Jeder ist normal, bis du ihn kennenlernst - John Ortberg - E-Book

Jeder ist normal, bis du ihn kennenlernst E-Book

John Ortberg

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Beschreibung

Jeder von uns sehnt sich nach Gemeinschaft und Akzeptanz. Doch gleichzeitig fahren wir unseren Mitmenschen gegenüber "Stacheln" aus. John Ortberg nennt dies das "Stachelschwein-Dilemma" und macht deutlich, wie man sich nahekommt, ohne verletzt zu werden. John Ortberg lüftet das Geheimnis gesunder zwischenmenschlicher Beziehungen. Mit Humor, tiefgehenden Einsichten und seiner Gabe fürs Geschichtenerzählen zeigt er auf, wie man die lebensverändernde Kraft einer Gemeinschaft erfahren kann, in der man sich gegenseitig wertschätzt, achtet und liebt.

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Über den Autor

John Ortberg ist einer der Pastoren der Menlo Park Presbyterian-Gemeinde in Menlo Park, Kalifornien. Bis zum Sommer 2003 war er einer der Hauptpastoren von Willow Creek und predigte dort vor allem in den gemeindeinternen Gottesdiensten, die der vertiefenden geistlichen Stärkung der Gemeindemitglieder dienen.

Bei ihm vereinen sich erstaunlich tiefgehende Einsichten mit einer klaren Verständlichkeit und einem ansteckenden Sinn für Humor. Kein Wunder, dass seine Bücher regelmäßig zu Bestsellern werden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien im VerlagZondervan Publishing House, Grand Rapids, Michigan 49530, USA, unter dem Titel: „Everbody’s Normal Till You Get to Know Them“.© 2003 by John Ortberg© 2004 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 AsslarDie Bibelstellen wurden der „Gute Nachricht Bibel“ entnommen.4. Auflage der Jubiläumsausgabe 2017ISBN 9783961222520Umschlaggestaltung: Hanni PlatoLektorat: Nicole Scholwww.gerth.de

Für Rick Blackmon,der alles über mich weißund mich trotzdem mag.

Inhalt

Dank

Teil eins:

Normal – so etwas gibt es nicht

Eins: Das Dilemma des Stachelschweins

Zwei: Das Wunder der Einheit

Drei: Die Mattengemeinschaft:

Wahre Freundschaft

Teil zwei:

Wie man sich nahe kommt,

ohne verletzt zu werden

Vier: Unverhüllte Gesichter: Authentizität

Fünf: Legen Sie Ihre Steine

aus der Hand: Annahme

Sechs: Die Kunst, Menschen zu lesen: Empathie

Sieben: Es lohnt sich, für Gemeinschaft zu kämpfen:

Konflikte

Teil drei:

Das Geheimnis stabiler Beziehungen

Acht: Geistliche OP: Vergebung

Neun: Ein Geschenk, das niemand haben will:

Konfrontation

Zehn: Mauern einreißen:

Eine alle umfassende Gemeinschaft

Elf: Das Geheimnis

eines liebenden Herzens: Dankbarkeit

Zwölf: Endlich normal: Himmel

Anmerkungen

Dank

Wenn es stimmt, dass alle Bücher mehr oder weniger ein Gemeinschaftsprodukt sind, dann gilt das umso mehr, wenn das Thema eines Buches „Gemeinschaft“ ist.

Ich danke allen, die das Manuskript komplett oder auszugsweise gelesen und mir Verbesserungsvorschläge gemacht haben: Becky Brauer, Mindy Caliguire, Bill Donahue und John Ortberg Sen. Meiner Cousine Tiffany Staman, die als meine Assistentin mehr zu diesem Buch beigetragen hat, als sich in Worte fassen lässt. Jack Kuhatscheck vereint als Herausgeber alles in sich, wovon ein Autor träumt: Er ist Ermutiger, voller Weisheit, Kritiker und Freund.

Wie immer hat Nancy mir geduldig Rückmeldung gegeben und mich unermüdlich bei diesem Projekt unterstützt.

Laura, Mallory und Johnny sind für mich ein kostbares Geschenk, mit dem ich nie gerechnet hatte – ich kann nicht nur über sie schreiben (ein Berufsrisiko aller Kinder schriftstellerisch tätiger Eltern), sondern auch für sie.

Teil eins

Normal – so etwas gibt es nicht

EinsDas Dilemma des Stachelschweins

„Um da ansetzen zu können, wo wir stehen, müssen wir erkennen, dass unsere Welt nicht normal ist, sondern nur so, wie wir es gerade eben gewohnt sind.“

Dallas Willard1

„Gemeinschaft ist der Ort, an dem genau der Mensch lebt, mit dem man am wenigsten zusammenleben möchte.“

Henri Nouwen2

In manchen Geschäften findet man eine Abteilung, in der Waren zu stark reduzierten Preisen angeboten werden. Alle Waren tragen auf dem Preisetikett denselben Hinweis: „Wie besehen“. „Wie besehen“ ist im Grunde ein euphemistischer Ausdruck für „Mängelware“. Manchmal findet man auch die Bezeichnung „leichte Unregelmäßigkeiten“.

Sie werden ganz fair vorgewarnt: „In dieser Abteilung ist etwas nicht in Ordnung. Sie werden hier einen Fehler finden, einen Fleck, der sich nicht entfernen lässt, einen Reißverschluss, der nicht schließt, einen Knopf, der nicht knöpft – irgendein Problem gibt es. Diese Waren sind nicht normal. Wir werden Ihnen nicht sagen, wo der Fehler steckt. Sie müssen danach suchen.

Aber wir wissen, dass die Ware fehlerhaft ist. Wenn Sie den Fehler also finden – und Sie werden ihn finden –, dann kommen Sie ja nicht weinend angelaufen. Es gibt nämlich eine Grundregel für den Verkauf der Waren in dieser Abteilung: Kein Umtausch. Keine Geld-zurück-Garantie. Keine Ersatzware. Wenn Sie nach Perfektion suchen, dann sind Sie hier falsch. Sie haben eine faire Warnung bekommen. Wenn Sie diese Ware haben wollen, gibt es nur eine Möglichkeit: Sie müssen sie nehmen, wie sie ist – wie besehen.“

Wenn Sie mit Menschen zu tun haben, befinden Sie sich in der „Mängelwaren-Abteilung“ des Universums. Denken Sie an einen Menschen, den Sie kennen. Vielleicht an den Menschen, den Sie am besten kennen, am meisten lieben. Diese Person weist „leichte Unregelmäßigkeiten“ auf.

An dieser Person hängt ein kleines Etikett: „Irgendwo befindet sich hier ein Fehler. Eine leichte Neigung zum Betrug, eine spitze Zunge, ein gewisses Phlegma, ein unkontrollierbares Temperament. Ich werde Ihnen nicht sagen, wo der Fehler steckt, aber er ist vorhanden. Wenn Sie ihn also finden – und Sie werden ihn finden –, dann sollten Sie davon nicht überrascht sein. Wenn Sie mit diesem Modell eine Beziehung eingehen wollen, gibt es nur eine Möglichkeit: Sie müssen es nehmen, wie es ist.“

Wenn Sie nach Perfektion suchen, dann sind Sie hier leider falsch.

Wir neigen zu der Illusion, dass es irgendwo da draußen Menschen gibt, die normal sind. In „Besser geht’s nicht“ wird Helen Hunt von ihren zwiespältigen Gefühlen gegenüber Jack Nicholson gequält. Einerseits ist er nett und großzügig zu ihr und ihrem kranken Sohn, aber er leidet auch unter Agoraphobie und diversen Zwangsneurosen und ist hochgradig beleidigend: Wenn man Grobheit in Quadratkilometern messen könnte, hätte er die Größe von Texas. In ihrer Verzweiflung beschwert sie sich bei ihrer Mutter: „Ich will einfach nur einen ganz normalen Freund.“

„Oh“, antwortet ihre Mutter voller Mitgefühl, „das möchte jeder. So etwas gibt es aber nicht, Schatz.“

Wenn wir eine Beziehung in der Illusion eingehen, dass Menschen normal sind, wehren wir uns gegen die Wahrheit: dass sie es nämlich nicht sind. Wir versuchen unablässig, sie zu verändern, zu kontrollieren oder so zu tun, als seien sie anders. Eines der wichtigsten Kennzeichen von Reife besteht darin, die Tatsache zu akzeptieren, dass jeder so ist, wie er ist.

