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Andrea Harmonika leidet unter emotionaler Inkontinenz, faltet Jugendliche im Schwimmbad zusammen und zieht in ihrer Freizeit liebevoll Gemüse groß, das ihre Kinder dankend ablehnen. Manchmal fragt sie sich, ob aus ihnen wirklich verpimpelte Sitzpinkler werden, wenn sie auf jeden Kratzer ein Piratenpflaster klebt und findet, dass früher alles anders, und nicht besser war.
Brüllend komisch und mit schmerzlich hoher Treffsicherheit nimmt die 2-fache Mutter jeden noch so wunden Punkt ihrer Elternschaft aufs Korn. Ein Muss für alle Eltern und solche, die es werden wollen.
"Bei ihren Texten hat man oft Tränen in den Augen - meistens vor Lachen, manchmal vor Rührung, aber jedes Mal treffen sie mitten ins Herz."
Danielle Graf von "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn."
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2018
Andrea Harmonika leidet unter emotionaler Inkontinenz, faltet Jugendliche im Schwimmbad zusammen und zieht in ihrer Freizeit liebevoll Gemüse groß, das ihre Kinder dankend ablehnen. Manchmal fragt sie sich, ob aus ihnen wirklich verpimpelte Sitzpinkler werden, wenn sie auf jeden Kratzer ein Piratenpflaster klebt und findet, dass früher alles anders, und nicht besser war. Brüllend komisch und mit schmerzlich hoher Treffsicherheit nimmt die 2-fache Mutter jeden noch so wunden Punkt ihrer Elternschaft aufs Korn. Ein Muss für alle Eltern und solche, die es werden wollen.
Andrea Harmonika versucht, die Netzgemeinschaft nicht ausschließlich mit ihren Familiengeschichten zu langweilen und befasst sich deshalb auch mit brandaktuellen Themen wie Naturkautschuk, Star Trek oder Bordsteinabflachungskanten. Manchmal schreibt sie auch ganz mädchenhaft über Liebe oder anderen sentimentalen Firlefanz wie Fußball.
ANDREA HARMONIKA
Jedem Anfang wohnt ein verdammter Zauber inne
Vom Sinn und Unsinn mit Kindern
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Büntig
Illustrationen Innenteil und Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Unter Verwendung von Motiven von © getty-images/PeopleImages und © shutterstock: Feaspb | Vladimir Wrangel | Derek Hatfield | Robles Designery | StockphotVideo
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-4988-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für die drei Vollgasnarrischen.
Ohne die mein Herz und die folgenden Seiten leer wären.
Können Sie sich noch an die ersten Worte Ihres Kindes erinnern? Also nicht das gebrabbelte Silbengefasel, von dem nur Eingeweihte wussten, dass es sich bei »Itti«, »Nanie« oder »Hu-Hie« um Autoschlüssel, Zwieback und Tante Judith handelte. Ich meine das allererste, klar verständliche Wort. Das Wort, das sich seinen Weg direkt durch Ihre Ohren ins Herz gebahnt hat. So wie Ball. Oder Papa. Oder Tee. Oder Tor. Und als Sie schon befürchteten, Ihr Kind könne wohlmöglich eher das Wort Interphasenspulenspanner aussprechen, war es schließlich so weit. Einem kräftigen Kopfstoß unter der Tischplatte sei Dank hörten Sie es endlich. Das langersehnte Wort, mit dem Ihr schreiendes Kind die zu Hilfe eilende Oma zur Seite schubste: MAMAAAAAA. Na also. Geht doch.
»Und wie soll dein Schäfchen heißen?«
»Ga-da-fi.«
Wenn Kinder anfangen zu sprechen, wird vieles leichter. Zwar können sie sich auch vorher mit Lauten, Gesichtsausdruck und Gebaren Gehör verschaffen (wenn Sie einmal für die Ernährung eines Säuglings zuständig waren, wissen Sie das). Trotzdem funktioniert jede Erweiterung des kindlichen Wortschatzes wie ein Update. Je mehr Wörter ein Kind spricht, desto benutzerfreundlicher wird es. Und lustiger. Denn mit Babys haben Sie zwar viel zu lächeln. Richtig was zu lachen haben Sie aber erst, wenn die Kinder sich zum ersten Mal vom Christkind »Cockporn« wünschen. So schnell können Sie dann gar nicht mehr Tagebuch führen, wie Ihre Kinder behaupten, die Oma hätte »Magen-Darm-Gyros« oder dass Die drei Fragezeichen Justus, Dieter und Bob heißen.
Allerdings bringt die Sprachentwicklung auch gewisse Nachteile mit sich. Zwar ist es sehr schön, wenn Ihnen Ihr Kind endlich sagen kann, wo der Schuh gerade drückt. Aber spätestens wenn auch die letzte Erzieherin im Kindergarten weiß, an welchen Stellen sich die Mama überall rasiert, waren rückblickend die Zeiten, in denen die Kleinen gemütlich vor sich hin gesabbert haben, eigentlich auch ganz schön.
Ach ja, damals. Das waren noch Zeiten. Als Ihnen Ihr Kind bei der Einschlafbegleitung unvermittelt über das Gesicht gestreichelt und »Schlaf schön, Spätzchen« zugeflüstert hat. Und kaum einen Kopf größer hüpft es plötzlich im Einkaufswagen auf und ab und ruft »Dreh dich, knick dich, fick dich!« durch den Laden. Und während Ihnen vor Schreck fast der Fairtrade Bio-Honig aus der Hand rutscht, studiert das ältere Kind in der Zwischenzeit die Ekelfotos auf den Zigarettenschachteln an der Kasse und muss anschließend auf dem Supermarktparkplatz davon abgehalten werden, mit wildfremden Rauchern über blutigen Husten zu diskutieren.
