theorie in die PraxisDiane Deimel und Silke Risy

4Das Erleben der Isolationszeit mittels Medienwand in der Akutpsychiatrie-Evaluation eines PraxisprojektsMichael Durrer und Johann Meinhof

5Auf der Zielgeraden?! Die Herausforderungen des neuen Strafrechtsbezogenen Unterbringungsgesetzes (StrUG NRW) für den integrierten MaßregelvollzugHolger Foullois und Michael Winkelkötter

6Konfliktlösung mit Gewaltfreier KommunikationPetra Gloxin und Philippe Türk Pereira

7Altern und Sterben im Maßregelvollzug? Ein zahlenmäßig kleines, aber qualitativ feines ProblemGernot Hahn und Harald Joachim Kolbe

8Führungsaufsicht im Wandel der ZeitSandra Heisiep und Hendrik Gaub

9Die Obszönität des Fragens: Alltagsdialoge im psychiatrischen MaßregelvollzugKlaus Hoffmann

10Die sich nicht ans Lehrbuch halten. Vom Hoffnungslos (k)alter Fälle – Ein kasuistisches PlädoyerUlrich Kobbé

11Sorgenkind Entziehungsanstalt?*Matthias Koller

12„Die Sache mit der Vollzugssache“ – Oder: „Ich mach’ ’nen 109er …!“Kai Kollmitz

13Interkulturelle Psychiatrie – Eine Schizophrenie ist (k)eine Schizophrenie und eine Depression ist (k)eine DepressionGisela Konrad

14Zwangsmaßnahmen im MaßregelvollzugCatia M. Loddo

15„Von Giraffen und Wölfen in der Forensik“ – Gewaltfreie Kommunikation (GFK) in der BeschwerdebearbeitungAnne Maasch

16„Unsichere Sicherheit“ – Wie kann Sicherheit in der forensischen Psychiatrie gefördert werden?André Nienaber und Gitte Herwig

17Präventionsstellen zur Verhinderung einer forensischen UnterbringungJoachim Nitschke

18Warum sind Menschen mit dissozialen Persönlichkeitszügen so unbeliebte Patient:innen?Udo Rauchfleisch

1Dissozialität – Zur Schuldfähigkeit und über Folgen für Behandlungsmilieus und BehandlungsüberlegungenBernd Borchard

1.1Einleitung

Im professionellen Umgang mit Straftäter:innen erhielt in den 90er-Jahren im Rahmen von Forschungsschwerpunkten und Rückfallpräventionskampagnen das Risk Factor Prevention Paradigm immer größere Bedeutung. „The basic idea of this paradigm is very simple: identify the key risk factors for offending and implement prevention methods designed to counter-act them“ (Farrington et al. 2016, S. 63).

Kritisiert wurde dieser Ansatz immer wieder aufgrund seines mangelnden theoretischen Hintergrunds und dafür, dass die resultierenden Variablen sowie auch die konstruierten Instrumente meist einen statischen Charakter aufwiesen und der Weg zur Formulierung einer individuellen Fallkonzeption unklar blieb. Als eine von mehreren Antworten auf diese Limitierung fokussierten Hart und Logan (2011) den Structured Professional Judgement Approach (SPJ). In einer zusammenfassenden Übersicht betonen Hart et al. (2016) daran anknüpfend in diesem Zusammenhang eine deutlich am SPJ-Ansatz ausgerichtete Prozessdefinition der relevanten Teilaufgaben in den forensischen Experteneinschätzungen, die nicht nur strukturiert, sondern auch kohärent und ineinandergreifend zu berücksichtigen sind.

Letztlich steht nach Hart et al. (2016) ein systematisches und strukturiertes Vorgehen in der forensischen Einzelfalleinschätzung im Dienst einer für die Rückfallprävention notwendigen Fallkonzeption. Aus dieser könnten transparent, nachvollziehbar und valide die individuell passenden Risikoeinschätzungen und Rückfallpräventionsmaßnahmen abgeleitet und evaluiert werden.

Die Verhinderung von Rückfälligkeit sollte durch möglichst individuell zugeschnittene Interventionen erreicht werden, die eine Reduktion der Ausprägung der in der Fallkonzeption formulierten Risikofaktoren bzw. ein risikoreduzierendes Management dieser Faktoren zum Ziel haben. Am effektivsten konnten diese Ziele mit kognitiv behavioral ausgerichteten Interventionen, die emotionale Regulationsprozesse und Perspektivübernahmen der Straftäter:innen verbesserten, erreicht werden (Maruna u. Mann 2019).

Das gelebte und umgesetzte Konzept der Deliktorientierung meint heute – ganz im Sinn der o.g. Paradigmen – dass sich beim Verfolgen des Ziels der Deliktprävention die Risikoeinschätzungen, Indikationsstellungen und Interventionen insofern am (Ziel-)Delikt orientieren, als dass die mit dem deliktischen Verhalten im Deliktmechanismus verbundenen Risikoeigenschaften, Motive, enthemmenden Einflussfaktoren und Entscheidungen des Täters bzw. der Täterin im Fokus stehen.

Im Gesamtsystem bedeutet Deliktorientierung historisch betrachtet eine Orientierung aller Arbeitspartner:innen bei Entscheidungsfindungen und Interventionen am Risiko sowie am Risikoprofil und eine Fokussierung auf langfristige Desistance. Für die im System tätigen Expert:innen bedeutet es, Teil einer angewandten Spezialdisziplin der psychologischen und psychiatrischen Diagnostik und Therapie zu sein, für die besondere Rahmenbedingungen gelten (z.B. Therapie mit Unfreiwilligen, eingeschränkte Schweigepflicht, Notwendigkeit der Risikokommunikation).

So verstanden ist forensische Psychotherapie dann deliktorientierte Therapie, wenn sie konzeptionell und in der Umsetzung risiko- und ressourcenorientiert auf der Grundlage einer individuellen und differenzierten forensischen Fallkonzeption deliktpräventiv ausgerichtet ist und das Risikoprofil reduzieren sowie die Kompetenzen zur Selbstkontrolle bzw. Steuerung erhöhen will (Borchard 2020).

