Die Liebe, nach der du dich sehnst - John Ortberg - E-Book

Die Liebe, nach der du dich sehnst E-Book

John Ortberg

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Beschreibung

Sehnen Sie sich danach, Gottes Liebe tief in Ihrem Herzen begreifen und spüren zu können? John Ortberg bringt Ihnen den Gott näher, nach dem Sie sich so sehr sehnen: einen Vater, der bis über beide Ohren in Sie - sein Kind - verliebt ist und dem nichts mehr am Herzen liegt als Ihr Wohlergehen. Was könnte alles in Ihrem Leben geschehen, wenn der Glaube an diesen Gott und seine Liebe vom Kopf in Ihr Herz "rutschen" würde! John Ortberg schiebt den Vorhang der Missverständnisse und Verletzungen beiseite und ermöglicht Ihnen einen ganz neuen Zugang zu der unbeschreiblichen Liebe Gottes, die nur darauf wartet, in Ihrem Leben aufzublühen und alles zu verändern!

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Für Ian Pitt-Watson,David Hubbard, Lew Smedesund Rich Mouw

Inhalt

Dank

1. Liebe, die den Verstand übersteigt

2. Liebe schenkt Aufmerksamkeit

3. Gott berührt die Unberührbaren

4. Der Gott der zweiten Chance

5. Jesus, der Lehrer

6. Das gute Gefühl, geliebt zu werden

7. Auf Umwegen

8. Liebe und Gnade

9. Geliebt und auserwählt

10. Sicher in Gottes Liebe

11. Gott geht den Menschen nach

12. Der heruntergekommene Gott

Dank

Ian Pitt-Watson war der erste Prediger, den ich hörte, der auch zugleich ein Poet war; er war ein Künstler. Wenn ich anderen Predigern zuhörte, fühlte ich mich oft informiert, überzeugt oder inspiriert. Aber wenn ich Ian zuhörte, war es manchmal so, als ob ein Schleier zerriss, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich in einem Seminarraum in Pasadena oder im Jerusalem des ersten Jahrhunderts saß. Man fand sich plötzlich auf geheimnisvolle Weise komplett in die Gegenwart Gottes eingetaucht, sehr zur eigenen Überraschung. Zu den größten Geschenken meines Lebens zählen zum einen Ians Predigten und zum anderen seine Freundschaft.

Seine vielleicht beste Predigt war die über die zwei Arten von Liebe: die Liebe, die ihren Wert im Objekt der Liebe sucht, und die Liebe, die selbst Wert schafft. Ian veröffentlichte diese Predigt nie, er gab höchstens ein paar Einzelheiten preis, wenn er seine Predigttheorie illustrieren wollte. Aber die Grundidee dieser Predigt lieferte mir den zentralen Gedanken des ersten Kapitels, das Bild der Lumpenpuppe. Die Geschichten und Erfahrungen, die ich im ersten Kapitel schildere, sind meine eigenen. Pandy existiert wirklich, und es geht ihr in San Diego recht gut. Aber die Inspiration dazu kam von Ian.

Ich möchte noch verschiedenen Menschen danken, die Teile dieses Manuskripts oder sogar das ganze gelesen haben:

Ruth Haley Barton, Gerald Hawthorne, Rich Mouw, Laurie Pederson, Scott Pederson, Lewis Smedes und Jodi Walli. Jack Kuhatscheck war mir wieder einmal eine große Hilfe als Freund und Herausgeber. Jim Ruarks Sorgfalt und Eifer gaben mir immer dann neue Klarheit, wenn ich es am meisten brauchte.

Meiner Frau Nancy möchte ich für ihre Offenheit und Ermutigung danken, und bei Laura, Mallory und Johnny stehe ich in der unbezahlbaren Schuld all derer, die trotz ihrer Verschlissenheit geliebt werden.

1.Liebe, die den Verstand übersteigt

Die Liebe tötet das, was wir waren, damit wir sein können, was wir nicht gewesen sind. (Augustinus)

Sie hieß Pandy. Sie hatte den größten Teil ihrer Haare verloren, besaß nur noch einen Arm und sah insgesamt ziemlich mitgenommen aus. Sie war die Lieblingspuppe meiner Schwester Barbie.

Sie hatte nicht immer so schäbig ausgesehen. Einmal war sie ein persönlich ausgewähltes Weihnachtsgeschenk einer lieben Tante gewesen, die extra in ein großes Kaufhaus im fernen Chicago gereist war, um sie zu finden. Ihr Gesicht und ihre Hände bestanden aus einem gummiartigen Kunststoff und sahen aus wie echt, aber ihr Körper war mit Stofflumpen ausgestopft, damit er sich weich und kuschelig anfühlte wie ein echtes Baby. Als meine Tante Pandy im Schaufenster dieses Kaufhauses sah, wusste sie, dass sie etwas sehr Gutes gefunden hatte.

Als Pandy jung war und nach etwas aussah, liebte Barbie sie. Sie liebte sie mit einer Liebe, die für Pandy leider zu viel war. Wenn Barbie abends zu Bett ging, lag Pandy neben ihr. Wenn Barbie zu Mittag aß, saß Pandy neben ihr am Tisch. Wenn Barbie es schaffte, dann nahm Pandy auch ein Bad zusammen mit ihr. Aus Pandys Sicht war Barbies Liebe zu dieser Puppe eine schicksalhafte Leidenschaft.

Als ich Pandy kennenlernte, war sie keine besonders attraktive Puppe mehr. Um die Wahrheit zu sagen: Sie befand sich in einem üblen Zustand. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie noch an jemanden hätten weitergeben können.

Aber aus irgendwelchen Gründen, die sich dem gesunden Menschenverstand entzogen, liebte meine Schwester diese Puppe immer noch, wie Kinder eben manchmal sind. Sie liebte die verschlissene Pandy noch genauso wie in ihren besten Tagen.

Andere Puppen kamen und gingen; aber Pandy war ein Familienmitglied. Wenn man Barbie liebte, musste man auch ihre Lumpenpuppe lieben. Die beiden gab es nur im Sammelpack.