»Aber Mama, vielleicht wissen die das nicht.«
»Doch die wissen das.«
»Aber warum machen die das dann?«
»Warum hast du denn gestern deinen Bruder mit dem Ärmel an die Werkbank getackert?«
Das soll natürlich nicht heißen, dass alle Kinder automatisch gleich gesprächig sind. Tatsächlich hat der Große eine beste Freundin, die bereits seit vier Jahren bei uns zu Hause ein- und ausgeht, aber erst seit zwei Jahren Fragen wie: »Alles im Lack?« oder »Möchtest du auch was trinken?« mit mehr als einem Grunzen beantwortet.
Was aber ausnahmslos alle Kinder, ob nun mitteil- oder schweigsam, eint, ist ihr Humor. Der kennt nämlich mit zunehmender Sprachkompetenz keine Grenzen. Vor allem keine zeitlichen. Nichts, ich wiederhole, nichts dauert so lange wie ein Witz, den Ihr Kind Ihnen »noch schnell« vor dem Mittagessen erzählen will.
»Es war einmal ein Mann.
Nein, eine Frau.
Nein, ein Mann.
Der war Jäger.
Nein, Lehrer.
Nein, Jäger.
Es war einmal ein Jägermann …«
Das eigentliche Problem mit Jägermann-Witzen ist aber gar nicht so sehr ihre Länge. Immerhin sind Ihre Kinder ja beschäftigt, während Sie selbst in aller Ruhe den Tisch decken, das Essen verteilen, sich hinsetzen, selbst essen, wieder abräumen, den Geschirrspüler einschalten und unter dem Tisch die Reste zusammenfegen. Das Problem sind die scheiß Pointen. Erstens sind die nie lustig und zweitens ab dem dritten »Es war einmal ein Jägermann« auch genauso vorhersehbar wie die Sauerei, die ein Beikostkind veranstaltet, wenn es sich selbst Wasser einschütten will.
Aber es hilft nichts. Da müssen Sie als Eltern durch. Denn wer möchte schon demoralisierte Kinder großziehen (oder ihnen für den Rest des Lebens das Wasser reichen müssen)? Also Backen zusammenkneifen und loslachen. Nicht zu übertrieben. Nicht zu lang. Ein einfaches, kurzes Fake-Lachen mit einer Prise Überraschung reicht. Das können Sie! Alle Eltern können das. Himmel, einen Cent für jede Mutter, die schon mal beim Mittagessen eine Pointe vorgetäuscht hat.
Ganz anders sieht es hingegen mit spontanen Witzeinlagen aus. Denn im Gegensatz zum geplanten Witz geraten die fast immer außer Kontrolle. Vor allem abends, wenn Sie Ihre Kinder eigentlich dazu bringen wollen, sich einen Schlafanzug anzuziehen, das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Das alles können Sie sich nämlich abschminken, wenn kurz zuvor das Wort »Powolle« gefallen ist. Glauben Sie mir, sobald nach 18 Uhr irgendwer das Wort »Powolle« ausspricht, hat wirklich niemand mehr die Absicht, mehr als eine Socke allein auszuziehen.
Auch hier gilt wieder: Mit einem Säugling kann Ihnen das nicht passieren. Die sind gegen »Powolle«, »Kacksaft« oder »Pimmelpammel« vollkommen immun (so lange Sie Ihre Gesichtszüge unter Kontrolle haben). Säuglingshumor ist nämlich regulierbar. Er unterliegt strengen Regeln, die Ihnen helfen, den Spaß zu kontrollieren. Zum Beispiel, indem Sie das Geschirrtuch einfach auf die Seite legen und verstummen. Denn wo kein Kuckuck – da kein Hihi. So einfach ist das. Oder besser gesagt: war das.
Beim Sprechling können Sie den Spaß nicht mehr regulieren. Dieser Zug ist spätestens ab dem ersten Drei-Wort-Satz abgefahren. Erst recht, wenn er Verstärkung von einem anderen Sprechling bekommt. Und wenn die sich dann erst einmal gegenseitig auf die oberste Eskalationsstufe hochgewitzt haben, hilft erfahrungsgemäß nur noch eines: abwarten. Das ist natürlich doof. Vor allem, wenn es schon spät ist und die in Spielplatzsand panierten Kinder eigentlich noch duschen sollten. Aber was soll’s. Bis sich das Humorzentrum Ihrer Kinder wieder beruhigt hat, können Sie in der Zwischenzeit ja etwas Sinnvolles tun. Zum Beispiel die Waschbecken saubermachen oder den angetrockneten Grind von den elektrischen Zahnbürsten runterkratzen. Immerhin warten Sie ja im Badezimmer ab. Dem potenziell versifftesten Raum jeder Durchschnittsfamilie.