1.2Dissoziale Straftäter:innen

Wie lassen sich diese forensisch-therapeutischen Prinzipien bei den Straftäter:innen umsetzen, die wohl mit am deutlichsten und überdauernsten regel- und grenzverletzendes Verhalten zeigen, den dissozial Persönlichkeitsgestörten?

Straftäter:innen mit dieser Diagnose sind nach ICD-10 zu beschreiben als Personen mit herzlosem Unbeteiligt sein und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer, grober und andauernder Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, einem Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen (ohne Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen), einer sehr geringen Frustrationstoleranz und niedrigen Schwelle für aggressives (auch gewalttätiges Verhalten), einer Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung und einer ausgeprägten Neigung, andere zu beschuldigen oder Rationalisierungen für das eigene Verhalten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist, anzubieten bzw. nach ICD-11 als Personen mit einer relevanten (schwer ausgeprägten) Funktionsbeeinträchtigung mit den möglichen Problembereichen von negativer Affektivität, Bindungslosigkeit/Distanziertheit, einem dissozialen Persönlichkeitsmuster (Selbstbezogenheit und Empathiemangel), Enthemmung i.S.v. Impulsivität bzw. Rücksichtslosigkeit und Zwanghaftigkeit (Rigidität und Eigensinn).

Neben entsprechend negativen erziehungs- und sozialisationsbedingten ätiologischen Faktoren (Black 2022) ist zudem auf eine signifikante genetische Komponente hinzuweisen (vgl. Viding et al. 2005; Fiedler u. Herpertz 2023).

1.2.1Dissozialität und Schuldfähigkeit

Trotz langjähriger Bemühungen, die dissoziale Persönlichkeitsstörung zu beschreiben und zu erklären werden in Deutschland im Rahmen der Schuldfähigkeitsbegutachtung immer wieder ungünstige Weichen in Bezug auf eine intensive und verpflichtende stationäre Behandlung der dissozial persönlichkeitsgestörten Straftäter:innen gestellt. U.a. weist Kröber (2020) zunächst stimmig darauf hin, dass rezidivierende sozial deviante Verhaltensweisen sorgfältig von psychopathologischen Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung getrennt werden müssen. Letztere erfülle dann die Kriterien einer schweren anderen seelischen Störung (als mögliches Eingangsmerkmal zur Verminderung der tatzeitnahen Steuerungsfähigkeit), wenn folgende Faktoren gegeben seien:

erhebliche Auffälligkeit der affektiven Ansprechbarkeit/Affektregulation

Einengung der Lebensführung/stereotypes Verhalten

Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit

durchgehende Störung des Selbstwertgefühls

eingeschränkte Realitätsprüfungsmechanismen

Um zu verhindern, dass sozial abweichendes Verhalten mit dem Ziel einer prophylaktischen unbefristeten Freiheitsentziehung psychiatrisiert wird, sollte das Konzept der verminderten Schuldfähigkeit eng sein und wirklich psychiatrisch relevante Sachverhalte erfassen (Kröber 2020). Dabei könne es allenfalls um die Berücksichtigung der motivationalen Steuerungsfähigkeit gehen, also um die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu inhibieren.

Auch Saß und Habermeyer (2018) sprechen sich in diesem Zusammenhang für eine enge Definition aus. Bei der Feststellung einer für die eingeschränkte Steuerungsfähigkeit relevanten dissozialen Persönlichkeitsstörung sei eine Pathologie der Persönlichkeit unerlässlich, es reiche keine „bloße Dissozialität“. Zentral seien Beschwerden bzw. nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung, evtl. mit Verschiebungen in relevanten Bereichen (Emotionalität, Beziehungsverhalten, formalem und inhaltlichem Denken) und nicht bloße Halt- und Willensschwäche, Neigung zu Betrug, Geltungsbedürfnis, Rücksichtslosigkeit oder schlichte Gewöhnung an Delinquenz.

Kröber (2020) gibt dann aber zusammenfassend zu bedenken, dass eine dissoziale Persönlichkeitsstörung in der Regel nicht als schwere andere seelische Störung betrachtet wird, auch nicht vom Bundesgerichtshof. Es bestünden bei diesen Täter:innen einfach kaum Hemmungen, die Dissozialen hätten sich eben an unrechtes Tun gewöhnt; daher sei in der Regel keine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen. Eine dissoziale Lebensweise soll durch Schuldminderung eben nicht privilegiert werden.

Es erscheint nicht logisch oder inhaltlich nachvollziehbar, warum nun eine dissoziale Persönlichkeitsstörung trotz vorgeschlagener Kriterien in Bezug auf Ausprägung, Schwere und Beeinträchtigung keine (mögliche) schwere andere seelische Störung mit dem Potenzial der Einschränkung einer tatzeitnahen (wohl eher motivationalen) Steuerungsfähigkeit sein sollte.

Somit werden Täter:innen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung meist nicht in den Maßregelvollzug nach § 63 StGB eingewiesen, gelten häufig in den Sozialtherapeutischen Behandlungseinrichtungen als nicht behandelbar (weil nicht intrinsisch motiviert bzw. als zu destruktiv für therapeutische Milieus) und finden sich sehr wahrscheinlich häufiger aufgrund einer (evtl. komorbid bestehenden Suchtmittelproblematik) im Maßregelvollzug nach § 64 StGB wieder. Im letzteren Setting gelten dann zu häufig die o.g. Einschätzungen zur sozialtherapeutischen Behandlungsoption und der Fokus liegt auf der Suchtproblematik, nicht auf der Dissozialität.

Diese Systemorientierung (Schutz der forensischen Institutionen vor den Täter:innen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung) steht im Widerspruch zu einer bedarfsorientierten Lösung, nämlich einer verbindlichen forensisch-therapeutischen Maßnahme für dissozial persönlichkeitsgestörte Straftäter:innen mit spezialisierten Behandlungsteams und einem auf diese Population zugeschnittenen Behandlungskonzept.

