Jeder kann zum Mörder werden - Nahlah Saimeh - E-Book

Jeder kann zum Mörder werden E-Book

Nahlah Saimeh

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Beschreibung

Georg T. erstickte seine Frau und verbrannte ihre Leiche auf der Straße. Über die Motive schwieg er. Tanja G. tötete ihre neugeborenen Kinder, versteckte sie im Kleiderschrank. Die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh weiß, dass es meist profane Gründe sind, die aus Menschen Mörder machen: Selbsthass, Eifersucht, Einsamkeit oder Angst. Sie zeigt, wie alltäglich das Böse ist und warum sich eine Gesellschaft gerade deswegen ihre Menschlichkeit bewahren muss.

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Die in diesem Buch beschriebenen Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten und haben sich, was die innere Biographie der Täter und die psychiatrische Beurteilung betrifft, so zugetragen, wie geschildert. Aus Gründen der Anonymisierung sind Namen und Orte im Buch verändert und einzelne Begebenheiten verfremdet.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Dezember 2012

ISBN 978-3-492-95894-3

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung: Arne Schultz

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Vorwort

Bücher und Artikel über »das Böse« haben Konjunktur. Sie nehmen uns mit bei der kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit, geben Einblicke in die Tätigkeit von Rechtsmedizinern und erklären neue wissenschaftliche Fahndungsmethoden. Zumeist berichten sie über Gewalttaten, die in all ihrer Brutalität und Grausamkeit unfassbar erscheinen und doch gerade durch diese Unfassbarkeit eine gewisse Faszination auf uns Menschen ausüben. Wir erleben mit, wie das Verbrechen quasi über Nacht in das Leben des normalen Bürgers einbricht. Regelmäßig werden Begriffe wie »Bestie« und »Monster« in der allgemeinen Berichterstattung verwendet, um den dingfest gemachten Täter der neugierigen Öffentlichkeit zu präsentieren. Dabei wird mit ebenso zuverlässig auftretender Verblüffung gern das unauffällig-durchschnittliche Äußere des Täters kommentiert – gerade so, als gäbe es in der Regel eine Verbindung zwischen äußerem Erscheinungsbild und Charakter.

Wie ich in meinen Untersuchungsgesprächen mit den Tätern immer wieder feststelle, handelt es sich tatsächlich häufig um unauffällige Menschen, nicht selten etwas schüchtern, ein wenig unbeholfen, befangen. Kurzum, es sind Menschen wie »du und ich«, die bis zur Tat mehr oder weniger erfolgreich bemüht waren, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Somit ist es völlig natürlich, dass die unmittelbare Nachbarschaft nach einer spektakulären Festnahme stets einhellig feststellt: »Das hätten wir von dem nie gedacht. Der war doch immer so unauffällig, höflich, hilfsbereit.«

Wie aber kann ein solches Verbrechen geschehen? Wie kann aus dem netten Nachbarn plötzlich ein Gewalttäter werden? Wie kann eine junge Frau, die uns vielleicht gerade noch Brötchen verkauft oder eine Flugreise vermittelt hat, zur Kindsmörderin werden? Was ist es, das diese Menschen zu Gewalt und Grausamkeit treibt? Was muss im Leben vorgefallen sein, dass ein Mensch gegen alle Regeln des sozialen Miteinanders und alle humanen Werte handelt?

Als forensisch-psychiatrische Gutachterin habe ich es tagtäglich mit ebendiesen Thematiken zu tun. Oft werde ich gefragt, was mich eigentlich dazu bewogen hat, diesen Beruf zu ergreifen. Ursprünglich wollte ich Chirurgin werden, ein Kindheitswunsch, der an der Realität meiner manuellen Ungeschicklichkeit völlig vorbeiging. Während einer Vorlesung der Psychiatrie aber fing ich Feuer, und binnen Kurzem wurde die Psychiatrie für mich das spezifischste der humanmedizinischen Fächer. Die Psyche macht uns zu Menschen, sie verweist auf unser Mensch-Sein. Von daher pflegt die Psychiatrie einen intensiven Austausch mit anderen Fachdisziplinen, die sich mit den Humanwissenschaften befassen, wie der Biologie, der Psychologie, den Sozialwissenschaften, um nur einige zu nennen. Die Forensische Psychiatrie liegt in der Schnittmenge zwischen Psychiatrie, Psychologie, Neurowissenschaften, Biologie, Sozialwissenschaften, Kriminologie, Polizeiwissenschaft und Strafrecht. Der Begriff leitet sich vom lateinischen forum (Platz, Theater, Gericht) ab, und entsprechend hat der forensische Psychiater die Aufgabe, sein psychiatrisches Wissen diversen Gerichten und Behörden zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen zur Verfügung zu stellen.

Im engeren Sinne wird heute unter Forensischer Psychiatrie maßgeblich die Begutachtung und Behandlung von Straftätern verstanden, auch wenn streng genommen ebenso psychiatrische Fragen im Sozial- und Zivilrecht dazugehören. Als forensischer Psychiater im engeren Sinne behandelt man psychisch kranke Menschen, so wie jeder andere Psychiater auch. Aber es gibt einen Unterschied: Der forensische Psychiater behandelt in speziellen Fachabteilungen oder Kliniken ausschließlich psychisch kranke Straftäter oder, um noch genauer zu sein, jene psychisch Kranken, die infolge ihrer Erkrankung erst zu Straftätern geworden und daher vermindert schuldfähig oder schuldunfähig sind. Er hat den Auftrag, »Gefährlichkeit« zu behandeln, also die beim Straftäter vorliegende psychische Krankheit oder psychische Störung so zu behandeln, dass der Betroffene zukünftig nicht mehr straffällig wird. In der Regel gelingt dies – entgegen der allgemeinen Berichterstattung – sehr gut. Ich vergleiche die Forensische Psychiatrie gerne mit einer Art der »sozialen Hebamme«, die Menschen zu ihren ersten geglückten Schritten ins Leben verhilft. Mit dem Behandlungsauftrag dient der forensische Psychiater also einerseits dem Straftäter-Patienten, der ihm durch die Justiz im Rahmen eines Strafverfahrens zugewiesen wird, aber er dient auch der Sicherheit der Gesellschaft und der Vorbeugung von Straftaten.