Dietrich Bonhoeffer sagte, dass Menschen Beziehungen mit ihren eigenen Träumen und Idealen von Gemeinschaft eingehen. Er schrieb die überraschenden Worte:

„Es ist aber Gottes Gnade, die alle derartige Träume rasch zum Scheitern bringt. Die große Enttäuschung über die andern, über die Christen im Allgemeinen und, wenn es gut geht, auch über uns selbst, muss uns überwältigen, so gewiss Gott uns zur Erkenntnis echter christlicher Gemeinschaft führen will. […] Je bälder die Stunde dieser Enttäuschung über den Einzelnen und über die Gemeinschaft kommt, desto besser für beide. […] Wer seinen Traum von christlicher Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, auch wenn seine persönlichen Absichten noch so aufrichtig, ernsthaft und opferbereit sind.“ 3

Jeder ist irgendwie seltsam

Natürlich besteht der schmerzhafteste Teil der ganzen Sache darin zu akzeptieren, dass auch ich mich in dieser „Mängelwaren-Abteilung“ befinde. Seit seiner Entstehung lehnt sich der Mensch dagegen auf, dieses Etikett zu tragen. Wir versuchen, die Welt in normale, gesunde Menschen (wie uns) und in schwierige Menschen aufzuteilen. Vor einiger Zeit fiel mir der Titel einer Zeitschrift ins Auge: „Völlig normale Frauen mobben ihren Ex-Freund“.

Was mir besonders ins Auge stach, war der Begriff „völlig normale Frauen“. Wie sah so eine Frau wohl aus (oder – wenn wir schon dabei waren – wie sah ein völlig normaler Mann aus)? Und wenn das obsessive Verfolgen eines verflossenen Liebhabers nicht nur normal, sondern sogar völlig normal war, wie weit musste man dann gehen, um „ein bisschen seltsam“ zu sein?

Jeder von uns möchte normal erscheinen und sich selbst für normal halten, aber die Verfasser der Bibel betonen immer wieder, dass niemand „völlig normal“ ist – zumindest nicht so, wie Gott „normal“ definiert. „Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg“4, informieren sie uns. „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.“5

Das Wissen um diese Tatsache erklärt einen sehr wichtigen Aspekt der ersten Kapitel der Bibel.

Einer der absurdesten Kommentare, die ich von Zeit zu Zeit über die Bibel höre, ist die Bemerkung, dass die Bibel ein Buch voller frommer, unbefleckter Charaktere sei, die absolut nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hätten.

Ich weiß dann immer sofort, dass derjenige, der diese Bemerkung macht, die Bibel nie gelesen hat. Ist Ihnen jemals aufgefallen, wie viele zerrüttete Familien es alleine im ersten Buch Mose gibt?

Hier eine kleine Zusammenfassung:

Kain ist eifersüchtig auf Abel und bringt ihn um. Lamech führt die Polygamie ein. Noah, der gerechteste Mensch seiner Generation, betrinkt sich und verflucht seinen eigenen Enkel.

Lot, dessen Haus von den Bewohnern Sodoms umzingelt ist, die seine Besucher angreifen wollen, bietet ihnen stattdessen Sex mit seinen Töchtern an. Später machen ihn seine Töchter betrunken und lassen sich von ihm schwängern – und Lot ist der gerechteste Mann von Sodom!

Abraham spielt seine Söhne Isaak und Ismael gegeneinander aus; sie entfremden sich voneinander.

Isaak spielt seine Söhne Jakob und Esau gegeneinander aus; sie bleiben 20 Jahre lang erbitterte Feinde.

Jakob spielt Josef und seine elf Brüder gegeneinander aus; die Brüder wollen Josef zunächst umbringen, verkaufen ihn aber schließlich in die Sklaverei.

Auch ihre Ehen sind die reinsten Katastrophen:

Abraham hat Sex mit der Dienerin seiner Frau und schickt sie und den gemeinsamen Sohn dann auf Verlangen seiner Frau in die Wüste.

Isaak und Rebekka kämpfen darum, welcher der Söhne den väterlichen Segen bekommt.

Jakob heiratet zwei Frauen und befindet sich am Ende in einem Fruchtbarkeitswettbewerb mit deren Dienerinnen und seinen Konkubinen.

Jakobs erstgeborener Sohn Ruben schläft mit der Konkubine seines Vaters.

Ein anderer seiner Söhne, Juda, schläft mit seiner Schwiegertochter, als sie sich als Prostituierte verkleidet. Sie tut dies, da sie nach dem Tod ihrer beiden ersten Ehemänner – beides Söhne von Juda – kinderlos zurückbleibt. Ihre Ehemänner waren so gottlos, dass Gott sie beide tötete. Juda hielt ihr gegenüber seine Verpflichtungen nicht ein.

Diese Leute brauchen unbedingt einen Therapeuten. Sie brauchen Dr. Sommer, die Kummerkastentante, Dr. Brinkmann – irgendjemanden. (Wie geht es Ihnen, wenn Sie an Ihre eigene Familie denken?)

Warum nehmen die Autoren des ersten Buches Mose diese Episoden in ihren Bericht auf?

Es gibt einen sehr wichtigen Grund dafür. Sie möchten eine grundlegende theologische Wahrheit vermitteln: Jeder ist irgendwie seltsam.

Jeder von uns – wir alle sind wie Schafe – hat Gewohnheiten, die wir nicht kontrollieren können, Dinge in der Vergangenheit, die wir nicht ungeschehen machen können, Charakterfehler, die wir nicht korrigieren können. So sehen die Darsteller aus, mit denen Gott arbeiten muss. Genauso wie Glas dazu neigt zu zerbrechen und wie Nitroglyzerin dazu neigt zu explodieren, neigen wir dazu, unter den richtigen Bedingungen das Falsche zu tun. Diese Veranlagung nennen Theologen „Verderbtheit“. Wir lügen und opfern unsere Integrität für ein paar Euro. („Das verstehe ich auch nicht, Herr Wachtmeister – mein Tacho muss kaputt sein.“) Wir klatschen und tratschen, damit wir uns ein paar Augenblicke lang überlegen fühlen können. Wir versuchen, am Arbeitsplatz den falschen Eindruck zu erwecken, wir würden besonders viel leisten, um schneller nach oben zu kommen. (Es gibt eine neue Software, die es ermöglicht, im Internet zu surfen, und dann mit einem Klick – mit der „Cheftaste“ – einen Bildschirm produziert, der alles aussehen lässt, als ob Sie gerade an einem Projekt arbeiten.) Wir bemühen uns, unsere Mitarbeiter oder Kinder einzuschüchtern, um Kontrolle ausüben zu können oder einfach um das Gefühl von Macht zu spüren.

Jeder ist irgendwie seltsam. Das ist eine so grundlegende Erkenntnis, dass Sie an dieser Stelle das Buch vielleicht für einen Augenblick schließen und diesen Gedanken an den Menschen weitergeben sollten, der Ihnen am nächsten steht. Oder an die Person, an die Sie jetzt am stärksten denken. Vielleicht handelt es sich dabei auch um ein und dieselbe Person.

Da wir tief in uns wissen, dass wir eigentlich nicht so sein sollten, versuchen wir, unsere Seltsamkeit zu verbergen.

Jeder von uns gibt sich gesünder und freundlicher, als er tatsächlich ist; jeder von uns bemüht sich um „Verderbtheit-Management“, wie ich es nennen möchte.

