Jans Weg - Dorota Danielewicz - E-Book

Jans Weg E-Book

Dorota Danielewicz

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Beschreibung

Jan leidet an einer sehr seltenen, unheilbaren Stoffwechselerkrankung. Diese führt dazu, dass sich in seinem Gehirn eine Masse bildet, die in der Folge starke Funktionsstörungen des Bewegungs- und Sprachzentrums hervorruft. In diesem Buch erzählt Jans Mutter von dem Leben mit ihrem besonderen Kind, von Vertrauen, Faszinationen, Akzeptanz, Demut – und der Pflicht, auch an sich selbst zu denken. Trotz der Schwere des Themas kurzweilig geschrieben, lässt sie uns mit Achtsamkeit, Liebe und Empathie teilnehmen an vielen schwierigen Situationen, dunklen Stunden, an Trauer, Verzweiflung und Überforderung, aber auch an ihrer Lebensweisheit, an dem Trotzdem, das sich nicht unterkriegen lässt und Lebensfreude empfinden will. Ein Mutmacher für Eltern in ähnlichen Situationen und ein Augenöffner für Menschen, die keine Kinder mit Behinderung haben.

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DOROTA DANIELEWICZ

Jans Weg

Aus dem Polnischen

von

Antje Ritter-Miller

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen.

Man weiß nie, was man kriegt.

Forrest Gump

Drehbuch: Eric Roth, Regie: Robert Zemeckis

Du bist übergeschnappt, hast eine Meise,bist nicht ganz bei Sinnen.

Aber weißt du was? Das macht die Besten aus!

Alice im Wunderland

Drehbuch: Linda Woolverton, Regie: T. Burton

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Geburt

Segnung

Bordsteinkanten

Das erste Mal

Schnürsenkel

Kinderarzt versus Wahrsagerin

Morcheln, Maronen, Fliegenpilze

Dichter, Philosoph, Künstler

Treppen

Schule und anderes

Käfig, Freiheit, Stimme

Schatten und Schmetterlinge

Parmesan, Weinen, offene Türen

Bühne des Lebens

Spiele der Brüder

Diagnose

Krise

Abschied

Auf Leben und Tod

Entscheidung

Was wäre, wenn …

Jans Test

Empathie

Schwalben

Michaela gibt die Hand

Sommer

Ein andermal

Anziehen

Warum?

Titanic

Cello

Schildkröten

Keine Hunde!

Zähne

Ferien

Über die Scham

Empathische Revolution

Leuchtturm

Geduld

Verlogenheit

Ein Herz vom Busfahrer

Brunnen

Respekt

Wie soll man fragen?

Volljährigkeit

Kein Pieps

»Das ist deine Pflicht«

Momente der Entspannung

Schritte

Kruzifix

Eine Bitte

Träumen

No woman

Nofretete

Die Wohnung

Unwetter

Traum

Dank

Über Jan

Vorwort

An einem Tag im Mai 2018 sah ich im polnischen Fernsehen eine Szene aus dem Warschauer Sejm. Eine Gruppe Eltern von Menschen mit Behinderungen protestierte seit Tagen im Parlamentsgebäude. Ihre Forderungen waren bescheiden, ihre Entschlossenheit groß – es ging um die Zukunft ihrer Kinder. Zufällig hatte ich den Fernseher in dem Moment eingeschaltet, als gerade eine Abgeordnete zu den Protestierenden auf den Flur hinausging.

Von ihrem ersten ungeschickten Wort an war klar, dass sie nicht ein Fünkchen Verständnis für die Protestierenden hatte.

Eine Mutter sagte damals einen Satz, der in mir eine Lawine an Emotionen auslöste: »Sie wissen nicht, wie wir uns fühlen.«

Ich weiß, wie ihr euch fühlt. Schließlich kennen Gefühle keine Grenzen. So wie ihr habe ich mit meinem Sohn und anderen Eltern von Menschen mit Behinderungen im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales protestiert.

Danach dachte ich, dass ich über diese Emotionen schreiben sollte. Und so ist dieses Buch entstanden.

Ich widme es all den Eltern und Kindern, die nie selbstständig sein werden, ihren Familien und Freunden.

Dorota Danielewicz im Juli 2022

Geburt

Jan hat mich so vieles gelehrt, doch ich wünsche diese Lektion niemandem. Niemandem, niemals. Warum gerade ich sie bekommen musste, weiß ich nicht. Die einen würden sagen, das ist eine Frage des Karmas, die anderen, dass Gottes Wege unergründlich sind. Pech, würden die dritten es nennen, einfach Pech. Ein großes Glück, würden die sagen, die mehr sehen können, und ich würde sie allesamt zum Teufel jagen. Besser nicht fragen. Nicht zu viel fragen. Einfach leben. Wie leicht sich das sagt: Einfach leben!

