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Wir alle kennen die Bilder von den Demonstrationen, die nach den letzten Wahlen im August 2020 in Belarus stattfanden. In vorderster Reihe bei den friedlichen Protestaktionen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: viele, meist junge Frauen – darunter Journalistinnen, Studentinnen, Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen. Mutig sahen sie den sie umzingelnden Polizisten in die Gesichter, ließen sich nicht einschüchtern – auch nicht nachdem zahlreiche von ihnen verhaftet, verhört, misshandelt und des Landes verwiesen wurden. In Der weiße Gesang erzählen einige von ihnen ihre Geschichte, treten heraus aus der Anonymität der Masse. Sie lassen uns teilhaben an den Ereignissen und ihren persönlichen Erfahrungen der letzten Monate, an ihrem Aufbegehren, ihren Zielen, ihrem Leben im Exil. Der sogenannte weiße Gesang ist eine archaische, volkstümliche Gesangstechnik der osteuropäischen Frauen, die es auf eine besondere Art ermöglicht, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ihre Lieder spiegeln dramatische Ereignisse aus dem Leben der Frauen wider. Die Stimme, die beim weißen Gesang erzeugt wird, kommt direkt aus dem Solarplexus und nutzt die Resonanzräume des Körpers. Sie ist rein und wild – so wie die Geschichten der unerschrockenen, couragierten belarussischen Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen.
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2022
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DOROTA DANIELEWICZ
Die mutigen Frauender belarussischen Revolution
1. eBook-Ausgabe 2022
© 2022 Europa Verlag,
ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von
© picture alliance/dpa/TASS / Sergei Bobylev
Redaktion: Palma Müller-Scherf, Berlin
Layout und Satz: Robert Gigler, München
Gesetzt aus der Sabon
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95890-480-4
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»Und während sie erschreckt aufwacht, noch ganz in ihren Träumen befangen, hört die Katze ungeduldigvon der Treppe her ihre Befreiung herannahen und die Strafe für den anderen.«
Colette, Sieben Tierdialoge, Potsdam 1928,übersetzt von Emmi Hirschberg
EINLEITUNG
Wolha Kawalkowa
HEIMISCH KANN MAN SICH AN JEDEM ORT FÜHLEN
Iryna Novik
DIE FRAU MIT DEM ROTEN KLEID
Diana Ignatkowa
ZWISCHEN EUPHORIE UND TIEFER TRAUER
Natalja Lubniewskaja
DU KANNST NICHT ZU HAUSE BORSCHTSCH KOCHEN, WENN DEIN MANN IM KNAST VERPRÜGELT WIRD
Nadieja Stepantzova und Joanna Zacharkievitsch
WIR HABEN AUS MÜTTERLICHER SORGE GEHANDELT
Marharyta Shysha
ALLE PLÄNE, DIE ICH HATTE, LÖSTEN SICH IN NICHTS AUF
Volha Vialichka
WENN ICH AUFWACHE, WEISS ICH OFT NICHT, WO ICH BIN
Inna Trusava
ICH GLAUBE IMMER NOCH AN WUNDER
Volha Kariakina und Dimitrij Furmanow
DIE KATZE HAT MIR DAS LEBEN GERETTET
Die Bilder von den Protesten in Belarus nach der Wahl 2020 gingen um die Welt. Obwohl die unabhängigen Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter die Stimmen der Opposition gezählt haben – weiße Armbänder galten als ein Zeichen, dass man Aleksander Lukaschenko nicht wählt, außerdem wurden die Wahlzettel fotografiert und auf einer App gesammelt –, verließen die Wahlkommissionen die Lokale, wie Zeugen berichten, ohne die Ergebnisse auszuhängen. Im Nachhinein hieß es, Lukaschenko habe 80 Prozent der Stimmen bekommen. Dieses Wahlergebnis schien den meisten Belarussinnen und Belarussen aus dem Hut gezaubert. Schon in der Nacht vom 9. auf den 10. August 2020 gingen die Menschen in Massen auf die Straßen. Es waren spontane Proteste, die nicht koordiniert werden konnten, weil im ganzen Land das Internet ausgeschaltet worden war.
Vor der Wahl, beim Sammeln der Unterschriften für die Gegenkandidaten, erlebten die Belarussinnen und Belarussen für mehrere Monate den frischen Wind der Selbstbestimmung. Eine beispiellose Freiheitsbewegung ergriff das Land quer durch alle Gesellschaftsschichten. Organisationen und Vereinigungen wurden gegründet, junge Menschen lernten in der Praxis, was es heißt, Demokratie zu gestalten.
»Wir werden es nie mehr vergessen können«, sagte Volha Vialichka, eine meiner Gesprächspartnerinnen, die »Freude des freien Bürgers«, wie Hannah Arendt diesen Zustand nennt, das Erobern des politischen Raums durch Hunderttausende Belarussinnen und Belarussen, die sich auf ihre Macht als Bürgerinnen und Bürger besannen. In diesem Buch wird von dieser Stimmung und den unterschiedlichen Szenarien berichtet, von den studentischen Organisationen, den Aktionen auf den Demonstrationen, der Wahlbeobachtung, den politischen Initiativen und sozialen Projekten, wie zum Beispiel das Hospiz in Grodno.