Einmal fuhren wir im Urlaub von Rockford in Illinois, wo wir wohnten, nach Kanada. Auf dem Rückweg merkten wir kurz vor der Grenze von Illinois, dass Pandy nicht bei uns war. Sie war im Hotel in Kanada zurückgeblieben.

Es gab keine andere Möglichkeit. Mein Vater wendete umgehend, und wir fuhren Hunderte von Kilometern zurück nach Kanada. Wir waren eine hingebungsvolle Familie. Vielleicht nicht besonders intelligent, aber sehr hingebungsvoll.

Wir stürmten in das Hotel und durchsuchten mit dem Angestellten an der Rezeption die ganze Lobby – keine Pandy. Wir rannten in unser Zimmer – keine Pandy. Wir rannten die Treppe wieder hinunter und suchten die Wäscherei ab, und dort war Pandy. Eingewickelt in Betttücher und kurz davor, zu Tode gewaschen zu werden.

Die Liebe meiner Schwester zu dieser Puppe war so groß, dass sie in ein anderes Land reiste, nur um sie zu retten.

Die Jahre vergingen und meine Schwester wurde älter. Sie wuchs aus Pandy heraus. Sie tauschte sie gegen einen Freund namens Andy ein (der seltsamerweise noch unattraktiver war als Pandy).

Lange Zeit stand Pandy nicht mehr sehr hoch im Kurs, und da schien es nur logisch, sie wegzuwerfen. Aber das konnte meine Mutter nicht übers Herz bringen. Sie nahm Pandy noch ein letztes Mal in die Arme, wickelte sie mit ganz besonderer Sorgfalt in Seidenpapier ein, legte sie in eine Schachtel und bewahrte sie zwanzig Jahre lang auf dem Dachboden auf.

Ich hatte als Kind alle möglichen Spielsachen und Stofftiere, aber meine Mutter bewahrte kein einziges davon auf. Doch Pandy hob sie auf. Und wissen Sie, warum? (Als ich jünger war, dachte ich, dass es vielleicht daran lag, dass sie meine Schwester, diese Göre, mehr liebte als mich.)

Die Liebe meiner Schwester machte Pandy so wertvoll.

Barbie liebte diese kleine Lumpenpuppe so sehr, dass diese Liebe die Puppe kostbar für jeden machte, der Barbie liebte. All diese Tränen und Umarmungen und Geheimnisse verwoben sich irgendwie mit dem verschlissenen Stoff, aus dem sie bestand. Wenn man Barbie liebte, musste man auch Pandy lieben.

Es vergingen weitere Jahre. Meine Schwester heiratete (nicht Andy, zum Glück) und zog fort. Sie bekam drei Kinder. Das dritte Kind war ein kleines Mädchen und hieß Courtney. Courtney erreichte bald das Alter, in dem sie eine Puppe haben wollte.

Es gab keine Frage: Barbie fuhr nach Hause nach Rockford, stieg auf den Dachboden und holte Pandys Schachtel hervor. Zu diesem Zeitpunkt war Pandy eher ein Bündel Lumpen als eine Puppe.

Also brachte meine Schwester sie in Kalifornien in eine Puppenklinik (dort gibt es tatsächlich so etwas) und ließ sie operieren. Pandy wurde einem Facelifting, oder was auch immer man bei Puppen macht, unterzogen, und bald war sie auch äußerlich wieder so schön, wie sie in den Augen des Menschen, der sie liebte, immer gewesen war. Ich weiß nicht, ob sie auch für Barbie schöner war, aber jetzt war es zumindest für andere Menschen möglich zu sehen, was Barbie immer in Pandy gesehen hatte.

Als Pandy neu war, liebte Barbie sie. Sie feierte ihre Schönheit. Als Pandy alt und verschlissen war, liebte Barbie sie immer noch. Ihre Liebe war reifer geworden. Nun liebte sie Pandy nicht einfach, weil sie schön war, sondern sie liebte sie mit einer Liebe, die Pandy Schönheit verlieh.

Inzwischen sind weitere Jahre vergangen. Das Nest meiner Schwester wird bald leer sein. Courtney ist ein Teenager und wird bald eine junge Frau sein. Andy jr. steht schon in den Startlöchern.

Und Pandy? Pandy bereitet sich auf die nächste Schachtel vor.

Zwei Wahrheiten

Es gibt zwei grundlegende Wahrheiten über uns Menschen.

Wir alle sind Lumpenpuppen. Fehlerhaft und schmuddelig, zerbrochen und verbogen. Seit dem Sündenfall lebt jeder Mensch am Abgrund der Schäbigkeit. Teilweise ist das etwas, was uns einfach widerfährt. Vielleicht sind in unseren Genen bestimmte Schwächen angelegt. Oder vielleicht haben uns unsere Eltern gerade in dem Augenblick im Stich gelassen, in dem wir sie am meisten brauchten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Jeder von uns legt sich sein eigenes Guthaben auf dem Lumpenkonto an. Wir entscheiden uns dafür, andere zu täuschen, wenn wir die Wahrheit sagen sollten. Wir schimpfen, wenn ein großzügiges Lob angebracht wäre. Wir werden untreu, wenn wir loyal sein sollten.

Wie ein Tintenspritzer in einem Glas Wasser durchdringt diese Schäbigkeit unser ganzes Leben. Unsere Worte und Gedanken sind nie völlig davon frei. Wir sind eben Lumpenpuppen.

Aber wir sind Gottes Lumpenpuppen. Er sieht unsere Schäbigkeit und liebt uns trotzdem. Unsere Verschlissenheit ist nicht mehr das Wichtigste an uns.

Wir sind nicht so schäbig geschaffen. Ganz am Anfang umgab den Menschen ein Wunder, das Gott dazu bewegte, bei seinem Anblick „sehr gut“ zu sagen. Den Menschen umgab ein Wunder, das den Autor des Buches Genesis dazu veranlasste zu schreiben, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen war. Den Menschen umgibt ein Wunder, das auch unsere Schäbigkeit nicht völlig auslöschen kann.

Auch Sie persönlich umgibt dieses Wunder. Die Verschlissenheit ist nicht Ihre wahre Identität. Schäbig zu sein ist nicht Ihr Schicksal, auch nicht meins. Wir sind vielleicht nicht liebenswert, aber wir sind geliebt.