1.3Unzureichende Bedarfsorientierung im Umgang mit dissozialen Straftätern

In der Schweiz wird im Rahmen eines (wenig differenziert begründeten) Konsenses das Vorliegen einer schweren psychischen Störung mit einer bestimmten Ausprägung einer psychiatrischen Störung nach ICD oder DSM gleichgesetzt. In Deutschland wird der Umweg über das tatzeitnahe Vorliegen einer Störung, die den Merkmalen einer „krankhaften seelischen Störung“, einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, der „Intelligenzminderung“ oder einer „schweren anderen seelischen Störung“ zuzuordnen ist, zur Beurteilung von tatzeitnaher Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit gegangen.

Dabei ist es gar nicht relevant, die dichotome Ausprägung einer psychischen Störung nach herkömmlichen diagnostischen Klassifikationssystemen einerseits und die Gefährlichkeit andererseits zu beurteilen. Die Grundfragen scheinen vielmehr zu lauten: Welches forensisch relevante Störungsbild eines Menschen verursacht eine Gefährlichkeit im Zusammenhang mit bestimmten Delikten und kann dieses Störungsbild durch therapeutische Interventionen signifikant reduziert oder in ihren risikorelevanten Auswirkungen gelindert werden?

Statt die Optimierung einer differenzierten Interventionslandschaft für die gegebene Straftäterpopulation voranzutreiben und dabei bedarfsorientiert vorzugehen, fokussieren einige Vertreter der forensischen Psychiatrie in dieser Diskussion ihren eigenen Berufsstand, das Fach der Psychiatrie und die Situation der Versorgungseinrichtungen (forensisch-psychiatrische Kliniken, sozialtherapeutische Einrichtungen). Hier liegt eine falsche Problemfokussierung vor. Die forensischen Überlegungen sollen Indikationsstellung (auf Grundlage des Störungsbildes, der Risikobeurteilung und Behandlungsfähigkeit), Interventionen und Verlaufseinschätzungen in ihrer Qualität sichern bzw. verbessern und nicht Psychiater:innen, die Psychiatrie als Fach oder gar forensische Institutionen vor unliebsamen Entwicklungen oder Klient:innen schützen.

In Deutschland wird dieser Status Quo u.a. mit dem Festhalten am Konzept der Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit als formaler Einweisungsgrund in den Maßregelvollzug verteidigt. Dieses Konzept steht einer differenzierten und zielführenden forensischen Einschätzung und Versorgung im Weg. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass nur diejenigen Straftäter:innen rückfallgefährdet sind und deliktpräventiv in forensisch-psychiatrischen Kliniken behandelt werden können, die während der Tat nicht einsichts- und nicht steuerungsfähig waren. Die Frage der Schuldfähigkeit hat weder etwas mit der Gefährlichkeit, noch mit der Behandlungsbedürftigkeit eines Täters bzw. einer Täterin zu tun (Urbaniok 2012). Auch wer juristisch gesehen bei voller Schuldfähigkeit gehandelt hat, kann eine Behandlungsbedürftigkeit aufweisen. Interessanterweise wurde das rein inhaltlich schon vor mehreren Jahrzehnten erkannt. Die Konsequenz war jedoch nicht die umfassende Reform des Maßregelrechts, sondern die Schaffung eines zunächst im Strafvollzugsgesetz verankerten, parallelen Behandlungsformates für schuldfähige Straftäter:innen, wobei die Eingangskriterien neben der Bestimmung für Sexualstraftäter:innen, die rein formaljuristisch nur das Strafmaß betrifft, sehr unpräzise definiert wurden (§§ 6 und 9 StVollzG). In diesen sozialtherapeutischen Anstalten oder sozialtherapeutischen Justizvollzugsabteilungen wird ohne Orientierung an der Schuldfähigkeit und weitgehend ohne indikationsdefinierende Orientierung an Diagnosen nach ICD oder DSM im Idealfall das deliktrelevante Risikoprofil behandelt. Es stellt sich allerdings die Frage nach der Sinnhaftigkeit solch einer Patchwork-Behandlungslandschaft, wenn doch eine kohärente forensische Herangehensweise eine deutliche Klarheit in Indikations- und Verlaufseinschätzungen bieten kann.

Eine zu geringe Bedarfsorientierung, wie sie am Beispiel der Dissozialität festzumachen ist, kann zu folgenden negativen Entwicklungen führen:

zu wenig verbindliche Behandlung

falscher Fokus (s. Sucht im Rahmen der Unterbringung nach § 64 StGB)

zu schnelle Abbrüche durch Behandelnde wegen therapiestörendem Verhalten oder fehlender Motivation der zu Behandelnden

zu späte Behandlungsversuche in der (im ungünstigsten Fall später ausgesprochenen) Sicherungsverwahrung

zu wenig ausdifferenzierte Behandlungsansätze und in der Folge zu wenig Evaluation der durchgeführten Interventionen

1.4Modulare Behandlung der Dissozialität

Dass erfolgversprechende Interventionen bei Dissozialität vorhanden und umsetzbar sind, vertritt u.a. Fiedler (2018), wenn er von einer multimodalen Behandlung dieser Straftätergruppe spricht. Der Autor weist darauf hin, dass Metaanalysen den Erfolg von Behandlungsansätzen bei dissozial Persönlichkeitsgestörten bestätigen, wenn diese thematisch nach Therapieschwerpunkten modularisiert und damit hoch strukturiert sind. Zudem seien der Therapieoptimismus der Behandelnden und die Affektivität der Dissozialen (moderate depressive Störung) wichtige Erfolgsfaktoren. Übergeordnete mögliche Therapiethemen in der Behandlung dieses Klientels sind nach Fiedler (2018):

Sympathiewerbung, Sympathievermittlung

Ärger- und Wutmanagement

zwischenmenschliche Perspektivübernahme (statt Engstirnigkeit und Egoismus)

Verständnis der eigenen Deliktdynamik

Vermeidung provozierender oder bloßstellender Interventionen

In diesem Zusammenhang sind explizit die Verbesserung von Impulskontrolle und Frustrationstoleranz durch kognitives Arbeiten an der Emotionssteuerung und Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Interventionen zusätzlich zu nennen.