Ab und zu wird das „Wie besehen“-Etikett eines Menschen sichtbar. Ein Historiker, der den Pulitzer-Preis gewann, wird des Diebstahls geistigen Eigentums überführt. Die Karriere eines Politikers löst sich wegen eines Sexskandals in Wohlgefallen auf. Ein einflussreicher Firmenchef muss zurücktreten, weil er illegal Dokumente vernichtet hat. Es überrascht nicht, dass solche Dinge geschehen; was überrascht, ist die öffentliche Reaktion darauf: „Kaum zu glauben! Und sie schienen so normal zu sein.“ Als ob Sie und ich zu einem solchen Verhalten nie fähig wären.

Das Problem mit uns Menschen ist nicht, dass es da einfach nur ein paar faule Äpfel unter uns gibt. Autoren, die sich mit dem Bereich der sogenannten „abnormalen Psychologie“ beschäftigen, bemühen sich sehr, die abnormalen Menschen von den normalen unter uns zu unterscheiden. Eine der Gefahren beim Studium dieses Faches liegt darin, dass Studenten anfangen, sich in jeder Diagnose selbst zu erkennen. „Es gibt praktisch niemanden, der nicht geheime Zweifel in Bezug auf seine Normalität hegt“6, las ich kürzlich. Aber die Autoren der Bibel sagen, dass wir alle in dieselbe diagnostische Kategorie fallen, wenn es um die wichtigste Form der Pathologie geht: „Wie Schafe gingen wir alle in die Irre.“ Aus geistlicher Sicht haben uns unsere „geheimen Zweifel in Bezug auf unsere Normalität“ etwas Wichtiges zu sagen. Oder wie Neil Plantinga es formuliert: „In der biblischen Weltsicht ist Sünde zwar ein vertrauter, ja sogar vorhersagbarer Teil des Lebens, aber Sünde ist nicht normal. Und die Tatsache, dass ,es doch jeder macht‘, macht sie auch nicht normal.“7

Seit den Zeiten Adams im Garten Eden sind Sündigen und Verstecken so unausweichlich wie der Tod und die Steuern. Manche Menschen sind ziemlich gut darin, ihr wahres Ich zu verbergen. Aber ihre Seltsamkeit ist trotzdem da. Sie müssen ihnen nur nahe genug kommen. Jeder wirkt normal, bis Sie ihn kennenlernen.

Sehnsucht nach Gemeinschaft

Und doch …

Der Wunsch, dazuzugehören und sich anderen anzuschließen, zu lieben und geliebt zu werden, gehört zu den leidenschaftlichsten Sehnsüchten der Seele. Unser Bedürfnis nach Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit dem Gott, der uns erschaffen hat, ist für den menschlichen Geist das, was Nahrung, Sauerstoff und Wasser für den menschlichen Körper sind.

Dieses Bedürfnis verschwindet auch nicht angesichts all unserer Seltsamkeit. Es begleitet uns von der Wiege bis ins Erwachsenenleben. Ein Kind hebt erwartungsvoll das Gesicht, hält in seinem Wunsch, auf den Arm genommen zu werden, zwei kurze Ärmchen hoch und strahlt voller Freude, wenn es tatsächlich hochgehoben und in den Armen geschaukelt wird – welches Herz schmilzt da nicht dahin?

Am anderen Ende des Spektrums befindet sich der verwitwete Vater eines meiner Bekannten, der sich in eine Frau aus seiner Gemeinde verliebt. Er macht ihr einen Heiratsantrag, sie nimmt ihn an. Sie gehen zum Traualtar. Er ist 84, ein pensionierter Arzt; sie ist 81, eine pensionierte Missionarin. Es ist ihre erste Ehe.

Sie war während der Truman-Ära zum letzten Mal verliebt. Man sollte meinen, sie habe inzwischen die Hoffnung auf eine Ehe aufgegeben; aber nun findet sie nicht nur ihren Traummann, sondern sogar Dr. Traummann. Die beiden sprengen das durchschnittliche Heiratsalter um sechs Jahrzehnte.

So frustrierend Menschen sein können, so schwierig ist es auch, einen geeigneten Ersatz zu finden. Einer meiner Freunde bestellte sich während einer Reise in die Südstaaten ein Frühstück. Er entdeckte Cornflakes auf der Speisekarte, und da er einen ausgeprägten Sinn für Humor hat, teilte er der Bedienung mit: „Ich hätte gern ein Cornflake.“

Ihre Antwort war klassisch. „Mein Lieber“, sagte sie (im amerikanischen Süden sind Bedienungen gesetzlich dazu verpflichtet, alle Kunden mit „mein Lieber“ anzureden), „mein Lieber, Cornflakes gibt es nicht in der Einzahl.“

Die einzelnen Bestandteile der Cornflakes ergeben nur in ihrer Mischung Cornflakes. Man kann keinen „Cornflake“ bestellen. Es gibt sie nur zusammen.

„Nennen Sie es einen Clan, nennen Sie es einen Stamm, nennen Sie es ein Netzwerk oder eine Familie“, sagt Jane Howard. „Gleichgültig, wie Sie es nennen, Sie brauchen es.“8 Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist. Dallas Willard sagt: „Der natürliche Zustand des Menschen besteht in der gegenseitigen Verwurzelung in anderen.“9Mein Lieber, es gibt Sie nicht in der Einzahl.

Edward Hallowell, Dozent an der Harvard Medical School, spricht vom Grundbedürfnis des Menschen nach Gemeinschaft. Er verwendet den Begriff „Verbindung“: das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das eine Bedeutung hat und größer ist als wir selbst. Wir brauchen persönliche Begegnungen; wir brauchen Menschen, die uns sehen, kennen und dienen und für die wir dieselbe Funktion erfüllen. Wir müssen uns mit dem Versprechen gegenseitiger Liebe und Loyalität aneinanderbinden. Diese Verbindungen beziehen sich natürlich auf andere Menschen und auf Gott; aber Hallowell beobachtet, dass Menschen auch aus der Bindung an Haustiere, Musik oder die Natur heraus leben.10

Dafür gibt es einen Grund. Neil Plantinga stellt fest, dass die hebräischen Propheten ein Wort für diese Art der Bindung hatten: shalom – „das Verwobensein von Gott, Menschen und der ganzen Schöpfung in Gerechtigkeit, Erfüllung und Freude“11. Versuchen Sie, sich vorzustellen, sagten die alten Propheten den Menschen damals wie auch uns heute, wie eine solche Welt aussehen würde.

In einer Welt, in der sich shalom durchsetzte, wären alle Ehen stabil und alle Kinder sicher. Wer zu viel hätte, würde denen etwas geben, die zu wenig hätten. Israelische und palästinensische Kinder würden auf der Westbank zusammen spielen; ihre Eltern würden füreinander Häuser bauen. In Büros und Vorstandsetagen würden sich alle heimlich darum bemühen, ihre Kollegen beim beruflichen Fortkommen zu unterstützen, und sie hinter ihrem Rücken loben. Zeitschriften wären voller Berichte über mutige Menschen und moralische Integrität. In Talkshows würden Mütter und Töchter auftreten, die einander heiß und innig lieben, es wären Frauen zu sehen, die die Kinder ihrer Ehemänner auf die Welt bringen, und Männer, die sich heimlich gerne als Männer kleiden.

Unstimmigkeiten würden liebenswürdig und kultiviert beigelegt werden. Es würde vielleicht immer noch Rechtsanwälte geben, aber diese hätten wirklich sinnvolle Aufgaben, wie etwa die Auslieferung von fettfreien und cholesterinarmen Pizzas. Türen hätten keine Schlösser, Autos keine Alarmanlagen. Schulen bräuchten keine Polizeipräsenz und auch keine Überwachungskameras mehr; Schüler, Lehrer und Hausmeister würden die Arbeit des anderen wertschätzen und achten. Bei den Spielen in der Pause würde jedes Kind in eine Mannschaft gewählt werden.

Gemeinden würden sich nie spalten.