Außerdem ist die Forensische Psychiatrie unverzichtbarer Bestandteil eines differenzierten Strafrechtssystems, welches trennt zwischen kranken, schuldunfähigen und gesunden, schuldfähigen Tätern. Diese Differenzierung des Strafrechts findet sich bereits bei Aristoteles. Schon er stellte die Überlegung an, dass psychisch kranke Täter, die aufgrund von Wahn oder Verwirrung gehandelt hatten, nicht bestraft werden sollten.

Doch wo befindet sich diese Schnittstelle zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit? Was ist schon pathologisch, was noch gesund?

In diesem Buch möchte ich Ihnen in meiner Rolle als forensische Psychiaterin an ausgewählten Fällen im Bereich der Tötungs- und Sexualdelikte Antworten darauf geben, wie aus Menschen Mörder und Vergewaltiger werden. Meine Beispiele sind solche, die Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter, Strafverteidiger und Gutachter täglich beschäftigen und die in öffentlicher Sitzung vor Gericht verhandelt wurden. Ich erzähle Ihnen von Menschen, die uns eigentlich sympathisch sein oder die unser Mitleid erregen könnten und die doch schwere Straftaten begangen und Leben auf die ein oder andere Weise beschädigt oder gar zerstört haben. Dabei ist es mir ein Anliegen, Ihnen die Täterinnen und Täter mit der gebotenen Sachlichkeit, Fairness und Anschaulichkeit zu schildern. Ich bin nicht parteiisch. Ich begegne meinen Probanden respektvoll und aufmerksam, weil ich denke, diese Grundhaltung sollte jedem menschlichen Kontakt innewohnen. Andererseits ist es weder meine Aufgabe, mich über den Tisch ziehen zu lassen, noch, Gewaltdelikte zu verharmlosen oder zu beschönigen. Auch bin ich nicht der Ansicht, dass jeder mit Psychotherapie »geheilt« werden kann, auch wenn die Forensische Psychiatrie für die meisten der ihr anvertrauten Patienten sicher eine sehr gute Chance bieten kann. Sie werden sehen: Längst nicht alle Fälle, von denen ich Ihnen erzähle, spielen in erkennbar desolaten Verhältnissen. Aber Sie werden auch merken, dass es fast immer die emotionale Qualität der mitmenschlichen Beziehungen ist, die für die Entwicklung der Persönlichkeit mitsamt ihrer späteren Delinquenz eine Rolle spielt. Alle Taten sind also im Grunde zutiefst menschlich und gerade eben nicht Verhaltensweisen von »Monstern« und »Bestien«. Genau das macht sie in Wahrheit so bedrückend.

Meine langjährige Erfahrung zeigt mir, dass es meist ganz profane Gründe sind, die aus Menschen Mörder machen: Selbsthass, Eifersucht, Einsamkeit oder Angst – Gefühle, die uns allen, wenn auch in ihrer nicht gewalttätigen Form, mehr oder weniger bekannt sind.

Wenn wir begreifen, dass die meisten Straftäter keine andere Kategorie von Menschen sind, sondern sie und wir uns letztlich nur in recht wenigen Teilbereichen voneinander unterscheiden, können wir unseren Blick auf den Menschen insgesamt vervollständigen und Konsequenzen für unsere Gesellschafts-, Sozial- und Kriminalpolitik ziehen. Zugleich verstehen wir, wie alltäglich das Böse ist, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne Böses geben wird und warum sich eine Gesellschaft gerade deswegen ihre Menschlichkeit bewahren muss.

Dr. Nahlah Saimeh

Schwarze Phantasien

Der Rentner Willi Herborn wurde jeden Morgen von den Vögeln geweckt, und so war es auch diesen Sonntag im Mai. Er trat auf den Balkon des Wohn-Schlaf-Zimmers seiner kleinen Wohnung und blickte auf das frühlingshafte Grün einer Kleingartenanlage. Es war noch dämmrig, und er wollte sich eben wieder in seine Wohnung zurückziehen, als er ein Feuer auf der Straße direkt in der Nähe der Gartenanlage bemerkte. Als ob jemand Pappe oder Papier mitten auf der Straße angezündet hätte, wunderte er sich und schüttelte den Kopf darüber, dass es offenbar Leute gab, die ihren Müll auf diese Weise und noch dazu in der Nähe eines Grüngürtels entsorgten. Aus Sorge darüber, dass das Feuer auf die Gärten übergreifen könnte, lief er zum Telefon und rief Feuerwehr und Polizei. Dann zog er sich rasch an und lief neugierig auf die Straße, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. In gemessenem Abstand zum Feuer blieb er stehen und spürte die Hitze, die von den Flammen ausging … Was wurde da eigentlich verbrannt? Undeutlich erkannte er etwas Längliches, das auf dem Boden lag und unregelmäßig aus den züngelnden Flammen emporragte. Sein Puls beschleunigte sich, dann begriff er, was er da sah. Es waren die Umrisse eines menschlichen Körpers.

»Mein Gott!«, stieß er unwillkürlich hervor und hoffte umso mehr, dass die Polizei endlich kommen würde.