Auf jeden Fall ist Fiedler (2018; Fiedler u. Herpertz 2023) zuzustimmen, dass die Behandlung insgesamt hoch zu individualisieren ist, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen.

Felthous et al. (2018) weisen auf die differenzierten Möglichkeiten der pharmakotherapeutischen Behandlung impulsiver Aggression hin. Impulsive Aggression wird in diesem Zusammenhang von den Autoren als häufiges Merkmal bei Dissozialität identifiziert. Die Wirksamkeitsnachweise seien am stärksten für Fluoxetin, Phenytoin, Divalproex/Valproat, Carbamazepin/Oxcarbazepin und Lithiumsalz, wobei insgesamt die entsprechende Pharmakotherapie nur ein möglicher Baustein in einem umfassenden Therapiekonzept sei. Bei geplanter bzw. instrumenteller Aggression ohne psychiatrische Pathologie sei aber keine Reduktion durch Pharmakotherapie zu erwarten.

Herpertz (2018) betont in Bezug auf Dissozialität die Relevanz des Empathie-Konzeptes, hält es mindestens für unscharf und komplex, wobei eine erste Einteilung in kognitive und emotionale Empathie, die in unterschiedlichen Hirnnetzwerken verarbeitet werde, hilfreich sei.

Die Entwicklung emotionaler Empathie hänge von gelungenen frühen Bindungserfahrungen ab, letztlich von einer gelungenen synchronen Interaktion im Rahmen einer fürsorglichen Elternbeziehung (zentral in diesem Zusammenhang: das Oxytozinsystem). Liegt eine derart frühe Störung der Entwicklung emotionaler Empathie vor, bleibt den Behandelnden meist nur die Förderung der kognitiven Möglichkeiten zur Perspektivübernahme bei den Betroffenen.

Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung bezüglich Empathie werde laut Herpertz (2018) zukünftig in der ICD-11 für die Unterscheidung von leichter, mäßiger und schwerer Persönlichkeitsstörung eine große Bedeutung haben. Zudem weist die Autorin darauf hin, dass eine beeinträchtigte Erkennung ängstlicher Gesichter mit dem Persönlichkeitsmerkmal Gefühlskälte korreliere. Und eine mangelnde Unterstützung moralischer Werte durch die dissozial Persönlichkeitsgestörten sei auch das Resultat einer misslungenen Zuwendung der Aufmerksamkeitsressourcen hin zu emotionalen Informationen und weg von persönlichen Zielen.

1.5Das kognitive Profil der Dissozialen und Implikationen für das stationäre Setting

Möglichkeiten der modularen Behandlung der Dissozialität bzw. der im Einzelfall vorliegenden Defizite existieren somit und sollten in ein umfassendes Rahmenmodell zur Intervention bei diesem Problemkomplex eingebettet sein. Dazu lohnt sich ein Blick auf das kognitive Profil der dissozialen Persönlichkeitsstörung (s.a. Sargin et al. 2017).

Schlüsselwort: Missachtung anderer

Selbstbild: Ich bin unabhängig, ein Einzelgänger; ich darf andere verletzen, denn sie würden es auch bei mir tun; ich lebe in einer gefährlichen Welt, die nach dem Motto „Fressen oder Gefressen werden“ funktioniert

Bild über andere Menschen: Andere sind Ausbeuter (und verdienen es daher, ebenfalls ausgebeutet zu werden) oder Schwächlinge (und verdienen es daher, Opfer zu sein)

Grundannahmen: Ich muss angreifen, sonst werde ich zum Opfer; andere verdienen kein Mitleid

Bedrohungen: Ängste vor Attacken anderer, Benachteiligung, Kränkung

Strategien: Andere betrügen, täuschen, manipulieren, attackieren, berauben

Affekte: geringer Gefühlsausdruck, am ehesten Ärger und Wut

In einem ersten Schritt ist in vielen Fällen bei Dissozialität zunächst durch ein fair, respektvoll und selbstbewusst auftretendes Behandlungsteam der häufig grenzverletzende Selbstschutz- und Angriffsmodus der betroffenen Täter:innen zu reduzieren, im Idealfall zu unterbinden. Dazu braucht es ein gut reflektiertes Team, dem institutionell Möglichkeiten des Regelsetzens und -durchsetzens gegeben sind und das diese „Macht“ aber nicht für willkürliches Handeln und eigene Bedürfnisse missbraucht. Ziel ist die Unterbrechung des dysfunktionalen Kampf- und Durchsetzungsmodus sowie das Bereitstellen der Lernerfahrung, dass ein faires und regelbasiertes Umfeld ein sicherer Ort sein kann. Auf diesem Boden können dann die o.g. spezifischen Interventionen umgesetzt werden, um parallel in der Biografiearbeit frühere Mangel- oder Gewalterfahrungen zu validieren und einen neuen prosozialen Umgang damit zu finden.

Die Behandelnden sind in diesem Prozess kontinuierlich Rollenmodelle für verlässliche, wertschätzende und prosoziale Interaktionen.

1.5.1Prinzipien multiprofessioneller Teamarbeit

Ein so auftretendes multiprofessionelles Team muss die Klienten in ihrer Gesamtheit verstehen, behandeln und fördern. Die Teammitglieder sollen Sicherheit, Orientierung und Verlässlichkeit ausstrahlen. Sie sind dabei Modelle im Umgang mit Gefühlen und Konflikten, Modelle im Umgang mit Selbstkritik und Selbstverantwortung. Dabei gilt, dass das Team praktizieren können muss, was die Klient:innen lernen sollen.

