Jeder Mensch stirbt nur einmal - Daniel Kallen - E-Book

Jeder Mensch stirbt nur einmal E-Book

Daniel Kallen

0,0

Beschreibung

Jeder Mensch wird einmal sterben. Das ist unausweichlich. Es ist aber auch so, dass jeder Mensch nur einmal stirbt. Das ist vielleicht die grösste Herausforderung unseres Lebens. Was ist es, was Sterbende in der Schlusskurve ihres Lebens beschäftigt? Was sind ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche? Wovor haben sie Angst? Gibt es Dinge, die sie am Ende bedauern oder gar bereuen? Woran halten sie sich? Was ist für Sterbende tröstlich? Und schliesslich die grosse Frage: Wie stirbt man in einer Zeit, die keine verbindlichen Bilder und Vorstellungen von einem «Jenseits» mehr kennt? Der freie und kirchen-unabhängige Theologe und Seelsorger Daniel Kallen begleitet seit 30 Jahren Menschen am Ende ihres Lebens. In dieser langen Zeit hat er zahlreiche spannende, schöne, tiefsinnige, aber auch schräge und humorvolle Gespräche am Sterbebett geführt. Von seinen vielfältigen Begegnungen erzählt dieses Buch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 287

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über das Buch

Impressum

Titel

Prolog: Tschechows Tod und der Nachtfalter

1. Einleitung: Die Kunst des Sterbens

Meine Erfahrung mit dem Tod

Gibt es am Ende so etwas wie Weisheit?

Sterbebegleitung

Seelsorge

Seelen-Begleiter

2. Zuhören am Sterbebett

Meine wichtigsten Beobachtungen

Begegnung mit Frau Tanner

Champagner

Offenheit

«Angst vor dem Tod»

Die terminale Phase

Der Geist von Frau Kübler-Ross

Wellen statt Phasen

3. Auf der Zielgeraden des Lebens

Themen am Lebensende

«Das Allerschwerste ist, die Liebsten loszulassen»

«Bestelle dein Haus»

Schmerzen

Das Gespräch «ohne Maske»

Schlechte Nachricht von ihrer Ärztin

Vom Umgang mit dem nahen Tod

Freundschaft

Helfen?

Palliative Sedierung

4. In Erinnerungen kramen

Lebensgeschichten

Unser Leben bleibt fragmentarisch

Sinn des Lebens?

5. ‹Bestelle dein Haus› oder Reden über die Abschiedsfeier

Neue Bestattungswünsche

Abschiedsrituale

Das «Lemon-Schnitzel»

Musik an der Abschiedsfeier

Individualisierung der Trauerkultur

Urnenbeisetzung auf der St. Petersinsel

Abschiedsfeier als «egoistische Selbstinszenierung»?

6. Was Menschen am Ende nicht  bereuen ...

«Ich bereue nichts»

‹The Top Five Regrets of the Dying›

Hätte, sollte, wäre, würde ...

Erinnerung an das, was gelungen ist

«Mein Beruf, die Praxis, die Aufgaben fraßen mich auf ...»

7. Über Jenseitsvorstellungen reden

Klassische Vorstellungen des Jenseits

Agnes: Begegnung mit einem Medium

Medialität und der Jenseitsglaube

Botschaften von Verstorbenen?

Jeder Person ihr eigenes Paradies

Jüngstes Gericht

Es wird gut sein – so oder so

«Somewhere over the Rainbow»

8. Frieden finden: Versöhnt mit dem eigenen Tod

Mit einem Lächeln im Gesicht sterben?

Auf dem Rückzug

In Frieden loslassen

Träume

«Lass nun ruhig los das Ruder»

9. «Ruhn! Abtreten!»: Selbstbestimmtes Sterben

Sterbebegleitung und Freitod

Einwände

«Ruhn! Abtreten!»

Wenn die Schmerzen unerträglich werden

10. Das Beste kommt eben nicht erst am Schluss ...

‹To-do-Listen› des Lebens

Die kleinen Wünsche

Persönliche ‹To-do-Liste› von Frau Zürcher

11. Rituale in der Sterbebegleitung

Ein Segensritual

‹Benedicere› – das Gute aussprechen

Bedürfnisse nach spirituellen Erfahrungen

Vom Sinn von Segensritualen beim Sterben

12. Humor am Sterbebett: Wie geht das denn?

Katharsis

Eine Ovomaltine-Büchse als Urne?

Eine neue Perspektive

Vielleicht bleibt uns tatsächlich manchmal nur noch der Humor

«Meinen Humor lass ich mir nicht nehmen»

13. Wie leicht mein Gepäck ist: Sterbebegleitung heute

Jeder Mensch muss schlussendlich selbst sterben

Nicht über letzte Dinge reden wollen

14. Das Wenige, das am Ende zählt

Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod

Was sterbenden Menschen wichtig ist

Glück ist immer relativ

Weisheit am Ende des Lebens?