Kurz darauf trafen Feuerwehr und Polizei ein. Nachdem die Flammen gelöscht waren, konnte man es deutlich sehen: Es handelte sich um eine auf dem Rücken liegende Frauenleiche, die Arme und Beine leicht angewinkelt, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ob die Frau bekleidet gewesen war, konnte wegen der starken Verbrennungen am Tatort nicht sicher festgestellt werden. Um die Tote waren gut erkennbar zwei Drahtfesseln auf Höhe des Halses und der Knie geschlungen. Der Draht war mehrere Millimeter dick, und die Schlingen schlotterten so weit um die Leiche, dass sie offenbar weder zur Drosselung noch zur Fesselung angelegt worden waren.

Der Leichenfundort wurde abgesperrt, der Zeuge Herborn zu seinen Beobachtungen befragt, aber alles, was er gesehen hatte, war das Feuer selbst.

In dem beschaulichen Wohngebiet hatten mittlerweile mehrere Anwohner den Einsatz bemerkt und waren als Schaulustige hinzugekommen. Rund eine Stunde später lief ein nicht unsportlich wirkender, leicht untersetzter Mittvierziger aus der Kleingartenanlage auf die Beamten zu, die noch immer am Brandort standen. Er stellte sich als Georg Tamm vor und erklärte, dass er seine Frau vermisse:

»Sie wollte gestern Abend noch mal kurz zu unserer Wohnung laufen und wärmere Kleidung holen, ist dann aber nicht mehr zurückgekommen. Wir haben am Samstag hier im Garten gearbeitet und in der Laube zu Abend gegessen. Ich habe auf sie gewartet, bin dann aber müde geworden und irgendwann eingeschlafen …«

Inzwischen war wegen der Hinweise auf ein Gewaltverbrechen auch die Kriminalpolizei gerufen worden. Die ermittelnden Beamten fragten Tamm, ob er ein Bild seiner Frau dabeihabe.

Tamm kramte aus seinem Portemonnaie ein leicht abgewetztes Passfoto hervor, das eine Frau im Alter von ungefähr 35 Jahren mit freundlichem Lächeln, halblangen gelockten blonden Haaren und blauen Augen zeigte.

»Können Sie uns Ihre Parzelle zeigen?«, fragte einer der Beamten.

»Ja, natürlich« entgegnete Tamm und lief ein paar Schritte voraus durch die Kleingartenanlage. Von einem geraden Mittelweg aus bogen sie an der vierten Einwegung links ab und kamen zu einer kleinen Parzelle mit Zierbeeten, Gemüsegärtchen, Himbeersträuchern und zwei Apfelbäumen. Tamm schloss das Gartenhäuschen auf, und die Beamten sahen ein kleines Zimmer mit Klappsofa, das sich zum Doppelbett umbauen ließ, einem Couchtisch, einem Ohrensessel, zwei Stehlampen, einer Kommode zum Verstauen der Wäsche, einem kleinen Perserteppich auf dem Boden und einer Küchenecke. Auf der Kommode stand ein Doppelfotorahmen mit einem Hochzeitsfoto von Georg Tamm und seiner Frau sowie einem Foto, auf dem Tamm den Arm um seine Frau gelegt hatte und beide den Fotografen glücklich anlächelten. Auf der Hinterseite des Häuschens gab es eine Tür für einen kleinen Abstellraum, in dem die ganzen Gartengeräte standen.

Nachdem sie das Gartenhaus inspiziert hatten, baten die Kriminalbeamten Tamm, mit auf die Wache zu kommen, da sie noch Fragen zum Verschwinden seiner Frau hatten.

Auf der Wache machte Georg Tamm einen ruhigen und gefassten Eindruck auf die Vernehmungsbeamten, obwohl er stellenweise mit den Tränen zu kämpfen hatte. »Meine Frau und ich wollten den Garten auf Vordermann bringen. Wir hatten vor, zwei Nächte zu bleiben. Am Samstag hatte meine Frau sich noch mit einer Freundin zum Squash verabredet. Danach kam sie zum Essen in den Garten und wollte abends nur noch mal kurz in die Wohnung.« Seine Unterlippe fing an zu zittern, er schien um Fassung zu ringen. »Ich habe mich auf das Sofa gelegt und bin dann eingeschlafen.« Gegen 5 Uhr sei er wach geworden und habe bemerkt, dass seine Frau nicht da war.

Den Beamten kam es seltsam vor, dass er offenbar nicht hinter seiner Frau her telefoniert hatte.

»Sie hat das Handy in der Laube gelassen, sie wollte ja bald zurück sein«, erklärte er.

»Haben Sie denn versucht, sie in der Wohnung telefonisch zu erreichen, als sie nicht zurückkam?«, fragte der Kommissar.

»Nein, ich hab es ja gar nicht gemerkt, weil ich eingeschlafen bin.«

Tamm machte trotz der Tränen, die ihm in die Augen stiegen, weiterhin einen beherrschten, sachlichen, seltsam distanzierten Eindruck, der so gar nicht zu dem Umstand zu passen schien, dass ein Ehemann seine Frau vermisst, wo doch beide miteinander ein paar erholsame Tage im Grünen geplant hatten.

Während die Kriminalbeamten Georg Tamm zuhörten, blickten sie auf seine Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte. Ihnen fielen deutliche Hautrötungen auf, wie sie durch kurze Hitzeeinwirkung entstehen. Sie hörten sich an, was Georg Tamm weiter zu berichten hatte, und unterbrachen dann die Befragung, um sich zu besprechen.

Beide Beamte hatten Verdacht geschöpft, da ihnen die Geschichte seltsam konstruiert erschien und sie irritierend fanden, dass Tamm gerade dann die Polizei zur Aufgabe einer Vermisstenmeldung heranzog, als diese in größerem Aufgebot frühmorgens in der Straße erschienen war. Außerdem wiesen Tamms Hände Spuren von Verbrennungen auf. Sie beschlossen, ihn kurzerhand damit zu konfrontieren.