Während Sie die Wartezeit sinnvoll nutzen, sollten Sie sich allerdings an die drei folgenden Deeskalations-Regeln halten:
Wiederholen Sie auf Anfrage keine verdächtigen Substantive!Lassen Sie sich nicht von Toilettengesängen wie »Jungs sind super – Mädchen sind puper« zu einer Diskussion über Geschlechterstereotype hinreißen!ZIEHEN SIE UM HIMMELS WILLEN AN KEINEM FINGER – sonst stehen Sie nämlich morgen früh immer noch neben der Toilette und winken mit dem Schlafanzug.»Sag mal Marsch … Sag mal Marsch … och bitte, Mamaaaa!«
Also warum genau waren Sie noch einmal so erpicht darauf, dass Ihre Kinder sprechen lernen? Denn mal ehrlich, entweder nutzen Kinder ihren nah am Lacher gebauten Wortschatz, um Sie zu veralbern,
»Welches Buch soll ich dir vorlesen?«
»Hans Kackmann im Wunderglück.«
Sie zu verpfeifen,
»Guck mal Oma, hier ist die Mama letztens geblitzt worden. Dabei hat sie sich soooo erschrocken, dass sie ihr Handy quer durch das Auto geworfen hat.«
oder aber um Sie irgendwann mit Ihren eigenen Waffen zu schlagen:
»Wieso? Dein Schreibtisch sieht doch genauso aus!«
Und was die Humorbereitschaft Ihrer Kinder angeht, glauben Sie bloß nicht, dass für Elternwitze dieselben Regeln gelten wie für »Powolle«. Ihre Kinder mögen 20 Minuten lange Lachtränen über einen Zeichentrick-Hai vergießen, der eine Hyäne und einen Einsiedlerkrebs um eine Vulkaninsel jagt. Aber sobald Sie sich ihnen mit hocherhobenem Wischmop zwischen Hausflur und frisch gewischter Küche in den Weg stellen und rufen: »Zurück zu den Schatten, Flamme von Udun! DU! KANNST! NICHT! VORBEI!«, dann heißt es plötzlich: »Mama, lass den Scheiß!«
Deshalb werden mir Eltern von erfahrenen Sprechlingen am Ende dieses Kapitels auch sicher beipflichten, dass wir statt Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln lieber Warnhinweise auf »Meine ersten Wörter«-Bücher kleben sollten. Wenn Sie jetzt allerdings neben einem schlafenden Baby liegen, dann haben Sie natürlich erst einmal allen Grund zur Vorfreude. Immerhin wird dieser kleine, duftig-zarte Engel Sie eines Tages zum ersten Mal bei Ihrem Namen nennen und Ihnen irgendwann sagen, dass er Sie liebt.
Aber vergessen Sie nicht: Derselbe kleine, duftig-zarte Engel wird den Leuten in der Warteschlange beim Bäcker auch in ein paar Jahren von den »schönen flauschigen Haaren« an Mamas Beinen erzählen oder Ihnen bitterste Vorwürfe machen, sobald er Sie und Ihren Mann freitagabends in flagranti auf der Wohnzimmercouch erwischt.
Großer (7): »Ihr esst hier ohne uns Chips?! Wie gemein!«
Kleiner (4): »Gemein ist gar kein Ausdruck!«
»Meine Mama sagt immer, dass Wölfe Pudding in Häuser werfen.«1
Kennen Sie auch den Spruch: »Betrunkene und kleine Kinder sagen immer die Wahrheit«? Keine Ahnung, wer sich diese Binsenweisheit ausgedacht hat, aber auf meine Familie trifft es nicht zu. Als wir beispielsweise letztes Jahr nach dem Karnevalsumzug nach Hause kamen, rief der Franz beim Betreten des Hausflurs überglücklich: »Ich bin unzerstörbar!« und lag keine fünf Minuten später auf dem Sofa im Tiefschlaf. Und unsere Kinder beantworten mir beim Betreten eines neuen Tatorts, also eines überschwemmten Badezimmers oder einer verqualmten Küche, sofort alle überhaupt noch nicht gestellten Fragen mit »Das war ich nicht, das war schon so«.
Das war ich nicht, das war schon so … Die einzigen Menschen, die diesen Satz vermutlich öfter zu hören bekommen als Eltern von kleinen Kindern, sind Kinder von alten Eltern, die bei der telefonischen Fernwartung ihres PCs Stromkabel »Schnüre« und den Router »kleine schwarze Blinkekiste« nennen.
Aber zurück zum Nachwuchs. Ganz gleich, ob absichtlich oder unwissend, aus Scham oder Spaß: Kinder lügen wie gedruckt. Alle. Vor allem die kleinen. Die haben nämlich recht zackig raus, dass man mit der Flunkerei vor allem verbotene Handlungen verschleiern kann. Zwar stellen sie sich am Anfang noch recht plump an, sobald sie mit der Captain-Sharky-Stempelspur auf den Küchenschränken konfrontiert werden (»Warsnis. Papamacht.«), aber irgendwann haben sie alle den routinierten Lügenbogen raus.
Wer hat an der Uhr gedreht? Oder faustgroße Polyethylenstücke aus der Schwimmnudel gebissen? Warum ist der ganze Hausflur voll Sand, wo doch niemand mit den Schuhen ins Haus gelaufen ist, und wieso wird im Stuhlkreis eigentlich behauptet, ich würde morgens meine Familie mit »Hallo ihr Kacka« wecken und zum Abendbrot »Kaffeeschaum und Kekse« servieren? All das ist genauso frei erfunden, wie der Einbruch bei Oma, bei dem die Diebe sämtliche »Stromrohre auseinanderverschraubt und schrottgemacht« haben, oder dass ich die neue Fleecejacke selbst genäht, und die blau weißen Streifen mithilfe von »auflösenden Federn eingebügelt« hätte. »Magische Phase« lautet dann die Diagnose der Erzieherin (auch wenn ich mich eher frage, ob die Stadtwerke vielleicht aufgehört haben, unser Trinkwasser zu filtern).