Da dies nicht automatisch durch gemeinsame Arbeitszeiten am selben Ort geschieht, erscheinen Leitlinien für die umzusetzende stationäre Behandlung als Teamarbeit notwendig. Dabei geht es um die Herstellung optimaler Bedingungen für ein umfassendes und einheitliches Fallverständnis, eine stimmige und verbindliche Behandlungskonzeption, eine einheitliche und kontinuierliche Behandlungsumsetzung, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit sowie um eine bestmögliche Psychohygiene für die Behandelnden. Bewährt haben sich für einen solchen Behandlungsauftrag die Beachtung und Umsetzung der Prinzipien teamorientierter stationärer Behandlung nach Urbaniok (2000), modifiziert in Borchard et al. (2012).

10 Prinzipien multiprofessioneller Teamarbeit:

Einheitlichkeit (das Handeln auf einer Station ist personenunabhängig und Teambeschlüsse werden von jedem Teammitglied ausgeführt; schafft sozioemotionale Sicherheit und Orientierung)

Verschiedenheit (Individualität der Teammitglieder nutzen, wenn die Einheitlichkeit etabliert ist)

Offenheit (Ausweitung der Kommunizierbarkeit von Stationsthemen, um Konflikte konstruktiv lösen zu können)

Transparenz (Einblicke in Entscheidungen und Abläufe, um Durchschaubarkeit von teamrelevanten Prozessen zu gewährleisten)

Informationsfluss (jede behandlungsrelevante Information muss jedem Teammitglied zur Verfügung stehen)

Selbständigkeit (das Behandlungsteam übernimmt nur so viele Aufgaben wie nötig)

Behandlungsoptimismus

Respekt (respektieren der Grenzen und der Integrität Anderer)

professionelle Fürsorge und Behandlung durch motivorientierte Beziehungsgestaltung

gemeinsame Idee über die Klient:innen (das Behandlungsteam orientiert sich in Bezug auf Haltung und Interventionen an einem gemeinsam erstellten und getragenen Fallkonzept über den zu behandelnden Täter bzw. die zu behandelnde Täterin)

1.6Fazit

Die Diagnose bzw. Zuschreibung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung oder Dissozialität wird häufig zu unspezifisch gebraucht. Es bleibt abzuwarten, ob die Einführung von ICD-11 an dieser Stelle Verbesserungen bringt. Auf jeden Fall bleibt es eine klinisch-forensische Herausforderung, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung präzise zu diagnostizieren.

Das Kriterium der Schuldfähigkeit zur Entscheidung, ob und in welches forensische Behandlungssetting Täter:innen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung aufgenommen werden (müssen) ist aus einer risikoorientierten und rückfallpräventiven Versorgungsperspektive problematisch. Zudem ist im Rahmen einer forensischen Interventionsplanung im Einzelfall zu klären, in welches individuelle Risikoprofil Dissozialität eingebettet ist. Konkrete Risikoeigenschaften aus einem „dissozialen Risikoprofil“ sollten modularisiert, individualisiert und hoch strukturiert behandelt werden. Letztlich sind für ein interdisziplinäres Behandlungsteam zentrale Prinzipien der Teamarbeit wie Einheitlichkeit, gemeinsames Fallverständnis, ein optimierter Informationsfluss, respektvolles und dabei eindeutiges Grenzen setzen und eine spaltungsfreie Atmosphäre wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Dissozialen.

Literatur

Black DW (2022) Bad Boys, Bad Men (3rd edition): Confronting Antisocial Personality Disorder (Sociopathy). Oxford University Press

Borchard B (2020) Deliktorientierte Therapie – Bedeutung, Missverständnisse und Begriffsbestimmung. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 14, 50–57

Borchard B, Habermann N, Stürm M, Urbaniok F (2012) Anforderungen an Behandlungsteams und Klienten in der stationären Behandlung psychisch gestörter Straftäter. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 163(1), 19–28

Farrington DP, Ttofi MM, Piquero AR (2016) Risk, promotive, and protective factors in youth offending: Results from the Cambridge study in delinquent development. Journal of criminal justice 45, 63–70

Felthous AR, Stanford MS, Saß H (2018) Zur Pharmakotherapie impulsiver Aggression bei antisozialen und psychopathischen Störungen. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 12, 266–278

Fiedler P, Herpertz SC (2023) Persönlichkeitsstörungen. (8. Auflage). Weinheim: Psychologie Verlags Union

Fiedler P (2018) Multimodale Psychotherapie der dissozialen Persönlichkeitsstörung: aktuelle Konzepte in der Straftäterbehandlung. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 12, 229–237

Hart SD, Logan C (2011) Formulation of violence risk using evidence-based assessments: The structured professional judgment approach. Forensic case formulation 81–106

Hart SD, Douglas KS, Guy LS (2016) The structured professional judgement approach to violence risk assessment: Origins, nature, and advances. The Wiley handbook on the theories, assessment and treatment of sexual offending 2, 643–666

Herpertz SC (2018) Empathie und Persönlichkeitsstörungen aus neurobiologischer Sicht. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 12(3), 192–198

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2Zum Erleben von Zwangsmaßnahmen von Patienten in der forensischen PsychiatrieIsabella D’Angelo

2.1Hintergrund

„Ich habe die psychiatrische Klinik von innen erlebt. Ich habe diese Stimmen gehört, und diese Stimmen haben mich – wie jeden anderen auch – tief erschüttert. Ich sage ‚jeden anderen‘. Beinahe hätte ich gesagt: außer den Ärzten. Ich meine: Ihr berufsmäßiges Funktionieren filtert alle Schreie aus den Worten der Verrückten heraus. Sie hören nur noch das Verständliche und das Unverständliche des Diskurses. Ihr institutionalisiertes Wissen versperrt ihnen den Zugang zum Schrei.“ (Michel Foucault, Radiointerview 08.09.1972)

Die Worte des französischen Philosophen Michel Foucault wirken vor allem da, wo kranke und/oder kriminelle Menschen in einem Raum abseits der Gesellschaft, meist gegen ihren Willen, kontrolliert und behandelt werden. Um genau diese Personengruppe soll es in diesem Beitrag gehen: psychisch kranke Straftäter, die nach § 63 StGB im Maßregelvollzug in einer forensischen Klinik untergebracht sind. Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen meiner Masterarbeit im Fach „Ethik & Organisation“, die ich im Jahr 2019 geschrieben habe.