Wolha Kawalkowa, eine Leitfigur der Opposition und enge Mitstreiterin von Swetlana Tichanowskaja, der Gegenkandidatin von Lukaschenko bei der Präsidentschaftswahl 2020, beschrieb die Situation so: »Die Menschen gingen mit den Protesten voraus, wir, die Führungsleute, gingen hinterher.«
Bei den friedlichen Protestaktionen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit befanden sich in vorderster Reihe viele, meist junge Frauen. Mutig sahen sie den sie einkreisenden Polizisten in die Gesichter, ließen sich nicht einschüchtern – auch nicht, nachdem zahlreiche von ihnen verhaftet, verhört, misshandelt und des Landes verwiesen worden waren. In Der weiße Gesang erzählen einige von ihnen ihre Geschichte. Ich habe sie in Warschau, Berlin und Vilnius getroffen. Sie ließen mich teilhaben sowohl an ihren Erinnerungen der Ereignisse vor und nach der Wahl 2020, an ihrem Aufbegehren, ihren Zielen, wie auch jetzt, an ihrem Leben im Exil.
Manche wurden ausgewiesen, andere flüchteten durch unwegsames Gelände über die grüne Grenze nach Litauen vor drohenden Strafen, wiederum andere wurden gewarnt und konnten entkommen, bevor sie inhaftiert wurden. Sie alle haben ihre Geschichten mit mir geteilt, denn das Erlebte will erzählt, will gesungen werden.
Der sogenannte weiße Gesang ist eine alte, volkstümliche Gesangstechnik der osteuropäischen Frauen, die es ermöglicht, auf besondere Weise den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Die Lieder handeln von dramatischen Erlebnissen der Singenden. Die Stimme, die beim weißen Gesang erzeugt wird, kommt direkt aus dem Solarplexus und nutzt den Körper als Resonanzraum. Sie ist rein und wild – so wie die Geschichten der unerschrockenen, couragierten Belarussinnen, die in diesem Buch zu Wort kommen.
Der weiße Gesang erlebt eine Renaissance, vor allem in Polen und Litauen entstanden moderne Ensembles, die diese überlieferte Vokaltechnik neu beleben. In zahlreichen Workshops werden inzwischen Frauen unterrichtet, diese besondere Stimme, die auch als »ungeschminkte Stimme der Frau« bezeichnet wird, freizusetzen. Die hier versammelten Beiträge der belarussischen Aktivistinnen sollen klingen wie die wilden Stimmen des weißen Liedes. Sie sollen und müssen gehört werden – als Lehre, als Warnung und als Bekenntnis. Nicht zuletzt sind sie ein Ausdruck der Hoffnung in dieser bedrückenden, ungewissen Zeit des Kampfes der Diktatur gegen die Demokratie.
»Es ist offensichtlich, dass das Schicksal von Belarus von der russischen Politik abhängt. Und alles, was in den Nachbarstaaten Russlands stattfindet, ist jetzt von Belang. Was noch vor einem Jahr stabil erschien, wackelt nun: die Ukraine, Georgien, Kasachstan, die geopolitische Lage verändert sich gerade dramatisch. Belarus darf man also nicht nur im Kontext der Diktatur betrachten, sondern man muss die politisch-wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland sehen. (…) Wir durchlaufen einen schlimmen und schwierigen Prozess, aber dieser Weg ist besser als der Status quo.« Weise Worte der oppositionellen Politikerin Wolha Kawalkowa, die noch vor Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine die Entwicklung in ihrem Heimatland voraussah. Sie warnte eindrücklich vor den imperialen Plänen Russlands und hatte große Sorge, dass im Westen Europas die Politik Putins falsch eingeschätzt würde. Die gegenwärtige Entwicklung gibt ihr recht.
Die Opposition in Belarus wird mit drakonischen Maßnahmen verfolgt, freie Medien wurden als »extremistisch« eingestuft und verboten, für jede Handlung, die als gegen die Staatsgewalt gerichtet interpretiert wird, drohen harte Gefängnisstrafen.
An die tausend politische Gefangene sitzen in Haft und in Arbeitslagern, unter ihnen auch Maria Kalesnikava, Mitstreiterin von Swetlana Tichanowskaja, die vom belarussischen KGB an die Grenze gebracht wurde, wo sie in einer mutigen Geste ihren Pass zerriss, um nicht ausgewiesen werden zu können. Sie blieb in Belarus und bekam elf Jahre Arbeitslager. Maria Kalesnikava ist im Süden des Landes, in der Nähe von Gomel, inhaftiert. Von dort aus sind am 24. Februar 2022 die russischen Truppen in die Ukraine einmarschiert.
© Pavel Yakovchik
Wolha Kawalkowa (geb. 1984)
Ein Co-Working-Space in einem modernen, schicken Hochhaus im Zentrum von Warschau, ausgestattet mit langen Arbeitstischen, Sofas, einer Tee- und Kaffeebar und einem wunderbaren Blick auf die nächtliche Stadt. Ähnliche Einrichtungen gibt es in vielen Großstädten der Welt, Mitglieder dürfen sie überall nutzen. Hier treffe ich Wolha Kawalkowa. Sie sieht nicht aus, wie ich mir eine Politikerin der belarussischen Christdemokraten vorgestellt habe. In ihrem schwarzen Kapuzenoverall erweckt sie eher den Eindruck einer mondänen Warschauerin auf dem Weg in das Nachtleben der Stadt.