Und wir können auf Dauer nicht geliebt sein, ohne uns zu verändern. Wenn Menschen Liebe erfahren (und mit Liebe meine ich hier nicht nur herzliche Gefühle gegenüber anderen Menschen; ich meine wahre Liebe, die manchmal hart und herausfordernd und sogar schmerzhaft sein kann), dann fangen sie an, liebenswert zu werden.

Das gilt auch für den physischen Bereich. Psychologen haben herausgefunden, dass sich die positive Erregung darüber, geliebt zu werden, auf den Herzschlag auswirkt: Ihr Gesicht strahlt, die Lippen röten sich mehr als sonst, und die Ringe unter den Augen sind fast nicht mehr zu sehen! Stark empfundene Gefühle sorgen dafür, dass sich Ihre Pupillen weiten und Ihre Augen strahlender und klarer aussehen. Wir sind so konstruiert, dass selbst unser Körper schöner wird, wenn er geliebt wird.

Wir kennen überwiegend die Art von Liebe, die sich auf jemanden oder etwas von großem Wert konzentriert. Diese Art der Liebe feiert die Schönheit oder Stärke dessen, der geliebt wird. Wir sind vertraut mit einer Liebe, die sich zu einem Objekt hingezogen fühlt, weil es teuer oder attraktiv ist, oder der Person, die mit diesem Objekt verbunden ist, einen gewissen Status verleiht.

Die alten Griechen hatten ein Wort für diese Art der Liebe: das Wort „eros“. Wenn wir dieses Wort hören, denken wir vermutlich zuerst an unser Wort „erotisch“, aber „eros“ war mehr als eine rein sexuelle Liebe. Im Wesentlichen beschreibt „eros“ eine Liebe, die ich in etwas investiere, was meine Wünsche erfüllt, meine Bewunderung besitzt oder meine Lust befriedigt. „Eros“ ist die Liebe, die sich auf Schatzsuche befindet. Sie ist der Lohn, der mit dem Titel „Miss Amerika“ oder „Erotischster Mann des Jahres“ einhergeht.

Schon sehr früh lernen wir diese Art der Liebe kennen.

Studien zeigen, dass Erwachsene hübsche Babys häufiger anlächeln, küssen und knuddeln als eher unansehnliche Babys. Väter kümmern sich mehr um niedliche Babys als um solche, die allgemein als nicht so süß bezeichnet werden.

Karen Lee-Thorp bemerkt, dass die Geschichten, die man Kindern erzählt, dies verstärken: „Der Prinz war nicht von Aschenputtels intelligenter, einfühlsamer Konversation bezaubert; er war vernarrt in ihre schicke Garderobe und ihre kleinen Füße. Schneewittchen und Dornröschen schnappten sich ihre Männer, während sie im Koma lagen“ (aus: „Why Beauty Matters“ [Warum Schönheit doch zählt], NavPress 1997).

Rapunzel verbrachte zwanzig Jahre im Turm und hatte nie Frisurprobleme.

„Eros“ – die Liebe, die aus einem Bedürfnis, aus Bewunderung und aus Verlangen heraus entsteht – ist nicht notwendigerweise eine schlechte Art der Liebe. Es ist gut, dass ein Kind die Mutter liebt, deren Milch für es Leben bedeutet. Es ist gut, wenn ein Mann die Schönheit der von ihm geliebten Frau feiert.

Aber „eros“ alleine ist zu unsicher, um Ihr Leben darauf aufzubauen, wenn Sie eine angeschmuddelte Lumpenpuppe sind. Dann stehen Sie in einem aussichtslosen Wettbewerb, in dem Sie ständig beweisen müssen, dass Sie schön genug, schlau genug, stark genug oder geistlich genug sind, um Liebe zu verdienen. Sie müssen ständig Angst davor haben, die unansehnlichen Ecken Ihres wahren Ichs zu zeigen. Nein, Lumpenpuppen brauchen eine Liebe, die aus härterem Holz geschnitzt ist als „eros“.

Gott sei Dank gibt es eine Liebe, die ihr Objekt wertvoll macht. Es gibt eine Liebe, die abgenutzte Lumpenpuppen zu kostbaren Schätzen werden lässt.

Es gibt eine Liebe, die sich aus Gründen, die niemand je verstehen wird, zu schäbigen kleinen Geschöpfen hingezogen fühlt und sie dadurch kostbarer werden lässt, als sie selbst es je für möglich gehalten hätten. Das ist eine Liebe, die den Verstand übersteigt.

Das ist die Liebe Gottes. Das ist die Liebe, mit der Gott Sie und mich liebt.

Gott hat uns in erster Linie aus Liebe geschaffen. Theologen betonen gern, dass Gott alles aus freier Entscheidung geschaffen hat, nicht aus einer Notwendigkeit heraus. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke. Es bedeutet nämlich, dass Gott uns nicht etwa schuf, weil ihm gerade langweilig war, weil er sich einsam fühlte oder nichts anderes mit sich anzufangen wusste.

Gott erschuf uns nicht aus einer Notwendigkeit heraus.

Er schuf uns vielmehr aus seiner großen Liebe heraus.

C. S. Lewis schrieb: „Gott, der nichts braucht, liebt völlig überflüssige Geschöpfe ins Dasein, um sie zu lieben und vollkommen zu machen“ (aus: „Was man Liebe nennt“, Brunnen 1998).

Aber das volle Ausmaß der Liebe Gottes zeigte sich noch nicht so sehr darin, dass er sich dazu entschloss, uns zu erschaffen. Es kam erst richtig zum Tragen, als wir schäbig und unliebenswert geworden waren.

Paulus formulierte es folgendermaßen: „Diese Liebe zeigt sich darin, dass Christus sein Leben für uns hingegeben hat. Zur rechten Zeit, als wir noch in der Gewalt der Sünde waren, ist er für uns gottlose Menschen gestorben. Nun wird sich kaum jemand finden, der für einen Gerechten stirbt; allenfalls opfert sich jemand für eine gute Sache. Wie sehr Gott uns liebt, beweist er uns damit, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,6–8).

Denn Gott kennt unser Geheimnis. Er weiß, dass wir verschlissen sind. Der Prophet Jesaja sagte vor einigen Tausend Jahren: „Wir alle sind von Unrecht befleckt; selbst unsere allerbesten Taten sind unrein wie ein schmutziges Kleid“ (Jes 64,6).