»Herr Tamm, Sie stehen im Verdacht, Ihre Frau getötet und angezündet zu haben«, begann der eine Beamte und klärte Tamm auf, dass er jetzt zunächst Gelegenheit erhalte, mit einem Anwalt zu sprechen.

Georg Tamms Schultern sackten nach vorne, er winkte ab. Dann begann er stockend zu erzählen. »Was soll’s. Es ist jetzt eh alles egal!« Tamm brach wieder in Tränen aus, fasste sich aber bald darauf. »Ich erzähle Ihnen, wie es war. Ich bin vierundvierzig, meine Frau ein Jahr jünger. Wir sind seit neunzehn Jahren verheiratet. Eigentlich war alles in Ordnung. Aber vor fünf Jahren bekam meine Frau multiple Sklerose. Das war für uns ein Schock. Sie hatte Kribbelgefühle in den Armen und Beinen und auch vorübergehend keine Kraft in den Armen und Beinen, aber das wurde im Lauf der Behandlung deutlich besser. Sie hatte auch erst Sehstörungen, die gingen aber weg. Das Kribbeln in den Händen blieb jedoch. Manchmal fielen ihr die Sachen einfach so aus der Hand. Ihre ältere Schwester hat auch MS, nur dass die im Rollstuhl sitzt. Als mein Schwager mal ins Krankenhaus musste, haben wir sie gepflegt. Das war für mich damals eine große Belastung.« Er holte tief Luft, dann erzählte er weiter. »Ich habe mir in den letzten Monaten immer wieder Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn meine Frau im Alter schwer krank würde und nicht mehr so gut auf die Medikamente ansprechen würde. Wie es wäre, wenn ich sie pflegen müsste. Mir wurde klar, dass ich das nicht können und auch nicht wollen würde. Erst habe ich daran gedacht, mich von ihr scheiden zu lassen, aber irgendwie kam ich mir dabei so schäbig vor. Ich wurde selbst immer bedrückter, konnte schon seit Januar nicht mehr richtig schlafen, konnte mich auf nichts konzentrieren, ich fand mich richtig depressiv.« Georg Tamm zögerte beim Sprechen, stockte, machte Pausen, so als ob es ihm unangenehm sei, laut auszusprechen, dass er sich nicht in der Lage sähe, die Frau, die er geheiratet hatte, in einer Krankheit zu begleiten. Sein Mund verzog sich dabei zu einem ganz diskreten Ausdruck des Widerwillens.

Der Grund für die Staatsanwaltschaft, Herrn Tamm psychiatrisch zur Frage der Schuldfähigkeit untersuchen zu lassen, war, dass dieser in seiner Vernehmung von depressivem Grübeln und Suizidideen berichtet hatte.

Depressive Menschen begehen besonders selten Straftaten und stellen auch als Patienten einer forensisch-psychiatrischen Klinik nur eine sehr kleine Gruppe dar. Wenn Menschen im Rahmen schwerer Depressionen Straftaten begehen, dann sind es nicht selten Tötungsdelikte im Zusammenhang mit einer krankheitsbedingt empfundenen Ausweglosigkeit im Leben. Menschen mit einer schweren Depression leiden unter erdrückenden Schuldgefühlen oder befürchten für sich selbst und ihre Angehörigen eine fürchterliche Zukunft, vor der sie ihre Liebsten und sich selbst durch Tod bewahren wollen. Sie versuchen dann vor allem, ihre Kinder mit in den Tod zu nehmen, und diese sogenannten erweiterten Suizide scheitern gelegentlich tragisch. Dem psychisch schwer kranken Täter ist es dann gewissermaßen unter Aufbietung sämtlicher psychischer Energien noch gelungen, seine Kinder zu töten, aber die Selbsttötung misslingt, nicht zuletzt, weil ihm die letzte Kraft zu der Tat fehlt.

Lag hier die erste Stufe eines von Georg Tamm geplanten erweiterten Suizids vor? Zur Definition des erweiterten Suizids gehört, dass die anderen getöteten Personen nicht in die Tat eingewilligt haben. Sollte es bei Georg Tamm so gewesen sein? Sollte er sein Leben und die darin enthaltenen Anstrengungen in depressiver Weise als so unbewältigbar erlebt haben, dass er für sich und seine Frau gewissermaßen vorsorglich den gemeinsamen Tod plante? Wollte er womöglich seine kranke Frau nicht zurücklassen?

Der Staatsanwalt aus Köln rief mich an, berichtete mir, worum es ging, und fragte mich, ob ich Georg Tamm untersuchen könnte. So erhielt ich die Ermittlungsakte mit dem sehr umfassenden Geständnis, das Georg Tamm der Polizei ganz ohne anwaltliches Vorgespräch gegeben hatte. Ich sah die Bilder von dem aufgeräumten, adretten Parzellenhäuschen, dem liebevoll angelegten Kleingarten mit blühenden Rhododendronbüschen, Rosenstöcken und den Apfelbäumchen. Ich sah Fotos von dem Ort, an dem die Frauenleiche verbrannt worden war. Die verkohlte Leiche lag in der sogenannten Fechterstellung auf dem Rücken, die Arme und Beine nach oben angewinkelt. Sie entsteht beim Verbrennen einer Leiche infolge der Schrumpfung der Muskulatur auf den Beugeseiten der Arme und Beine, sodass diese in den Knie- und Ellbogengelenken angewinkelt sind. Dann sah ich die Fotos von der beschaulichen Wohnsiedlung und schließlich die Großaufnahme von den Drahtschlingen um Hals und Kniegelenke. »Praktische Tragegriffe wie bei einem großen Postpaket«, dachte ich. Welch eine seltsame Idee, seine Frau am Rande einer Kleingartensiedlung zu verbrennen. Entweder war es ein Fanal, die symbolische Geste einer Abstrafung und öffentlichen Entwürdigung der Frau, durch die sich der Täter persönlich tief gekränkt gefühlt hat, vielleicht aus Eifersucht. Oder es war Ausdruck des bisher nicht ausreichend bedachten Problems, eine Leiche entsorgen bzw. verstecken zu wollen. Ich dachte kurz an öffentliche Verbrennungen von Menschen, die mir bekannt waren, und erinnerte mich an einen schizophrenen Kurden, der sich zu der Zeit, als in Deutschland mehr über öffentliche Selbstverbrennungen von Kurden aus politischen Gründen berichtet wurde, selbst mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Öffentliche Selbstverbrennungen sind solche grausigen Fanale. Öffentliche Verbrennungen von anderen Personen, sei es tot oder lebendig, sind im Regelfall barbarische Abstrafungen, dann auch weit eher im Zusammenhang mit politischen Motiven bzw. bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen, ganz abgesehen von den in die Kultur eingebundenen rituellen Verbrennungen in asiatischen Ländern. Aber eine öffentliche Leichenverbrennung hier in Köln unweit blühender Gärten?

