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Wie Verbrecher ticken: faszinierende Einblicke
in die Welt der forensischen Psychiatrie
Prostituiertenmörder, Briefbombenleger, Kinderschänder, Akteure im NSU-Prozess: Schon viele Menschen haben Norbert Nedopil einen tiefen Einblick in ihre Seele gewährt. Ein grundlegendes Interesse an der menschlichen Psyche lässt den bekanntesten forensischen Psychiater Deutschlands auf Spurensuche gehen: Welche Faktoren führen dazu, dass ein Verbrechen geschieht? Wann muss ein Täter ins Gefängnis, wann in die Psychiatrie? Was passiert nach dem Strafvollzug? Pointiert entschlüsselt Nedopil die gesellschaftlichen und psychologischen Dimensionen des Verbrechens und gibt Einblicke in seine spektakulärsten Fälle.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das Buch
Prostituiertenmörder, Briefbombenleger, Kinderschänder, Akteure im NSU-Prozess: Schon viele Menschen haben Norbert Nedopil einen tiefen Einblick in ihre Seele gewährt. Ein grundlegendes Interesse an der menschlichen Psyche lässt den bekanntesten forensischen Psychiater Deutschlands auf Spurensuche gehen: Welche Faktoren führen dazu, dass ein Verbrechen geschieht? Wann muss ein Täter ins Gefängnis, wann in die Psychiatrie? Was passiert nach dem Strafvollzug? Pointiert entschlüsselt Nedopil die gesellschaftlichen und psychologischen Dimensionen des Verbrechens und gibt Einblicke in seine spektakulärsten Fälle. Willkommen in der faszinierenden Welt der forensischen Psychiatrie!
Der Autor
Professor Doktor Norbert Nedopil, Jahrgang 1947, leitete mehr als 20 Jahre die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und Fachbücher und legt nun mit »Jeder Mensch ist ein Abgrund« sein erstes Sachbuch vor.
Norbert Nedopil
mit Shirley Michaela Seul
Jeder Mensch hat seinen Abgrund
Spurensuche in der Seele von Verbrechern
Die in diesem Buch dargestellten Fälle sind so verfremdet, dass sie keinem einzelnen Menschen zugeordnet werden können. Eine Ausnahme stellen Fälle dar, die durch die Berichterstattung in den Medien hinlänglich bekannt sind. Hier wurde teilweise auf eine Anonymisierung oder Verfremdung verzichtet.
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1. Auflage
Originalausgabe 2016
Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-19732-2V001
www.goldmann-verlag.de
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Inhalt
Begegnung mit dem Bedrohlichen
Spurensuche in der Psyche
Wahrer Wahn
Gewalt-Fantasie
Mad or bad?
Die Krone der Psychiatrie
Wie es auch gewesen sein könnte
Die Erforschung der Täterpersönlichkeit
Ein krimineller Lebenslauf
Gibt es ein Gewalt-Gen?
Biologie, Umwelt und ihr Zusammenwirken
Der Kreislauf der Gewalt
Schutzfaktoren
Menschen- und Tätertypen
Diskrepanzen – Schlüssel zur forensischen Diagnostik
Besondere Tätertypen
Persönlichkeit und Situation
Der Tropfen und das Fass
Alkoholrausch
Kriminell oder krank?
Krank oder böse?
Wie gefährlich ist das Leben unter Menschen?
Triebkräfte des Verbrechens
Drei Ursachen für Konflikte
Gier und Neid
Wenn aus Gier Sucht wird
Wenn Gier und Sehnsucht Hochzeit halten
Zaghaftigkeit und Angst
Narzissmus
Rache und Wut
Jähzorn
Fanatismus und Radikalisierung
Terror
Terroristische Einzeltäter
Der kranke Terror
Die Lust an der Gewalt
Das sogenannte Böse
Sadismus
Gewalt und Rücksichtslosigkeit
Gefühlskälte
Sexualität und Sexualdelinquenz
Die sexuelle Prägung
Sexuelle Perversion
Täter und Opfer
Beziehungstaten
Die Partnertötung
Kinder als Opfer
Sexualdelikte an Kindern
Viktimologie – Nicht jedes Opfer bleibt ein Opfer
Gibt es einen Opfertyp?
Ohnmacht-Macht-Umkehr
Posttraumatische Belastungsstörung
Der Rechtsfrieden
Die Realität und ihre Rekonstruktion
Wie wahr ist die Wahrheit?
Die polizeilichen Ermittlungen
Untersuchungshaft
Der Rechtsbeistand
Das Gutachten
Die zwei Gesichter des Gutachters
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Die Haft
Der psychiatrische Maßregelvollzug
Resozialisierung zwischen Reue und Rechtfertigung
Die Entlassung
Kriminalitätsfurcht und Realität
Das Verbrechen und die Gesellschaft
Medien als Verbrechensverstärker
Schaufenster Psychiatrie
Buhmann Psychiatrie
Der forensische Psychiater als Schamane?
Kann man Verbrechen vorhersagen?
Was fasziniert uns an Verbrechen?
Sind Verbrechen Teil unseres Menschseins?
Das dünne Eis der Zivilisation
Mentalisierung und Empathiekonzept – Theory of Mind
Verbrechen verstehen heißt: sie verhindern
Von wegen: Früher war alles besser
Literatur
Begegnung mit dem Bedrohlichen
Es trifft Sie wie ein Blitz: Der Mann, dem Sie in der U-Bahn gegenübersitzen, hat seine Frau vor den Augen seiner Kinder getötet. Beim Frühstück haben Sie sein Bild in der Zeitung gesehen, unter der Schlagzeile: Mörder auf freiem Fuß.
Was geht in Ihnen vor? Wie reagieren Sie?