Epilog: Mit einem leichten Herz

Seelenbegleiter

Das leichte Herz

Zum Autor: Mit dem Tod per Du

Der Tod meines Vaters

Der Tod sortiert das Leben neu

Meine persönlichen Erfahrungen mit dem Tod

Der «schöne Tod» unserer Mutter

Loslassen als der rote Faden meines Lebens

Über den Autor

Backcover

DANIEL KALLEN

JEDER MENSCH STIRBT NUR EINMAL

Der Autor und der Verlag danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021‍–‍2024 unterstützt.

© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehalten

Daniel Kallen

JEDER MENSCH STIRBT NUR EINMAL

Begegnungen am Sterbebett

Sämtliche Namen und Orte in diesem Buch sind so verändert worden, dass keine Privatsphäre (und Sterben ist das private Ereignis schlechthin) verletzt wird. Somit sind Rückschlüsse auf realePersonen, Situationen und Familien ausgeschlossen.Trotzdem sind die Gespräche und geschilderten Erlebnisse alle ausnahmslos authentisch und echt.

«Wir werden Frieden finden,

wir werden den Engeln lauschen

und den Himmel sehen,

funkelnd von Diamanten.»

Prolog: Tschechows Tod und der Nachtfalter

Badenweiler, Deutschland: Wir schreiben den 9. Juni 1904. Im Hotel ‹Römerbad›, der besten Adresse im süddeutschen Kurort, hat man dem berühmten Schriftsteller aus Russland diskret zu verstehen gegeben, dass man keine «Lungenkranken» beherbergen möchte.

Der hustende Anton Tschechow stört. Die anderen, wohlhabenden und feinen Gäste aus Deutschland, England, Russland, Frankreich und den Niederlanden könnten sich irritiert fühlen. Also muss er mit seiner Ehefrau Olga schließlich im Hotel ‹Sommer›1 absteigen. Eigentlich möchte er in diesen Tagen gerne an den Comer See weiterreisen und später von Italien mit dem Schiff wieder auf die Krim, aber der 44-jährige Tschechow ist zu krank, zu schwach, zu müde, um weiterzureisen. Nachts hat er Schweißausbrüche und Fieberschübe, zudem hatte er in den vergangenen Jahren dramatisch an Gewicht verloren.

Wie schlimm es um ihn steht, versucht er – wie immer – zu verbergen, vor allem vor seiner Ehefrau Olga Knipper. Er hatte die bekannte, russische Schauspielerin sechs Jahre zuvor bei den Proben einer Neuinszenierung seines Stückes ‹Die Möwe› im Moskauer Kunsttheater kennengelernt, als sie die Hauptrolle spielte. 1901 hatten sie heimlich geheiratet. Olga war Tschechows grosse Liebe.

Und ihr entgeht in Badenweiler nicht, dass ihr ‹Antoshka› kaum mehr atmen kann. Er wirkt kraftlos, erschöpft. Seit 20 Jahren leidet ihr Ehemann unter Lungentuberkulose, jetzt hustet er Blut. Die Hitze dieser Tage ist zusätzlich Gift für ihn und seine Lunge.

Am Abend des 14. Juli, einem Donnerstag, scheint – nach schwülen Tagen – endlich wieder eine etwas mildere, sprich kühlere Nacht anzubrechen.

Mit seinem intelligenten Humor und seinem wunderbaren Charme bringt Tschechow seine ‹Olitschka›2, wie er sie seit ihrem Kennenlernen liebevoll nennt, wieder herzhaft zum Lachen. Sie sitzen auf dem Balkon ihres Zimmers, scherzen, betrachten die Sterne. Dann am späten Abend erleidet Tschechow erneut einen Schwächeanfall. Er hustet, ringt nach Luft, bittet schließlich seine Frau, einen Arzt zu rufen.

Doktor Schwoerer, ein junger Lungenarzt aus Badenweiler, kommt kurze Zeit später ins Hotel und behandelt Tschechow, der sich inzwischen aufs Bett gelegt hat, mit Sauerstoff und Eiswürfeln. Aber Tschechows Zustand verschlechtert sich von Stunde zu Stunde. Es ist bereits nach Mitternacht, als der Doktor eine Flasche Champagner holen lässt und ein Glas. Tschechow, der ebenfalls Arzt ist, weiß sofort, was das bedeutet: Champagner ist ein altes Abschiedsritual für Sterbende.