In der Akte sah ich den Kassenbeleg eines Supermarktes von 12.37 Uhr am Samstag. Dem Beleg zufolge hatte Georg Tamm Gemüse, zwei Dosen geschälte Tomaten, Instantbrühe und Toastbrot gekauft – offenbar für das geplante Abendessen, das der Tötung vorausging. Der Kassenbeleg war laut Polizeivermerk im Auto von Tamm gefunden worden, das einige Meter von dem Eingangstor zur Gartenanlage entfernt geparkt war.

Der Obduktionsbericht beschrieb, dass die Frau bereits vor dem Anzünden tot gewesen war. Die punktförmigen Blutungen, Petechien genannt, an den Bindehäuten und der Mundschleimhaut waren klare Anzeichen für einen Erstickungstod. Auch die Lunge wies die dafür typischen punktförmigen Einblutungen auf. Darüber hinausgehende Gewalt war nicht ausgeübt worden.

Als Nächstes las ich das sehr ausführliche Protokoll der Beschuldigtenvernehmung, in der Georg Tamm präzise Angaben zum Tatgeschehen und zur Tatplanung machte.

»Ich habe mir schon seit Monaten Sorgen gemacht wegen ihrer möglichen Pflegebedürftigkeit im Alter«, hatte er den vernehmenden Beamten gegenüber erklärt. »Mir ist klar geworden, wie sehr ich mich ekeln würde, wenn sie gelähmt wäre und am Ende ihre Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren könnte. Wie gesagt, ich hatte mit meiner Schwägerin schon die Erfahrung gemacht, dass das nichts für mich ist. Da habe ich auch mitbekommen, wie die MS die Persönlichkeit verändern kann. Das hat mich fertig gemacht. Ich habe dann so schwarze Phantasien gehabt. Erst wollte ich mich selbst töten, weil ich das Gefühl hatte, dem Leben mit meiner Frau nicht gewachsen zu sein. Ich war der Beziehung irgendwie überdrüssig, aber ich fühlte mich auch schuldig.« Georg Tamm, so die Akte, hatte von einem Beamten zum anderen geblickt, wie um sich zu versichern, dass man ihn verstand. »Da dachte ich an Selbstmord, weil ich keinen Ausweg sah und meine Frau eben doch nicht allein lassen wollte, also ich meine, durch Trennung.« Einen konkreten Streit hatte es nicht gegeben. Georg Tamm schilderte weiter, wie er sich bei verschiedenen Ärzten Beruhigungsmittel besorgt und die Tabletten wochenlang im Bodenfach des Kofferraums seines Wagens versteckt hatte. »Dann wendeten sich die schwarzen Phantasien allmählich eher in die Richtung, dass ich sie statt mich töten könnte und ich ihr aber zum Abschied noch eine schöne gemeinsame Zeit machen wollte. Ich wollte sie ja nicht quälen, ihr nicht unnötig Böses antun.« So sei ihm die Idee gekommen, sich noch einen Tag extra frei zu nehmen, mit seiner Frau im Mai ein verlängertes Wochenende in der Gartenlaube zu verbringen und sie dort zu töten. »Gestern bin ich zum Supermarkt gefahren, um das Essen für das Wochenende einzukaufen. Als meine Frau weg war, habe ich die Suppe vorgekocht und auch die anderen Sachen für unsere Übernachtung eingepackt. Ich habe Brote geschmiert und die Schlaftabletten, es sind wohl so dreißig Stück gewesen, in der Suppe aufgelöst. Ich dachte, vielleicht reichen schon die Tabletten, und ich muss gar nichts mehr machen. Auf jeden Fall sollte sie nicht leiden. Sie war am Samstag mit ihrer Freundin Renate noch beim Sport. Ihre Freundin brachte sie danach in unsere Laube, und seitdem waren wir zusammen. Wir haben Kaffee getrunken und danach für ein paar Stunden im Garten gearbeitet. Dann kam noch der Nachbar von gegenüber zu uns, und mit dem haben wir hier draußen gesessen und uns unterhalten. Das war alles ganz nett. Abends haben wir noch Scrabble gespielt und dann Abendbrot gegessen. Ich habe gesagt, dass ich nicht so viel Hunger habe, und habe mir nur eins von den Schinkenbroten genommen. Meine Frau mag aber die Gemüsesuppe sehr, und die hat sie auch gegessen. Sie ist nicht mehr weggegangen, denn nachdem sie die Suppe gegessen hatte, wurde sie ziemlich schnell sehr benommen.«

Georg Tamm schilderte den Beamten laut Bericht, wie er seine Frau genau beobachtete. Er sah, wie langsam die Müdigkeit in ihr hochstieg, sie sich in den Ohrensessel zurücklehnte und ihr die Augen zufielen. Er sprach sie an, ob ihr nicht gut sei. »Ich werde plötzlich so müde!«, waren laut Georg Tamm ihre letzten Worte.