Vielleicht tun Sie so, als wäre nichts. Oder Sie wechseln den Sitzplatz, weil Sie sich bedroht fühlen. Es schießt Ihnen die Frage durch den Kopf, ob einer, der schon einmal einen Mord begangen hat, für Sie gefährlich werden könnte. Das ist nicht abwegig: Menschen, die bereits getötet haben, wiederholen eine solche Tat mehr als hundert Mal so häufig wie andere, die keinen Mord begangen haben. Diese Rückfallquote bedeutet nicht, dass Sie akut in Gefahr sind, zeigt jedoch, dass – rein theoretisch – Ihr Gegenüber ein größeres Risiko für Sie darstellt als die anderen Fahrgäste in der U-Bahn. Aber nicht aus diesem Grund sind Sie misstrauisch, Sie kennen diese Prognosen vielleicht gar nicht. Sie sind vorsichtig, weil Ihnen das Ihre Erziehung und die Natur vermittelt haben. Unsere Vorfahren lebten in einer bedrohlichen Welt, in der die Abwehrbereiten besser zurechtkamen als die Vertrauensseligen. Heute ist die Welt nicht mehr so bedrohlich. Vorsicht und Misstrauen sind dennoch tief in uns verwurzelt. Sie bestimmen unser Handeln geradezu reflexartig, wenn wir in Situationen geraten, die uns fremd sind.
Unsere Reaktionen sagen aber nichts über unser zufälliges Gegenüber in der U-Bahn aus, auch wenn wir das glauben mögen. Wir machen uns Gedanken, beginnen zu interpretieren, verknüpfen Aussehen mit Charakter, beobachten die Regungen des Fremden und fragen uns, was sie bedeuten: Jetzt eben der Blick aus dem Fenster zum Bahnsteig. Sucht er … ein neues Opfer? Fatalerweise neigen wir dazu, eine spontan entwickelte Vorstellung weiterzuverfolgen, ein Vorurteil zu unterfüttern – bis wir scheinbar vor einer unausweichlichen Wahrheit stehen. Die aber nur ein großer Irrtum ist. Und der kann entsetzliche Folgen haben.
Es könnte sein, dass Sie darüber nachdenken, warum der Mann seine Frau getötet hat. Sie haben möglicherweise schon einmal gehört, dass mehr als die Hälfe aller Tötungsdelikte im nahen familiären Umfeld passieren. Da Sie nicht mit Ihrem Gegenüber in der U-Bahn verwandt sind, ist er also für Sie weniger bedrohlich als für ein Familienmitglied. Vielleicht ist er ein Narzisst, der es nicht verkraftet hat, dass seine Frau ihn nicht mehr vergöttert? Oder wollte sie ihn verlassen? Oder ist er ein Psychopath, der rücksichtslos alles aus dem Weg räumt, was sich ihm entgegenstellt?
Was vermuten Sie?
Ich vermute zuerst einmal gar nichts. Meine Antwort würde lauten: Ich weiß nicht, welche Beweggründe ihn angetrieben haben. Und dann beginnt meine Arbeit. Denn erst wenn ich mir eingestehe: »Ich weiß es nicht«, bin ich unvoreingenommen und offen für alles, was ich im Folgenden erkunden kann: Die von der Polizei ermittelten Spuren, die Aussagen von Familie, Freunden und Bekannten, die ersten Reaktionen des Täters nach dem Verbrechen. Welche innerpsychischen Vorgänge haben ihn bewegt? Welche Situation hat sein Handeln ausgelöst? Wie denkt er heute über die Tat?
Ähnlich wie Sie sich gefühlt haben, wenn Sie sich die Situation in der U-Bahn vorstellten, dürfte es den Nachbarn von Helmut P. ergangen sein, als sie am Abend des Ostermontags vor der Eingangstür ihres Reihenhauses standen, um sich von ihren Gästen zu verabschieden. Da kam Helmut P. mit seiner sechsjährigen Tochter aus der Nachbarswohnung, seine Hände und die Hose blutverschmiert, ebenso der Schlafsack, in den das Kind eingehüllt war, voller Blut. Helmut P. drückte seine Tochter der Nachbarin in die Arme, stammelte mehr, als dass er es sagte: »Pass auf die Kleine auf, ich habe gerade die Hedwig umgebracht, ich muss jetzt die Polizei anrufen.« Mit diesen Worten ging er zurück in seine Wohnung.
Kurz darauf folgte die Polizei der Blutspur von der Küche ins Wohnzimmer und fand dort Helmut P. neben seiner leblosen Frau kniend. Er versuchte verzweifelt, sie durch Herzdruckmassage wiederzubeleben. Sie hatte durch Schläge mit einem schweren Holzscheit mehrere Schädelbrüche erlitten.
Die Nachbarn kannten Helmut P. nicht als Gewalttäter, für sie war er ein liebevoller Ehemann und fürsorglicher Vater. Was also ist hinter den verschlossenen Türen des Reihenhauses und hinter der Fassade dieser Familie passiert? Das zu beleuchten ist mein täglich Brot.
Spurensuche in der Psyche
Als forensischer Psychiater beschäftige ich mich seit über dreißig Jahren mit allen persönlichen und zwischenmenschlichen Aspekten, die einen Menschen in Konflikt mit dem Gesetz bringen können. Meine Aufgabe ist es festzustellen, ob ein Straftäter krank ist oder nicht. Das ist manchmal gar nicht so einfach herauszufinden, entscheidet aber letztlich darüber, wie ein Täter bestraft wird. Ist er schuldfähig, vermindert schuldfähig oder schuldunfähig? Wird er freigesprochen? Verbüßt er seine Strafe im Gefängnis oder in der Psychiatrie? Wird er gar sicherungsverwahrt, weil die Gesellschaft vor ihm geschützt werden muss? Um eine psychische Krankheit zu erkennen – und sie von einer vorgespielten zu unterscheiden –, gibt es Methoden und Kriterien, die ich als Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München an meine Studentinnen und Studenten vermittle, angehende Mediziner und Juristen. Darüber hinaus versuche ich als Forscher das Wissen über Kriminalität, psychische Störungen und die Zusammenhänge zwischen beiden zu erweitern. Es reicht aber nicht, in der Forschung immer mehr Wissen zu sammeln. Ich möchte diese Erkenntnisse weitergeben an Gerichte und Politiker, um dazu beizutragen, dass Straftaten vermieden und die Strafen für die Täter sinnvoll werden – durch zielgerichtete Gestaltung des Strafvollzugs, durch Verbesserung der therapeutischen Rahmenbedingungen für die Verurteilten und durch die Erinnerung, dass die eigentliche Arbeit häufig erst dann beginnt, wenn der Freiheitsentzug beendet ist.