Ich werde euch jetzt von diesem Leben erzählen, das Pech, Glück und wer weiß was noch ist.

Angefangen hat alles im Dezember 1992. Wir saßen in unserer kalten Wohnung, eingewickelt in Bettdecken, hörten »Die Welt ist Klang« von Joachim Ernst Berendt auf Kassette. Heute hat niemand mehr Kassettenrekorder, aber damals hat man Musik von solchen Geräten abgespielt. Es waren acht Kassetten, und wir hörten sie alle. Stundenlang lagen wir vor dem Rekorder. Das war ein schöner Dezember. Im Ofen flackerte das Feuer – ja, wir heizten mit Kohle. Draußen Eis und Schnee. Silvester fuhren wir Ski, ich lernte es gerade und nahm mir vor, regelmäßig meinen Winterurlaub in den Bergen zu verbringen. Daraus wurde nichts, aber ich erinnere mich daran, dass ich auf den Geschmack gekommen war.

Das war der Anfang. Die Musik, der Winter, die Skier und der Ofen. Ein paar Wochen später bemerkte ich, dass da jemand in meinem Bauch war, der auf die Welt kommen wollte. Wir hatten nicht die Absicht, ihm das zu verwehren. Mein Mann und ich, wir freuten uns sehr, obwohl wir überhaupt nichts besaßen. Wir schrieben gerade unsere Magisterarbeiten, waren dabei, unser Studium abzuschließen. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung, zwei Zimmer mit einem ellenlangen Flur. Aber wir brauchten nicht viel zum Glück. Die Liebe und die Literatur genügten uns. Gemeinsam erlebten wir die Wiedervereinigung von Berlin und Deutschland. Ich werde nie vergessen, wie wir einmal aus Krakau zurückkamen, morgens aus dem Zug stiegen und den fast menschenleeren Bahnhof Friedrichstraße ohne Grenzübergang vorfanden. Damals verliefen wir uns, konnten den Weg zur U-Bahn nicht finden, irrten durch die uns unbekannten, veränderten unterirdischen Gänge wie Mäuse durch ein Labyrinth.

Dann saßen wir monatelang in der Bibliothek in der Potsdamer Straße. Von Woche zu Woche wurde mein Bauch größer. Laptops waren damals eine Seltenheit, ich schrieb meine Magisterarbeit mit der Hand. Als es so weit war, dass ich die Reinschrift anfertigen wollte, schwollen meine Finger an. Meine Nachbarin Vera half mir, manchmal half mein Mann und manchmal halfen andere Freunde. Ich diktierte, sie schrieben. Worüber? Über zweisprachige Schriftsteller, die sowohl auf Polnisch als auch auf Deutsch geschrieben hatten. Stanisław Przybyszewski hatte Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin gelebt. Er war ein schlechter Vater. Aber wer war damals schon ein »guter« Vater? Ich schrieb über ihn als Künstler, doch die Geschichte mit Marta Foeder, der Mutter seiner Kinder, die er für die geheimnisvolle Dagny verließ, konnte ich ihm nicht verzeihen. Schließlich erwartete ich selbst ein Kind.

Die Schwangerschaft mit Jan verlief ruhig. Trotz der zunehmenden Pflichten fühlte ich mich ausgezeichnet und alle Untersuchungen hatten unauffällige Ergebnisse. Keinerlei Probleme mit dem Embryo. Es war das Jahr 1993. Ich weiß noch, dass ich damals an einer internationalen Konferenz zum Thema Wasser teilnahm. Die Podiumsdiskussionen fand ich sehr interessant, ich blätterte verschiedene Publikationen durch und begann, mir Sorgen zu machen. Wenn Frauen schwanger sind, können sie sehr empfindlich werden. Sie wünschen sich für ihre Kinder eine schöne Zukunft, die Welt soll sich von der freundlichen Seite zeigen. Auf der Konferenz gab es Gespräche über Umweltverschmutzung, über die Gefahren zukünftiger Kriege und über den Zugang zu sauberem Wasser. Ich war beunruhigt, denn ohne Wasser funktioniert nichts. An den Podiumsdiskussionen nahmen Spezialisten teil, Politiker, Geodäten und NGO-Aktivisten. Und in mir bereitete sich im Schutz bietenden Fruchtwasser ein Mensch auf das Leben vor.