Wir ziehen uns in ein kleines Zimmer zurück, in dem wir ungestört reden können. Viel Zeit bleibt uns nicht: Es ist schon spät, und Wolha will ganz früh am nächsten Morgen nach Vilnius zu Swetlana Tichanowskaja reisen. Ich muss die knapp bemessene Zeit mit der viel beschäftigten Politikerin gut nutzen.
Aleksander Lukaschenko ist seit 26 Jahren an der Macht, Wolha ist 36 Jahre alt, den Großteil ihres Lebens hat sie also unter seiner Herrschaft verbracht. Ich frage sie, welche Erinnerungen sie an die sowjetische Zeit in Belarus hat.
»Ich war zwar noch ein Kind, aber ich erinnere mich an einiges. Außerdem ist es doch immer noch das gleiche System, die ehemalige UdSSR und das heutige Belarus, Lukaschenko hat das kommunistische System verlängert. Und auch Russland hat sich nicht grundlegend gewandelt, auch wenn in Europa viele annehmen, dass das heutige Russland etwas anders ist als die ehemalige UdSSR. Das stimmt einfach nicht. Im Wesentlichen geht es in Russlands Politik um die Aneignung von Territorien. Der Westen Europas müsste spätestens jetzt, wo Putin mit seinen Truppen in die Ukraine einmaschiert ist, Russland anders wahrnehmen. Putin ist eine Gefahr für die ganze Welt, Russland ist ein imperiales Land, das darf man nicht verdrängen. Es geht immer um territoriale Eroberungen und Einflussnahme.«
Interesse an Politik hat Wolha schon früh in der Schule gezeigt.
»Ich komme aus einer Familie, die Lukaschenko und sein System nicht unterstützt hat. Mein Vater hat nie ein Hehl aus seiner Ablehnung Lukaschenkos gemacht, schon als kleines Kind habe ich Familienstreitigkeiten zu diesem Thema erlebt. Bestimmt haben mich diese Gespräche beeinflusst, auch wenn ich noch sehr klein war, Kinder nehmen unbewusst sehr vieles auf. Meine Mutter war zwar auch keine Lukaschenko-Anhängerin, sie hat sich jedoch nicht so oft wie mein Vater kritisch geäußert. In den Gesprächen zu Hause ging es meist um Gerechtigkeit, und vielleicht bin ich deshalb eine Idealistin geworden. Ich kann mich erinnern, dass wir in der Schule gefragt wurden, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen, und ich habe geantwortet, dass ich Präsidentin werden möchte. Damals war ich zwölf Jahre alt. Interessant, dass ein belarussisches Kind solche Ideen hat.
Meine Schulfreunde haben nicht vergessen, wie engagiert ich war. Heute sagen sie, dass sie damals vieles nicht wahrgenommen haben, dass sie ihre Augen geschlossen hielten, aber gleichzeitig haben sie mich als eine Person gesehen, die politisch immer wach war. ›Du hast uns immer gesagt, dass wir aufmerksam sein sollen, und wir haben es nicht verstanden, erst 2020 haben wir begriffen, was du gemeint hast‹, sagen sie nun zu mir.
Es ist bitter, die Wirklichkeit zu analysieren und zu wissen, wie es eigentlich in der Welt zugehen sollte, gleichzeitig scheint es so, dass viele Menschen keine Veränderungen wollen. Aber ich wollte so nicht leben.«
Wolha bezieht sich damit auf die Lebensbedingungen im Land, dass das belarussische Volk keinen Einfluss auf die sogenannten Volksvertreter im Parlament hat, dass die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt ist und unzählige politische Gefangene in Haftanstalten und Lagern sitzen.
»Als nach der gefälschten Wahl die Massenproteste in Belarus begannen, war klar – da es keine Oppositionskandidaten gab –, dass wir, die Personen, die Swetlana Tichanowskaja unterstützt haben, und der Stab von Viktor Barbariko etwas unternehmen mussten. So ist der Koordinierungsrat entstanden. Es war eine neue Form des Zusammenwirkens, bislang hatte es keine vergleichbare Organisation gegeben, die Menschen mit unterschiedlichen Meinungen auf einer demokratischen Plattform zusammenbrachte. Wir erfuhren, wie die Belarussen auf unsere Initiative reagiert haben, nämlich euphorisch, ausgenommen natürlich der Staatsapparat, der uns schon einen Tag nach der Gründung mit einer Klage bedrohte. Drei Wochen lang haben wir uns getroffen und ausgetauscht. Am 23. August 2020 habe ich allerdings zum letzten Mal an einer Protestaktion mit den Führungspersonen des Koordinierungsrates teilgenommen.«
Der Koordinierungsrat wurde von der Gewinnerin der Wahl, Swetlana Tichanowskaja, initiiert, die ihre persönliche Vertreterin Wolha Kawalkowa und den Anwalt Maxim Snak mit der Wahl der Mitglieder des Rates beauftragt hat.