Jeder von uns weist Verschleißerscheinungen auf; wir sind so durch Sünde und Schuld in Mitleidenschaft gezogen, dass es für Gott eigentlich längst logisch gewesen wäre, den Menschen auszurangieren, wegzuschmeißen und noch mal neu anzufangen.

Aber Gott konnte sich nicht dazu überwinden. Also entschloss er sich zu einer Runderneuerung. Er schuf einen Ort, an dem die schmutzigen Kleider gewechselt und die Schuld abgelegt werden kann, die die Objekte seiner Liebe so unliebenswert erscheinen ließen.

Diesen Ort gibt es wirklich. Es ist das Kreuz.

Normale menschliche Liebe kann unter Umständen Opfer für eine gute Sache bringen, wie Paulus im Römerbrief schreibt. Aber Gott ging bis zum Äußersten, um seine Liebe zu uns unter Beweis zu stellen. Er starb für uns genau zur rechten Zeit, nämlich als wir verschlissen, schwach und voller Flecken waren.

Die Autoren der Bibel wollten nicht das bereits besetzte Wort „eros“ verwenden, um diese andere Art der Liebe zu beschreiben. Deshalb wählten sie dafür ein ziemlich farbloses Wort, nämlich „agape“. Die Griechen verwendeten dieses Wort nicht sehr oft, aber nun hatte es eine neue Bedeutung bekommen.

Ein altes Wort für diese Art der Liebe ist „Barmherzigkeit“. Barmherzigkeit ist ein Ausdruck für Liebe in Form eines reinen Geschenkes. Dieses Wort wird nicht mehr oft verwendet, weil es in vielen Fällen einen gönnerhaften oder abwertenden Beigeschmack hat. Keiner möchte schließlich ein Wohltätigkeitsfall sein.

Aber letztlich ist diese absolute Liebe ein unverdientes Geschenk an uns.

C. S. Lewis schrieb: „Wir alle empfangen Barmherzigkeit. In jedem von uns steckt etwas, das man natürlicherweise nicht lieben kann. Es ist niemandes Fehler, wenn er es nicht liebt. Nur das Liebenswerte kann ganz natürlich geliebt werden. Sie könnten Menschen genauso bitten, den Geschmack von verschimmeltem Brot oder das Geräusch eines Bohrers zu mögen.

Wir können trotzdem Vergebung, Gnade und Liebe finden durch Barmherzigkeit; es gibt keine andere Möglichkeit. Jeder, der gute Eltern, Ehefrauen, Ehemänner oder Kinder hat, kann sicher sein, dass er irgendwann Barmherzigkeit empfängt und nicht geliebt wird, weil er liebenswert ist, sondern weil die Liebe selbst in denen ist, die ihn lieben“

(aus: „Was man Liebe nennt“, Brunnen 1998).

Zur Liebe berufen

Im Neuen Testament finden sich zwei Gebote, die den Kern unserer Antwort auf die Liebe Gottes ausmachen. Sie lassen sich nicht voneinander trennen. In diesen beiden Geboten, sagt Jesus, drückt sich im Wesentlichen der ganze Wille Gottes aus: „Der Herr ist unser Gott, der Herr und sonst keiner. Darum liebt ihn von ganzem Herzen und mit ganzem Willen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft. Das zweite ist: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst! Es gibt kein Gebot, das wichtiger ist als diese beiden“ (Mk 12,29–31).

Gott zu lieben bedeutet, auch die Menschen zu lieben, die Gott so wichtig sind. In den Worten Jesu ausgedrückt: „Was ihr einem von diesen Kleinen getan habt, das habt ihr mir getan.“

„Liebe mich, liebe meine Lumpenpuppen“, sagt Gott. Auch hier gibt es nur den Doppelpack.

Wenn es uns ernst damit ist, Gott zu lieben, müssen wir bei den Menschen anfangen, und zwar bei allen Menschen. Und wir müssen vor allem lernen, die Menschen zu lieben, die die Welt normalerweise als Ausschuss betrachtet …

Zur Zeit Jesu waren die Menschen, die sich ihres schäbigen Zustandes bewusst waren, am empfänglichsten für die Liebe Jesu. Eines Tages war Jesus bei einem Pharisäer namens Simon zum Essen, der sich auch aus der Sicht Gottes für einen durchaus liebenswerten Mann hielt.

Da betrat eine Frau das Haus. Lukas berichtet uns, dass sie eine „Sünderin“ war, was vermutlich höflich ausgedrückt bedeutete, dass sie eine Prostituierte war. Zweifellos war sie ein ungebetener Gast und schockierte mit ihrer Anwesenheit alle, außer der einzigen wirklich heiligen Person in diesem Haus. Sie hatte ihren Ruf verloren, den größten Teil ihrer Tugend eingebüßt und war, ganz allgemein gesagt, ziemlich verschlissen. Sie hieß Pandy.

Sie war nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie die kleine Tochter von jemandem gewesen. Damals hatte jemand Träume für sie gehabt … vielleicht. Sie hatte selbst Träume gehabt … unter Umständen. Aber diese Zeit lag schon lange zurück. Es war viele Jahre her, dass sie sich öffentlich in schicklicher Gesellschaft befunden hatte. Es kostete sie allen Mut, den sie aufbringen konnte, den Blicken und dem Getuschel im Raum die Stirn zu bieten.

Sie stand hinter Jesus, bei seinen Füßen (zu dieser Zeit lag man beim Essen, statt an einem Tisch zu sitzen). Aber als sie sich überwinden konnte, Jesus in die Augen zu blicken, sah sie dort keine Verachtung, sondern Liebe.

Sie hatte kostbares Parfümöl mitgebracht, um Jesus zu salben. Das geschah normalerweise, indem man jemandem das Öl über den Kopf goss. Aber als sie Jesus ansah, kamen ihr die Tränen. Vielleicht dachte sie daran, wie sie das Geld für dieses Parfüm verdient hatte. Oder sie erinnerte sich an das unschuldige kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Vielleicht dachte sie auch an die Kluft zwischen dem, was aus ihr geworden war, und dem, was sie einmal hatte werden wollen. Wie auch immer, jedenfalls begann sie, Jesus statt den Kopf die Füße mit einer Mischung aus Parfüm und Tränen zu salben.