Das alles sind genauso verantwortungsvolle Aufgaben wie die Begutachtung von Straftätern, bei der nicht selten meine Expertise den Ausschlag bei der Entscheidungsfindung des Gerichts gibt. In Deutschland wird im Vergleich zu anderen Ländern zwar nicht über Leben oder Tod entschieden, doch immerhin über die Lebensqualität – Gefängnis, Freispruch, Sicherheitsverwahrung. Das ist den Menschen bewusst, die mir im Rahmen einer Begutachtung gegenübersitzen. Und natürlich versucht jeder, das Beste für sich herauszuholen. Ich gehe davon aus, belogen zu werden. Es würde mich wundern, wenn es anders wäre. Doch es gibt Methoden, Lügen zu durchschauen. An dieser Stelle sei nur so viel verraten: An der Körpersprache entlarvt man keinen Lügner.
Im Laufe der Jahre sind mir Tausende von Probanden, so nennen wir die Menschen, die wir begutachten, gegenübergesessen. Ich habe zahlreiche Gutachten für Strafprozesse verfasst, die in der Öffentlichkeit starke Aufmerksamkeit erregten: Wenn es um besonders verabscheuungswürdige Taten wie Kindstötungen und sadistische Morde ging – der »Maskenmann«, der jahrelang in Schullandheimen Kinder missbrauchte und drei Jungen tötete; der Lastwagenfahrer, der mindestens sechs Frauen strangulierte –, um politisch brisante Prozesse wie den rechtsradikalen Bombenleger Franz Fuchs oder um Verfahren, die die Rechtsprechung änderten – wie jenes von Gustl Mollath.
Es saßen mir aber auch unzählige Menschen gegenüber, die keine Tötungsdelikte begangen hatten, deren seelische Verfassung aber dennoch beurteilt werden musste, damit Gerichte über ihre Zukunft in der Gesellschaft entscheiden konnten. Die forensische Psychiatrie befasst sich mit dem ganzen Spektrum der Kriminalität und der menschlichen Schwächen. Dabei habe ich nicht nur Grenzen des Erträglichen, sondern auch Grenzen dessen erfahren, was man mit wissenschaftlichen Kriterien erfassen kann. So wie bei dem Partisanenkämpfer, nach dessen Begutachtung ich zum ersten Mal in meinem Leben feststellte, dass es mir schwerfiel, rein wissenschaftliche Begriffe zu verwenden. Und dass ich, wenngleich widerwillig, auf das Wort böse zurückgreifen musste, um auszudrücken, was diesen Menschen ausmacht.
Die Frage, ob das Böse existiert, ist mir von Beginn meiner professoralen Karriere an immer wieder gestellt worden. Anfangs erwiderte ich darauf, dass gut und böse als moralische Kategorien in meinem Gebiet nicht relevant seien. Es gehe darum, Entwicklungen aufzuzeigen, die einen Menschen zu einer gewissen Verhaltensbereitschaft gebracht haben. Im Laufe der vielen Jahre mit Straftätern sind mir jedoch einige wenige Menschen begegnet, die ich – bei aller wissenschaftlichen Zurückhaltung – als böse bezeichnen würde. So der ehemalige russische KGB-Agent, der als junger Mann zum Militär kam und in seiner »Initiationsnacht« an der chinesischen Grenze acht Menschen erschoss.
»Ich merkte, dass mir das Spaß macht«, erklärte er mir lapidar. »Menschen töten.«
Dafür bekam er Anerkennung, seine Vorgesetzten lobten ihn und gewährten ihm einen Extraurlaub. Schließlich hatte er Feinde eliminiert. Und so machte er weiter, bis er schließlich im Afghanistankrieg der Sowjetunion auf die Führer der Taliban angesetzt wurde. Mit einem Fallschirm sprang er hinter der Front ab und schoss dann aus dem Hinterhalt. Dies allein hätte mich noch nicht zu meiner späteren Einschätzung gebracht, einem »bösen« Menschen gegenüberzusitzen, wenngleich die Sicherheitsvorkehrungen in der Untersuchungszelle wegen seiner mutmaßlichen Gefährlichkeit besonders hoch waren. Normalerweise werden die Probanden von der Polizei in mein Büro an der Universitätsklinik gebracht. Hier sitzen sie meistens ohne Handschellen, und auch die Begutachtung findet fast immer ohne Fesseln statt. Diesmal jedoch hatte man mich gebeten, den Probanden im Gefängnis zu begutachten. Er wurde als so hochgefährlich eingestuft, dass man ihn nicht quer durch die Stadt fahren wollte. Als ich ihn, der sich seiner Taten rühmte, fragte, wie er während seines mehrwöchigen Einsatzes hinter der Front mit seiner Sexualität umgegangen sei, antwortete er: »Die Männer waren im Krieg. Nur die Alten und Kranken sind in den Dörfern geblieben. Die Frauen gingen allein zu den Brunnen, um Wasser zu holen. Sie waren unbewacht.«
»Wissen Sie denn«, fragte ich ihn, »was in diesem Land mit vergewaltigten Frauen geschieht?«
Er lächelte. »Sie werden gesteinigt.«
Nicht die Vergewaltigungen, die er begangen hatte, nicht die egoistische und bedenkenlose Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse auf Kosten anderer veranlassten mich zu der Einschätzung »böse«, sondern seine wissentliche Inkaufnahme eines viel größeren, nahezu unaufwiegbaren »Begleitschadens«, der in keiner Relation zu seiner Bedürfnisbefriedigung stand. Das war es, was ich nicht mehr mit fachlichen Begriffen fassen konnte.
Auch an diesem Menschen habe ich etwas Positives entdeckt, falls seine Angaben wahr sind, wovon ich aufgrund verschiedener Unterlagen ausgehe. Dieser eiskalte Killer teilte seine Sondervergütung, die er für die Einsätze hinter der Front der afghanischen Taliban erhielt, mit den Witwen gefallener Kameraden. Für sie wird er ein guter Mensch gewesen sein, sie werden ihn gepriesen und für ihn gebetet haben. So hat jeder seine Sichtweise. Zu diesem Schluss bin ich immer wieder gekommen bei den vielen Gutachten, die ich selbst abgefasst und bei meinen Mitarbeitern in der Ausbildung betreut habe – zwischen dreihundert und vierhundert sind es pro Jahr. Unter dem Strich steht, dass Pauschalurteile in die Irre führen, denn sie verhindern es, dass man sich differenziert und ohne Vorurteile einem Menschen nähert. Nun kann man einwenden, dass Pauschalurteile wichtig seien. Ja, das ist richtig. Manchmal müssen wir sehr schnell handeln und haben deswegen keine Zeit für ein gründliches Abwägen. Das mag im Alltag praktisch, ökonomisch und meist sinnvoll sein. Die Begutachtung und Beurteilung von Straftätern und psychisch Kranken, die mit dem Recht in Konflikt gerieten, ist aber keine Alltagsaufgabe.