Die Geburt war schön und natürlich. Ich gebar Jan in der Hocke, wie eine Indianerin. Mein Mann stützte mich unter den Armen, damit ich nicht umfiel, und ich hatte das Gefühl, es ohne seine Hilfe nicht zu schaffen. Doch dann passierte etwas, was mir bis heute keine Ruhe lässt. Nach vielen Stunden in den Wehen, beinahe am Ende, als Jans Köpfchen schon fast zu sehen war, hörte ich auf zu pressen.

Auf die Frage der Hebamme, warum ich in diesem Moment nicht alle Kräfte mobilisieren könne, antwortete ich ehrlich: »Ich habe Angst vor diesem Kind.«

In den letzten Minuten der Geburt wurde mir plötzlich klar, dass es vom Muttersein kein Zurück mehr gibt. Sobald Jan auf die Welt kommt, wird er für immer mein Sohn sein und ich für immer seine Mutter. Hier kann man keinen Widerspruch mehr einlegen, etwas ungültig machen oder abändern. Die Unumkehrbarkeit dieser Situation rief in mir plötzlich Angst hervor, und fünf Minuten vor der Entbindung beschloss ich … nicht zu gebären! Unerwartet auch für mich selbst sagte ich laut: »Ich habe Angst vor diesem Kind.« Mein Mann war geschockt. Dann ging alles wie geschmiert und gleich darauf lag Jan rosafarben und gesund an meiner Brust.

Es war ein warmer Septembersonntag. Die Sonne des Altweibersommers beleuchtete die Bäume im Schlosspark Charlottenburg, als wir mit dem kleinen Jan im Steckkissen nach Hause fuhren. Uns war noch nicht klar, dass wir gerade Eltern geworden waren.

Einen Tag zuvor war der Film Drei Farben: Blau in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden, und ein paar Tage später wurde in Polen gewählt, es gewann der SLD, der Bund der demokratischen Linken. Deutschland hatte sich gerade wiedervereinigt, und der westliche Nachbar Polens, die DDR, war damit unwiederbringlich verschwunden. Der Ostteil der Stadt wurde zu einem fantastischen Versuchsgelände für alternative Initiativen. In Souterrains von Altbauten entstanden Klubs, im Kunsthaus Tacheles realisierten Künstler ihre Visionen. Es war mir nicht gegeben, an dieser freudigen Neuentwicklung der Stadt teilzuhaben, denn ich trat damals in eine andere Realität ein, in die Mutter-Kind-Welt. Eine wichtige Bühne für meine Welt wurde der nahe gelegene Park Charlottenburg, wo Jan ein Jahr später beim Spielen mit Herbstblättern seine ersten Schritte machte.

Mutter zu werden ist ein Prozess. Am Anfang helfen die Hormone, aber es ist eine enorme Herausforderung zu verstehen, dass aus dem eigenen Bauch ein Mensch herausgekommen ist, der mit einem verbunden und abhängig ist von unserer Fürsorge, der ein eigenständiges Wesen ist, und dass die Götter, unabhängig von unseren Bemühungen, ihn seinen eigenen Lebensweg entlangführen, der anders ist als unserer.

Die Tatsache, dass ich einen Jungen geboren hatte, löste in mir Verwunderung aus. Es schien mir logisch, ein Mädchen zur Welt zu bringen. Eine Frau gebiert ein Mädchen, das wäre natürlich. Aber die Tatsache, dass ich monatelang Eigentümerin eines inneren Penis gewesen war, erfüllt mich bis heute mit Hochachtung für die Biologie unserer Körper.

Alle möglichen Therapien, Entwicklungsworkshops und Coachings für Männer enthalten das Element, sich von der Mutter zu befreien, die Nabelschnur durchzubeißen. Dieses Stigma, durch den Schoß der Frau auf die Welt gekommen zu sein, ist enorm und verunglimpft auf perfide Weise die Idee von der unabhängigen Männlichkeit. Es ist ein einmaliges Gefühl, sich darüber klar zu werden, welch ein Wunder es ist, dem anderen Geschlecht das Leben zu schenken. Die Geburt machte aus mir eine Zeit lang eine Göttin, ich spürte eine Kraft, die sich mit nichts vergleichen lässt, und bis heute tun mir Frauen leid, die gezwungen sind, unter Narkose zu gebären – sie spüren nie wirklich diese Macht.