Und dann löste sie ihr Haar. Das galt als unanständige Geste; sie verletzte damit gesellschaftliche Normen: Respektable jüdische Frauen trugen ihr Haar in der Öffentlichkeit nie offen. Als Prostituierte hatte sie ihr Haar schon viele Male gelöst, und jedes Mal hatte sie ihrem Herzen eine neue Wunde und ihrer Seele eine neue Schramme zugefügt. Sie hatte ihr Haar schon oft gelöst und nun tat sie es noch einmal. Aber dieses sollte das letzte Mal sein. Dieses Mal machte sie es richtig. Die Tage ihrer Schäbigkeit waren gezählt.

Simon wartete nur darauf, Jesus erklären zu können, wer diese Frau war. Bevor wir zu hart mit Simon ins Gericht gehen, lohnt es sich zu fragen, wie ich an seiner Stelle reagiert hätte. Diese Frau hatte sich mit ihrem Lebensstil schließlich Gott widersetzt. Sie hatte die allgemein geltenden Treuemaßstäbe herabgesetzt. Sie hatte vielleicht dazu beigetragen, ein paar Familien zu zerrütten. Man kann nicht über ihre Fehler hinwegsehen. Ein Wort zu Moral und Anstand scheint hier nicht fehl am Platz zu sein.

Aber Jesus ist auf geradezu schockierende Weise bereit, ihr zu vergeben. Er erkennt, im Gegensatz zu Simon, dass das Gericht schon vollzogen ist, wenn echte Reue einsetzt. Er macht Simon klar, dass dieser ihm nicht einmal Wasser zur Verfügung gestellt hatte, damit Jesus sich die Füße waschen konnte. Diese Frau hatte ihm aber die Füße mit allem gesalbt, was sie besaß, vermischt mit ihren Tränen. Simon hatte ihm keinen Begrüßungskuss angeboten, während die Frau aber überhaupt nicht mehr aufhören konnte, ihm die Füße zu küssen. Während Simon ihm nicht einmal billiges Olivenöl zur Erfrischung angeboten hatte, hatte die Frau ihn mit sündteurem Parfümöl gesalbt.

Simon konnte nicht viel Liebe empfangen, weil er sich hartnäckig an den Gedanken klammerte, dass er nicht viel Vergebung nötig hatte. Sein Gefühl der moralischen und geistlichen Überlegenheit führte dazu, dass er das Bewusstsein für seinen eigenen armseligen Zustand zu verlieren begann. Auf diese Weise wurde sein Herz langsam weniger liebevoll und liebenswert als das der Sünderin, die er so verachtete.

Aber sie wusste es. Die Frau wusste genau, wer sie war, und sie wusste auch, dass Jesus es wusste und sie trotzdem liebte. Und so wurde sie verändert. „Deine Schuld ist dir vergeben! Dein Vertrauen hat dich gerettet. Geh in Frieden“ (Lk 7,48f.), sagte Jesus zu ihr. Damit erstaunte er Simon mehr als seine Gäste und die Frau noch mehr als Simon.

„Sie ist vielleicht nur eine verschlissene Lumpenpuppe“, sagte Jesus, „aber sie gehört zu mir. Liebe mich. Liebe meine Lumpenpuppen.“ Es ist ein Sammelpack …

Woraus besteht dieses Wunder der Liebe? Ich denke, dass drei Dinge den nicht mehr reduzierbaren Kern von Liebe ausmachen. Und ich muss lernen, jedes dieser drei Elemente der Liebe Gottes anzunehmen, wenn ich als sein Kind wachsen will.

Liebe bedeutet, für die geliebte Person zu sein

Wenn ich jemanden liebe, bedeutet das, dass ich für ihn bestimmte Hoffnungen, Absichten und Wünsche habe. Ich stehe auf seiner Seite. Ich will sehen, dass er gedeiht und aufblüht. Ich wünsche mir, dass er mit Freude und Schönheit erfüllt wird. Liebe sehnt sich danach: „Ihr sollt ja rein und fehlerlos werden und euch als Gottes vollkommene Kinder erweisen – mitten unter verirrten und verdorbenen Menschen; ihr sollt leuchten unter ihnen wie die Sterne am nächtlichen Himmel“ (Phil 2,15).

Das heißt aber auch, dass wir manchmal vielleicht etwas tun müssen, was der Person, die wir lieben, Schmerz bereitet. Liebe wird oft mit Nachsichtigkeit verwechselt. Wenn wir von Liebe sprechen, meinen wir oft damit, immer das zu tun, was die Person, die wir lieben, von uns erwartet. Aber das ist natürlich nicht Liebe; es ist nicht einmal vernünftig. Probieren Sie das bei einem dreijährigen Kind aus, und ich wette mit Ihnen, dass es keine vier Jahre alt werden wird.

Zu sagen, dass Jesus die Menschen liebte, ist nicht gleichbedeutend damit, dass er immer das tat, was sie von ihm erwarteten. Dan Allender schreibt: „Wenn Christus die Art der Liebe praktiziert hätte, die wir heute so befürworten, hätte er ein stattliches Alter erreicht.“ Er führt weiter aus, dass wahre Liebe in vielen Fällen „diejenigen, die geliebt werden, entnerven, angreifen, beunruhigen oder verletzen wird“ (Dan B. Allender & Tremper Longman: „Bold Love“, NavPress, 1992).

Für jemanden zu sein geht tiefer, als ihn nur vor Schmerz bewahren zu wollen. Wenn ich wirklich für einen Menschen bin, dann bin ich auch bereit, schmerzhafte Aussagen zu riskieren, wenn Schmerz die einzige Möglichkeit ist, Wachstum zu fördern. „Denn wen der Herr liebt, den erzieht er mit Strenge“ (Hebr 12,6). Echte Liebe ist bereit, den anderen zu warnen, zu tadeln, zu konfrontieren oder zu ermahnen, wenn es nötig ist.