Wenn der Kleine also nicht gerade entwicklungsgerecht vor sich hin halluziniert, behauptet er auch gerne »ein schlimmes Autschi« zu haben, sobald es ans Aufräumen geht, oder dass sich das lose Kilo Parboiled Reis ganz von allein im Küchenschrank verteilt habe. Dasselbe Kind behauptet allerdings auch, dass es »dreitausend Kilograd« wiegt und ich ihm morgens immer die Reste vom Frühstückstisch in die Brotdose packen würde. (Was schon deshalb gelogen ist, weil die Tischreste für gewöhnlich mein Frühstück sind.)
Größere Kinder lügen da schon diffiziler. Zum Beispiel fangen sie alle irgendwann an, gebetsmühlenartig zu behaupten, dass die Eltern von X, Y und Z alles, wirklich alles erlauben, was in den eigenen vier Wänden verboten ist. Außerdem haben sie nie eine Erklärung, warum die kleineren Geschwister plötzlich heulen, und keinen, wirklich keinen blassen Schimmer, weshalb auf einmal alle Mario-Kart-Spielstände seit 2008 gelöscht sind. WÄHRENDSIEAUFDEMCONTROLLERHERUMDRÜCKEN!
Das war ich nicht, das war schon so … Die einzige Antwort, die tatsächlich noch weniger Wahrheitsgehalt hat als dieser Satz, ist »gleich«. »Gleich« ist eine der schlimmsten Lügen. »Gleich« bedeutet nämlich praktisch »nie« und ist sozusagen der verbale Mittelfinger Ihres Kindes.
»Wann fängst du mit den Hausaufgaben an?«
»Gleich.«
»Wann räumst du dein Zimmer auf?«
»Gleich.«
»Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Gleich.«
Es ist zum Haareraufen! Dabei ist Lügen ja streng genommen ein Zeichen von Intelligenz. (Obwohl ich diese Theorie bezweifle, wenn der Kleine mir verklickern will, dass unser Babysitter lauter abgeleckte Nutella-Löffel in die Besteckschublade gelegt habe.) Und nicht nur das. Rein wissenschaftlich gesehen ist Lügen sogar eine überlebenswichtige Fähigkeit. Tatsächlich gibt es in der Tier- und Pflanzenwelt eine ganze Reihe erfolgreicher Bescheißer. Zum Beispiel die völlig harmlose Schwebfliege, die mit ihrem gefährlich gemusterten Hintern so tut, als wäre sie eine Wespe. Funktioniert bei mir prima. Das können Sie jeden Sommer beobachten, wenn ich wild fuchtelnd durch den Garten renne. Oder aber eine bestimmte Orchideenart, die den Duft und das Popowackeln einer Bienenkönigin auf Hochzeitsflug nachahmt und so fälschlicherweise Drohnen dazu bringt, ihren Rüssel in sie hineinzustecken2.
Auch wenn Lügen also rein soziologisch betrachtet das Vertrauen schwächen, stärken sie zumindest vom biologischen Standpunkt aus unsere Überlebens- und Vermehrungschancen. Und das wiederum erklärt am Ende auch, weshalb die schlimmsten Lügner in Ihrer Familie gar keine kurzen Beine haben. Na? Klingelt da etwas bei Ihnen? Vielleicht das Christkind? Der Osterhase? Oder die Zahnfee? Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal behauptet: »Die Strohhalme waren alle ausverkauft«, weil vor Ihrem inneren Auge bereits ein klebriger Fußbodenfilm mit Ihnen auf allen vieren in der Hauptrolle ablief? Oder haben so getan, als würden Sie immer noch das Baby einschlafstillen, obwohl dem bereits seit 20 Minuten Ihre Brust nur noch unmotiviert im Mundwinkel hing? Und alles nur, weil der Lautstärke nach zu urteilen Ihr Mann auf dem Flur immer noch mit Schlafanzug und Zahnbürste in der Hand hinter dem älteren Geschwisterkind herrannte. Und wo wir gerade bei schlafenden Kindern sind: Wie oft haben Sie in Ihrem Wöchnerinnenleben am Telefon den »Ich muss auflegen – das Baby ist wach!«-Joker gezogen, obwohl Sie eigentlich nur auf der Couch weiterdösen wollten, bis das Baby tatsächlich wieder wach war? Oder aber haben Ihren Kindern leise in der Adventszeit zugeflüstert, dass sie nun auf keinen Fall mehr aufstehen dürfen, weil die Mama jetzt nach unten geht und Weihnachtswerkstatt macht, während sie den Rest des Abends in Wirklichkeit nur die Füße hochgelegt und Serien geguckt haben.
Sie schütteln jetzt den Kopf? Solche Sachen tun Sie nicht, weil das moralisch fragwürdig ist? Da gebe ich Ihnen Recht und jedes Mal, wenn mich meine Kinder fragen, was ich da im Mund habe und ich mit vollem Mund »Porree« antworte, fühle ich mich schlecht. (Und nicht nur, weil ich dann ein komplettes Snickers mit geschlossenem Mund zu Ende kauen muss.) Aber schließlich muss ich ja nicht nur das Überleben unserer Spezies, sondern auch das meiner Nerven sichern. Und das kann ich nur, wenn in genau diesem Flutschfinger jetzt leider, leider Alkohol drin ist.