Der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman[1] spricht von zwei menschlichen Denksystemen, einem schnellen und einem langsamen, die für ein und dieselbe Sache oft zu verschiedenen Schlüssen kommen. Im Alltag beurteilen wir Informationen als wahr, die unseren Vorstellungen entsprechen, und ziehen solche in Zweifel, die ihnen entgegenlaufen. Bei der Begutachtung eines Probanden wäre es fatal, ein forensischer Psychiater würde sich allein auf seine intuitiven Eingebungen verlassen, wenngleich sie mit zunehmender Erfahrung eine Rolle spielen können. Doch gibt es kaum etwas, was einen so raffiniert aufs Glatteis führt wie die eigene Psyche. Wer einen Menschen nur aus dem Gefühl heraus beurteilt, wird Schwierigkeiten haben, dies für andere nachvollziehbar zu begründen. Der kleine Test, die Frage zu beantworten, welche Fakten und welches Wissen zu den Schlüssen führten, ist ein wirkungsvolles Gegenmittel, wenn man Gefahr läuft, sich selbst auf den Leim zu gehen.
Wahrer Wahn
Wer auf Pauschalurteile setzt, glaubt an eine Wahrheit, die für alle gilt. Doch von Mensch zu Mensch kann Wahrheit völlig anders aussehen, und sobald eine psychische Erkrankung die Regie übernimmt, zeigt Wahrheit noch einmal ein ganz anderes Gesicht. Meine Aufgabe als forensischer Psychiater verläuft an der Grenze zwischen normalpsychologisch nachvollziehbarem Verhalten und gestörter Verhaltenskontrolle. Ein Beispiel für diesen häufig schmalen Grat ist die schwierige Frage, wo der Glaube endet und der Wahn beginnt. Hierbei müssen die kulturellen Umstände berücksichtigt werden. Wenn mir ein Muslim erklärt, dass er nicht geisteskrank sei, sondern von Dschinns besessen, macht er damit zuerst einmal keine Aussage über seinen Geisteszustand, sondern über seine kulturelle Herkunft. Wenn ein gläubiger Katholik mir versichert, dass Maria unbefleckt empfangen habe, geschieht das nicht im Wahn, sondern konform mit dem Denksystem seines Glaubens. Für einen Andersgläubigen könnte sich die unbefleckte Empfängnis ebenso wahnhaft darstellen wie für einen Katholiken die Dschinns – nach dem islamischen Glauben unsichtbare dämonenartige Wesen, die Krankheiten und Verrücktheiten verursachen. Um die geistige Gesundheit eines Menschen zu beurteilen, muss das Umfeld, in dem er lebt, berücksichtigt werden. Aber natürlich gibt es Kriterien für Wahn, auch für den religiösen Wahn. Man erkennt ihn, wenn man das Denksystem eines Menschen nicht nur erfragt, sondern auch provoziert. Argumentiert das Gegenüber in einem geschlossenen, von der Realität abgehobenen Denksystem oder kann es in das wechseln, was wir als Realität bezeichnen?
Unterschiedliche Wahrheiten kommen nicht nur in verschiedenen Ländern und Kulturen vor, sie leben nebeneinander im selben Stadtviertel, Tür an Tür. Da schüttelt der atheistische Studienrat den Kopf über seinen jüdischen Nachbarn, der am Sabbat keinen Finger rührt, und womöglich unterstellt der eine dem anderen: der spinnt! Manchmal dient eine solche »Spinnerei« oder eine andere Kleinigkeit als Grund für einen Mord.
Jedes Jahr mit dem Schnee begann das Martyrium des Peter B. Dann nämlich griff sein Nachbar in der Doppelhaushälfte zur Schneeschaufel und schob schipp, schipp, schipp, schipp den Schnee von seiner Garageneinfahrt auf die Straße vor das Haus von Peter B. Das macht der nur, um mich zu ärgern, war sich Peter B. sicher. Er ärgerte sich und mehr als das: Er war wütend. Seit dreißig Jahren ging das nun so. Fast so lange hatte man kein Wort mehr miteinander gewechselt. Peter B. war überzeugt, der Nachbar wolle ihm zeigen, dass er sieben Quadratmeter mehr Grundbesitz hatte und dass man ihm nichts anhaben könne, weil er bei der Stadt beschäftigt war. Wenn die ersten Frostnächte durch die Reihenhaussiedlung zogen, wurde Peter B.s Schlaf schlechter. Schipp, schipp, schipp schabte die Schaufel durch seine Träume. Bis er ihr Einhalt gebot mit der Axt eines Morgens im Dezember. Und der Schnee färbte sich rot mit dem Blut des ahnungslosen Nachbarn, der nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, wie sehr Peter B. ihn hasste.
Gewalt-Fantasie
Wer sich mit der forensischen Psychiatrie beschäftigt, könnte leicht dem Trugschluss erliegen, die Welt würde immer gefährlicher. Laufen nicht immer mehr »verrückte Gewalttäter« herum? Oder nehmen wir das vielleicht nur so wahr durch die Begeisterung, mit der sich die Medien auf Mord und Totschlag stürzen? Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Seit es die Menschheit gibt, nimmt die Gewalt ab. Heute verzeichnet Deutschland pro 100 000 Einwohner 0,78 Gewalttote. Im Jahr 1890 waren es 2,5 und 1990 1,7. Die Abnahme ist umso erstaunlicher, als bei Mord und Totschlag die Dunkelziffer immer niedriger und die Aufklärungsquote immer höher wird. Dank der verbesserten polizeilichen Ermittlungstechniken wie DNA-Analysen bleiben nur noch vier von hundert Morden unaufgeklärt. Gewaltdelikte von psychisch Kranken sind ebenfalls weniger geworden, jedoch nicht im gleichen Umfang, wie es die Abnahme der Gewaltkriminalität insgesamt erwarten ließe. Aber wer gilt nun eigentlich vor Gericht als psychisch gesund? Nun, das ist sehr einfach zu beantworten: jeder erwachsene Mensch, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Diese Ausgangslage erspart uns die Antwort auf die kaum zu beantwortende Frage, was normal ist. Nicht aber auf die Frage, was krank oder gestört ist, zumal wir berücksichtigen müssen, dass Krankheit im juristischen Sinn etwas ganz anderes sein kann als im medizinischen und noch einmal etwas anderes als im allgemeinen Sprachverständnis, wo wir schon mal die Formulierung hören Bin ich Jesus oder was? und darin keinen Hinweis auf eine psychische Erkrankung vermuten.