Wir sollen einander lieben, wie Christus die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, „denn er wollte sie als seine Braut in makelloser Schönheit vor sich stellen, ohne Flecken und Falten oder einen anderen Fehler, heilig und vollkommen“ (Eph 5,27). Achten Sie darauf, dass Paulus nicht schreibt, dass Jesus die Kirche liebte „und sagte, dass ihre Flecken, Falten und anderen Fehler keine Rolle spielten“. Er wollte nicht nur eine Fehlerreduktion um fünfzig Prozent. Wahre Liebe möchte, dass der andere die makellose Schönheit erreicht, die Gott ihm zugedacht hat – keine Flecken, keine Falten, keine Fehler. Solche Makel zu entfernen geht fast nie ohne Schmerzen ab. Manchmal bedeutet Liebe auch, jemandem die Stirn zu bieten oder sich gegen ihn zu stellen.

Aber das geschieht nur demütig und widerstrebend. Echte Liebe möchte nie jemandem Schmerz um des Schmerzes willen zufügen. Aber oft bin ich nicht nur bereit, jemandem Schmerz zuzufügen, ich bin geradezu begierig darauf. Ein sicheres Kriterium ist: Ich habe die falschen Motive, einem anderen Menschen Schmerz zu bereiten, wenn ich daran auch nur das leiseste Anzeichen von Freude empfinde. Gottes Liebe bringt ihn dazu, unendlich mehr Schmerz um unsretwillen auf sich zu nehmen, als wir jemals tragen könnten: „Er hat seinen Sohn gesandt, damit er durch seinen Tod Sühne leiste für unsere Schuld“ (1 Joh 4,10).

Für jemanden zu sein bedeutet, sich mit ihm zu identifizieren, ihn anzufeuern; seine Siege zu feiern und seine Rückschläge zu beklagen. Für jemanden zu sein bedeutet, ihm zutiefst und aufrichtig Gutes zu wünschen.

Das zeigt, wie schwer es ist, wirklich zu lieben. Ich muss zugeben, dass ich meinen Feinden nicht unbedingt Erfolg wünsche. Und noch demütigender ist die Tatsache, dass ich, wenn ich ganz ehrlich bin, oft auch meinen Freunden keinen allzu großen Erfolg wünsche.

Dem Apostel Paulus verschlug es den Atem, als er erkannte, dass Gott trotz seines armseligen Zustands für ihn war: „Gott selbst ist für uns, wer will sich dann gegen uns stellen? … Kann uns noch irgendetwas von Christus und seiner Liebe trennen?“ (Röm 8,31.35).

Zu wissen, dass Gott uns liebt, bedeutet, dass Gott für uns ist. Gott wünscht uns mehr Erfolg, als wir selbst uns vorstellen können.

Liebe freut sich an der Person, die sie liebt

Dieser Aspekt betrifft das Herz dessen, der liebt. Wenn ich jemanden liebe, dann geschieht das nicht einfach aus Pflichtgefühl.

Ich erinnere mich an einen christlichen Redner, der sagte, dass man seinen Ehepartner immer „trotz“ und nicht „weil“ lieben sollte. Aber wer möchte schon der Adressat solcher Liebe sein? Stellen Sie sich vor, ich hätte meiner Frau einen Heiratsantrag mit folgenden Worten gemacht: „An dir ist zwar eigentlich nichts, wofür sich ein vernünftiger Mensch erwärmen könnte, aber weil ich so großzügig und edel gesinnt bin, werde ich mir die Nase zuhalten und dich trotzdem lieben.“ Ich vermute, dass ich mit meinem Antrag nicht sehr viel Erfolg gehabt hätte.

Nein, wenn wir jemanden lieben, dann leuchten unsere Augen schon bei seinem bloßen Anblick auf. Das wird sehr schön im Buch Exodus formuliert, als Gott Mose aus dem brennenden Dornbusch heraus sagt, dass sein Bruder Aaron unterwegs ist, um ihm entgegenzugehen: „Wenn er dich sieht, wird er sich von Herzen freuen“ (Ex 4,14; Einheitsübersetzung). Wenn Sie jemanden sehen, den Sie lieben, wird Ihr Herz froh.

Liebe besteht nachdrücklich darauf, dass derjenige, der geliebt wird, auch wirklich geliebt werden sollte. Liebe feiert den geliebten Menschen. Das ist der Grund, warum Liebe seit jeher ihren tiefsten Niederschlag in romantischen Liebesliedern findet, und das wird auch immer so bleiben.

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Gott uns so liebt. Manche Prediger oder Autoren klingen, als ob Gott uns nur mit einer „Trotzdem-Liebe“ lieben würde. Natürlich gibt es vieles an uns, „trotzdem“ Gott uns lieben muss. Aber unser armseliger, schäbiger Zustand ist nicht alles, was uns ausmacht. Wie Lewis Smedes es ausdrückt, mag es vielleicht schlimm sein, dass Gott für mich sterben musste, aber es ist doch wunderschön, dass Gott mich für so wertvoll hält, dass er dazu bereit war. Wir sind vielleicht verschlissen, aber wir sollten diese Verschlissenheit niemals mit Wertlosigkeit verwechseln.

Gott liebt Sie nicht, weil er muss, sondern er liebt Sie, weil er es möchte. Gott freut sich über Sie. Das bedeutet natürlich nicht, dass Gott sich über alles freut, was Sie machen. Das tut nicht einmal Ihre eigene Mutter, wenn sie ihren gesunden Menschenverstand beisammen hat. Aber die Tatsache, dass Sie existieren – so, wie Sie sind, ist in Gottes Augen etwas sehr Gutes. Gott möchte Sie lieben.

Der Psalmist spricht davon, dass Gott ihn als seinen „Augapfel“ betrachtet (Ps 17,8; Einheitsübersetzung). Der Begriff „Augapfel“ wird in der Bibel einige Male verwendet. Er bezeichnet das, was Sie sehen, wenn Sie einem anderen Menschen aus kürzester Entfernung direkt ins Auge blicken. Sie sehen Ihr Bild im Auge des anderen. Übertragen Sie das auf Ihre Beziehung zu Gott: Sie sehen sich selbst im liebevollen Blick des Vaters reflektiert. Sie sind Gottes Augapfel!