Er schlug ihr vor, sie zu Bett zu bringen, klappte das Sofa um, legte rasch eine Bettdecke auf die Fläche und hievte seine mittlerweile schon stark benommene Frau auf das Bett. Dann wartete er, bis sie weggedämmert war. Seiner Aussage nach lief bis dahin alles nach Plan. Dennoch war er hin- und hergerissen und fragte sich, ob er die Sache wirklich durchziehen solle oder nicht. »Aber was hätte ich meiner Frau sagen sollen, wenn die irgendwann aus dieser unnatürlichen Müdigkeit wieder erwacht wäre?« Als er ihr tiefes Schnarchen hörte, war er sich sicher: So eine Gelegenheit würde nicht noch einmal kommen. Also holte er die zweite Bettdecke aus dem Bettkasten, legte sie zur Hälfte über den Kopf und Hals seiner Frau, sodass er ihr Gesicht nicht sehen musste, setzte sich rittlings auf sie und drückte am Hals fest zu. »Die Arme meiner Frau bewegten sich ganz leicht nach oben, aber Gegenwehr konnte man das nicht nennen. Ich würgte sie so lange, bis die Atmung aussetzte. Dabei beobachtete ich genau, wie lange sich ihr Brustkorb noch hob und senkte. Ich wollte ja nicht zu früh aufhören. Irgendwann war ich mir sicher, dass sie tot ist. Ich legte das Ohr auf ihre Brust, aber ein Herzschlag war nicht mehr zu hören. Ich blickte noch auf meine Uhr, es war 22.30 Uhr. Dann merkte ich, wie müde ich selbst wurde. Ich war völlig fertig. Ich ließ mich neben meiner Frau erst mal auf das Bett fallen. Irgendwann bin ich dann sogar richtig eingeschlafen, obwohl ich das gar nicht vorhatte. Als ich wach wurde, war es zwanzig vor vier. Es war die Hölle. Schon da hatte ich das Gefühl, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte.« Ob er zu dem Zeitpunkt daran gedacht habe, die Polizei zu rufen, wollten die Beamten wissen. »Ja, das habe ich, aber nur kurz, und ich wollte jetzt auch nicht vorzeitig aufgeben, wo es schon einmal so weit gekommen war. Ich hatte mir eigentlich gedacht, sie mit einer Sackkarre zu meinem Auto zu bringen und sie im Kofferraum nach Kleve zu fahren. In dem Waldgebiet kenne ich mich gut aus, meine Frau und ich sind da oft spazieren gegangen … Ich wollte sie vergraben und dann vermisst melden. Also habe ich schnell die Sackkarre aus unserem Garten geholt und meine Frau darauf gehievt. Dann habe ich die Karre zum Gartentor geschoben, aber da fiel sie mir wieder herunter. Ich habe mich erinnert, dass ich im Geräteraum noch Draht hatte, und da habe ich ihr an Hals und Füßen Drahtschlingen gemacht, damit ich sie besser tragen konnte. Ich musste sie ja später auch noch in den Wagen bekommen. Ich habe sie zurück auf die Sackkarre gelegt und bin zum Auto gelaufen. Das habe ich dann direkt am Eingangstor der Anlage geparkt und bin zurückgerannt. Wie lange das alles wirklich gedauert hat, weiß ich nicht ganz genau, ich schätze, insgesamt vielleicht 25 oder 30 Minuten. Ich habe meine Frau mit der Karre zum Auto geschoben, merkte dann aber, dass ich sie nicht in den Kofferraum bekam. Ich war plötzlich zu schwach. Mir gingen einfach die Kräfte aus. Ich mache so etwas ja auch nicht alle Tage.« Tamm ahnte offenbar, dass nicht alles nach Plan laufen würde, wollte aber noch immer nicht aufgeben. Da kam ihm die Idee, sie an Ort und Stelle zu verbrennen. Er fuhr den Wagen ein Stück weiter und nahm den Benzinkanister aus dem Kofferraum. Dann schilderte er den Beamten, wie er die Leiche seiner Frau auf die Straße gelegt, das Benzin darübergegossen und sie angezündet hatte. Dazu hielt er sein Feuerzeug direkt an das Benzin, das als dünne Rinnsalspur von der Leiche seiner Frau auf die Straße gelaufen war. Daher kamen also die Hautrötungen an den Händen. Anschließend lief er zurück zum Gartenhäuschen, klappte das Bett wieder hoch, verstaute die Bettwäsche, legte sich auf das Sofa und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was war der nächste Schritt? Die Leiche brannte, und das würde irgendwann entdeckt werden. Man würde seine Frau finden, er würde sie vermisst melden, und ohne darüber nachzudenken, hoffte Georg Tamm, dass man nacheinem fremden Mörder suchen würde. Er war zu erschöpft, um sich darüber weitere Gedanken zu machen. Auf jeden Fall war die ganze Angelegenheit nicht so gelaufen, wie er sie geplant hatte.

»Ich wollte am Sonntag die Familie meiner Frau informieren, dass sie verschwunden ist, aber das ist jetzt ja wohl hinfällig.«

Ich las das sehr detaillierte, klare Geständnis, fragte mich, ob Georg Tamm wohl bei dieser Aussage bleiben würde, denn er beschrieb ein sehr gerichtetes, geplantes, auf aktuelle Störfaktoren reagierendes Vorgehen. Würde er später alles widerrufen? Würde er Dinge zum Teil anders schildern, von seiner ersten, ausführlichen Schilderung abrücken?

Ich suchte Herrn Tamm im Gefängnis auf. Ein Beamter führte mich in einen rund zehn Quadratmeter großen Besucherraum, der mit einem Holztisch und vier Holzstühlen möbliert war und beim Sprechen einen ziemlichen Hall erzeugte. Das Licht kam weit mehr von der Neonröhre unter der Decke als von dem hoch angebrachten vergitterten Fenster.