Wolfgang H. glaubte, er sei auserkoren. Der Paraklet sprach zu ihm.
»Wer ist das?«, fragte ich ihn.
»Ein Professor müsste das eigentlich wissen«, entgegnete Wolfgang H. spöttisch.
»Klären Sie mich auf«, bat ich ihn.
»Der Heilige Geist«, hauchte er ehrfürchtig.
Wolfgang H. hörte auch andere Stimmen. Sie kündeten von der Wiederkehr des Messias. Eines Tages würde es so weit sein. Manche Stimmen wollten dies verhindern. Wolfgang H., im Dienste des Heiligen Geistes, musste wachsam sein. Er musste sich vorbereiten, weshalb er keiner Arbeit nachgehen konnte. Seit Monaten lebte er in einer Obdachlosenunterkunft. Wegen seiner Mission konnte er sich kaum mehr auf Dinge des täglichen Lebens konzentrieren. Aber er ließ nicht nach in seinen Bemühungen und besuchte täglich Kneipen, in denen er keinen Alkohol trank, sondern seine Mitmenschen mit Andeutungen auf das Große, das bevorstand, vorzubereiten trachtete. Was sehr gefährlich war, die Stimmen hatten es ihm prophezeit: Eines Tages würde er in einer Kneipe angegriffen und getötet werden. Doch Wolfgang H. fürchtete sich nicht. Er glaubte sich fest von Gott beschützt, das hatte der ihm sogar ins Ohr geflüstert. Hab keine Furcht, Wolfgang, ich bin bei dir. Sei wachsam! Und Wolfgang war wachsam. So fielen ihm die beiden Gäste sofort auf, die eines Abends in einer Kneipe auftauchten. Es war schon spät, und sie brachten einen eiskalten Luftzug mit. In grauen Mänteln und mit beschlagenen Brillengläsern standen sie an der Eingangstür, dann deutete der eine Mann in Richtung Tresen, wo Wolfgang H. in diesem Augenblick seine Gesprächspartnerin fragte, ob sie überhaupt ahne, was demnächst bevorstünde: die Wiederkehr des Messias.
Wolfgang H. wusste sofort, dass dies der Mann war, vor dem ihn die Stimmen gewarnt hatten. Der wollte ihn töten. Der wollte ihn daran hindern, seine Mission zu erfüllen. Und schon kam er näher, zögernd, die beschlagene Brille in der Hand, was Wolfgang H. nicht über seine Absichten täuschte. Er riss das große Messer an sich, mit dem die Barfrau eben noch Zitronen geschnitten hatte, und stürmte auf den fremden Mann zu, der die Gefahr nicht erkannte, wie auch, ohne Brille, ein weißes Taschentuch in der Hand. Mit einem Schrei rammte Wolfgang H. das Messer in den Hals des Feindes. Das Opfer verblutete innerhalb weniger Minuten.
Wolfgang H. konnte nicht verstehen, dass man ihn für sein Verhalten zur Rechenschaft ziehen wollte. Er hatte in Notwehr gehandelt. Und weil er wahnhaft davon überzeugt war, wurde er nicht mit jenem Maßstab zur Rechenschaft gezogen, wie es bei einem psychisch gesunden Menschen der Fall gewesen wäre.
Mad or bad?
Heute bezeichnen wir Menschen wie Wolfgang H. als psychisch krank. Früher wäre er geisteskrank genannt worden. Beide Begriffe sind neuzeitlich. Im Mittelalter bis zur Renaissance befasste man sich vorwiegend mit dem ersten Teil des Wortes, nämlich den Geistern, von denen diese Menschen angeblich besessen waren. Eine psychische Erkrankung lag jenseits des damals herrschenden Weltbildes, in dem Hexen mit dem Satan kopulierten und der Teufel und seine Vasallen für alles Übel und Gott und seine Engel und Heiligen für alles Gute verantwortlich waren. Nachdem mit der Aufklärung die religiösen Überzeugungen mehr und mehr in den Hintergrund traten, fand man andere Kräfte, die den Menschen von außen besetzten und lenkten. Den Mond nämlich. Tanzten die Irren nicht im Schein des Vollmonds und heulten ihn an wie Wölfe? Seelisch kranke Menschen wurden für vom Mond beeinflusste Geschöpfe gehalten, sie galten als mondsüchtig. Jahrhundertelang wurden Anstalten für psychisch kranke Menschen im Englischen als Lunatic Asylum bezeichnet, während bestimmter Mondphasen wurden die Patienten zur Vorbeugung ausgepeitscht.
Noch bis ins 18. Jahrhundert sperrte man psychisch Kranke in Gefängnissen zusammen mit Kleinkriminellen, Bettlern und Trunkenbolden, wo sie der vornehmen Gesellschaft zur Belustigung vorgeführt wurden. Ein Kupferstich des Bilderzyklus A Rake’s Progress von William Hogarth im Jahr 1735 vermittelt einen guten Eindruck von der Szenerie – und inspirierte später Igor Strawinsky zu seiner gleichnamigen Oper. Der französische Arzt Philippe Pinel setzte sich schließlich dafür ein, die psychisch Kranken von den Verbrechern zu trennen. Nach seiner Beschreibung verschiedener psychischer Erkrankungen wurde die Psychiatrie in die Medizin aufgenommen. Pinel gilt heute als Geburtshelfer der Psychiatrie. Mit ihm begann die Aufteilung in mad or bad, die zu einer der Hauptaufgaben der Psychiatrie wurde. Der erste Professor für Psychiatrie in München ist vielen Menschen ein Begriff, wenngleich vielleicht nicht aus fachlicher Sicht – Bernhard von Gudden ertrank 1886 zusammen mit dem »Märchenkönig« Ludwig II. im Starnberger See, nachdem er sein Gutachten über den Geisteszustand des Königs abgegeben hatte.