Menschen würden sich weder langweilen noch wären sie ständig in Hektik. Kein Vater würde jemals wieder sagen: „Ich habe zu viel zu tun“, und damit sein Kind enttäuschen. Unser nationales Schlafdefizit würde getilgt werden. Es würde immer noch Starbucks geben, aber sie würden nur noch koffeinfreien Kaffee anbieten.

Scheidungsgerichte und Frauenhäuser würden in öffentliche Freizeitzentren umgewandelt werden. In jeder Berührung eines Menschen durch einen anderen würde sich Zuneigung, Ermutigung und Freude ausdrücken.

Niemand wäre einsam oder hätte Angst. Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft gingen Hand in Hand; sie würden sich gegenseitig achten, sich durch ihre Unterschiede bereichert fühlen und durch ihre gemeinsame Menschlichkeit vereinigt sein.

Und im Zentrum dieser großen Gemeinschaft stünde ihr großartiger Architekt und ruhmreichster Mitbewohner: der Gott, dessen Gegenwart jeden Menschen mit nie en-den wollendem Glanz und immer größer werdender Freu-de füllt.

So würde unser Leben aussehen, wenn wir nach den Normen leben würden, die Gott für das menschliche Leben aufgestellt hat – wenn unsere Welt wirklich normal wäre. Eines Tages wird sie es sein.

Eine Sache von Leben oder Tod

Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“12 Manche Menschen fürchten, verletzt zu werden oder ihre Freiheit einzubüßen, wenn sie sich zu sehr auf andere Menschen einlassen. Deshalb ziehen sie sich in ihre Arbeit, ihre Hobbys oder vor den Fernseher zurück. Aber Isolation ist auch kein Heilmittel. Ich bin nicht aus mir heraus da hingelangt, wo ich bin, und meine Identität und mein Lebensinhalt sind untrennbar mit Beziehungen verbunden: Ich bin der Sohn von John Senior und Kathy, der Bruder von Barbie und Bart, der Ehemann von Nancy, der Vater von Laura, Mallory und Johnny. Ich bin Pastor, Freund und Nachbar. Ich wurde nicht auf diese Erde gestellt, um bloß mir selbst zu gefallen und mich zu amüsieren. Menschen, die nur für sich leben wollen, sagt Bonhoeffer, „fallen in die bodenlose Grube der Eitelkeit, der Selbstverliebtheit und der Verzweiflung“13. Wir gehören alle zu anderen dazu. Es gibt uns nur gemeinsam.

Diese Verbundenheit nennt man auch „gegenseitige Verwurzelung“. Wir wurden erschaffen, um voneinander Leben und Nahrung zu erhalten, wie die Wurzeln einer Eiche Leben aus dem Boden ziehen. Gemeinschaft – Leben in lebendiger Verbundenheit mit anderen Menschen – ist wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Der Forscher René Spitz zeigte in einer Untersuchung, dass Kinder, die nicht in den Arm genommen und berührt werden und von ihren Eltern nur mit Nahrung und Kleidung versorgt werden, eine verzögerte neurologische Entwicklung aufweisen.14 Und schon die ältesten Selbstmord-Studien belegen, dass soziale Isolation der größte Risikofaktor ist.

Aber der wichtigste Grund für tiefe Gemeinschaft sind nicht die physischen oder emotionalen Vorteile, so wertvoll diese auch sein mögen. Gemeinschaft ist der Ort, für den Gott uns geschaffen hat. Gemeinschaft ist der Ort, an dem Gott uns begegnet.

Wie man einander nahekommt,ohne verletzt zu werden

Und hier kommt die Preisfrage: Wie lässt man diesen schönen Traum von Gemeinschaft mit echten, lebendigen Menschen Realität werden? Mit seltsamen, nicht ganz normalen, „leicht gestörten“ Menschen zweiter Wahl? Mit Ihren Freunden, Ihren Arbeitskollegen, Ihrem Ehepartner, Ihren Kindern, Ihren Eltern, Ihrer Kleingruppe, Ihrer Gemeinde und Ihren Mitarbeitern? Kann dieser Traum Wirklichkeit werden?

Das nordamerikanische Baumstachelschwein gehört zur Familie der Nagetiere und sein Körper ist mit ca. 30.000 Stacheln besetzt. Jede dieser Stacheln kann in einen Feind gerammt werden. Durch die Körperwärme des Feindes dehnt sich die mikroskopisch kleine Spitze des Stachels aus und verankert sich fester. Die Wunden können sich entzünden, und diese Entzündungen können, wenn sie lebenswichtige Organe befallen, sogar tödlich sein.

Das Baumstachelschwein gilt im Allgemeinen nicht als sonderlich liebenswertes Tier. Der griechisch-lateinische Name (Erethizon dorsatum) bedeutet „reizbarer Rücken“ und jedes Stachelschwein hat einen solchen Rücken. Bücher und Filme feiern fast jedes erdenkliche Tier – nicht nur Hunde, Katzen und Pferde, sondern auch Schweine („Ein Schweinchen namens Babe“), Delfine („Flipper“), Murmeltiere („Und täglich grüßt das Murmeltier“) und Killerwale („Free Willy“). Von einem berühmten Stachelschwein habe ich jedoch noch nie gehört. Und ich kenne kein Kind, das ein Stachelschwein als Haustier hat.

Stachelschweine gehen den Kontakt mit anderen Lebewesen normalerweise auf zwei unterschiedliche Arten an: Entweder ziehen sie sich zurück oder sie greifen an. Entweder retten sie sich auf einen Baum oder sie stellen ihre Stacheln auf. Sie sind in der Regel Einzelgänger. Wölfe leben in Rudeln, Schafe in Herden; wir sprechen von Elefantenherden, Gänsescharen und Krähenschwärmen. Aber es gibt keine besondere Bezeichnung für eine Ansammlung von Baumstachelschweinen. Sie gehen nämlich alleine durchs Leben.

Aber auch Stachelschweine wollen nicht immer alleine sein. Im Spätherbst wenden sich die Gedanken eines jungen Stachelschweins der Liebe zu. Aber wenn man ein Stachelschwein ist, ist die Liebe ein riskantes Unterfangen. Die Frauen sind nur einmal im Jahr für ein gemeinsames Essen und einen Kinobesuch offen; die Gelegenheit geht schnell vorüber. Und das „Nein“ einer Stachelschweindame ist die am meisten respektierte Zurückweisung im gesamten Tierreich. Furcht und Zorn machen sie zu gefährlichen kleinen Wesen, in deren Nähe es ungemütlich wird.

Das ist also das Dilemma des Stachelschweins: Wie kann man einander nahekommen, ohne sich zu verletzen?

Es ist auch unser Dilemma.

Jeder von uns trägt ein kleines Waffenarsenal mit sich herum. Unsere Stacheln tragen Namen wie Ablehnung, Vorurteil, Zorn, Arroganz, Egoismus, Neid, Verachtung. Manche Menschen verbergen diese Stacheln besser als andere, aber wenn Sie ihnen nur nahe genug kommen, werden Sie sie entdecken. Sie stecken unter der Haut unserer Feinde. Sie können verwunden, sich entzünden und sogar tödlich sein. Auch wir lernen durch eine Kombination aus Rückzug und Angriff zu überleben. Auch wir verletzen die Menschen, die uns am nächsten stehen (und werden von ihnen verletzt).

Und doch sehnen auch wir uns nach Nähe. Wir treffen uns mit unseren Nachbarn, verabreden uns, sind Mitglied in einer Kirchengemeinde, schließen Freundschaften, heiraten und bekommen Kinder. Wir versuchen herauszufinden, wie man einander nahekommen kann, ohne verletzt zu werden. Wir fragen uns, ob es da draußen nicht ein weicheres, weniger stachliges Wesen gibt – vielleicht einen Nerz oder einen Otter.

Und natürlich hat jeder von uns ein paar besonders stachlige Stachelschweine in seiner Umgebung. Aber das ist nicht das ganze Problem. Ich bin nämlich auch jemandes Stachelschwein. Und Sie ebenfalls.