Natürlich wird jeder, der liebt, manchmal von der Person enttäuscht, die er liebt. Er kennt den Schmerz der unerwiderten Liebe. Wer liebt, singt nicht nur Liebeslieder; er singt häufiger als alle anderen den Blues.

Auch Gott geht es so. „Als Israel noch jung war, gewann ich es lieb. Aus Ägypten rief ich es wie ein Vater seinen Sohn. Immer wieder rief ich die Leute von Israel durch meine Propheten, aber sie liefen von mir weg … Dabei war doch ich es, der Efraïm die ersten Schritte gelehrt und es auf den Armen getragen hatte. Aber sie erkannten nicht, dass ich mich um sie kümmerte … Mit Seilen der Liebe leitete ich sie. Ja, ich war für sie wie der Bauer, … der sich sogar bückt, um ihm sein Futter hinzuhalten … Mein Volk kehrt nicht um und hält an seiner Auflehnung gegen mich fest“ (Hos 11,1–7).

Gott hat im Übermaß, was alle Liebenden bis zu einem gewissen Grad haben, nämlich die Gabe der doppelten Sichtweise: „… all das Lob unter dem Himmel hält ihren Liebhaber nicht davon ab zu wissen (mit vernünftiger Genauigkeit und unvernünftiger Liebe), wann sie faul, unanständig oder böswillig ist. Sie hat ein doppeltes Wesen und er kann eine doppelte Sichtweise entwickeln“ (aus: Charles Williams: „He Came Down from Heaven“, Eerdmans, 1984, S. 107).

Gott sieht mit absoluter Klarheit, wer wir sind.

Er ist total im Bilde über unsere Schäbigkeit. Aber wenn Gott uns ansieht, dann sieht er viel mehr als das, was wir sind. Er sieht auch, wer wir sein können und wie wir eines Tages werden sollen. Wir sagen manchmal, dass Liebe blind macht, aber das stimmt nicht. Nur die Liebe allein sieht richtig, weil sie eine doppelte Sichtweise hat. Während Gott uns ansieht, fängt er an, das Gute und Schöne in uns an die Oberfläche zu locken, damit es eines Tages nicht nur für ihn, sondern für alle Welt sichtbar wird.

Und das macht sein Herz froh.

Liebe dient der Person, die sie liebt

Mehr als alles andere zeichnet sich die Liebe dadurch aus, dass sie gibt. Geben ist für die Liebe wie Essen für den Hunger. Geben ist der natürliche Ausdruck von Liebe. „Gott hat die Menschen so sehr geliebt …“, beginnt einer der bekanntesten Verse der Bibel (Joh 3,16).

Geben verleiht der Liebe Charakter. Ohne praktische, dienende Gesten hat die Liebe kein Knochengerüst, nichts, was sie stützen könnte.

„Eros“ findet es im Anfangsstadium leicht zu geben. Karten, Blumen und Zärtlichkeiten fließen so breit dahin wie der Nil. Der anfängliche Gefühlsschub wirkt dabei unterstützend. Diese Gefühle sind so etwas wie emotionale Stützräder, aber früher oder später muss man doch selbst die Balance halten lernen. „Eros“ gibt vielleicht gern – aber nur, wenn es dafür eine angemessene Gegenleistung gibt. Echte Liebe aber gibt auch dann, wenn keine Gegenleistung zu erwarten ist.

Ich habe einmal die Geschichte von einem achtjährigen Jungen gelesen, dessen jüngere Schwester Leukämie hatte. Man sagte ihm, dass seine Schwester ohne eine Bluttransfusion sterben würde. Seine Eltern fragten ihn, ob sie sein Blut testen dürften, um zu sehen, ob es mit ihrem Blut kompatibel war.

Er willigte ein. Sie ließen sein Blut testen und es passte. Dann fragten sie ihn, ob er seiner Schwester sein Blut spenden würde, da dies die einzige Überlebenschance für sie wäre. Er sagte, dass er darüber über Nacht nachdenken würde.

Am nächsten Tag sagte er seinen Eltern, dass er bereit wäre, sein Blut zu spenden. Sie brachten ihn ins Krankenhaus und legten ihn auf eine Bahre neben seine kleine Schwester. Beide wurden an den Tropf gehängt. Eine Krankenschwester nahm dem Jungen einen halben Liter Blut ab. Der Junge lag schweigend da, als das Blut, das seine Schwester retten sollte, vom Tropf herunterrann. Schließlich kam der Arzt vorbei und fragte, wie es ihm ging. Da öffnete der Junge die Augen und fragte: „Wann werde ich denn sterben?“

Liebe ist erst dann völlige Liebe, wenn sie gibt.

Noch eine Geschichte über eine Lumpenpuppe. Diese hier heißt Al.

Al war mein Schwiegervater. Er war ein unkomplizierter Mensch, den man leicht mögen konnte. Er war von Natur aus sportlich und hielt sich leidenschaftlich gern im Freien auf. Er liebte Jagen und Angeln. Als wir unsere erste Tochter bekamen (sein erstes Enkelkind, da meine Frau keine Geschwister hat), war uns nicht klar, wie begeistert Al von der Aussicht war, sie mit hinaus in die Natur zu nehmen. Bis wir eines Tages von meinen Schwiegereltern zurückfuhren, wo Al mit Laura heimlich geübt hatte.

Sie war etwa ein Jahr alt und wir stellten ihr die ganzen Routinefragen, die erstgeborene Kinder erleiden müssen: „Laura, wie macht eine Katze?“

„Miau.“

„Und wie macht ein Hund?“

„Wau, Wau.“

„Und welches Geräusch macht ein Vogel?“

„Peng!“

Ihr Großvater wollte, dass sie mit der Realität des Lebens vertraut war.

Al war ein Mann, dem es relativ egal war, was man über seine Frau oder seine Tochter sagte – man durfte nur niemals etwas gegen seinen Hund sagen. Der Hund, Eppie, war, um die Wahrheit zu sagen, ziemlich feist, aber Al wollte davon nichts hören. Er bestand darauf, dass sein Hund eine ganz besondere Rasse war: „ein kurzbeiniger Labrador“. Dass der Bauch des Hundes so nah über dem Boden hing, lag nicht daran, dass er so dick war, sondern daran, dass eben die Beine kurz waren.