Wie menschenfreundlich unsere Gesellschaft heute ist, nehmen wir oft gar nicht wahr. Schutz gewährt allein schon die Tatsache, dass der Staat das Gewaltmonopol innehat und nicht jeder nach eigenem Gutdünken und Ermessen Vergeltung für ihm tatsächlich oder eingebildet widerfahrenes Unrecht durchsetzen muss, kann und darf. Und selbst wenn es emotional nachvollziehbar sein könnte, dass Empörung und Wut einen Menschen zur Vergeltung für erlebtes Leid treiben, so wird der Staat eine solche Selbstjustiz nicht ungestraft lassen, wie man am Fall der Marianne Bachmeier sehen kann. Sie erschoss den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal bei der Verhandlung 1981 in Lübeck und wurde wegen Totschlags zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nach unserem aktuellen Strafgesetzbuch wird nur derjenige nicht bestraft, der schuldunfähig ist, der aufgrund einer psychischen Störung nicht erkennen kann, dass er etwas Unrechtes tut, oder der sich aufgrund einer Störung nicht steuern kann. Um das herauszufinden, muss der Psychiater den Täter genau untersuchen – und der Täter muss in der Regel bereit sein, sich untersuchen zu lassen. Er kann dazu nicht gezwungen werden – Zwang wäre für den gutachtenden Psychiater wenig hilfreich. Wie sollte sein Gegenüber auch nur halbwegs offen reden können, wenn es zur Äußerung gezwungen wird, und wie sollte der Sachverständige Vertrauen aufbauen, wenn er den Untersuchten zum Reden »zwingt«. Allerdings können die Gerichte nicht auf die Beratung durch Sachverständige verzichten. Im Falle Gustl Mollaths lag beispielsweise kein Einverständnis des Angeklagten vor. Ich stützte mich in meinem Gutachten auf meine Beobachtungen während der Verhandlung sowie auf das Studium der Akten, auch dies war aufschlussreich.
Die Krone der Psychiatrie
Zu Beginn meiner Laufbahn sah ich meinen Wirkkreis in der klinischen Forschung. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Angeboten. Sollte ich stellvertretender Klinikleiter in Regensburg werden oder Vertreter des forensischen Psychiaters an der Universität München? Ich neigte zu Regensburg. Dort wurde ich bei meinem Erstgespräch von einem älteren Oberarzt durch die Klinik geführt. Er kannte die Namen der uns begegnenden Patienten nicht und pries die großzügige Unterbringung in einem Zehnbettzimmer. Ich versetzte mich in meine Zukunft nach dreißig Berufsjahren an diesem Ort, und meine Stimmung passte sich dem grauen Novembertag an, der die an und für sich schöne Stadt Regensburg trist und trostlos erscheinen ließ. Vor meiner Entscheidung fragte ich einen älteren, mir gewogenen Oberarzt um Rat. Professor Dietrich, den ich sehr schätzte, fackelte nicht lang. »Was wollen Sie in Regensburg? Sie gehen selbstverständlich in die Forensik. Das ist die Krone der Psychiatrie.«
Heute weiß ich, dass er recht hatte – zumindest für mich. Die forensische Psychiatrie war damals das Gebiet mit den meisten weißen Flecken. Hier gab es noch viel zu tun, hier konnte man in der Forschung viel bewirken. Davon abgesehen liegt im Wissen um die weißen Flecken meiner Überzeugung nach der Schlüssel zur Erkenntnis sowohl zu einem Menschen als auch einer Idee. Der weiße Fleck symbolisiert mein Eingeständnis: Ich weiß nichts. Ich gehe vorurteilsfrei in eine Begutachtung und begegne den Menschen, die mir gegenübersitzen, mit Respekt. Sie spüren, dass ich mich ihnen unbefangen nähere, mich nicht nur auf ihre Straftat konzentriere, sondern an ihnen als Mensch interessiert bin, an ihrer Geschichte, ihren Wunden und Narben. Aber auch an ihren Stärken und Ressourcen, an ihrer Lebenseinstellung und den Motiven, die sie zu ihren Taten geführt haben. Manches davon überrascht mich. Und dann freue ich mich, denn ich lasse mich gern überraschen. So wachsen meine Erfahrungen, und trotzdem fange ich bei jedem Probanden neu an, und von den meisten kann ich etwas lernen. Natürlich gibt es ein System von Fragen und Themen, die ich in einer Begutachtung abarbeite, eine Struktur der Untersuchung, aber kein starres Schema. Ich will wissen, wie sich der Mensch entwickelt hat, welche Erfahrungen er gemacht hat und vieles mehr. Es ist mir bewusst, dass ich nur erfahren werde, was ich erfrage. So führe ich mein Gegenüber gedanklich in Situationen, die es kennt, und solche, die ihm unbekannt sind. Ich versuche die weißen Flecken auf seiner individuellen Landkarte aufzudecken. Für mich – und wenn es geht, auch für ihn. Als junger Psychologiestudent habe ich gelernt, dass man bei Testungen nicht nur sein eigenes Wissen erweitern sollte, sondern dass diese für den Betroffenen einen »emanzipatorischen Effekt« haben sollten. Er sollte davon profitieren, wenn er sich untersuchen lässt. Dies möchte ich den von mir untersuchten Probanden mitgeben. Auf diese Weise habe ich viel erfahren. Und manchmal haben Täter mir ihr Vertrauen geschenkt, die lange geschwiegen haben, von denen niemand glaubte, dass sie überhaupt reden würden.
Wenn man historische Landkarten aus der Zeit vor Kolumbus betrachtet, findet man darauf Tiere, Pflanzen und Symbole. Die Gelehrten glaubten, alles zu kennen. Nach Kolumbus kam die Erkenntnis, dass es unbekannte Gegenden auf der Welt gibt und weiße Flecken auf der Landkarte. Man wusste nicht, wie genau sie beschaffen waren. Man musste sie erkunden. Auch ich schaue mir die Dinge genau an. Ich erkunde die Menschen; ich bin ein Suchender, der mit menschenkundlicher Neugier die Spuren in der Psyche meiner Gegenüber verfolgt. So materialisiert sich vielleicht eine Trasse, ich weiß noch nicht, wohin sie mich führen wird. Wenn ich eine Landkarte allmählich, Schritt für Schritt, gefüllt, ein Gutachten verfasst habe, bin ich zwar nicht sicher, dass ich alle Flüsse und Täler und Berge und Seen und Wälder an der richtigen Stelle aufgespürt habe, doch ich weiß, dass meine Landkarte die Realität des Menschen, der mir gegenübersitzt, deutlicher abbildet als eine Landkarte, die von Anfang an ausgefüllt gewesen wäre.