Angriff und Rückzug

Während ich diese Worte an einem Sonntagnachmittag schreibe, brodelt der Konflikt im Nahen Osten wieder. Bei der Zeitungslektüre an diesem Morgen fiel mir auf, dass uns zwei Begriffe aus dieser Region nun auch hier im Westen vertraut sind. Diese Worte drücken die beiden Möglichkeiten aus, die für viele der betroffenen Menschen die einzigen Wege für den Umgang miteinander sind. Das erste Wort ist arabisch: jihad, Angriff. Miroslav Volf erzählt die Geschichte einer Überlebenden des Jugoslawien-Konfliktes der 1990er Jahre:

„Ich bin Muslimin und ich bin 35 Jahre alt. Meinem zweiten Sohn gab ich den Namen ,Jihad‘. Auf diese Weise sollte er nie den letzten Willen seiner Mutter vergessen – Rache. Als ich meinem Baby zum ersten Mal die Brust gab, sagte ich ihm: ,Diese Milch soll dir im Hals stecken bleiben, falls du es vergisst.‘ So soll es sein. Die Serben brachten mir bei zu hassen. […] Mein Schüler Zoran, der einzige Sohn meiner Nachbarn, urinierte in meinen Mund. Als die bärtigen Aufrührer um uns herum lachten, erklärte er mir: ,Du bist zu nichts anderem gut, du stinkende Muslimin.‘ Jihad – Krieg. Es gibt keinen anderen Weg.“15

Heckenschützen und Selbstmordanschläge sind nur der äußere Ausdruck der Wut, die in jedem von uns steckt. Wir werden verletzt und wir wollen den anderen im Gegenzug auch verletzen. Kleine jihads werden Tag für Tag zwischen Menschen ausgefochten, die im selben Büro arbeiten, zwischen Menschen, die in derselben Gemeinde Kleingruppen leiten, zwischen Ehemännern und Ehefrauen, zwischen Eltern und Kindern. Die Tradition der jihads reicht bis zu Kain und Abel zurück: „Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn“ (Genesis 4,8).

Das zweite Wort ist hebräisch und heißt hafrada. Hafrada bedeutet „Trennung“ und „Rückzug“. Ein Zeitungsbericht erklärt diese Form der Politik: „Riegelt die ,Westbank‘ ab. Haltet alle bis auf ein paar wenige Palästinenser aus Israel fern. Stellt die meisten Geschäfte mit der anderen Seite ein. Und setzt das alles mit überwältigender Militärmacht durch.“16

Auch wir kennen uns mit Mauern aus. Die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang sind Ausdruck desselben Impulses, der uns dazu bringt, uns zurückzuziehen. Manchmal besteht die Mauer aus einer Zeitung am Frühstückstisch, die eine emotionale Distanz beschreibt, die nicht überbrückt werden kann. Das Thema „Rückzug“ ist so alt wie Adam und Eva: „Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht […] und versteckte mich“ (Genesis 3,10).

Wir befinden uns ganz am Anfang meiner Ehe. Meine Frau bringt unsere drei kleinen Kinder in mein Büro. Unser Streit dreht sich mehr oder weniger um das Thema „Mein Leben ist anstrengender als dein Leben, deshalb solltest du mehr für mich tun“. Ich komme dabei nicht so gut weg. Ich greife sie nicht verbal an; ich schaffe einfach Distanz. Ich schenke ihr weniger Aufmerksamkeit, meinen Kindern dafür etwas mehr. Ich schaue sie nicht mehr so an oder berühre sie so, wie ich das normalerweise tun würde, aber ich verhalte mich höflich und aufmerksam. Wenn man jemanden gut kennt, kann man sein Verhalten präzise darauf abstimmen. Ich bin kalt genug, sodass sie mein Missfallen spüren kann. Aber mein Verhalten ist subtil genug, dass ich auf ihre Frage, was denn los sei, antworten kann: „Nichts. Warum? Was ist mit dir los?“ Ich kenne mich mit Rückzug aus.

Jihad und hafrada. Angriff und Rückzug. Es ist wirklich Ironie, dass ausgerechnet der Nahe Osten, die Heimat vieler der größten Religionen der Welt, diese beiden Begriffe zu der Kunst der menschlichen Beziehungen beisteuert.

Aber es geht hier nicht nur um Probleme konfliktgeschüttelter Völker in einem weit entfernten Teil der Welt. Dallas Willard schreibt, dass Angriff und Rückzug die zwei grundlegenden Formen sind, die Sünde im Bereich von Beziehungen annimmt.17 Im Grunde greifen wir andere an, wenn wir dem entgegenwirken, was gut für sie ist. Das gilt auch, wenn es mit ihrer Zustimmung geschieht – etwa einem Alkoholiker einen Whiskey anzubieten. Wir ziehen uns von einem anderen Menschen zurück, wenn wir sein Wohlergehen als etwas betrachten, das uns nichts angeht. Jeder Mensch auf dieser Erde praktiziert Angriff und Rückzug; jede Ehe, jede Familie, jede Arbeitsstelle und jede Gemeinde sind dadurch betroffen.

Im Kern handelt es sich hier um zwei Ausdrucksformen der einen großen Sünde: Mangel an Liebe und Verletzung des wichtigsten Gebotes. Unser ganzes Missmanagement im Bereich von Beziehungen ist tatsächlich eine Spielart dieser beiden menschlichen Tendenzen. Wenn wir uns bedroht fühlen, möchten wir andere verletzen oder uns vor ihnen verstecken. Auch wir ziehen uns schnell auf einen Baum zurück oder stellen unsere Stacheln auf.

Aber es gibt eine bessere Möglichkeit.

Es muss nicht immer so laufen.

Der Tanz der Stachelschweine

Wunder über Wunder: Beziehungen sind möglich – sogar für Stachelschweine. Bei ganz seltenen Gelegenheiten teilt ein Stachelschwein seinen Lebensraum mit einem anderen und die beiden werden Freunde. Ab und zu wird eines in Gefangenschaft aufgezogen und frisst einem Menschen direkt aus der Hand. Stachelschweine lernen, ihre Stacheln bei sich zu behalten. Und nicht nur das: Sie finden sogar heraus, wie sie zumindest so lange zusammen sein können, um die Existenz der nächsten Generation sicherzustellen. In einem Bild, das zu schön ist, um erfunden zu sein, schreibt der Naturforscher David Costello: „Männchen und Weibchen bleiben einige Tage zusammen, bevor sie sich paaren. Sie berühren sich an den Pfoten und laufen sogar auf den Hinterbeinen, im sogenannten ‚Tanz der Stachelschweine‘.“18

Nur Gott kann auf die Idee gekommen sein, zwei Stachelschweine zu erschaffen, die Pfote in Pfote Foxtrott tanzen, wo nur sie und er es sehen. Es scheint, dass es tatsächlich eine Antwort auf die alte Frage gibt, wie sich Stachelschweine lieben. Sie ziehen die Stacheln ein und lernen zu tanzen.

In diesem Buch geht es darum, wie unvollkommene Menschen wie Sie und ich Gemeinschaft mit anderen unvollkommenen Menschen haben können. In diesem Buch geht es darum, wie Stachelschweine tanzen lernen. Sie müssen also mit den Stachelschweinen anfangen, die es in Ihrem Leben schon gibt.

Die Verfasser der Bibel sprechen von Gottes Traum von Gemeinschaft in erster Linie im Rahmen von Kirche. Dazu gehören Ortsgemeinden mit ihren Gottesdiensten und Veranstaltungen. Aber Gottes Traum von Gemeinschaft umfasst die Erlösung aller Lebensbereiche, also auch die Art des Umgangs mit Ihren Familienangehörigen, Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen, mit den Menschen, mit denen Sie Golf spielen oder einen Einkaufsbummel machen, mit dem Mann an der Tankstelle, bei dem Sie Ihre Benzinrechnung bezahlen und eine Zeitung kaufen. Deshalb hoffe ich, dass Sie dieses Buch nicht alleine lesen. Ich hoffe, Sie lesen es zusammen mit Ihrer Kleingruppe. Ich hoffe, Sie lesen es zusammen mit einem Freund, Ihrem Ehepartner oder einem Familienmitglied, damit Sie gemeinsam darüber nachdenken können, wie Sie die Art von Gemeinschaft leben können, für die Gott Sie geschaffen hat.