Al’s Schwachpunkt war die Flasche. Er war Alkoholiker, wie auch sein Vater, sein Onkel und sein Bruder. Sein Alkoholismus bewirkte bei ihm keine Nachlässigkeit; er versäumte weder seine Arbeit noch verschwendete er sein Geld. Aber der Alkohol machte es schwer zu erkennen, was in ihm vorging. Nancy war sich immer sicher, dass ihr Vater sie liebte, wenn auch nur auf seine eigene, armselige Weise. Er sagte es nie geradeheraus. Wenn sie ihm manchmal am Telefon sagte, dass sie ihn liebte, murmelte er allerhöchstens einmal schnell: „Ich dich auch.“ Aber so etwas sagte er nie von sich aus.

In einem Herbst wurde seine Haut plötzlich gelb und die Ärzte sagten ihm, dass der Verdacht auf Bauchspeicheldrüsenkrebs bestünde. Bauchspeicheldrüsenkrebs verlief zu dieser Zeit fast immer tödlich. Wir warteten bei ihm zu Hause darauf, dass er mit dem Untersuchungsergebnis heimkam. „Mich hat’s erwischt!“, waren seine ersten Worte, als er zur Tür hereinkam. Sehr viel mehr sagte er dazu nicht. Manchmal sahen wir ihn aus dem Fenster starren, aber es war schwer zu erkennen, was in ihm vorging.

Er hatte sich nie viele Gedanken über Gott gemacht. Er war Gott gegenüber nicht direkt feindlich eingestellt, eher desinteressiert. Wir versuchten jetzt, mit ihm darüber zu sprechen, kamen aber nicht weit.

Bis eines Tages meine Mutter Al besuchte. Sie sprach mit ihm über die gemeinsamen Enkelkinder und über die Unberechenbarkeit des Lebens. Vielleicht würde sie ja zuerst gehen –, aber was wäre, wenn Al sterben würde und die Enkelkinder eines Tages fragen würden, was mit ihm und Gott gewesen wäre? Was sollte sie dann sagen? Wie stand es um Al und Gott?

„Prima!“, sagte er. „Mit mir und Gott ist alles in Butter.

Warum fragst du?“

Sie erklärte ihm, wie Gott uns seine Liebe gezeigt hatte, indem Jesus für uns gestorben war, als wir noch schäbige Lumpenpuppen waren.

Der Tag dämmert heran, das Eis schmolz und Al betete und übergab Gott sein Leben.

Und Gott nahm schnell einige notwendige Operationen vor. Al und ich begannen, gemeinsam das Johannesevangelium zu lesen. Er las ein paar Abschnitte für sich, dann redeten wir darüber, und zum Abschluss beteten wir normalerweise miteinander. Ein- oder zweimal hielten wir uns beim Beten sogar an den Händen.

Als der Krebs schon weit fortgeschritten war, lag Al im Bett, zu schwach und ausgezehrt, um sich aufzusetzen.

Wir beendeten unsere Unterhaltung über Jesus.

„Und jetzt lass uns beten“, sagte Al. Das war erstaunlich, weil er zuvor nicht sehr oft von sich aus angeregt hatte zu beten.

„Gut.“

„Und gib mir deine Hand“, sagte Al. Er langte herüber und nahm meine Hand.

Mir fiel auf, dass diese Hand, die ein Leben lang Bälle geworfen, Golfschläger geschwungen, die Angel ausgeworfen, Schrotflinten abgeschossen und unzählige Gläser Bier gehoben hatte, jetzt in ihrer Schwäche viel schöner war als jemals in ihrer ganzen Stärke.

Kurze Zeit später kam Al ins Krankenhaus. An einem Freitagabend rief er Nancy an. Sie sprachen eine Weile miteinander, und bevor Nancy den Hörer auflegte, hörte ich sie einen Satz sagen, den ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde.

„Ich liebe dich auch, Paps“, sagte sie.

Ich fragte sie, ob dieser Satz das bedeutete, was ich vermutete.

Ja, ihr Vater hatte gesagt, dass er sie liebte. Von sich aus und ohne Vorgabe.

Das war am Freitagabend. Am nächsten Tag erlitt Al einen Schlaganfall, was bei seinem Gesundheitszustand nichts Ungewöhnliches war. Sechs Wochen lang siechte er dahin und war nicht in der Lage zu sprechen oder die einfachsten Körperfunktionen zu kontrollieren. Dann starb er.

Das letzte Mal, das Nancy ihren Vater sprechen hörte, war auch das erste Mal, bei dem er gesagt hatte: „Ich liebe dich.“

Es gibt eine Art der Liebe, die den Wert in den Dingen oder Menschen sucht, die sie liebt. Es gibt eine Art der Liebe, die von Status, Wohlstand und Schönheit angezogen wird. Wir kennen diese Liebe. Wir begegnen ihr jeden Tag.

Aber es gibt auch eine Art von Liebe, die Wert in den Personen oder Dingen schafft, die sie liebt. Es gibt eine Liebe, die schäbige alte Lumpenpuppen wie Al, wie Sie und mich nimmt und mit einer Hingabe liebt, die den menschlichen Verstand übersteigt. Und wenn Sie es zulassen, wird Gott bei Ihnen einige Operationen vornehmen, bis eines Tages … sehen Sie sich vor!

„Seht doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so groß, dass er uns seine Kinder nennt. Und wir sind es wirklich: Gottes Kinder! … Ihr Lieben, wir sind schon Kinder Gottes. Was wir einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar. Aber wir wissen, wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein“ (1 Joh 1–3).

2.Liebe schenkt Aufmerksamkeit

[Gott] drängt sich mit uns von der Wasserscheide bis zum Meer; er rempelt unsere Gedanken auf den Denkkanälen in unserem Gehirn an. Er versteckt sich in Dornbüschen und springt in Flammen gehüllt heraus, um uns zu erschrecken und sehend zu machen. Er zieht sich in Ställe und Windeln zurück, um uns zu überraschen. Er versteckt sich in Fleisch, in demselben Fleisch, das am Ende meiner Arme in Fingern ausläuft und auf meinem Kopf Haare wachsen lässt. (Virginia Stem Owen: „And the Trees Clap their Hands“, Eerdmans, 1983)