Die allgemeine Psychiatrie wird in der Öffentlichkeit vor allem mit Macht und Zwang eines Personals, das sich seinen psychisch gestörten Patienten überlegen fühlt, assoziiert. Über die forensische Psychiatrie herrscht allerdings wenig Bewusstsein in der Gesellschaft. In Berührung kommt der Bürger mit dieser Institution erst, wenn er selbst straffällig wird und vor Gericht aufgrund einer psychischen Krankheit für schuldunfähig erklärt wird. Das Urteil ist sogleich die Eintrittskarte für den Maßregelvollzug – Aufenthaltsdauer: für unbestimmte Zeit, eine alternative Unterbringung: nicht möglich. In den beiden Punkten unterscheidet sich die forensische deutlich von der allgemeinen Psychiatrie. Der im Augenblick des Urteils noch Angeklagte, später Patient, wird gerichtlich „zwangseingewiesen“ für Jahre oder Jahrzehnte.

Die Forensik bildet eine Gesellschaft für sich, die durch hohe Mauern und Stacheldrahtzäune von der restlichen Welt abgetrennt ist. Der deutsche Jurist Heribert Prantl geht sogar so weit, dass er die forensischen Kliniken als „Dunkelräume des Rechts“ (Prantl 2012) bezeichnet. Deshalb wurde in der vorliegenden Arbeit das subjektive Erleben von Zwangsmaßnahmen, als ein Teil des gesamten Erlebens und die Erfahrungen der Patienten während einer Unterbringung im Maßregelvollzug, untersucht.

Die forensische Psychiatrie, als Teilgebiet der Psychiatrie, hat die besondere Aufgabe, Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig geworden sind, zu sichern, die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen und sie zu therapieren (Trost u. Rogge 2016). Dass es sich zwischen Sicherheit und Therapie um ein Spannungsfeld handelt und der Berufsalltag forensisch-psychiatrisch Tätiger besondere Herausforderungen darstellt, liegt auf der Hand. Dass Zwang dabei manchmal unerlässlich ist, scheint auch klar. Dennoch stellt sich die Frage des subjektiven Erlebens der Patienten. Ein Arzt, der einen aggressiven, psychotischen Patienten, der im Ausgang unerlaubterweise Drogen oder Alkohol konsumiert hat, beruhigen soll, greift vielleicht vorschnell zu einer Fixierung. Aber worum es in diesem Beitrag nicht gehen soll, ist die Frage, in welchem Rahmen Zwangsbehandlungen vertretbar sind. Vielmehr soll es um den Patienten, beispielsweise in der akuten Situation einer Fixierung oder Isolation, gehen. Führt ein solches Erleben zu Angst und dauerhaft vielleicht zu Traumata, die ein zusätzlich belastender Faktor für die Therapie sind? Wie gehen Patienten mit dem Gefühl der Erniedrigung und dem Machtgefälle um? Verändern Zwangsmaßnahmen das Arzt-Patienten-Verhältnis?

Hier geht es um das persönliche Empfinden und die Gefühlslage von Patienten in emotionalen Ausnahmesituationen – damit ist nicht nur der konkrete Moment einer Zwangsmaßnahme, sondern der gesamte Aufenthalt in einer forensischen Klinik gemeint. Die forensische Psychiaterin Heidi Kastner bezeichnet die Forensik als „Schmuddelecke“ (Kastner 2019) der Medizin.

Das individuelle Erleben einer Situation ist schwer zu messen und noch schwieriger in Zahlen wiederzugeben. Daher braucht es qualitative Studien, die etwas Licht in einen „dunklen Ort des deutsches Rechts“ (Prantl 2018) bringen.

2.2Fragestellung und Zielsetzung

2.2.1Relevanz

Die forensische Psychiatrie schützt die Gesellschaft vor dem straffällig gewordenen Patienten, indem sie ihn im gesicherten Raum des Maßregelvollzuges therapiert (Trost u. Rogge 2016). Im Umgang mit psychisch kranken Patienten kann es immer wieder zu einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung kommen. Situationen, in denen Zwangsmaßnahmen ein schnelles Mittel zum Zweck – zur Ruhigstellung des Patienten und einer Deeskalation der Situation – sein können. Die rechtliche Lage ist im Bereich der Zwangsmaßnahmen bei akuter Lebensgefahr oder Fremdgefährdung folgendermaßen geregelt:

„Medizinische [...] Behandlungen [...] sind gegen den natürlichen Willen der Patientinnen oder Patienten nur bei gegenwärtiger Lebensgefahr sowie gegenwärtiger schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit der Patientinnen oder Patienten oder anderer Personen zulässig, wenn die Patientin oder der Patient zur Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahme [...] krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, wenn

1.erfolglos versucht worden ist, die Zustimmung der Patientinnen und Patienten zu der Maßnahme zu erwirken,

2.die Anordnung der Maßnahme den Patientinnen und Patienten angekündigt wurde und sie über Art, Umfang und Dauer der Maßnahme informiert wurden,

3.die Maßnahme zur Abwendung der Gefahr geeignet, in Art, Umfang und Dauer erforderlich und für die Beteiligten zumutbar ist,

4.der von der Maßnahme zu erwartende Nutzen für die Patientinnen und Patienten die mit der Maßnahme für sie verbundenen Belastungen deutlich überwiegt und

5.die Maßnahme nicht mit einer erheblichen Gefahr für das Leben der Patientinnen und Patienten verbunden ist.“ (§ 17a Abs. 1 Maßregelvollzugsgesetz NRW)

Aber wie ist die Situation eines Patienten, der aufgrund seiner krankheitsbedingten eingeschränkten Selbstbestimmungsfähigkeit eine Behandlung, die zur „Erreichung seiner Entlassfähigkeit“ (§ 17a Abs. 2 Maßregelvollzugsgesetz NRW) führen würde, ablehnt, zu bewerten? Das Maßregelvollzugsgesetz NRW knüpft eine Zwangsbehandlung in diesem Fall an folgende Voraussetzungen: Die medizinische Behandlung gegen den natürlichen Willen der Patienten ist darüber hinaus zur Erreichung der Entlassfähigkeit oder bei einer erheblichen Gefahr für das Leben oder für die Gesundheit der Patienten zulässig, wenn und solange

1. die Patienten zur Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahme oder zum Handeln nach dieser Einsicht krankheitsbedingt nicht in der Lage sind,

2. der mit dem nötigen Zeitaufwand unternommene Versuch vorausgegangen ist, die Zustimmung der Patienten zu erreichen […] (§ 17a Abs. 2 Maßregelvollzugsgesetz NRW).