Leider schwindet diese Kraft nach und nach in der Konfrontation mit der Angst um das Kind. Bereits während der Schwangerschaft gab es dafür erste Anzeichen, zum Beispiel die Angst um den Zustand der Welt, in die ich mein Kind setze. Paradoxerweise hat genau diese Angst mir geholfen, Mutter zu werden. Für meinen Sohn wollte ich die perfekte Welt, die ideale Gesundheit, und für mich unendliche körperliche und geistige Stärke. Ich liebte Jan auf den ersten Blick. Immer wenn er nach mir rief, füllte sich mein Busen mit Muttermilch.

Segnung

Als ich mit Jan schwanger war, wurde ich gesegnet. Bizarrerweise war das auf dem Flughafen Tegel an einem besonderen Nachmittag im Frühjahr 1993. Ich brachte einen außergewöhnlichen Gast zu seinem Flug nach Paris. Eine Woche lang hatte ich bei einem Literaturfestival der Sinti und Roma im Literarischen Colloquium mitgewirkt.

Der älteste Schriftsteller unter den Roma weltweit war der 1917 geborene Matéo Maximoff. Er hat Die Ursitory, den berühmten Mythos der Roma – bis dahin von Generation zu Generation mündlich weitergegeben –, zu Papier gebracht und ist damit in die Weltliteratur eingegangen. Matéo Maximoff hat auch das Neue Testament ins Kalderasch-Romani übersetzt, den Dialekt der Roma-Sprache, in dem er selbst schrieb.

Die Ursitory ist ein Mythos, der von drei Schicksalsengeln handelt, die am dritten Tag nach der Geburt eines Menschen dessen Lebensweg bestimmen. Der Engel des Guten, der Engel des Bösen und der schiedsrichternde Engel der Vernunft legen für den Protagonisten folgendes Schicksal fest: Arniko wird so lange leben, bis das an diesem Tag im heimischen Feuer brennende Holzscheit zu Asche wird. Arnikos Mutter hört das Gespräch der Schicksalsengel, zieht das Holzscheit aus dem Feuer und versteckt es, damit es niemals ganz abbrennen kann. Vor ihrem Tod gibt sie es Arnikos Ehefrau. Arniko wird zum Helden des Roma-Volkes, berühmt für seinen Mut und seine Weisheit. Seine große Leidenschaft jedoch sind Frauen. Als Arnikos Frau von seinen Seitensprüngen erfährt, wirft sie das Holzscheit ins Feuer. Arniko muss unter schrecklichen Qualen sterben. Sein Herz verbrennt.

Matéo lebte in der Nähe von Paris. Seine erste Ehefrau war eine Cousine des berühmten Swing-Gitarristen Django Reinhardt. Als ich Maximoff in Berlin begegnete, war er bereits im fortgeschrittenen Alter und evangelischer Pastor. Ein Teil seiner Familie lebte in Spanien, wo er geboren wurde, ein Teil in Polen. Aber der Großteil war während des Krieges in Konzentrationslagern umgekommen. Matéo hatte mit vierzehn Jahren seine Eltern verloren. Er musste seine vier jüngeren Geschwister großziehen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Kupferschmied – dem traditionellen Roma-Beruf –, er reiste mit seiner Familie durch Europa, sprach mehrere Sprachen, las aus der Hand und spielte Gitarre. Den Namen Maximoff hatte er von seinem Großvater, einem in Sibirien geborenen »Tzigane«, wie er erzählte.

Ich verbrachte mit ihm eine intensive Woche, die mit einem großen Fest abgeschlossen wurde. Über Feuer wurde Hammel gebraten und zur Musik einer Roma-Kapelle aus Berlin getanzt. Als ich Matéo nach dem Festival zum Flughafen brachte, standen wir noch eine Weile in der Abflughalle. Um uns herum schwirrten Menschen mit Koffern und Flugtickets in den Händen. Ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache wir uns verständigten, aber ich sagte ihm, dass ich ein Kind erwarte.

Da legte mir Matéo seine Hand auf den Kopf und sprach geheimnisvolle Worte auf Caló. In diesem Moment verblasste alles ringsherum, alles ebbte ab, ich fühlte mich wie in einer Blase, abgeschnitten von den Reisenden, die zu ihrem Flugsteig hetzten. Wenn ich gedanklich zu dieser Szene zurückkehre, spüre ich noch immer Matéos Hand auf meinem Kopf und höre seine Worte. Ich bin sicher, dass Matéos Segen die Ursitory der Roma, den Engel des Guten, des Bösen und der Vernunft zu uns gerufen hat, die am dritten Tag nach Jans Geburt ein geheimnisvolles Drehbuch für sein Schicksal festlegten.