Direkt nach Gründung des Rates, der die friedliche Machtübergabe vorbereiten sollte, begannen die staatlichen Behörden gegen alle Mitglieder zu ermitteln. Die Forderungen des Rates lauteten: »Einstellung der politischen Verfolgung von Bürgern durch die Behörden, Eröffnung von Strafverfahren gegen die Verantwortlichen und Bestrafung der für schuldig Befundenen. Freilassung aller politisch Gefangenen, Aufhebung der rechtswidrigen Gerichtsurteile, Kompensationszahlungen an alle, denen Unrecht widerfahren ist. Annullierung der Wahlen vom 9. August. Durchführung von Neuwahlen nach internationalen Standards und mit neu besetzten Wahlgremien einschließlich der zentralen Wahlkommission.«
Es war eine beispiellose Initiative von zivilem Ungehorsam gegenüber der Diktatur mit mehr als 50 Mitgliedern und einem siebenköpfigen Präsidium, dazu zählten: Wolha Kawalkowa, Veronika Zepkalo, Maria Kalesnikava, Swetlana Alexijewitsch, Pawel Latuschka, Sharhej Delauskij, Lilia Ulassawa. Die Gruppe hat sehr darauf geachtet, dass die Proteste nicht aus der Bahn gerieten und Eskalationen verhindert wurden.
»Es gab diesen Moment, als nach der gefälschten Wahl sehr viele Protestierende verhaftet wurden. Auf Telegram wurden Aufrufe verbreitet, dass man sich vor dem Gefängnis in Brest versammeln sollte, um die Gefangenen zu befreien. Auch in Minsk gab es ähnliche Aufrufe, nachdem eine Aktion in Brest tatsächlich gelungen war. Alle sollten sich abends um 21 Uhr vor dem Akrestina-Gefängnis versammeln, um ebenfalls eine Befreiung zu erwirken. Aber Minsk ist keine Provinz wie Brest, dort funktioniert das System anders.
Wir waren im Büro des Koordinierungsrates, als uns Freiwillige anriefen, die vor dem Akrestina-Gefängnis Wache hielten. Sie verlangten Unterstützung, denn sehr viele Leute hatten sich vor den Toren des Gefängnisses versammelt, und man sah die Gefahr förmlich aufziehen. Ich habe dann mit Maria Kalesnikava besprochen, dass ich da hinfahre. Auf der Straße waren Tausende Menschen, es gab Provokationen, Rufe wie ›Es wird Blut fließen‹, ›Lasst uns Akrestina stürmen!‹ Ich erinnerte mich an ähnliche Provokationen 2010 – solche Ausschreitungen sind immer fatal, sie provozieren Restriktionen, fordern Opfer und bringen trotzdem keine Verbesserungen.
Es war schon dunkel, 22 Uhr, die Menge zeigte deutlich ihre Wut vor einem wichtigen staatlichen Gebäude. Würde die Situation außer Kontrolle geraten, gäbe es schlimme Kämpfe. Das war mir klar. Keiner durfte jetzt mit Steinen werfen oder auf das Tor losstürmen. Ich habe ein Megafon in die Hand genommen und zu den Leuten gesagt: ›Es ist schon spät, lasst uns nach Hause gehen und morgen früh wiederkommen, dann demonstrieren wir gemeinsam für die Befreiung der Gefangenen, das ist weniger gefährlich.‹
Die Stimmung war aufgeladen. Zorn, Trotz und Angst lagen in der Luft. Ich habe gespürt, dass die Leute darauf warteten, einer der Hauptakteure des Koordinierungsrates würde nun Verantwortung übernehmen und ein Signal geben, was zu tun sei.
Die Menschen diskutierten und gingen langsam auseinander. Ich bewegte mich in die Richtung, wo immer noch Tausende zusammenstanden. Dort wurde ich beschimpft: ›Wer bist du überhaupt, um uns zu sagen, was wir tun sollen?‹
Ich entgegnete, dass, wenn wir jetzt nicht aufpassten, die Situation außer Kontrolle geraten und die Folgen sich ernsthaft auf das Leben der hier Versammelten auswirken würden. Ich wiederholte meinen Vorschlag, am nächsten Tag wieder und weiter zu demonstrieren. Tatsächlich haben die Leute auf mich gehört und sind auseinandergegangen.
Als ich dann zu meinem Auto lief und darüber nachdachte, welche Aufgabe ich gerade erledigt hatte, wurde ich fast ohnmächtig. Erst da ist mir bewusst geworden, was hätte geschehen können, und dass ich die Verantwortung auf mich genommen hatte, etwas Schreckliches abzuwenden. Niemand hatte mich beraten, ich war mit dieser Entscheidung allein gewesen, ich hatte wie in einem Augenblick großer persönlicher Gefahr gespürt, dass die Menschen, die sich vor dem Gefängnis versammelt hatten, von massiver Gewalt bedroht gewesen waren.
Als ich einige Tage später selbst in einer Zelle im Akrestina-Gefängnis saß, kam der Direktor der Anstalt zu mir. Er gab zu, dass Polizisten auf die Menge geschossen hätten, wäre sie nicht von mir zerstreut worden. Ich wusste, dass ich das Richtige tat, unabhängig von der Bestätigung des Direktors, dass die staatlichen Ordnungsdienste zur Gewaltausübung bereit gewesen waren.