Das Doppelmandat und die Rechtslage rechtfertigen also die Behandlung mit einer Zwangsmaßnahme, denn dem Patienten soll schließlich geholfen werden. Problematisch wird es allerdings bei Betrachtung der Tatsache, dass es sich im forensisch-psychiatrischen Rahmen nicht um eine klassische Arzt-Patienten-Beziehung handelt, in der ein kranker Patient einen Arzt als Fachmann aufsucht, weil er physische oder psychische Beschwerden hat (Junker u. Kettner 2009). Der „klassische“ Patient begibt sich in eine „einwilligende Abhängigkeit“ (ebd.), weil er von seinen Beschwerden befreit werden möchte und nur der Arzt als „Fachmann“ (ebd.) über diese Fähigkeit verfügt. Wurde früher in Zeiten des strikten ärztlichen Paternalismus noch eher für den Patienten entschieden, können wir heute von „Patientenautonomie“ sprechen, die es erlaubt, als Patient gemeinsam mit dem Arzt eine Entscheidung über die beste Therapie zu treffen (ebd.).

Wie ist es aber nun im forensisch-psychiatrischen Kontext, wo der Patient die Fürsorgepflicht des Arztes nicht in Anspruch nehmen will bzw. kann, weil er in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ist? Laut der oben beschriebenen Gesetzeslage ist eine Zwangsmaßnahme im Zustand der krankheitsbedingten Uneinsichtigkeit rechtmäßig. Dem Arzt ist es also erlaubt, die Autonomie des Patienten in solch einer Situation zu missachten. Diese Überlegungen enden nun in der ethisch relevantesten Frage und zwar ob der Schutz der Gesellschaft bzw. konkret in der Praxis bspw. im Falle einer Aggression eines Patienten, der Schutz der betroffenen Personen, im Sinne einer utilitaristischen Ethik mehr wiegt als die Autonomie des Patienten. Für diese schwierige Frage mag es viele richtige Antworten geben. Ziel dieser Arbeit war es nicht, diese zu finden, aber sie verdeutlicht die hier vorliegende Problematik.

2.2.2Fragestellung & Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit folgt der Forschungsfrage „Wie erleben Patienten in der forensischen Psychiatrie an ihnen durchgeführte Zwangsmaßnahmen?“.

Zielsetzung des Forschungsvorhabens war es, Einblicke in das subjektive Erleben betroffener Patienten, die nach § 63 StGB im Maßregelvollzug untergebracht sind, zu erlangen.

Die forensische Psychiatrie ist ein eher „unbeliebtes“ Fachgebiet der Medizin. Die zu behandelnden Menschen sind Patienten und Straftäter zugleich. Die ärztliche Handlung im Umgang mit psychisch Kranken ist nicht immer eine Antwort auf einen Hilferuf und widerspricht so dem zentralen Gedanken des ärztlichen Ethos. Aber genau das macht diese Disziplin ethisch so relevant. Es geht um das Heilen oder zumindest Lindern von Beschwerden, die den Patienten in diesen temporären Zustand der Nicht-Einwilligungsfähigkeit gebracht haben.

„Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht: Jeder Mensch hat das Recht, über seine Lebensführung und damit auch über Maßnahmen, die seine Gesundheit betreffen, selbst zu bestimmen. Die selbstbestimmte Entscheidung des Patienten ist dementsprechend eine Grundvoraussetzung für eine gute medizinische Behandlung.

In Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik stellen sich hierbei tiefgreifende Fragen, denn psychische Erkrankungen können in Einzelfällen die Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten einschränken. Dabei gilt grundsätzlich: Allein aus dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung folgt nicht, dass ein Patient nicht selbstbestimmt entscheiden kann und darf. Bei einem kleinen Teil psychisch schwer erkrankter Patienten kann diese Fähigkeit jedoch zeitweilig oder langfristig eingeschränkt bzw. aufgehoben sein.

In einem solchen Falle bedarf es einer erweiterten ethischen Orientierung für gutes ärztliches Handeln. [...]“ (DGPPN 2014)

Die Aufgabe des forensischen Psychiaters ist, einem psychisch kranken Patienten dabei zu helfen, seine Autonomie wiederzuerlangen. Deshalb war Ziel dieser Arbeit, die Sichtweise der Ärzte und Pflegenden, für die Zwangsmaßnahmen ein schnelles, wirksames Mittel sein mögen, durch die der Patienten zu ergänzen. In die Entscheidung über Therapien, die sich auf einem schmalen Grat zwischen Notwendigkeit und der Verletzung des Grundrechtes des Menschen auf Autonomie und Freiheit bewegen, muss das subjektive Erleben der Patienten miteinfließen.

2.3Theoretischer Bezugsrahmen & Studienlage

2.3.1Relevante Begriffe

Im Folgenden sollen für die Arbeit relevante Begriffe aus dem theoretischen Bezugsrahmen erläutert werden.

Zwangsmaßnahmen

In der Literatur werden medizinische Zwangsmaßnahmen oft synonym mit Zwangsbehandlungen verwendet. Die folgenden Definitionen orientieren sich an Meesmann (2012), der Zwangsmaßnahmen als einen Überbegriff für verschiedene Formen von Maßnahmen, die sich gegen den Willen einer Person richten, verwendet.

Die Zwangseinweisung bzw. -unterbringung ist in der Forensik klar geregelt, da der strafrechtlichen Unterbringung ein Strafverfahren vorausgeht. Nach der Begutachtung folgt keine Strafe, sondern eine „freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung“ (Meesmann 2021). Das heißt, der Patient wird im gesicherten Rahmen der forensischen Klinik behandelt.