Bordsteinkanten

Wenn ich heute durch die Stadt gehe und die Kinderwagen sehe, mit denen Mütter ihre Kleinen spazieren fahren, beneide ich sie um die dicken Gummireifen, die praktische Aufhängung, die Beweglichkeit und die Leichtigkeit dieser Gefährte. Anfang der Neunzigerjahre hat keiner von solchen Kinderwagen zu träumen gewagt. Ich weiß noch, wie ich mich mit Jan in dem tiefen, recht hübschen Wagen aus den Siebzigern, den ich von einer Bekannten übernommen hatte, abgemüht habe. Er war zwar bequem, aber ab und zu fiel ein Rad ab. Dann kam die Buggy-Zeit, ein wahrer Horror beim Einsteigen in den Bus und wenn man Straßen mit hohen Bordsteinkanten überqueren musste. Die heutigen Kinderwagen sind Luxusgegenstände, man kann mit ihnen joggen, sie wie Origami zusammenfalten und sie mit nur einer Hand tragen. Einfach ein Traum.

Ich schiebe Jan jetzt in einem teuren Rollstuhl, der mit elektrischem Räderantrieb ausgestattet, aber genauso unbeweglich ist wie früher sein Buggy.

Innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre hat bezüglich der Konstruktion von Kinderwagen eine echte Revolution stattgefunden. Man könnte aber noch viel mehr dafür tun, die Qualität von Rollstühlen zu verbessern.

In Berlin werden inzwischen die Bürgersteige an den Übergängen für die Fußgänger abgesenkt, damit alle, die ein Kind oder einen Menschen mit Behinderung schieben müssen, sich problemlos bewegen können. Leider gibt es ansonsten noch viele Übergänge, an denen Fußgänger, die einen Wagen schieben, ihre Wirbelsäule überlasten und die Insassen heftigen Erschütterungen ausgesetzt sind. Selbst Unfälle sind nicht auszuschließen.

Das erste Mal

Jan war wenige Tage alt, als ihm das erste Mal Blut abgenommen werden musste. Er kam mit einer Neugeborenen-Gelbsucht ins Krankenhaus, wo dieser Gewaltakt an seinem kleinen Körper vorgenommen wurde.

Zum ersten Mal sollte jemand in Jans zarte Ferse stechen, zum ersten Mal sollte Jan Schmerz empfinden. Ich saß neben ihm und war der Ohnmacht nah. Eine Nadel in der Ferse eines Neugeborenen, Schmerz, Blut, Verletzung der Haut – zwar keine große Verletzung, aber immerhin die erste in seinem Leben. In meinem Leben mit Jan. Nie hatte mir irgendetwas so wehgetan wie der Stich in die Ferse meines kleinen Sohnes. Dabei war das erst der Anfang.

Es fällt mir nicht leicht, diese Geschichte zu erzählen. Ich gehe sehr tief hinein in die Kammer der verdrängten Gefühle und vergessenen Bilder. Ich weiß nicht, was ich dort finde, und ich weiß auch nicht, ob das, was ich dort finde, nicht durch die Zeit verzerrt wurde. Ist eine Interpretation von Jans Weg aus heutiger Perspektive überhaupt möglich? Das alles ist lediglich ein Versuch, ich kann für nichts garantieren. Die Bilder aus der Vergangenheit verändern sich wie im Kaleidoskop, ich greife die heraus, die mir dabei helfen, die Chronologie der Ereignisse und die Gefühle zu ordnen.

Ich spüre jetzt dem Neugeborenen in mir nach, ich prüfe, wie viel von ihm noch da ist. Jan – wenige Tage alt, seine rosafarbene, schutzlose Ferse, die noch nie die Erde berührt hat. Und der nun die Premiere des Schmerzes erlebt, das erste Opfer für die Götter, die mit dem Schicksal des Menschen Himmel und Hölle spielen. Als Jan gestochen wurde, weinte er nur kurz. Ich weinte innerlich, ohne zu wissen, dass das erst der Anfang eines schweren Weges sein sollte, der Anfang unzähliger Stiche, die ihm in den kommenden Jahren bevorstanden.

Damals begann ich, ein Tagebuch für Jan zu schreiben. Ich klebte Fotos von ihm ein und Geburtstagskarten. Ich schrieb in einem etwas infantilen Ton, so als würde das in der Zukunft ein Kind lesen und kein erwachsener Mann. Vielleicht hatte ich eine Ahnung, dass Jan niemals wirklich »erwachsen« werden würde. Heute weiß ich, dass ich damals – obwohl schon Mutter – selbst noch nicht reif war.