Wie es auch gewesen sein könnte
Wie eine Sache wirklich gewesen ist, weiß man nur, wenn man die Fakten kennt. Wie ein Ereignis auf einen Menschen gewirkt haben mag, weiß man vielleicht nie exakt. Aber man kann es erfragen, kann sich einfühlen. Und wird doch an Grenzen stoßen, die schon dort beginnen, wo zwei Menschen dasselbe Wort benutzen und etwas anderes damit meinen, was sie in der Regel aber gar nicht wissen. Ist diese Sache noch dazu im Bereich der Psychiatrie angesiedelt, wird es nicht einfacher. Denn was ist schon wahr, was ist real, und was ist psychisch krank oder eben gesund?
Ein Schriftsteller erzählte mir einmal, dass er oft große Probleme damit habe, ein Projekt, an dem er arbeite, anderen zu beschreiben. »Ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als mich damit auseinanderzusetzen, doch ich kann nicht wirklich erklären, was ich da eigentlich tue.«
Nach einer langen Laufbahn in der forensischen Psychiatrie wage ich nun ebenfalls ein Geständnis: Es fällt mir noch immer schwer zu erklären, was unter psychisch krank umfassend zu verstehen ist. Damit bin ich im Übrigen nicht alleine, alle mir bekannten Definitionen halten sich relativ bedeckt. Und so stelle ich fest, dass mich die Jahre gelehrt haben, wie es auch sein kann. Im Grunde genommen sind wir diesbezüglich nicht viel weiter als der Pionier der modernen empirisch orientierten Psychopathologie, mit der das psychologische Denken überhaupt erst Fuß fasste in der Psychiatrie: Emil Kraeplin (1856–1926) formulierte im Jahr 1910 folgendermaßen: »In diesem Sinne ist die Aufstellung von unanfechtbaren Krankheitsformen in der Psychiatrie leider erst in sehr bescheidenem Umfange und mit einer gewissen Annäherung erreichbar.«
Sein Kollege Kurt Schneider (1887–1967) schrieb im Jahre 1951: »Hier sind nirgends scharfe Grenzen gegenüber den ›normalen‹ Lagen, und daher ist es in leichteren Fällen oft willkürlich, ›Geschmackssache‹, ob man schon von Abnormität reden will oder noch nicht.«
In der ICD 10 aus dem Jahr 2014, der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, die in Deutschland verbindlich ist, liest man: »Der Begriff ›Störung‹ (disorder) wird in der gesamten Klassifikation verwendet, um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ oder ›Erkrankung‹ weitgehend zu vermeiden. Störung ist kein exakter Begriff; seine Verwendung in dieser Klassifikation soll lediglich einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellt.«
Manche Kriminalfilme und -romane, deren Protagonisten im wahrsten Sinne des Wortes »irre« agieren, berufen sich gern auf diese scheinbare Unbestimmtheit. Doch ein psychisch kranker Mensch ist nicht irre. Er lebt oft in einer Welt, zu der wir kaum Zugang haben. Manche dieser Welten sind streng strukturiert und gefüllt mit bedeutungsvollen Ritualen. Andere Menschen leben in einem auch für sie kaum erträglichen Chaos, das ihnen oft sogar Angst macht. In der fachlichen Begutachtung fallen die richtigen Puzzlesteine an die richtige Stelle, weil es eben doch Kriterien gibt, die Zuordnungen zu bereits bekannten Bildern ermöglichen. Aber sie sind nicht immer eindeutig. Es ist gerade die Mehrdeutigkeit, die mein Fach so reizvoll macht. Manchmal wird das Puzzle erst gelöst, wenn der letzte Stein sitzt, und manchmal entzieht sich auch dieser dem Zugriff. Umso wichtiger ist es, sich einen freien Blick zu bewahren, wann immer wir Menschen und ihre Handlungen beurteilen sollen. Und das kommt täglich vor, auch bei Ihnen, denn eine kleine Begutachtung steckt in jeder menschlichen Begegnung. Wir lernen jemanden kennen und schätzen ihn erst einmal grob ein. Das hat meistens keine großen Folgen für ihn. Aber eben nur meistens. Im Alltag kennen wir nur sehr wenige Fakten, vielmehr Gerüchte, Meinungen, wir haben etwas aufgeschnappt, dichten etwas dazu, erzählen es weiter. Meinen Studentinnen und Studenten rate ich manchmal, Begebenheiten aus ihrem Leben aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und mildernde Umstände nicht nur für geliebte, sondern auch für ungeliebte Zeitgenossen zu finden, Fakten, die zu einem Freispruch führen können, wenngleich nicht vor Gericht, so doch von einem Vor-Urteil. Wollen wir, dass andere oberflächlich über uns urteilen? Oder würden wir uns nicht vielmehr wünschen, dass sie sich differenziert mit ihrer Meinung über uns auseinandersetzen? Dann sollten wir selbst damit beginnen. Für mich ist jeder sinnvolle Perspektivenwechsel eine große Bereicherung.
Die Fakten:
Das Ehepaar F. betreibt einen Getränkemarkt. Frau F. hat es nicht leicht mit ihrem Mann, der selbst sein bester Kunde ist. Nach zwölf Flaschen Bier neigt er zur Gewalttätigkeit. Zwanzig Jahre bleibt Frau F. ihrem Gatten eine treue Stütze. Bis er durch seine Alkoholsucht nicht mehr in der Lage ist, seine Körperflüssigkeiten bei sich zu behalten. Frau F. macht hinter ihm sauber, freiwillig, ohne große Worte. Als er diesen Dienst eines Tages von ihr verlangt, packt sie seine kotbeschmierte lange Unterhose, windet sie um seinen Hals und erdrosselt ihn.