Ist das eine logische Entscheidung?
Nein, eine menschliche.3
›Wie gut, dass ich nicht da oben stehe‹, denke ich jedes Mal, wenn ich mit den Kindern Die Eiskönigin schaue. Ansonsten würde nämlich immer an der Stelle, wo Königin Elsa hoch oben auf dem Berg ihre Krone in den Schnee wirft und »Ich bin frei« singt, mein nasses Gesicht zufrieren. »Mama heult wieder«, sagt der Große dann zum Kleinen, und er sagt dies mit derselben Begeisterung, mit der er auch Sätze sagt wie: »Oma hat kein Internet« oder »Heute gibt es Reste von gestern«.
Aber es stimmt. Seit ich Mutter bin, gibt es für mich ständig was zu heulen. Kinderkriegen weicht nämlich nicht nur den Beckenboden, sondern vor allem auch die Psyche auf. Leider wird man auf Letzteres nicht annähernd so gut vorbereitet, wie auf die Tatsache, dass man sich spätestens nach dem zweiten Kind einen Tampon herausniesen kann.
Das geht schon in der Schwangerschaft los. Sobald sich der Winzling erfolgreich eingenistet hat, kommen einem ständig die Tränen. Beim Anblick des positiven Schwangerschaftstests, des ersten Ultraschallbildes oder eines leeren Glases Nutella. Nichts ist vor einem spontanen Gefühlausbruch sicher. Aber auch Väter sind gegen emotionaler Inkontinenz nicht gefeit. Allerdings tritt diese häufig mit einer Zeitverzögerung von etwa 40 Wochen auf. Meistens vor lauter Dankbarkeit, wenn sie das erste Mal ihr Kind im Arm halten (oder weil ihnen die Frau unter der letzten Presswehe nicht die Hand gebrochen hat.)
Während also neugeborene Väter von ihrer ersten postpartalen Gefühlswelle umspült werden, sind Mütter zu diesem Zeitpunkt bereits echte Vollprofis. Zwei Liter Tränen habe ich nach der Geburt des Großen über die ersten Seiten von Henning Mankells Kennedys Hirn in mein Badewasser geheult, weil zu Beginn der Geschichte eine Mutter ihren toten Sohn findet. Das mag verständlich sein. Allerdings habe ich am selben Tag auch zwei Liter Tränen über einen Werbespot vergossen, in dem eine alte Frau ihrem Postboten eine Schachtel Schokoriegel schenkt. Emotionale Inkontinenz kennt nämlich keine rationalen Grenzen. Zumindest im Wochenbett. Danach pendelt sich das Ganze natürlich wieder ein. Außer, Sie stellen sich versehentlich den Tag vor, an dem das schlafende Baby in ihren Armen auszieht. Oder Sie bekommen ihren ersten Tesafilm-Quatschklumpen zum Muttertag geschenkt. Und wenn unterwegs im Radio ein rührseliges Lied läuft, sollten Sie vielleicht auch besser umschalten. Es könnte nämlich gut sein, dass Sie sonst nach zwei Strophen rechts ranfahren müssen, weil Sie vor lauter Mascara-Schmierfilm keine Verkehrsschilder mehr erkennen können.
Ach, machen wir uns nichts vor. Sobald wir Eltern werden, ist nichts mehr vor uns und unserer Knopfdruck-Gerührtheit sicher. Geburtssendung im Fernsehen? Läuft. Ein Orang-Utan-Baby küsst seine Mutter? Mimimi. Ihr Kind ist unterwegs im Kinderwagen mit der Laugenstange im Mund eingeschlafen? Okay, das ist witzig. Aber sobald Ihnen besagtes Kind seinen ersten »Mama is lip«-Zettel schreibt, können wir für nichts garantieren. Überall lauern sie. Momente, in denen kein Auge trocken bleibt. Manchmal kommen sie mit Ankündigung (zum Beispiel mit dem Elternbrief für die Einschulung) oder einfach so ohne Vorwarnung. Ich habe schon aus heiterem Himmel auf allen vieren im Hausflur auf ein Kehrblech geheult. Aber nicht, weil ich kurz vorher wie so ein Anfänger die Kinderschuhe umgedreht hatte, sondern weil sich plötzlich beim Gedanken an den letzten mit Sand gefüllten Kinderschuh mein Herz zusammengezogen hat.
Wobei es natürlich Unterschiede gibt. Nicht jede Mutter verliert automatisch die Nerven, sobald ein einarmiger Kinderchor in einer Casting-Show »Heal the World« von Michael Jackson covert. (Schließlich macht sich auch nicht jede Mutter nach zwei Sprüngen auf dem Trampolin in die Hose.4)
Natürlich gibt es Mütter, die nach der Eingewöhnung nicht erst eine Runde auf dem Kindergartenparkplatz in ihren Kaffeebecher heulen. Und während die einen schwer sentimental werden, sobald sie den ersten Milchzahn ihres Kindes in der Hand halten, erinnern sich die anderen vielleicht einfach nur kopfschüttelnd an die vielen wunden Hintern und schlaflosen Nächte, die das kleine, weiße Scheißerchen verursacht hat.