In unserer ersten gemeinsamen Wohnung hatten wir Kachelöfen, die mit Kohle beheizt wurden. Wir wickelten Jan auf dem Tisch, auf den wir eine weiche Unterlage legten. Wenn wir ihn nicht als Wickeltisch benutzten, schrieben oder lasen wir hier.

Ich hatte recht genaue Vorstellungen bezüglich meiner Zukunft und der meiner Familie. Ich plante, eine aktive, emanzipierte Mutter zu sein, die ihre Kinder – ja, ich wollte noch mehr Kinder – zu selbstständigen jungen Menschen erzieht. Kochen war meine Leidenschaft, aber putzen mochte ich nicht. Stundenlang ging ich mit Jan in Parks und am Spreeufer spazieren. Damals stellte ich mir vor, wie Jan laufen, sprechen und sich anziehen lernt. Bis dahin verlief alles nach Plan, ich hatte keine Gründe, beunruhigt zu sein. Jan hatte gleich nach der Geburt im Apgar-Test die höchste Punktzahl erhalten. Wir bekamen per Post sogenannte Elternbriefe, in denen mögliche Probleme mit einem Neugeborenen beschrieben und Erziehungsratschläge gegeben wurden. Aus diesen Briefen wusste ich, dass Jan sich ganz normal entwickelte. Warum hätte es auch anders sein sollen?

Wenn mich Angst überkam, dann eher wegen möglicher Atomreaktorunfälle, wegen der entstehenden Flüchtlingslager und der Konflikte im Nahen Osten. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass es auf diesem kranken Planeten kaum noch gesunde Menschen gibt, dass wir alle schon lange verseucht sind. Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen, um sich davon zu überzeugen: Die Umweltverschmutzung hat sich bereits in unseren Genen manifestiert, wirkt sich negativ auf die Embryos von Tieren und Menschen aus. Oh, junge, naive Mütter, ihr hüllt euch und euer Kind in den dicken Mantel der Liebe und der Verdrängung.

Ich bin im Kommunismus groß geworden, vor der Wende sah man auf den Straßen kaum Menschen mit Behinderungen, sie verließen selten ihre Wohnungen. Selbst wenn sie das getan hätten, wären sie nicht in der Lage gewesen, sich auf den holprigen Bürgersteigen fortzubewegen. Man schämte sich für die »Anormalen«, schloss sie zu Hause und in Pflegeheimen ein. Wenn wir in der Schule über sogenannte gute Taten sprachen, ging es immer um die Pflege von vernachlässigten Gräbern, darum, Großmüttern die Einkaufstaschen zu tragen oder sie über die Straße zu begleiten.

Wenn aber diese Großmütter draußen waren, bedeutete das ja, dass sie sich noch selbstständig bewegen konnten. Niemand sensibilisierte uns für Andersartigkeit, für Gebrechen und geistige Behinderung. Stattdessen sprach man von Debilen, Idioten und Pflegefällen, Blinden, Tauben und Stummen – meistens in dämlichen, diskriminierenden Witzen.

Im Kapitalismus überleben die Stärksten, die Schwachen haben keine Chance. An Kraft verlieren vor allem die, die sich um diese Schwächeren kümmern müssen, sie leben in deren Schatten und werden nach ihrem Nutzen für das System bewertet. Gebraucht werden leistungsfähige Menschen – die Schwachen, die Alten, die Kranken und die »Anormalen« werden ignoriert und aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Denn wer hat Kraft für eine Investition in einen Menschen, der keinen Profit bringt? Die Nationalsozialisten haben an Menschen, die für die Gesellschaft »nutzlos« waren – denn so wurden im nationalsozialistischen Deutschland Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung genannt –, Euthanasie verübt.

Jan galt nach den allgemeinen Kriterien als gesund und hatte somit einen guten Platz in der Wohlstandspyramide verdient. Die Punktzahl, die er nach der Geburt erhalten hatte, berechtigte ihn zur Teilnahme am Spiel. Und ich als seine Mutter konnte mich mit einer der wichtigsten Aufgaben befassen: das Kind auf seine Selbstständigkeit vorzubereiten, darauf, dass es für sich und andere Verantwortung zu übernehmen lernt. Ich hatte ihm die Regeln des Spiels beizubringen, das man Leben nennt. Diese Regeln sollte er gekonnt und selbstbewusst anwenden lernen. Er sollte »rentabel« sein, denn das erwartet der Kapitalismus.