Wäre es zu einer Eskalation zwischen Demonstrierenden und Ordnungskräften gekommen, hätten uns kasachische Verhältnisse erwartet, und wir hätten nicht russische OMON-Kräfte im Land, sondern das russische Militär. Der Traum von einer Demokratie wäre in der harten Realität der postsowjetischen Gewalt für immer ausgeträumt gewesen. Auch eine Unterstützung von unseren europäischen Partnern hätte anders ausgesehen – was hätten sie getan angesichts einer russischen Intervention in Belarus? Die politischen Folgen einer Zuspitzung zwischen Protestierenden und dem Staatsapparat lassen sich nicht pauschal vorhersagen, aber ich fürchte, dass sie unumkehrbar gewesen wären.
Wir, die Hauptakteure, müssen die Entscheidungen treffen bezüglich der Form der Proteste, zu denen man Menschen auffordern darf. In unserer Christlich-Demokratischen Partei hatten wir 2021 eine heftige Diskussion darüber, ob man Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen soll, wieder auf die Straßen zu gehen. Und wir haben beschlossen, sie nicht dazu zu ermutigen.
Die Anführer und Anführerinnen müssen die Verantwortung für die Menschen übernehmen, wir müssen in der Lage sein, die Stimmung im Land zu beurteilen. Wenn das Volk unter starkem Druck steht und voller Angst ist, können wir nicht zu Straßenaktionen aufrufen. Unser Zögern ist ein Zeichen von Verantwortung und nicht von Angst vor dem Staatsapparat.
Wir sind doch für die Menschen und deren Leben verantwortlich. Wenn ein Mensch bereit ist, das Risiko zu tragen und die Verantwortung auf sich zu nehmen, dann darf er protestieren. Wir, die Organisatoren der Proteste, müssen unsere Sicht der Dinge verbreiten, die Situation analysieren und über die sozialen Medien unsere Einschätzung mitteilen, sodass die Menschen sich eine eigene Meinung bilden und selbst Entscheidungen treffen können – für oder gegen die Proteste.
Das Spannende am Jahr 2020 war, dass es keine Strategien gab, keine Anweisungen. Niemand hat die Menschen bei den Protesten angeführt, sie sind alle von sich aus zu den Demonstrationen gegangen. Die einzige Prämisse war die Selbstverantwortung der Menschen. Wenn jemand nicht Lukaschenko gewählt hat und mitbekam, wie viele andere noch für Tichanowskaja gestimmt haben, aber dann mit den gefälschten Wahlergebnissen konfrontiert wurde, konnte er selbst entscheiden, was zu tun war. Er wusste, was man ihm als Wahrheit verkaufen wollte und dass er angelogen wurde. Am nächsten Tag ist dieser Mensch auf die Straße gegangen, um für seine eigene politische Meinung einzustehen, um zu zeigen, dass ihm seine Stimme gestohlen wurde.
Das Hauptthema im August 2020 war die Entmündigung der Wähler und Wählerinnen, sie wurden für dumm verkauft. Das Internet wurde abgeschaltet, die Menschen konnten sich nicht digital verabreden, deshalb ist jeder von sich aus auf die Straße gegangen. Es ging eindeutig um Selbstbestimmung. Die Massen sind auf die Straßen gegangen, und wir, die Anführer und Anführerinnen, sind ihnen gefolgt.«
Wolha kennt persönlich an die einhundert Menschen, die aktuell inhaftiert sind. Anfang 2022 wurden in Belarus 960 politische Häftlinge von Menschenrechtsorganisationen registriert.
»Am 21. August haben wir Siarhej Delauskij, ein Mitglied des Koordinierungsrats und Ingenieur bei Minski Traktorny Sawod, einer Traktorenfabrik, wo gerade gestreikt wurde, begleitet. Wir wollten die Streikenden unterstützen. Vor den Toren der Fabrik haben OMON-Polizisten bereits auf uns gewartet, anscheinend wussten sie, dass wir kommen würden. Ein Gefangenentransporter parkte in unserer Nähe, und die OMON-Männer meinten, dass sie uns jetzt mitnehmen würden. Ich habe protestiert und angedroht, gegen unsere Festnahme juristisch vorzugehen – ich habe es ihnen nicht einfach gemacht, ich kenne meine Rechte. Trotzdem wurden wir gezwungen, in den Gefangenentransporter zu steigen, dann wurden wir zu einem KGB-Bezirksbüro gebracht. Auf dem Weg habe ich versucht, meinen Anwalt zu erreichen. Während ich telefonierte, hat mir ein OMON-Polizist das Handy aus der Hand geschlagen, es flog zu Boden, und danach konnte ich niemanden mehr anrufen, auch meine Eltern konnte ich nicht über meinen Verbleib benachrichtigen.