Aber, um es mit den Worten der Verkäuferin zu sagen, bei der ich letztens neue Trinkflaschen für die Kinder gekauft habe: »Einen hundertprozentigen Auslaufschutz gibt es leider nicht.« Denn spätestens, wenn sie ein paar Jahre später zum letzten Mal die Jacke ihres Kindes vom Birnen-Haken nimmt, knickt auch die coolste Eingewöhnungsmutter ein, und nicht selten wird dann der einen innig geliebten Erzieherin beim Abschied die Schulter bis auf den BH-Träger nassgeheult.
Aber was können wir denn jetzt dagegen tun? Diese unkontrollierte Flennerei ist ja nicht zum Aushalten.
»Buhuuuuu … Schon Schuhgröße 35.«
»Buhuuuuu … Im Internet erkennen Babys ihre Mütter am Geruch.«
»Buhuuuuu … Sie haben mir einen großen Strauß Lavendel gepflückt.«
Nun, als Erstes sollten Sie Ihre Kinder vielleicht daran erinnern, dass der Lavendel in den frisch bepflanzten Blumenkästen unter absolutem Pflückverbot steht.
Zweitens könnten Sie während künftiger Krisensituationen eine Art desensibilisierende Gegenoffensive starten. Wenn Sie also beispielsweise am ersten Schultag Ihrem kleinen Kind dabei zusehen, wie es mit der großen Schultasche auf die Bühne der Grundschulaula klettert, könnten Sie sich in den Oberschenkel kneifen und dabei leise ein Anti-Tränen-Mantra wiederholen. »Hackbratenhackbratenhackbraten …«. (Das funktioniert meistens aber nur so lange, bis der Erste in der Reihe die Nase hochzieht. Emotionale Inkontinenz ist nämlich nicht nur die Pest, sondern leider auch sehr ansteckend.)
Oder aber Sie entscheiden sich für die dritte und letzte Herangehensweise: Es ist Ihnen einfach wurscht, dass Sie jetzt ein Lauch sind. Was soll’s? Dann können Sie halt an Kindergeburtstagen spätestens ab »Wie schön, dass du geboren bist« nicht mehr mitsingen. Lassen Sie Ihren Tränen einfach freien Lauf. Am Ende unserer Nerven lautet nämlich die frohe Botschaft: Das ganze Geheule ist völlig normal.
Tatsächlich hat es nämlich einen tieferen Sinn, warum Sie immer, wenn Sie an den Hasen denken, der Ihnen vors Auto gelaufen ist, sich wünschen, dass dieser keinen Bau mit Jungen hinterlässt. Mutter Natur hat uns nämlich mit voller Absicht verweichlicht. All die sensiblen Antennen, die auf einmal überall aus unserem Boden sprießen, helfen uns nämlich, besser die Bedürfnisse der uns anvertrauten Kinder wahrzunehmen. Diese neugeborene Sensibilität treibt uns an, unsere Kinder in einen festen Kokon aus Liebe und Geborgenheit zu hüllen, in dem sie weder frieren noch hungern (oder aus dem Fenster geworfen werden, sobald sie einen wahnsinnig machen). Deswegen ist am Ende unsere eigentliche Achillesferse nicht der ramponierte Beckenboden, sondern unser Herz. Dieses butterweiche Ding, das plötzlich bei jedem Pipifax dahinschmilzt.
Wenn sich also das nächste Mal Ihr Kind beim Poabputzen an Sie lehnt und flüstert: »Wenn ich groß bin und du klein, dann helfe ich dir auch.«, dann denken Sie einfach an Olaf. Aber nicht an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, das ulkigerweise genauso heißt5, sondern den kleinen Schneemann aus der Eiskönigin. Wie er am Ende des Films ein loderndes Feuer im Kamin entfacht, um seiner Freundin Anna das Leben zu retten.
»Manche Menschen sind es eben wert, dass man für sie schmilzt.«
Wenn es ein Thema gibt, das Eltern völlig zu Recht bis zum Abwinken beweinen, dann ist es ihr Schlafmangel. Schlafmangel ist eine grausame Folter und wird von Herbert Grönemeyer äußerst treffend in seinem 1984er-Jahre-Hit Ich kann nich’ pennen wie folgt beschrieben:
Wir haben wieder die Nacht zum Tag gemacht
Ich nehm’ mein Frühstück abends um acht
Gedanken fließen zäh wie Kaugummi
Mein Kopf ist schwer wie Blei, mir zittern die Knie
Okay, streng genommen heißt das Lied eigentlich Alkohol und rührt in erster Linie die musikalische Werbetrommel für Entzugskliniken. Dennoch kommt man beim Lesen von Textzeilen wie:
Gelallte Schwüre in rot-blauem Licht
Vierzigprozentiges Gleichgewicht
Graue Zellen in weicher Explosion
Sonnenaufgangs- und Untergangsvision
nicht umhin, eine frappierende Ähnlichkeit zwischen dem alkoholisierten und dem schlafdefizitären Zustand zu beobachten.