Jan wurde auf dem Tisch unter einer Rotlichtlampe gewickelt. Er mochte das warme Licht, und deshalb war sein erstes Wort »Bampe«, Lampe, bevor er »Mama« sagte. »Bampe« wurde zu »Lampe« und verschwand eines Tages ganz.

Nach dem ersten Stich in Jans Ferse kamen die ersten Schnupfen, die ersten Koliken, die ersten Entzündungen am Popo, alles ganz normal. Wir trugen Jan nachts im Tragetuch durch die Wohnung, legten ihn zwischen uns ins Bett, wenn er nicht schlafen konnte. Wir waren immer in Bereitschaft, reagierten auf jedes Wimmern. Wir waren Eltern, die inbrünstig ihr Nest hüteten. Zum ersten Mal sahen wir die Frucht, die aus der Kreuzung unserer Gene entstanden war. Das war fantastisch. Der allerbeste Film der Welt.

Zur selben Zeit kamen andere Kinder auf die Welt, von denen ich damals noch nichts wusste. Ich kannte ihre Eltern nicht und hatte keine Ahnung, welches Schicksal uns miteinander verbinden würde.

In einer mit uns bekannten Familie von Brauereibesitzern kam Philipp auf die Welt, er hatte Trisomie. Seine Mutter hatte sich sehr genau untersuchen lassen, als sie schwanger war. Es hatte keine Gründe gegeben, sich Sorgen zu machen, obwohl es einmal auf tausend Untersuchungen vorkommt, dass die Tests versagen. In einer befreundeten Ärztefamilie kam die erste Tochter zur Welt: Pauline. Bei ihr wurde Autismus diagnostiziert.

In Birma wird in einer Familie, die keiner kennt, ein Junge geboren, der durch schweren Sauerstoffmangel bleibende Hirnschäden hat. Er wird auf die Straße gelegt, wo ihn ein deutsches Ehepaar findet und mit nach Berlin nimmt. Bei Janin und Bernhard kommt ein Junge auf die Welt, von dem die Ärzte sagen, er würde innerhalb weniger Monate sterben. Aber er lebt noch heute und studiert inzwischen Psychologie. Elisabeth bringt Sabine zur Welt, ein blindes und spastisches Mädchen. Ein sehr schwerer Fall.

Zum Glück wusste ich nichts von diesen Babys. Und ich wusste auch nichts von mir, der Mutter eines Kindes, das nie selbstständig sein wird. Ich kannte weder die mütterliche Verzweiflung noch die mütterliche Kraft. Ich hatte keine Ahnung von der Existenz verdrängter Gefühle, ich kannte die Kraft der Liebe nicht, die es einem möglich macht, der Familie zu dienen. Kurz gesagt, ich wusste fast nichts über das Leben, lebte von Fantasien über meine Rolle und über eine Zukunft in schillernden Farben.

Ich war ja keine Mutter eines Kindes mit Behinderung, deshalb konnte ich mich mit kleinen Sorgen und Freuden beschäftigen. Ich teilte sie mit anderen Müttern: Wir sprachen über unsere Geburten, über die Tagesrhythmen unserer Kinder, über Koliken und über das Stillen. Wir klagten darüber, dass wir unausgeschlafen waren, und freuten uns über das erste Wort unserer Sprösslinge. Wir gestanden einander, keine Lust oder Zeit für Sex zu haben. Wir prahlten mit unseren Männern oder beklagten uns, dass sie sich in der Vaterrolle nicht bewährten. Wir fühlten uns bedeutsam, schließlich waren wir Mütter geworden. Und wir hatten nicht die Absicht, auf irgendetwas zu verzichten. Die Kinder lieben und arbeiten gehen, uns weiterentwickeln, kochen, lesen, malen, studieren und schreiben. Wir waren blauäugig. Wir ließen uns von der süßen Eitelkeit junger Mütter lenken. Vom Pantheon schaute uns Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Mutterschaft, milde zu. Stolz schoben wir unsere Kinderwagen und wussten, dass wir jetzt eine Mission erfüllen. Wir hatten zum Bevölkerungswachstum beigetragen, unsere Kinder würden für die Rentenkassen arbeiten, somit sind wir also für die Gesellschaft nützlich geworden. Schließlich waren unsere Kleinen ein wesentliches Kapital in einem Europa, das schon jetzt überaltert war.