Unter unmittelbarem Zwang versteht man jegliche Form körperlicher Gewalt gegen den Patienten. Dazu zählen das Festhalten eines aggressiv erregten Patienten, seine Überwältigung und die sich daran eventuell anschließende Fixierung und/oder Isolation.

Zwangsernährung

Unter Zwangsbehandlungen fallen im psychiatrische Rahmen Zwangsmedikationen, die zur Behandlung der psychischen Krankheit dienen, aber auch allgemein medizinische Maßnahmen, wie z.B. eine Zahnbehandlung oder eine Operation.

Verbale Formen des Zwangs beginnen bei der Überzeugung des Patienten und gehen über Überredungsversuche bis hin zur Androhung von Nachteilen.

2.3.2Theoretischer Hintergrund – „Aysle: über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ (Erving Goffman)

Goffman stellt in vier empirischen Untersuchungen die Situation von Menschen, die größtenteils unfreiwillig Teil einer totalen Institution geworden sind, in den 1950er-Jahren in den USA dar. Sein Hauptaugenmerk dabei liegt auf der Situation psychiatrischer Patienten.

Goffman behauptet, dass Insassen oder Patienten ein eigenes Leben in der Institution oder Anstalt, in der sie sich befinden, entwickeln. Er spricht von totalen Institutionen als Wohnraum einer Vielzahl von ähnlich gestellten Personen, die für einen bestimmten Zeitraum vom Rest der Gesellschaft abgeschlossen sind und ein streng nach Regeln geführtes Leben führen.

Merkmale totaler Institutionen

Totale Institutionen sind a) soziale Einrichtungen und b) „allumfassend und total“ (Goffman 1961, S. 15), da sie z.B. wie eine forensische Psychiatrie oder ein Gefängnis durch eine hohe Mauer von der Außenwelt abgeschlossen sind. Zentrales Merkmal der totalen Institutionen ist die Verschmelzung der Bereiche Wohnen, Freizeit und Arbeiten in a) einem Gebäude, mit b) denselben Personen und c) nach formalen Regeln. Reglementiert werden die Patienten von dem Personal, das sich durch eine formell vorgeschriebene Distanz deutlich von den Patienten abgrenzt. Das Personal hat dabei einen „binären Charakter“ (Goffman 1961, S. 18) inne, da es sowohl Teil der Innenwelt der Institution ist, aber zugleich auch an der Außenwelt Teil hat. Die Patienten sehen das Personal als überlegenen Feind an und umgekehrt sieht das Personal die Patienten als verschlossene Bedrohung. Die Kommunikation zwischen beiden Gruppen ist auf dieser Basis beschränkt.

2.3.3Studienlage

Die Evidenz zum Thema des subjektiven Erlebens von Zwangsmaßnahmen fehlt. Eine Suche im Deutschen Register klinischer Studien des Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Jahr 2019 hat lediglich mit dem Suchbegriff „Zwangsmaßnahmen“ einen zu der vorliegenden Forschungsfrage annähernd passenden Treffer ergeben. Diese Studie wurde zum aktuellen Zeitpunkt allerdings noch nicht durchgeführt.

Die Literaturrecherche bei Google Scholar hat zu einer medizinischen Dissertation der Universitätsklinik Ulm geführt, die Zwangsbehandlungen im Rahmen einer quantitativen Studie untersucht hat.

2.4Methodisches Vorgehen

2.4.1Forschungsdesign

Der Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Beantwortung der Forschungsfrage „Wie erleben Patienten in der forensischen Psychiatrie an ihnen durchgeführte Zwangsmaßnahmen?“. Da diese Fragestellung auf die subjektive Wahrnehmung der Patienten abzielt, werden dabei beste Analyseergebnisse mit einem qualitativen Forschungsdesign erzielt.

2.4.2Datenerhebung

Die insgesamt fünf narrativen Interviews (Flick 2017, S. 356) wurden in der Abteilung für Forensik 2 der Einrichtung geführt und auf Tonband aufgezeichnet. Als erstes wurden das Alter der Patienten und die Dauer des Aufenthaltes in der aktuellen Klinik aufgenommen. Danach hat der Forscher das Thema eingeleitet und ausführliche, erzählgenerierende Fragen gestellt. Da einige Patienten Probleme mit ihren kognitiven Fähigkeiten haben, war es nötig, diesen Teil des Interviews ausführlicher als in einem „klassischen“ narrativen Interview zu halten. Dem sind auch die Zwischenfragen des Forschers und Erzählaufforderungen während des Interviews geschuldet.

2.4.3Einschluss- und Ausschlusskriterien

Die Abteilung für Forensik 2 betreut ausschließlich männliche Patienten, die sich seit mehreren Jahren oder Jahrzehnten in forensisch-psychiatrischer Behandlung befinden. Für die Auswahl war wichtig, dass der Patient in der Vergangenheit eine oder mehrere Zwangsmaßnahmen erlebt hat und aufgrund seines Gesundheitszustandes und seiner Persönlichkeit in der Lage ist, an dieser Studie teilzunehmen.

2.4.4Datenanalyse

Die aufgenommenen Interviews wurden transkribiert, pseudonymisiert und anschließend gelöscht. Danach wurden die Interviews mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse und der induktiven Kategorienbildung analysiert. Basis für die vorliegende Inhaltsanalyse und die Kategorienbildung war die qualitative Inhaltsanalyse mit induktiver Kategorienbildung nach Mayring (2015).

2.5Ergebnisse

2.5.1Allgemeines zu den Probanden

Die Patienten in der ausgewählten forensischen Psychiatrie sind alle männlich. Die Probanden sind zwischen 34 und 63 Jahren alt. Die Dauer des Klinikaufenthaltes der Befragten in dieser Klinik variiert zwischen sechs Monaten und 27 Jahren.

2.5.2Darstellung der Ergebnisse

Interview 1 – Herr A