Damit wir uns richtig verstehen: Wir sprechen hier nicht von überstunden-jetlag-müde. Auch nicht von monströs verkaterten Hundebesitzern, die glauben, sie wüssten wie sich Eltern fühlen, nur weil ihnen ihr Vierbeiner sonntagmorgens um 6 Uhr die Leine aufs Kopfkissen wirft. Wir sprechen von echtem Schlafentzug. Einem Müdigkeitsmarathon, bei dem die kognitiven Fähigkeiten irgendwann so weit heruntergeschraubt sind, dass man sich im Gästebad verläuft und Rezepte für Gyrossuppe in den Gelben Seiten sucht. Denn Nächte mit kleinen Kindern sind wie ein nicht enden wollendes Festival. Nur dass aus drei schlaflosen, fröhlich alkoholisierten Tagen, an denen man zu Klassikern wie Ich verabscheue Euch wegen Eurer Kleinkunst zutiefst über den Rasen getanzt ist, plötzlich 300 schlaflose Nächte werden, an denen man sich lediglich alkoholisiert fühlt und nach der tausendsten Zugabe von Eure watt mit eurer watt verwatt ich zu watt?! den Bandmitgliedern von Tocotronic am liebsten ihre Brillengläser zertreten möchte.
Was im letzten Drittel der Schwangerschaft beginnt, endet mit Kindern, die erst so richtig glücklich zu sein scheinen, wenn mindestens ein Drittel ihrer Körpermasse auf dem mütterlichen Gesicht ruhen.6 Das ist auch der Grund, weshalb sich Mütter tagsüber an die alte Hebammenweisheit »Schlafe, wenn das Baby schläft« halten sollen. Aber das ist leider romantisierter Käse. Denn selbst, wenn wir uns tatsächlich an dieses Wochenbettmantra halten, (also zu schlafen, wenn das Baby schläft – und im Gegenzug natürlich aufzuräumen, wenn das Baby aufräumt), sind die meisten von uns, trotz anhaltender Müdigkeit oft gar nicht in der Lage, das sich bietende Schlaffenster auf Knopfdruck zu nutzen. Tatsächlich liegen viele Mütter mit weit aufgerissenen Augen neben dem schlafenden Baby, während ihnen eine innere Stimme ins Ohr brüllt:
»Du musst jetzt auch schlafen!
J E T Z T!!
J-E-E-E-E-E-E-T-Z-T!!!«
Oder sie nehmen sich vor, noch schnell zu duschen, Zeitung zu lesen, den Korb Wäsche zu bügeln und … huch … zu spät – Kind ist wieder wach. Die gute Nachricht lautet: Man gewöhnt sich an alles. Tatsächlich sind die meisten Eltern nach zwei, drei Jahren in der Lage, mit erstaunlich wenig Schlaf auszukommen. Zwar macht der chronische Schlafmangel mitunter dick, dumm, krank und/oder alt, aber nachdem sich solche Nebenwirkungen ja meistens gerechterweise auf beide Elternteile verteilen, sollte uns dieser Umstand nicht allzu nervös machen. Denn früher oder später tritt die sagenumwobene Phase des Durchschlafens in unser Leben. Der paradiesische Zustand einer durchgängigen, mehr als zehnstündigen Nachtruhe hält tatsächlich irgendwann Einzug in den nächtlichen Familienalltag. Allerdings sollte man an dieser Stelle auch deutlich darauf hinweisen, dass ein Großteil der Kinder zu diesem Zeitpunkt bereits in der Lage ist, sich seine Schuhe selbst anzuziehen. (Ein Umstand, der leider immer noch viel zu oft verschwiegen wird. Suggeriert uns doch unsere Gesellschaft an allen Krabbelgruppenecken und Verwandschaftsenden, dass Eltern nicht durchschlafender Kinder an irgendeiner Stelle versagt haben.)
Jedenfalls kommt jedes Durchschnittskind irgendwann von allein an den Punkt, an dem es relativ verlässlich ein- und durchschläft. (Diesen Kast-Zahn dürfen wir Ihnen an dieser Stelle getrost ziehen.) Und auch das große rosa Hubba Bubba, das lange Zeit als Platzhalter für Ihr beurlaubtes Hirn gedient hat, bildet sich langsam wieder zurück. Jetzt wäre natürlich der ideale Zeitpunkt gekommen, wieder zu alten Schlafmustern zurückzukehren.
Pffz. Von wegen.
Denn die schlechte Nachricht lautet: Die hormonelle Schlaflosigkeit, mit der uns Mutter Natur bedacht hat, damit wir rechtzeitig das hungrige Wolfsrudel bemerken oder unsere Kinder zwölfmal in der Nacht wieder zudecken, geht leider beinahe übergangslos in die senile Bettflucht über. Jetzt wandelt sich der Nachwuchs endlich zum Langzeitschläfer, und was machen wir? Wir bleiben auf. Finden einfach nicht den Weg ins Bett oder liegen dort wach und hängen bis in die Puppen im Internet herum und wundern uns, warum wir am nächsten Morgen Nerven aus Zahnseide haben. Aber bei der Ableistung unserer Freizeitpflicht hat sich unser Biorhythmus nach all den Jahren so sehr auf die Zeitspanne zwischen 22 Uhr abends und zwei Uhr morgens eingependelt, dass es schlichtweg unmöglich scheint, zu diesen Zeiten das Bett aufzusuchen. Nicht einmal den Beischlaf können wir an dieser Stelle zweckentfremden, da dieser den weiblichen Körper bekanntermaßen eher wachrüttelt statt ihn, im Gegensatz zum männlichen Pendant, ins unmittelbare Koma zu befördern.