Bereits als Abiturienten hatten wir Gespräche zum Thema Nachkommen geführt. Manche meinten, wir sollten überhaupt keine Kinder in die Welt setzen, weil die Welt grausam sei. Es kam vor, dass jemand etwas über einen zukünftigen Atomkrieg erwähnte: Wenn er ausbricht, sterben wir sowieso alle. Das waren Themen, die es unabhängig vom Ozonloch und dem Plastikmüll im Meer in Erwägung zu ziehen galt. Über Schwierigkeiten bei der Erziehung wurde nicht gesprochen, über Krankheitsrisiken erst recht nicht. Das lag außerhalb unseres Horizonts, schließlich waren wir alle gesund, gleich würden wir das Abitur machen. Jeder von uns konnte sprechen, lesen, schreiben und rechnen. Wir trieben Sport, gingen in die Disco. Und wir konnten noch vieles mehr.

Ich mache eine Schreibpause. Ich gehe einkaufen, man kann ja nicht immer nur zu Hause sitzen. Auf der Straße läuft vor mir eine Frau. Ihre Schritte sind unsicher, sie zieht einen Einkaufstrolley hinter sich her. Ihre Jacke kommt mir bekannt vor, deshalb rufe ich: »Guten Tag!«

Die Frau dreht sich um, ich kenne sie tatsächlich, es ist Frau L. Ihr schönes Gesicht ist beinahe unberührt vom Alter, denn Frau L. ist fast neunzig. Einst war sie Opernsängerin und hat Platten aufgenommen. Bis heute spielt sie auf dem Flügel und gibt Gesangsunterricht. Sie ist auf dem Rückweg von ihrer Physiotherapie und klagt über die Schwierigkeiten, die sie beim Laufen hat.

»Bestimmt denken die Leute, ich habe etwas getrunken, aber ich spüre einfach meine Beine ab den Knien abwärts nicht mehr. Der Kopf gibt den Befehl, wo der Fuß sich hinstellen soll, aber mein Fuß hört den Befehl nicht und stellt sich hin, wo er will, manchmal sogar schräg. Hinzu kommt, dass ich meine Füße nicht mehr heben kann, ich schlurfe. Das sind die Nerven, etwas ist mit meinem Kopf nicht in Ordnung«, gesteht sie.

Ich höre ihr zu und denke an Jan, der auch seit Jahren unsicher geht, selbst wenn er sich am Rollator festhält. Sein geschädigtes Gehirn ist sehr wahrscheinlich nicht in der Lage, den Füßen Befehle zu geben. Er kann das niemandem erklären, reagiert oft mit Panikattacken, wenn er sich nicht auf den Rollator stützen kann oder kein starker Arm in der Nähe ist. Frau L. ist sehr besorgt. »Das Alter ist etwas für Mutige«, sagt sie immer wieder. Das ganze Leben ist etwas für Mutige, denke ich und verabschiede mich von ihr. Mit wackligen Schritten geht sie weiter und zieht den Einkaufstrolley hinter sich her. Sie trägt Jeans und weiße Tennissocken, ihr helles Haar glänzt in der Sommersonne. Wäre da nicht dieser unsichere Gang, würde sie den Eindruck machen, sie sei zwanzig Jahre jünger. Ihr Gang ist so wacklig, wie einst Jans Gang.

Ich kehre vom Einkaufen zu meinen Erinnerungen zurück. Jan ist noch klein und hat noch gar nicht die Absicht zu laufen. Ich hingegen plane das Leben. Jemand hat einmal gesagt, dass das Leben das ist, was geschieht, während wir Pläne schmieden. Das kann ich voll unterschreiben. Eine junge Mutter plant. Eine junge Mutter stillt und träumt. Sie ist hoffnungsvoll und freut sich. Worauf eigentlich?

Was hat die junge Mutter und Ehefrau erwartet, die ich damals war? Woher kommen die Erwartungen und Ansprüche junger Frauen? Ich schaue in die Vergangenheit und sehe mehr, als ich damals sah.

Ich wollte unbedingt alles anders machen als meine Mutter! Die meisten jungen Frauen richten sich unbewusst nach den Erfahrungen, die sie zu Hause gemacht haben. Bei mir war es andersherum: Ich wollte, dass es anders wird. Dafür hatte ich viele Gründe. Auch den, dass in der Familie, aus der ich stammte, Behinderungen bei Kindern kein Thema waren. Es gab alle möglichen Lebensschwierigkeiten, aber keine Behinderungen. Nur Tante Hela, die Schwester meines Großvaters, hatte einen in der Entwicklung zurückgebliebenen (so sagte man damals) Jungen.