Ich hatte die Ermittlungsakte, meinen Notizblock, Kugelschreiber sowie ein Päckchen Taschentücher dabei – für den Fall, dass der Proband während des Gesprächs weinen musste. Alles andere in meiner Aktentasche hatte ich an der Pforte des Gefängnisses in ein Schließfach geben müssen. Was das Weinen anbelangt: Nicht selten vergegenwärtigen sich die Menschen, die ich in der Untersuchungshaft aufsuche, ihrer misslichen Lage, in die sie sich gebracht haben oder in die sie auf die ein oder andere unglückliche Art hineingeraten sind. Die einen weinen um sich selbst und bedauern vor allem die eigene Situation und nicht den Schaden des Opfers, die anderen weinen tatsächlich wegen des Leids, das sie jemandem angetan haben. Andere wiederum weinen, wenn sie sehr belastende Ereignisse ihrer eigenen Biografie berichten und psychische oder physische Verletzungen und Misshandlungen erzählen, die sie bis heute nicht wirklich verarbeitet haben. Eine vierte Gruppe bemüht zuweilen Tränen aus deutlich manipulativen Gründen. Das ist dann das, was der Volksmund »Krokodilstränen« nennt. Sie erhoffen sich durch das schauspielerische Präsentieren von Reue oder emotionaler Belastung irgendwelche Vorteile in Bezug auf die Beurteilung ihrer Person.

Georg Tamm, der mir mit akkuratem Haarschnitt und in Hemd, Pullover und Stoffhose gegenübersaß, sagte, dass er sich noch sehr an die Verhältnisse im Gefängnis und insbesondere an die fehlende Intimsphäre gewöhnen müsse. Damals waren die WCs auf den Zellen noch nicht durch Sichtschutz verkleidet und vom übrigen Zellenraum abgetrennt. Er befürchtete, sich wegen der Tat wohl für längere Zeit auf die Haft einrichten zu müssen.

Wenn Menschen zum Ausdruck bringen wollen, dass sie ihr Gegenüber irgendwie für etwas zwielichtig und wenig vertrauenswürdig halten, dann fassen sie das oft ironisch in dem Satz zusammen: »Von dem würde ich keinen Gebrauchtwagen kaufen!«

Würde man von Herrn Tamm einen Gebrauchtwagen kaufen? Ja, würde man, dachte ich, als ich ihm gegenübersaß, denn Georg Tamm war dem Äußeren nach sicher ein Mann, der mit seinem gepflegten Erscheinungsbild und höflichen Manieren vertrauenerweckend wirkte. Wobei es völlig unmöglich ist, bei einem Menschen von seinem äußeren Erscheinungsbild auf sein Handeln und seine Motive zu schließen. Betrüger machen sich genau dieses Phänomen ja zunutze, indem sie über die bewusste Verwendung von Bekleidungs- und Verhaltensstilen der sozialen Schicht ihrer Zielgruppe um Vertrauenswürdigkeit werben.

Was brachte diesen gut bürgerlichen Mann in reiferem Erwachsenenalter dazu, seine Frau umzubringen und seine bisherige Biografie für die nächsten langen Jahre mit einem Gefängnisaufenthalt einzutauschen? Warum war ihm die Tötung seiner Frau sinnvoller erschienen als die Scheidung von ihr? Welche Art von Vorteilsabwägung hatte er vorgenommen?

Ich kenne einige Fälle, in denen ein Ehepartner den schwer behinderten, schwer kranken Angehörigen tötet und dann versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. In diesen Fällen aber sind die Angehörigen seit langer Zeit sehr belastet durch die von ihnen zumeist hingebungsvoll betriebene Pflege der Angehörigen, und ihre Energie braucht sich irgendwann zwischen Pflichtgefühl, Perfektionswille, Liebe zum Kranken und völlig vernachlässigter Eigenfürsorge auf. Aber das war hier nach allen vorliegenden Informationen nicht der Fall. Ich würde Georg Tamm also genauer nach den Symptomen einer depressiven Phase befragen und danach, wie diese sich im Alltag bemerkbar gemacht hatte oder ob sie sich nur auf die Thematik mit seiner Ehefrau bezog.

Das Erste, was Georg Tamm über sein Leben berichtete, war, dass er bis zum elften Lebensjahr eine wunderbare Kindheit hatte. Er war in Kleve am Niederrhein geboren und als Einzelkind bei seinen Eltern in äußerlich zunächst geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Im Elternhaus lebte auch noch seine Großmutter mütterlicherseits, zu der Herr Tamm eine innige Beziehung hatte. Da die Mutter, eine eher kühle und unnahbare Frau, als Sekretärin arbeitete und der Vater Malermeister war, kümmerte sich die Großmutter in liebevoller, aber auch Regeln setzender Weise um ihn. Sie starb jedoch an einer plötzlichen Hirnblutung, als Georg Tamm elf Jahre alt war. Von da an hatte er zu Hause keine enge Bezugsperson mehr. »Zu meiner Mutter hatte ich von jeher ein distanziertes Verhältnis, ich glaube, sie hat eigentlich gar keine Kinder gewollt. Mein Vater trank zu viel und verlor deswegen auch seine Arbeit, als ich vierzehn war. Seine Trinkexzesse wurden für meine Mutter und mich zur Belastung, aber meine Mutter schwieg zu allem. Zwei Jahre später starb er an den Folgen seiner Leberzirrhose. Ich muss zugeben, dass ich das als Erleichterung empfunden habe.«

Ich fragte Georg Tamm nach seiner schulischen Laufbahn, um mir ein genaueres Bild seiner Kindheit und Jugend machen zu können.