Mütter durchschlafender Kinder legen sich nicht endlich hin, sondern nähen plötzlich mitten in der Nacht Breitcordpumphosen, recherchieren im Internet potenzielle Inhalte für Adventskalender oder starten einen äußerst unvernünftigen Serienmarathon. Aber damit nicht genug. Plötzlich werden wir morgens sogar vor den Kindern wach. Da liegen wir dann mit unserer vollen Blase und wägen äußerst sorgfältig den Toilettengang ab, da die einmal getätigte Wasserspülung quasi als Weckruf missverstanden werden könnte. Wobei dieses Phänomen meiner Erfahrung nach eher auf die Wochenenden zutrifft. An Werktagen stehe ich nämlich um diese Zeit wild fuchtelnd mit Hose und Zahnbürste in der Hand vor den Kinderbetten und halte einen zehnminütigen Aufstehmonolog, während die ungerührten Nachwuchsnasen einfach weiterschnarchen. Ist das zu fassen? Dieselben Kinder, denen bis vor Kurzem noch das Knacken meines Sprunggelenkes ausgereicht hat, um hellwach-kerzengerade wieder im Bett zu sitzen, stehen ein paar Jahre später schlaftrunken vor dem Badezimmerspiegel und lassen ihre Gedanken fließen. Und zwar zäh wie Kaugummi. Aber der Apfel fällt ja auch nicht umsonst weit vom Stamm.
»Du brauchst nicht auszusteigen, Mama«, meinte der Große neulich auf dem Parkplatz vor der Schule zu mir.
›Hat der mich gerade peinlich genannt?‹, fragte ich mich, als ich mit dem Kleinen weiter Richtung Kindergarten fuhr. Eigentlich dachte ich immer, Kinder wären erst in der Pubertät, wenn man sie dabei erwischt, wie sie heimlich die Flasche Grappa im Eisfach wieder mit Leitungswasser auffüllen. Tatsächlich beginnt die Pubertät aber offensichtlich, sobald Ihr Kind eingeschult wird. Denn spätestens, wenn der frisch gebackene Abschiedskussverweigerer lautstark vor sich hin schimpfend die Treppe hochstapft, weil er für den Religionsunterricht noch »jeden einzelnen der zwölf Scheißkackapostel auf dem Arbeitsblatt ausmalen muss«, wissen Sie, dass die unschuldigen Kindheitstage ab jetzt wohl gezählt sind.
Im Freundeskreis meines Vaters gab es einen Mann, den alle nur den grünen Klaus nannten. Der grüne Klaus war ein Fahrrad fahrender Vollkornbrotesser, der sein Altglas nicht in die Restmülltonne warf. Das mag heute drollig klingen, aber in einer Zeit, in der Asbest-Toaster und FCKW in Haarspraydosen quasi zum guten Ton gehörten, hat das tatsächlich ausgereicht, um jemanden als Ökohippie abzustempeln.
Jedenfalls war der grüne Klaus ein netter alter Typ, der die allerdings etwas unangenehme Angewohnheit besaß, sich auf den Geburtstagsfeiern unseres Vaters irgendwann zwischen mich und meine Geschwister zu quetschen, um über »Mucke« zu »quatschen«. Manchmal hakte er auch augenzwinkernd nach, ob wir später noch »auf ’ne andere Fete gehen«, während die übrigen Gäste im Hintergrund zu der Melodie Eine Seefahrt, die ist lustig »Ja der Gisbert wird heut 40« sangen.
Mit so einem »Man ist so alt, wie man sich fühlt«-Typ hat wohl jeder von uns im Laufe seiner Jugend Bekanntschaft gemacht. Erwachsene, die einem mit Ausdrücken wie »Rockröhre« eine Ganzkörpergänsehaut bescherten, und auf deren »W-i-r haben ja früher immer«-Gebabbel man lediglich mit höflich-hilflosen Zweisilblern wie »A-haaa« oder »O-kaaay« reagierte.
Die gute Nachricht lautet: Je älter man wird, desto weniger grüne Kläuse und Kläusinnen7 laufen einem über den Weg. Allerdings ist der wahre Grund für die nachlassenden Begegnungen mit berufsjugendlichen Blitzbirnen eher beunruhigend. Denn mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man sich selbst peu à peu vom Opfer- in einen Täterklaus verwandelt.
Es ist geradezu erschreckend, wie viel Omma-erzählt-vom-Kriech-Energie plötzlich freigesetzt wird, wenn man im Wartezimmer der Kinderarztpraxis einem 12-Jährigen gegenübersitzt, der ein Nirvana-T-Shirt trägt. Und es mag ja durchaus sein, dass man seine Neffen vor ein paar Jahren mit der Tatsache beeindrucken konnte, dass man Die Rückkehr der Jedi-Ritter noch im Kino gesehen hat. Aber nur ein paar Jahre später reicht schon ein halber Glühwein unterm Tannenbaum, und ich höre mich selbst erzählen, dass der Franz damals »monatelang sein Wehrdienstverweigerungsgehalt für die a-l-l-e-r-e-r-s-t-e Playstation 1 gespart habe«.
»A-haaa. O-kaaay.«
Bämm! Da sind sie wieder. Das Schulterzucken. Die hilflos-höflichen Einsilbler, mit denen man auf Alte-Leute-Gequatsche reagiert. Und ehe ich mich versehe, stehe ich unserer Babysitterin gegenüber, die bis über beide Boyband-Ohren in One Direction verliebt ist. Und während ich Wörter wie »Konzert« und »1990« fasele, schaut sie mich genauso verstört an, wie ich einst alte Schachteln, die New Kids on the Block mit so hässlichen alten Vögeln wie den