Alles, was ich bei mir hatte, wurde konfisziert, meine Fingerabdrücke wurden abgenommen. Ich durfte mir danach sogar die Hände waschen. Wir haben dort sehr lange sitzen müssen, wahrscheinlich, weil die Beamten in der Zeit die Unterlagen für die Anklage vorbereitet haben. Merkwürdig fand ich, dass die OMON-Polizisten auf mich aufgepasst haben, das ist eigentlich nicht ihre Aufgabe. Sie machen ihre Arbeit auf der Straße, dazu gehört, einen auf die Polizeiwache zum Verhör zu bringen und dann wieder zu gehen. Dass sie so lange bei mir geblieben sind, war seltsam und unverständlich.
Ich habe mich selbstbewusst, jedoch nicht aggressiv verhalten. Im Gegenteil, ich war neugierig, mit wem ich es zu tun hatte. Also habe ich mit ihnen eine Unterhaltung angefangen. Nach einer Weile habe ich allerdings bemerkt, dass sie nicht mehr mitkamen, sie haben mit anderen getauscht. Anscheinend hatte ich sie unter den Tisch geredet. Einer normalen Unterhaltung mit einer politisch Andersdenkenden waren sie nicht gewachsen. Für sie folgt alles einem bestimmten Muster, und wenn du nicht in dieses Muster passt, wenn du es sprengst – sprengst du die Welt der Staatsdiener. Sie sollten mich als dumm, gefährlich, verantwortungslos wahrnehmen, doch ich bin ihnen anders entgegengetreten, ich habe sie nicht als Feinde, sondern als Bürger angesprochen. Man konnte regelrecht dabei zusehen, wie es bei ihnen im Kopf ratterte, dass die Situation sie herausforderte. Das war gut und wichtig, denn so wurde ihnen klar, dass wir keine Feinde sind, dass wir alle gleich sind.
Statt eines Konflikts suchte ich den Dialog mit ihnen. Ich konnte sehen, wie sich etwas bei ihnen veränderte. Man hat mir sogar etwas zu essen gebracht, einen Apfel. Eine junge Frau, vielleicht eine Sekretärin, hat mir Wasser gereicht, sie kam immer wieder zu mir, und ich sah ihr an, dass sie die OMON-Männer nicht leiden konnte. Sie hatte ihre dienstlichen Aufgaben zu erfüllen, aber an ihrem Verhalten konnte ich erkennen, dass sie insgeheim auf der Seite der Protestierenden stand. Das war tröstlich, dass es auch innerhalb des Staatsapparats Menschen gibt, die nicht mit der Macht konform gehen. Wir wissen nicht, welchen Einfluss sie nehmen können, auch ist ihre Anzahl unbekannt, aber es gibt sie.
Während ich auf der Wache saß, habe ich ein Gespräch mit angehört, das hinter der Wand geführt wurde. Der Beamte sagte zu jemandem am Telefon, dass man mich nach Paragraf 216 verurteilen wolle, also für die Organisation einer verbotenen Versammlung. Sein Gesprächspartner muss ihm aber entgegnet haben, dass das nicht ausreiche und mir ein weiteres Vergehen angehängt werden solle, zum Beispiel Widerstand gegen Polizeibeamte. Der Beamte antwortete nämlich: ›Nein, sie hat keinen Widerstand geleistet.‹ Sein Gegenüber schien aber Druck zu machen, dass man mir auch dieses Vergehen unbedingt in die Akte schreiben sollte.
Dabei gibt es einen Beweis, ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie ich widerstandslos in den Gefangenentransporter steige. Aber irgendein Vorgesetzter wollte wohl mehr Anklagepunkte gegen mich.
Gegen Abend hat man mich zu einem Polizeitransporter mit vergitterten Fenstern geführt. Wir sind zum Gefängnis Akrestina gefahren, und ich wusste, dass ich nach außen ein Zeichen geben musste, dass ich in diesem Wagen saß. Inzwischen wussten alle Journalisten, dass ich verhaftet worden war. Außerdem wurden an diesem Tag keine anderen Personen von der Polizeiwache in meinem Bezirk zum Akrestina-Gefängnis transportiert. Es konnten sich also alle denken, dass ich in diesem Wagen saß. Ich habe den Vorhang am Fenster ein Stück zur Seite geschoben und meine Hand gegen das Gitter gedrückt. Freunde von mir fuhren neben dem Polizeiwagen her, und auch meine Eltern waren in einem anderen Auto in der Nähe. Intuitiv müssen meine Familie und meine Freunde gespürt haben, dass ich in dem Transporter sitze, sie haben das mitbekommen.«
Wolha versagt die Stimme, sie setzt ihre Brille ab, und Tränen fließen ihr über das Gesicht. Ich versuche mir diese Fahrt vorzustellen, ihre Hand am Fenstergitter, ein stummes Zeichen des Abschieds an ihre Freunde und ihre Familie.
»Weißt du, das war der letzte Kontakt mit meinen Eltern, ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen … Es überwältigt mich gerade, dieses Gefühl von Verlust. Es ist so schwer, davon zu erzählen … Anderthalb Jahre haben wir uns nicht gesehen.«
Nach einer Pause setzen wir das Interview fort. Wolha bemüht sich, sachlich zu bleiben, aber ich weiß nun, welche Spuren die Erlebnisse vom August 2020 bei ihr hinterlassen haben. Sie spricht über Akrestina, das berühmt-berüchtigte Gefängnis von Minsk, vor dem sie wenige Tage vor ihrer Verhaftung einen Aufstand verhindert hatte. Nun wurde sie selbst dort eingesperrt, zunächst für zehn Tage.