Die Sichtweisen:
Herr F., als Inhaber eines Getränkemarktes, musste tagsüber hin und wieder ein Glas mit seinen guten Kunden trinken. Schließlich wollte er sie nicht verlieren, das konnte er seiner Frau nicht antun. Sie lebten schließlich beide von dem kleinen Laden. Als er wegen einer für seinen Beruf typischen Erkrankung auf die Hilfe seiner Frau angewiesen war, versagte sie ihm diese und ermordete ihn.
Die Ehe ist für die fünfzigjährige Frau F. unauflöslich. So verspricht man es schließlich vor dem Pfarrer. In guten und in schlechten Zeiten. Ob sie in ihrer Ehe mit ihrem Partner überhaupt jemals gute Zeiten erlebt hat, ist fraglich. Der Mann wurde zum Alkoholiker, er neigte zur Gewalt. Doch Frau F. blieb bei ihm. Niemand zwang sie, ja, man redete ihr sogar zu, sie solle ihn verlassen. Aber als er ihre Hilfe brauchte, versagte sie ihm diese. Warum war sie nicht früher gegangen?
Die Bewohner im Viertel sind schockiert. Wie konnte das geschehen? Das Ehepaar F. war allseits beliebt – auch bei Kindern, die in dem kleinen Eckladen häufig Süßigkeiten zugesteckt bekamen. Doch Herr F. ist nicht mehr. Er wurde hinterrücks erdrosselt von seiner Frau.
Andere Bewohner des Viertels haben es kommen sehen. Herr F. habe seine Frau immer schlecht behandelt. Nun hat sie es ihm heimgezahlt – nach Jahren eines Martyriums.
Dieser Fall ist ungewöhnlich. Mit Frauen als Mörderinnen habe ich selten zu tun, sie machen insgesamt in der Kriminalstatistik nur fünf Prozent in dieser Tätergruppe aus. Ansonsten spielt es keine Rolle für mich, ob jemand ein Mörder oder ein Totschläger ist. Das sind Feinheiten, die nicht in mein Fachgebiet fallen, darum mag sich die Polizei und Juristerei kümmern. Ich finde die Beweggründe eines Täters spannend. Wann hat jemand angefangen darüber nachzudenken, einen anderen Menschen zu töten? Was für eine Persönlichkeit steckt in diesem Täter?
Anmerkungen
[1] Kahnemann, Daniel (2011): Schnelles Denken, langsames Denken. München, Siedler Verlag.
Die Erforschung der Täterpersönlichkeit
Wer ist schuld daran, wenn ein Mensch zum Mörder wird? Gibt es ein Täter-Gen? Sind Eltern für die kriminelle Laufbahn ihrer Kinder verantwortlich? Oder gibt die Umwelt, in der ein Mensch lebt, den Ausschlag? Die Meinungsvielfalt durch die Jahrhunderte ist beachtlich. Aktuell gehen wir von einem Zusammenspiel aller Faktoren aus, die gemeinsam das Bedingungsgefüge für die spezifische Entwicklung eines Menschen bilden: genetische Disposition, Erziehung und Umwelt machen uns zu dem Menschen, der wir sind. Es ist also nicht so einfach, wie es vor gut einhundert Jahren erschien, als die Wissenschaft der Physiognomik ihre Blütezeit erlebte. Sie ist eng verknüpft mit dem italienischen Arzt und Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie, Cesare Lombroso (1835–1909). Er entwickelte ein System, nach dem man Verbrecher an ihrem Äußeren identifizieren sollte. Vorstehende Schneidezähne, wenig Bartwuchs und eng zusammengewachsene Augenbrauen gehörten zu den Kennzeichen für Verbrecher. Ach ja, nach Lombroso war deren Haarfarbe öfter schwarz als blond. Und Betrüger erkannte man an ihren Locken. Heute mögen wir über solch eine Einfalt schmunzeln, wissen wir doch längst, dass ein Krimineller sehr attraktiv, dicht bebartet und blond sein kann. Und doch lassen wir uns von Äußerlichkeiten blenden: Wider besseres Wissen, dass das Aussehen eines Menschen nichts über seine kriminellen Aktivitäten auszusagen vermag, ganz im Gegenteil, diese sogar verschleiern kann, beeinflusst das visuelle Erscheinungsbild unsere Meinung. Wenn der ehemalige US-Präsident George W. Bush nach seinem ersten Treffen mit Vladimir Putin feststellt, »ich blickte in seine Augen und sah, dass er ein guter Mensch ist«, weiß ich, dass eine Korrelation zwischen Aussehen und Charakter nicht möglich ist.
Im Warteraum meiner Abteilung an der Universitätsklinik in München sitzen Strafgefangene, Polizisten in Zivil, die die Häftlinge begleiten, andere Patienten und Besucher. Niemand könnte allein vom Äußeren feststellen, wer der Polizist, wer der Strafgefangene, wer der Patient – oder beides – ist. Und schon gar nicht sollten wir uns auf eine solche Einschätzung verlassen. In vielen Studien wurde nachgewiesen, dass wir dazu neigen, Menschen mit ebenmäßigen Gesichtern und einem sympathischen Erscheinungsbild schneller zu vertrauen. Was Betrüger wie Heiratsschwindler weidlich auszunutzen wissen. Hilfreicher als der Blick auf das Erscheinungsbild eines Menschen ist die Analyse seiner Entwicklung.
Die Entwicklungspsychologie ist hier zu einer Reihe interessanter Ergebnisse gekommen. Besonders aufschlussreich waren Studien, die ganze Geburtskohorten – Kinder, die im gleichen Jahr geboren wurden – vom Kindergarten bis in ihr Erwachsenenleben begleitend untersuchten, um festzustellen, welche Kinder im Beruf Erfolg haben, welchen soziale Beziehungen gelingen, welche scheitern und insbesondere, welche dissozial und kriminell werden. Als dissozial bezeichnet man Menschen, die kontinuierlich die Regeln des sozialen Zusammenlebens missachten. Das kann sich in Verwahrlosung, Streitsucht, Aggression oder Kriminalität äußern. Man kann unterscheiden zwischen einer Dissozialität aus Stärke, bei der diese Regeln missachtet werden, weil der Betreffende glaubt, daraus Vorteile zu ziehen, zum Beispiel andere zu dominieren, finanziellen Gewinn zu erzielen oder der eigenen Lust zu frönen, und einer Dissozialität aus Schwäche, in der ein Mensch verwahrlost und in Bedrohungs- und Belastungssituationen übergriffig wird.