Gott hat seinen Traum nicht aufgegeben. Und Sie und ich spielen darin eine Rolle. Unsere Aufgabe besteht darin, kleine Inseln von shalom in einem Meer der Isolation zu schaffen.

Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Stacheln einziehen und anfangen zu tanzen.

Tanzen lernen

1. In welcher Ihrer Beziehungen müssen Sie lernen, den anderen so anzunehmen, wie er ist, und mit dem Versuch aufhören, den anderen zu kontrollieren oder zu verändern?

2. Wo fällt es Ihnen schwer, sich selbst so anzunehmen, wie Sie sind? Inwiefern versuchen Sie, vor anderen ihre „Seltsamkeit“ zu verbergen, indem Sie „Verderbtheits-Management“ betreiben?

3. Dietrich Bonhoeffer sprach von der Notwendigkeit, Illusionen zu verlieren, wenn wir das Gute und das Schlechte in einer Gemeinschaft annehmen lernen wollen. Wann wurden Sie in einer Beziehung desillu-sioniert? Wie reagierten Sie darauf?

4. Auf welche der beiden vermeintlichen Lösungen für Beziehungsprobleme – Angriff oder Rückzug – greifen Sie eher zurück? Warum? Wie sieht das Ergebnis normalerweise aus?

5. Das Dilemma der Stachelschweine besteht darin, einander nahezukommen, ohne dabei verletzt zu werden. Wie reagieren Sie in der Regel, wenn Sie das Gefühl haben, von einem anderen Menschen verletzt worden zu sein?

6. Gottes größter Wunsch für diese Welt ist shalom – die Verbindung von Gott, Menschen und der ganzen Schöpfung in Gerechtigkeit, Erfüllung und Freude. Welchen konkreten Schritt können Sie gehen, um in Ihrer kleinen Welt einen Beitrag dazu zu leisten?

7. Nennen Sie ein „Stachelschwein“ (oder zwei), dem Sie gerne näherkommen würden – ein Freund, Arbeitskollege, ein Mitglied Ihrer Kleingruppe oder Ihrer Familie. Wie können Sie Ihre Beziehung vertiefen?

Zwei     Das Wunder der Einheit

„Das Ziel Gottes in der Geschichte ist eine alle umfassende Gemeinschaft liebender Menschen, mit Christus in ihrer Mitte als ihrem Erhalter und ihrem herrlichsten Glied.“

Dallas Willard1

„Das ganze Leben besteht aus Begegnungen.“

Martin Buber2

Es gibt ein kleines Büchlein3, in dem Grundschulkinder versuchen, einige der kniffligsten Probleme der Welt zu lösen: etwa, was man mit dem Ozonloch machen oder wie man Rauchern helfen kann, zu Nichtrauchern zu werden.

Hier die schwierigste Frage: „Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss. Was würdest du vorschlagen?“

„Man sollte einsame Menschen finden und sie nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen. Dann sollte man Menschen, die nicht einsam sind, nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen. Wenn man die gleiche Anzahl von beiden hat, sollte man einsame und nicht einsame Menschen über die Zeitung zusammenbringen.“ Kalani, 8 Jahre alt (offensichtlich hat dieses Mädchen die Gabe der Organisation)

„Man sollte Lebensmittel erfinden, die mit einem sprechen, während man sie isst. Beispielsweise sagen sie: ‚Wie geht es dir?‘ und: ‚Was hast du heute erlebt?‘“ Max, 9 Jahre alt

„Wir könnten den Leuten ein Haustier oder einen Ehemann oder eine Ehefrau geben und mit ihnen Ausflüge machen.“ Matt, 8 Jahre alt (Diese Aussage lässt einige Fragen in Bezug auf Matts Verständnis von Ehe offen.)

Aber die anrührendste Antwort, diejenige, die einem das Herz brechen kann, kommt zuletzt:

„Singt ein Lied, stampft mit den Füßen, lest ein Buch. (Immer, wenn ich das Gefühl habe, niemand liebt mich, mache ich etwas davon.)“ Brian, 8 Jahre alt

„Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss.“ Seit Jahrhunderten beschäftigen sich die schlauesten Erwachsenen mit diesem Problem. Dieser von Gott geschaffene Hunger nach Gemeinschaft veranlasste Plato dazu, den „Staat“, und Augustinus „Die Stadt Gottes“ zu schreiben. Aus diesem Grund handeln viele unserer Geschichten von unserer Sehnsucht nach Gemeinschaft – von der „Odyssee“ über die „Waltons“, von Camelot bis zu Garrison Keillors „Lake Wobegon“, von „Mayberry“ bis „Boyz in the Hood“. Aus diesem Grund besuchen wir Kirchengemeinden, gehen in Kegelclubs und lassen uns auf Blind Dates ein.

Aus diesem Grund besteht die amerikanische Rede, die aus dem 20. Jahrhundert am stärksten in Erinnerung bleiben wird, aus einem Appell, dass alle Menschen eines Tages in der Lage sein sollten, gemeinsam an einem Tisch zu essen, einander die Hände zu reichen und gemeinsam ein Lied zu singen. Der Sozialwissenschaftler Jean Elsthain stellt fest, dass Martin Luther King jr. das Bewusstsein einer Gesellschaft in seinen Bann zog, weil er nicht nur seinen persönlichen Traum formulierte, sondern den Traum der Menschheit – Gottes Traum. „Seine Rede hätte die Nation nie gepackt, hätte er sich vor das ,Lincoln Memorial‘ gestellt und erklärt: ‚Ich habe eine bevorzugte Vorstellung. Ich habe heute eine bevorzugte Vorstellung.‘“4

Der Schmerz der Einsamkeit

„Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss.“

Nichts schmerzt so sehr wie die Einsamkeit. Lee Strobel schrieb darüber, als die Kolumnistin der Chicago Tribune, Marla Paul, vor ein paar Jahren schriftlich bekannte, einsam zu sein. „Diese Einsamkeit macht mich traurig“, schrieb sie. „Wie konnte es geschehen, dass ich nun 42 Jahre alt bin und nicht genügend Freunde habe?“ Sie fragte ihren Ehemann, ob mit ihr irgendetwas nicht in Ordnung sei. Sie fragte sich, ob die Menschen einfach zu beschäftigt seien, um Freundschaften zu pflegen. Es schien, als ob „die Freundschaftsquote jeder Frau erfüllt zu sein schien und sie keine neuen Bewerber mehr akzeptierte“. Sie fragte sich, ob es vielleicht „da draußen Frauen gab, die nicht wissen, wie einsam sie eigentlich sind. Es ist so einfach, den Tag mit Arbeit auszufüllen [, aber das ist] nicht genug.“

Sie schloss ihre Kolumne mit den Worten: „Ich las meiner Tochter neulich ‚Das hässliche Entlein‘ von Hans Christian Andersen vor. Ich fühlte mich diesem Vogel, der von einem Ort zum nächsten flog, um Geschöpfe zu finden, zu denen er gehörte, sofort verbunden. Er findet sie schließlich. Ich hoffe, dass auch mir das gelingen wird.“5

In der Folgezeit schrieb sie über den Nerv, den diese Kolumne unerwartet getroffen hatte. Menschen sprachen sie am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, in der Schule ihrer Tochter an: „Sie auch? Ich dachte, ich sei die Einzige!“ Es erreichten sie Briefe von Hausfrauen und Firmenchefs. Als Reaktion auf diese Kolumne kamen siebenmal so viele Leserbriefe wie gewöhnlich und alle hatten denselben Tenor: „Warum fühle ich mich so einsam? Warum ist es so schwer, gute Freunde zu finden?“

Wenn Einsamkeit unter Frauen verbreitet ist, dann nimmt sie unter Männern Züge einer Epidemie an. Eine Umfrage ergab, dass 90 Prozent aller amerikanischen Männer keinen echten Freund haben.6 Aber sie ziehen es vor, nicht darüber zu reden. „Niemand gibt gerne zu, dass er einsam ist“, schreibt die Psychologin Jacqueline Olds. „Einsamkeit ist etwas, das man mit Verlierern assoziiert.“7 Einsamkeit hat einen so negativen Beigeschmack, dass man zwar in anonymen Umfragen zugibt, einsam zu sein, aber offen nur davon spricht, unabhängig und selbstständig zu sein.