»Ich wurde ganz normal mit sechs Jahren eingeschult, war fleißig in der Schule und kam dann kurz vor dem Tod meiner Großmutter aufs Gymnasium. Ich wollte auf jeden Fall so schnell wie möglich aus dem Elternhaus raus. Das Abitur habe ich dann noch gemacht, aber ich wollte nicht studieren, sondern gleich eine ordentliche Berufsausbildung machen, um möglichst rasch auf eigenen Beinen zu stehen. Das Verhältnis zu meiner Mutter blieb immer distanziert. Als meine Großmutter und mein Vater tot waren, wurde umso deutlicher, dass wir eigentlich gar kein Verhältnis zueinander hatten. Ich machte ihr irgendwann Vorwürfe, dass sie der Trunksucht meines Vaters so tatenlos zugeschaut hatte. Da war ich achtzehn und stand kurz vor dem Auszug. Wir haben seither nicht mehr miteinander gesprochen.« Auch zur Hochzeit lud er sie später nicht ein.

Georg Tamm sprach jetzt flüssig und schnell, ganz so, als wolle er mit seiner raschen Erzählweise die Geschwindigkeit nachempfinden, mit der er versucht hatte, aus dem Elternhaus durch zielstrebige Planung seines Lebensweges herauszukommen.

Er erzählte, dass er nach der Schule eine Lehre zum Speditionskaufmann gemacht habe und später eine Anstellung in einem großen Logistikunternehmen fand, in dem er bis zu seiner Verhaftung arbeitete. Während der Lehrzeit lernte er mit 20 Jahren seine spätere Ehefrau Gaby kennen, die damals als junge Frau bei seinem Lieblingsitaliener um die Ecke als Servierkraft tätig war. Von Gabys Familie – einfachen, sehr herzlichen Leuten – wurde er sofort freudig aufgenommen. Über sie kam Georg Tamm auch zur Kleingärtnerei, die er vorher immer etwas verächtlich betrachtet hatte, da seine Eltern ein Haus mit eigenem größerem Garten besessen hatten. Aber er hatte, seitdem er in Köln lebte, durchaus Gefallen gefunden an einem ruhigen Plätzchen im Grünen und hatte auch Freude am Gärtnern entwickelt. Vor allem aber verband er mit der Liebe zu Schrebergärten die warmherzig-gesellige Atmosphäre der Schwiegerfamilie, die er in seiner eigenen Familie, von der Großmutter abgesehen, nie kennengelernt hatte. So nahm er auch, als er seine Frau 1982 im Alter von 25 Jahren heiratete, ihren Namen an, eine damals noch recht seltene Praxis.

Seine Frau schilderte er als lebenslustig, temperamentvoll und resolut. Sie war zunächst weiter in der Gastronomie tätig, hatte dann nach Beginn ihrer Erkrankung als Rezeptionistin in einem kleinen Hotel gearbeitet, aber vor rund einem Jahr ihre Arbeit aufgegeben, weil sie das Bedürfnis hatte, sich beruflich sozial zu engagieren. »Sie war zuletzt als ehrenamtliche Patientenbetreuerin im Krankenhaus tätig. Ich denke, dass ihre eigene Erfahrung sie motiviert hat, sich selbst um kranke Menschen zu kümmern.« Georg Tamm erklärte weiter: »Ich habe mir vorgestellt, was wäre, wenn sie im Alter selbst pflegebedürftig wäre. Wenn sie nicht mal mehr sprechen könnte. Ich habe mich da so richtig hineingesteigert. Wenn wir abends am Tisch gesessen haben, habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn sie im Rollstuhl gelähmt am Tisch säße und ihr der Speichel aus dem Mund liefe. Ich habe gemerkt, wie Ekel und Widerwillen in mir hochstiegen. Dann habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich allein am Tisch esse, aber sie mich vom Bett aus ständig ruft. Da wurde ich innerlich noch wütender.« Er habe zunehmend gegrübelt, wie er aus der Situation herauskommen könnte.

Ob er seine Frau nicht mehr geliebt habe, fragte ich.

»Es war schon so, dass die Beziehung nicht mehr so intensiv war. Es war mehr eine Gewöhnung. Wir hatten so unsere Routine. Nicht, dass wir uns böse waren. Aber ich wollte einerseits da raus, auf der anderen Seite wollte ich auch nicht alles verlieren. Es war eine vertrackte Situation.« Eine andere Frau habe er nicht kennengelernt. Er habe in den letzten Monaten vor der Tat kaum noch gegessen und nicht mehr richtig schlafen können. Zuletzt habe er sich sogar am Arbeitsplatz nicht mehr so gut konzentrieren können, das könnten die Kollegen bezeugen. Seine Frau habe auch gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmte. »Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, was los ist, und das Ganze abgewiegelt. Auch sexuell habe ich mich von meiner Frau zurückgezogen. Irgendwie hatte ich plötzlich so einen Ekel.« Tamm versuchte, die Schärfe herauszunehmen. »Ekel ist vielleicht zu viel gesagt, eher eine Abneigung. Ich bin dann hin und wieder zu Prostituierten gegangen. Davon wusste sie natürlich nichts. Mir wurde dann allmählich immer klarer, dass ich frei sein will.«

»Wie wäre eine Scheidung denn finanziell für Sie gewesen?«, wollte ich wissen.

Georg Tamm verzog den Mund, als müsse er eine besonders bittere Arznei schlucken. Er hätte seine Frau ausbezahlen bzw. die Wohnung verkaufen müssen. Es wäre knapp geworden. War Georg Tamm also zunehmend seiner Ehe überdrüssig gewesen und hatte sich dramatische Szenarien um die Gesundheit seiner Frau ausgemalt, um sich selbst die Legitimation für die Tötung zu geben? War sie ihm ganz einfach überdrüssig geworden, während er die Schwiegerfamilie eigentlich nach wie vor nett fand?

Ende der Leseprobe