»Ich war allein in der Zelle. Sie war dreckig, zugemüllt, auf dem Boden lagen lauter Dinge, Plastikflaschen, gebrauchte Taschentücher, Zeugs. Ein Albtraum war das. Ich habe um einen Besen gebeten, in diesem Dreck wollte ich nicht sitzen. Ich bekam einen Besen, ich durfte kehren, und danach wurde mir sogar Tee angeboten. Ich hatte auch eine Matratze, ein Kissen und eine Decke, alles nicht besonders sauber, aber immerhin. Am Abend bin ich einfach umgefallen, so müde war ich. Überhaupt habe ich die meiste Zeit dort schlafend verbracht, wahrscheinlich hat mein Körper diese Strategie gewählt, um dem Druck standzuhalten.«
Ich bin überrascht, dass Wolha ihre Matratze tagsüber behalten durfte. Andere ehemals inhaftierte Frauen erzählten mir, dass ihnen die Matratzen um 22 Uhr ausgehändigt wurden und sie diese um 6 Uhr morgens wieder abgeben mussten.
»Ich glaube, im August 2020 war man sich nicht sicher, wer den Kampf um die Führung des Landes tatsächlich gewinnt. Man hat mich einigermaßen gut behandelt, weil ich eine politisch wichtige Person war. Niemand wusste, was die folgenden Wochen bringen würden. Auf der Straße gingen die OMON-Polizisten aggressiv vor, doch in den Zellen war es damals noch nicht so schlimm, vor allem nicht gegenüber den politischen Anführern. Im September wurde es aber schon unangenehmer. Mein Prozess fand digital statt, über Skype. Ich wurde zu zehn Tagen Haft verurteilt, das war nicht viel. Fünf Tage für das eine Vergehen und weitere fünf Tage für das angeblich andere Vergehen. Ein Tag nach dem Urteil wurde ich in das Gefängnis Schodino gebracht, es liegt ungefähr 60 Kilometer außerhalb von Minsk. Die Fahrt dorthin im Avto-Zak, einem Gefangenentransporter, war sehr unbequem. In der Kammer, in die man eingesperrt wird, kann man sich kaum setzen oder bewegen, so eng ist es. In dem Fahrzeug gibt es nur oben ein kleines vergittertes Fenster, man bekommt kaum Luft. Es war eine schlimme Fahrt, ich litt unter klaustrophobischen Zuständen.
In Schodino war ich auch wieder allein in einer Zelle. In den nächsten Tagen gab es neue Protestaktionen und Verhaftungen, sodass viele Männer ins Gefängnis gebracht wurden, Frauen wurden damals noch nicht verfolgt. Für mich war interessant, wie unterschiedlich die Gefangenen behandelt wurden, nämlich abhängig von ihrem Status. Ich bin eine bekannte Person, mir wurde keine physische Gewalt angetan – damit war ich fast eine Ausnahme.
Nur ein paar Tage später wurde es in Schodino unerträglich, die Zellen waren überfüllt, die Inhaftierten wurden geschlagen, sogar gefoltert. Viele von ihnen werden ein Trauma davontragen und noch lange nach ihrer Freilassung darunter leiden. Aber oft ist es so, dass man sich mit den traumatischen Erfahrungen nicht beschäftigen will, das führt jedoch mit der Zeit zu schweren psychischen Problemen.
Es gibt unterschiedliche Arten von Gewalt, auch psychische Gewalt kann sehr grausam sein: Wenn du weißt, dass du unschuldig bist, man dich erniedrigt, du nicht mal ein Stück Papier oder eine Binde bekommst, das Licht nachts nicht ausgeschaltet wird und du nicht schlafen kannst – du fühlst dich so machtlos. Bei mir hat man zunächst auch das Licht angelassen, aber ich habe vehement dagegen protestiert. Ich habe immer wieder gegen die Tür gehämmert und verlangt, dass das Licht ausgeschaltet wird. Erst haben sie behauptet, die Schaltung wäre kaputt. Aber ich habe nicht nachgelassen, alle 20 Minuten bin ich aufgestanden und habe Lärm an der Tür gemacht, bis es in der Zelle schließlich doch dunkel wurde. Man darf nicht aufgeben und keine Schwäche zeigen.«
Eine ähnliche Sicht auf die Dinge hat Inna Trusava, die Therapeutin, die ich ebenfalls interviewt habe. Bloß keine Schwäche zeigen. Aber kann das wirklich jeder? Braucht es dafür nicht eine kämpferische Natur?
Die Tage im Gefängnis sind lang, wenn man allein in der Zelle sitzt. Ich frage Wolha, wie sie sich die Zeit vertrieben hat.
»Ich hatte ein Buch von einer Freundin dabei, aber das war die denkbar schlechteste Lektüre, wenn man eingesperrt ist. Es ging um Psychologie, in einer solchen Situation ist es jedoch nicht möglich, Innenschau zu halten und sich auf intellektuelle Inhalte zu konzentrieren.