„Einsamkeit“, sagte Mutter Teresa, „ist der Aussatz der modernen Gesellschaft. Und niemand möchte, dass man von ihm weiß, dass er aussätzig ist.“

Jean Vanier ist der Gründer der weltberühmten Arche-Gemeinschaft für geistig behinderte Menschen und deren Betreuer. Dort fand einer der brillantesten Autoren unserer Zeit, Henri Nouwen, was ihm verloren gegangen war, als er an Orten wie Harvard und Yale unterrichtete: das Gefühl, dazuzugehören, Annahme, Heimat. Vanier schrieb: „Jeder von uns trägt seine eigene tiefe Wunde mit sich herum, die Wunde unserer Einsamkeit. Es fällt uns schwer, alleine zu sein, und wir versuchen, durch Hyperaktivität, Fernsehen und eine Million weitere Möglichkeiten vor dieser Einsamkeit zu fliehen.“8 Albert Schweitzer stimmte dem zu: „Wir sind alle so viel zusammen, aber wir alle sterben an Einsamkeit.“9

Was wirklich zählt

„Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss.“

Edward Hallowell schreibt, dass für die meisten Menschen die beiden wichtigsten Erfahrungen des Lebens darin bestehen, etwas zu leisten und Beziehungen zu knüpfen.10 Die meisten Dinge, die im Leben unsere Aufmerksamkeit wecken und unsere Energie in Anspruch nehmen, fallen in diese beiden Kategorien.

„Beziehungen zu knüpfen“ umfasst unsere gesamte Beziehungswelt – sich zu verlieben, gute Freundschaften aufzubauen, versorgt zu werden, wenn wir krank sind, oder von unseren Eltern zu hören, dass sie uns lieben.

„Etwas zu leisten“ umfasst alles, was wir erreichen – Wettbewerbe gewinnen, beruflichen Erfolg haben oder schwierige Ziele erreichen.

Hallowell weist darauf hin, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend dem Leistungsgedanken verschreibt, davon besessen ist und sich von ihm versklaven lässt. Wenn es aber um Beziehungen geht, verarmt und scheitert sie zusehends.

Leistung an sich ist nichts Schlechtes – wenn sie auf die richtige Weise und aus der richtigen Motivation heraus erbracht wird. Aber Leistung ist kein Ersatz für Beziehungen. Wenn man Leistung richtig versteht, muss sie die Gemeinschaft respektieren. Die einzig wirklich wichtigen Leistungen sind diejenigen, die das Leben der Gemeinschaft bereichern.

Leider ist Leistung um ihrer selbst willen in unserer Gesellschaft zu einer Art Götze geworden. Ich bin noch niemandem begegnet, dem es nicht gelang, Beziehungen aufzubauen – der isoliert, einsam, beziehungslos und ohne tiefe Freundschaften lebte –, und dabei doch ein sinnvolles und von Freude erfülltes Leben führte. Wirklich niemandem. Im 20. Jahrhundert gab es tonnenweise Menschen, die großartige Dinge erreicht haben, aber nicht beziehungsfähig waren. Menschen, die Unmengen an Geld, Berühmtheit oder Macht angehäuft haben, aber es nie geschafft haben, ihr Herz zu öffnen. Menschen mit einem Rolodex-Organizer voller Kontakte, aber ohne einen einzigen richtigen Freund. Alle starben mit bitterem Bedauern. Alle.

Im Gegensatz dazu ist mir noch niemand begegnet, der erfolgreich Beziehungen knüpfte – gute Freundschaften pflegte, sich hingebungsvoll seiner Familie widmete, Zuneigung gab und empfing –, aber ein schlechtes Leben führte.

Egal, wie wenig Geld wir haben, egal, welchen Rang wir auf irgendeiner beruflichen Erfolgsleiter einnehmen – am Ende entdeckt doch jeder, dass Menschen das einzig Wichtige sind. Menschen, die sich in Beziehungen investieren – die Freunde haben, mit denen sie lachen und weinen, lernen und streiten, tanzen und leben, lieben und mit denen sie alt werden und sterben –, diese Menschen führen ein wahrhaft großartiges Leben.

Wenn diese Menschen sterben, bedauert keiner von ihnen, sich in Menschen investiert zu haben: in ihre Freunde, Nachbarn, Kinder und Familien. Nicht ein Einziger.

Die „menschenförmige“ Leere

Wir wurden erschaffen, um Einheit zu erfahren. Aus diesem Grund ist Einsamkeit so schmerzhaft.

In der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis wiederholt sich ein Refrain immer wieder: „Und Gott sagte … Und so geschah es … Und Gott sah, dass es gut war.“

Der Autor betont, dass alles, was existiert, das Ergebnis der Bemühungen eines unvorstellbar mächtigen Gottes ist und alles unaussprechlich wunderbar war:

Das ist das Lied der Schöpfung: „Und Gott sagte … Und so geschah es … Und Gott sah, dass es gut war.“

Bis zum letzten Akt – wenn das Lied kreischend zum Stillstand kommt.

Gott schuf einen Mann nach seinem Bild. Gott sah diesen Mann an, der sein Ebenbild trug, und er sagte: „Nicht gut.“ Warum sieht Gott den Mann an und sagt: „Nicht gut“? Weil er Frauen lieber mag?

Nein, natürlich nicht. Es handelt sich hier um einen radikalen Kommentar zur grundlegenden Bedeutung menschlicher Beziehungen.

Auffällig ist, dass sich der Sündenfall noch nicht ereignet hat. Es gibt keine Sünde, keinen Ungehorsam, nichts, das die Beziehung zwischen Gott und Mensch trüben könnte.

Der Mensch befindet sich in perfekter Vertrautheit mit Gott. Jedes Wort, das er und Gott miteinander sprechen, ist voller Nähe und Freude: Er geht mit Gott in der Kühle des Tages im Garten spazieren. Er wird im Kern seines Wesens von seinem allwissenden, liebevollen Schöpfer gekannt und geliebt. Doch Gott verwendet das Wort „allein“, um ihn zu beschreiben. Und Gott sagt, dass dieses Alleinsein „nicht gut“ ist.

In kirchlichen Kreisen sagen wir Menschen, die sich einsam fühlen, oft, sie sollen nicht so viel von Beziehungen zu anderen Menschen erwarten, da es in jedem Menschen ein „gottesförmiges Vakuum“ gibt, das kein Mensch füllen kann. Das stimmt. Aber offensichtlich schuf Gott in diesem Menschen auch ein Vakuum in Form eines Menschen, das Gott selbst nicht ausfüllen wird.

Kein Ersatz wird Ihr Bedürfnis nach menschlichen Beziehungen ausfüllen:

Nicht Geld.

Nicht Leistung.

Nicht Geschäftigkeit.

Nicht Bücher.

Nicht einmal Gott selbst.

Obwohl dieser Mensch in einem Zustand sündloser Vollkommenheit war, war er „allein“. Und das war nicht gut.

Sie wurden dafür erschaffen, Gemeinschaft zu erfahren. Gemeinschaft ist Gottes Wunsch für Ihr Leben. Gemeinschaft ist die einzige unentbehrliche Bedingung für das Gedeihen menschlichen Lebens.