Ich konnte das Buch nicht lesen, mir fehlte dafür die Kraft. Im Gefängnis braucht man oberflächliche Romane mit einer spannenden Handlung, die einen ablenken. Wie gesagt, ich habe viel geschlafen. Ich bin auch hin und her gelaufen und habe die Schritte gezählt, immer dreitausend, um in Form zu bleiben.
Es war schrecklich, weil ich wusste, dass draußen gerade viel passiert, und ich wollte dabei sein, meinen Beitrag leisten. Diese zehn Tage, zusammen mit dem Arrest waren es zwölf, waren zwar eine kurze Zeitspanne, aber mir kam es vor wie ein Jahr. Es war schrecklich, von den Mitstreitern getrennt zu sein.«
Einen Tag vor ihrer Freilassung wurde Wolha in ein Büro gebracht, wo ein Staatsanwalt und ihr Anwalt auf sie warteten. Der Besuch war überraschend. Sie sollte verhört werden.
»Ich habe mich sogar gefreut, weil ich tagelang keinen Menschen mehr gesehen und gesprochen hatte, selbst ein Verhör zu meiner politischen Aktivität war da eine Abwechslung für mich. Endlich mit jemandem reden, dachte ich. Drei Stunden haben wir geredet, und am Ende habe ich gesagt, ›was für ein Zeitverlust, Sie sind so weit rausgefahren, um mit mir zu sprechen, dabei bin ich morgen frei und hätte zu Ihnen kommen können, Sie hätten nicht extra nach Schodino fahren müssen‹. Am Abend dieses Tages wurde ich in ein Fahrzeug gesteckt und für die letzte Nacht nach Minsk in das Akrestina-Gefängnis gebracht.«
Das ist üblich bei politischen Gefangenen, niemand soll wissen, wo sie entlassen werden, damit ihre Familien und Freunde oder auch Journalisten sie nicht vor den Toren der Haftanstalt empfangen können. Manchmal wird jemand auch irgendwo in der Stadt freigelassen, meist ohne Geld und Telefon, sodass er niemanden benachrichtigen kann und schauen muss, wie er nach Hause kommt. Manche bitten dann eine fremde Person, deren Telefon benutzen zu dürfen.
»Auf der Fahrt zum Akrestina-Gefängnis bekam ich meine Tasche zurück, ich habe sofort gesehen, dass mein Handy fehlte. Man wollte mir dazu nichts sagen. Also war ich ohne Telefon. Im Akrestina war ich nicht mehr allein in der Zelle. Es war direkt nach den Protesten der Studierenden in Minsk, und es wurden nun auch mehr Frauen ins Gefängnis gebracht. Wir waren zu sechst, fünf Studentinnen und ich. Ich muss sagen, es war ein schöner Abend. Ich habe gesehen, dass eine neue Generation herangereift ist, die auf keinen Fall die alte Ordnung unterstützen wird. Dieses Zusammentreffen mit den jungen Frauen war sehr wichtig für mich, weil wir, die politischen Anführerinnen und Anführer, keine Umfrageergebnisse über die Stimmungen in der Gesellschaft besaßen. Wir konnten nur Vermutungen anstellen.
Eine der jungen Frauen war zuckerkrank, sie brauchte Insulin. Das war bekannt, und trotzdem wurde sie für 24 Stunden in Arrest genommen. Ihr ging es schlecht, sie hätte dringend ihr Medikament gebraucht, aber man hat ihr nicht geholfen.
Aus den Gesprächen mit den Studentinnen über die aktuelle Situation draußen habe ich geschlossen, dass ich vielleicht doch nicht so schnell freikomme, wie es mir zugesagt worden war, denn die Repressionen gegenüber den Protestierenden hatten zugenommen, und ich gehörte zu den Führungspersönlichkeiten.
Die Studentinnen waren sehr herzlich, sie meinten, wenn sie wieder draußen wären, würden sie auf ihre Plakate für die Demos schreiben: ›Wir haben mit Kawalkowa gesessen‹. Nicht dieser Spruch war für mich wichtig, sondern die Tatsache, dass sie, die gerade inhaftiert waren, noch in der Zelle ihre nächsten Proteste planten.
Wir gingen davon aus, dass ich am nächsten Tag entlassen werden würde, und haben überlegt, wie ich ihre Familien über ihren Verbleib informieren könnte. Das Problem war, wir hatten keinen Stift, nichts, womit wir etwas hätten notieren können. Schließlich kamen wir auf die Idee, mit Bonbons die Telefonnummern aufzuschreiben.«
Um ein Uhr nachts wurde Wolha geweckt und aus der Zelle geführt. Auch dies eine Taktik, um Gefangene zu verunsichern.
»Von einem Staatsanwalt wurde mir mitgeteilt, dass ich länger inhaftiert bleiben würde. Was für ein Blödsinn, mich deshalb mitten in der Nacht zu wecken! Das waren doch auch für den Staatsanwalt unmögliche Arbeitszeiten. Ich verstehe bis heute nicht, warum mir mitten in der Nacht diese Nachricht überbracht werden musste. Vielleicht, um mich zu ärgern. Das war ihnen jedenfalls gelungen, denn ich konnte danach nicht wieder einschlafen.
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