Oder wie es Jean Vanier formulierte: „Eine Gemeinschaft ist nicht einfach eine Gruppe von Menschen, die miteinander leben und einander lieben. Gemeinschaft ist ein Ort der Erlösung.“11

Lebenspendende Beziehungen

„Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss.“

In tiefgehenderen Beziehungen zu leben ist buchstäblich lebenspendend.

Eines der umfassenden Forschungsprojekte zum Thema „Beziehungen“ ist die sogenannte Alameda County-Studie. Sie wurde von einem Sozialwissenschaftler aus Harvard geleitet und verfolgte über einen Zeitraum von neun Jahren das Leben von 7.000 Menschen. Die Forscher fanden heraus, dass Menschen, die am stärksten von anderen isoliert lebten, eine dreimal so hohe Sterblichkeitswahrscheinlichkeit hatten wie Menschen, die intensiv in Beziehungen eingebunden waren.

Menschen mit ungesunden Lebensgewohnheiten (Rauchen, schlechte Essgewohnheiten, Fettleibigkeit oder übermäßiger Alkoholgenuss), die aber sozial stark eingebunden waren, lebten deutlich länger als Menschen mit einem gesunden Lebensstil, die aber einsam lebten. Mit anderen Worten: Es ist besser, mit guten Freunden Chips zu futtern, als alleine Brokkoli zu essen. Der Harvard-Wissenschaftler Robert Putnam stellt fest, dass man, wenn man zu keiner Gruppe gehört, aber den Entschluss fasst, sich einer Gruppe anzuschließen, „das Risiko, im nächsten halben Jahr zu sterben, etwa um die Hälfte reduziert“12.

Für eine andere Studie, über die im Journal of the American Medical Association berichtet wurde, wurden 276 Freiwillige mit einem Virus infiziert, der Erkältungssymptome hervorruft. Die Studie ergab, dass Menschen mit starken emotionalen Bindungen viermal besser mit der Krankheit fertig wurden als Menschen, die eher alleine lebten. Erstere waren weniger empfänglich für Erkältungen, hatten weniger Viren und produzierten deutlich weniger Schleim als beziehungsarme Menschen. (Diese Studie ist keine Erfindung von mir. Diese Menschen produzierten tatsächlich weniger Schleim. Das bedeutet, dass buchstäblich gilt: Unfreundliche Menschen sind „rotziger“ als freundliche Menschen.)13

Und doch gehen wir zunehmend weniger Bindungen zu anderen Menschen ein. So lautet jedenfalls die These einer der gründlichsten Studien über die Gesellschaft der Gegenwart, die sich über ein paar Jahrzehnte erstreckte. Robert Putnam wählte den Titel seines Buches Bowling Alone („Alleine kegeln“) aufgrund der Tatsache, dass zwar mehr Menschen als je zuvor zum Kegeln gehen, aber immer weniger in Vereinen spielen. Er dokumentierte zusammen mit seinem Forscherteam, dass die amerikanische Gesellschaft seit 25 Jahren einen stetigen Rückgang an dem verzeichnet, was Soziologen „soziales Kapital“ nennen – ein Gefühl von Gemeinsinn und Gemeinschaft. (Dies wurde u. a. durch einen Slogan illustriert, den die Freiwillige Feuerwehr von Gold Beach/Oregon anlässlich ihrer jährlichen Spendenaktion auf T-Shirts drucken ließ: „Kommen Sie zu unserem Frühstück, wir kommen zu Ihrem Feuer.“) Gleichgültig, ob man staatsbürgerlichen Einsatz, ehrenamtliches Engagement, nachbarschaftliche Beziehungen oder religiöse Einbindung untersucht – Putnam fand heraus, dass das Niveau von Gemeinschaft in Amerika auf dem niedrigsten Stand unserer Generation angekommen ist und dass dieser Verlust an sozialem Kapital eine der Ursachen für ein geringeres Bildungsniveau, mehr Teenagerschwangerschaften, stärkere wirtschaftliche Flaute und eine höhere Verbrechensrate ist.

Die göttliche Gemeinschaft

„Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, da sollte es doch möglich sein, ein System zu finden, in dem niemand einsam sein muss.“

Jemand hat es gefunden.

Und dieser Jemand ist Gott. Das System nennt sich „Gemeinschaft“. Ich glaube, wenn man in einem einzigen Wort zusammenfassen sollte, was Gott vorhat, welches Ziel er mit der Schöpfung des Universums und der Menschen, die es bevölkern, verfolgte, dann wäre es das Wort „Gemeinschaft“. Diese Sache mit der Gemeinschaft erweist sich als weitaus tiefgehender als der Aufbau eines erfolgreichen Netzwerkes emotionaler Unterstützung. Es geht nicht einfach darum, Einsamkeit zu vermeiden. Gemeinschaft ist der Grund, warum das Universum überhaupt existiert und warum auch Sie und ich existieren.

Dallas Willard formuliert es folgendermaßen: „Das Ziel Gottes in der Geschichte ist eine alle umfassende Gemeinschaft liebender Menschen, mit Christus in ihrer Mitte als ihrem Erhalter und ihrem herrlichsten Glied.“14

Wenn wir verstehen wollen, warum Gemeinschaft für Gott eine so große Rolle spielt, müssen wir in der Zeit weit zurückgehen – in die Zeit, bevor die ersten Menschen erschaffen wurden – und versuchen, uns auszumalen, wie das Leben für Gott wohl war, bevor alles andere existierte. An diesem Punkt wird die Lehre von der Dreieinigkeit sehr wichtig. In meiner Kindheit verwirrte mich das meiste, was ich über die Trinität hörte, sehr. Ich erinnere mich noch daran, wie ich alle möglichen Metaphern hörte, die den Gedanken von Gott als Dreieinigkeit illustrieren sollten: Die Trinität ist wie ein Ei, das eine Schale, Eiweiß und Eigelb hat. Die Trinität ist wie Wasser, das die Form von Dampf, Flüssigkeit oder Eis annehmen kann. Aber keine dieser Analogien war für mich sehr hilfreich.

Die ersten Versuche der Kirche, die Trinität zu beschreiben, verwenden nicht die Bilder von Eiern oder Wasser. Sie berichten uns, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist als drei Personen existieren. Ein Gott – vollkommene Einheit –, aber drei Personen.

Schwierig oder nicht – die Vorstellung von der Dreieinigkeit erweist sich als äußerst wichtig, weil sie uns vermittelt, dass Gott selbst in der Ewigkeit Gemeinschaft erlebt hat. Gemeinschaft ist im Wesen Gottes verwurzelt.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie das Leben in der Trinität wohl aussehen mag? Die Verfasser der Bibel sind überwiegend daran interessiert, über Gottes Beziehung zu uns zu schreiben, deshalb wissen wir darüber nicht sonderlich viel. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Meinen Sie, es gab eine Menge Gezänk darüber, wer der Allwissendste oder der Allmächtigste oder wer der Älteste ist? Meine Frau und ich diskutieren von Zeit zu Zeit über Fragen der Arbeitsteilung – wer an der Reihe ist, den Hund auszuführen oder die Spülmaschine auszuräumen. Können Sie sich solche Diskussionen innerhalb der Trinität vorstellen?

Nicht wirklich. „Das Leben Gottes ist ein Leben einer sich selbst schenkenden und von anderen empfangenden Liebe“, schreibt Miroslav Volf.15 Vater, Sohn und Heiliger Geist sind sich so nahe, dass Jesus sagen konnte: „Der Vater ist in mir und ich bin im Vater“ (Johannes 10,38). Das altgriechische Wort für dieses „gegenseitige Bewohnen“ der Trinität lautet perichoresis, von dem unser Wort „Choreographie“ abstammt. Die Trinität existiert als eine Art ewiger Tanz fröhlicher Liebe zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist. Das mag etwas abstrakt klingen, deshalb möchte ich Ihnen ein (menschliches und unzureichendes) Bild zeichnen, was dieses „gegenseitige Bewohnen“ alles beinhaltet.

„Halten du mich?“