Er setzt sich im Bett auf und spricht – auf Deutsch: «Ich sterbe! Anton Pavlow Tschechow stirbt!» Er nimmt das Glas, das Olga ihm reicht, trinkt, schaut ihr in die Augen, lächelt noch einmal sein wunderbares Lachen und sagt leise: «Ich habe schon so lange keinen Champagner mehr getrunken.»

Dann leert er in aller Ruhe das ganze Glas, reicht es Olga mit einem Lächeln und sagt dann auf Russisch: «Ich liebe dich, meine Olitschka», dreht sich zur Wand und stirbt.

Ein dunkler Nachtfalter flattert durch das Zimmer. Tschechow ist tot.3

Endnoten

1Heute: ‹Rehabilitationsklinik Park-Therme›.

2Russisch: Kosewort für Olga.

3Vgl. L. L. Rabenek: Die letzten Minuten A. P. Čechovs in Badenweiler, Übersetzung aus dem Russischen von Heinz Setzer. Deutsche Tschechow-Gesellschaft e. V. (DTG).

«Abschied ist die innigste Form menschlichen Zusammenseins.‍»   Hans Kudszus, deutscher Journalist

1.Einleitung: Die Kunst des Sterbens

Seit fast 30 Jahren begleite ich nun Menschen am Ende ihres Lebens. In dieser langen Zeit durfte ich die unterschiedlichsten Personen auf der letzten Etappe vor ihrem Tod begleiten. Von der Buchhalterin bis zum Arzt, vom Handwerker bis zur Dozentin, vom Angestellten bis zum Chef. Nun gut, meistens habe ich mit Sterbenden natürlich keinen Champagner getrunken, dafür viel zugehört, was sie mir auf dem letzten Abschnitt ihres Lebens erzählt, gesagt und berichtet haben.

In diesem Buch möchte ich über meine vielfältigen, bunten und unterschiedlichen – manchmal auch komischen, meistens aber sehr intensiven Begegnungen am Sterbebett erzählen. Was ist es genau, das Menschen am Ende ihres Lebens beschäftigt? Was sind ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche? Wovor haben sie allenfalls Angst? Gibt es Dinge, die Menschen am Ende ihres Lebens bedauern oder bereuen? Woran halten sie sich? Was ist für Sterbende tröstlich?

Und schließlich die große Frage: Wie stirbt man in einer Zeit, die keine allgemeinverbindlichen und gültigen Vorstellungen von einem Jenseits mehr kennt?

Meine Erfahrung mit dem Tod

Meine erste Erfahrung ist: Niemand stirbt gerne. Der Tod ist die äußerste Grenze, an die das Leben uns führt. Das ist keine Drohung, sondern schlicht und einfach eine Tatsache. Wenn wir wählen könnten, möchten wir nicht sterben. Wir hängen an diesem Leben, weil wir nur dieses eine Leben kennen. Der Tod bleibt immer der große Unbekannte, der Stachel in unserem Dasein.

Meine zweite Erfahrung ist: Wir verdrängen den Tod – bewusst oder unbewusst. Wir sind Meister in der «Kunst der Ablenkung». Wir weichen den Fragen um unser Sterben aus. Der Tod, das ist fast immer nur das Hinscheiden der anderen, aber nicht unser eigenes Sterben. Oder: Wenn schon gestorben werden muss, dann später, einfach nicht jetzt. Der Tod kann warten, bitte!

Meine dritte Erfahrung ist: Es gibt kein Entrinnen vor der Vergänglichkeit. Ewig ist nur das Kommen und Gehen. Egal, wer wir sind, egal, wie bedeutend wir waren oder eben nicht, irgendwann wird der Tod uns einholen. Oder ein wenig salopp gesagt: Keiner von uns kommt hier lebend raus. Keiner.

Früher oder später wird der Sensenmann uns alle zum letzten Tänzlein auffordern. Die Frage, die sich uns stellt, ist also: Wie gehen wir mit dieser Tatsache um?

Und meine vierte Erfahrung ist: Jedes Leben ist ein eigenes Universum. So viele Farben, Melodien, aber auch Trauer und Glück, Wut und Tränen, Liebe und Hoffnung. Am Ende gibt es zahlreiche Wege, die wir gingen – manchmal auch einfach gehen mussten, darunter Irrwege, Holzwege, Leidenswege, sogar Sackgassen, aber – hoffentlich – auch sehr viele schöne, beglückende und schlicht und einfach wundervolle Wege. Wie wir es auch drehen und wenden: Es bleibt unser Leben – bis zum Schluss. So unterschiedlich Biografien verlaufen, so unterschiedlich ist auch unser Sterben. Sterben hat immer etwas sehr Intimes, Persönliches. Jeder stirbt am Schluss seinen eigenen Tod.

Gibt es am Ende so etwas wie Weisheit?

Eine Frage habe ich mir im Verlaufe meiner vielen Begegnungen mit Sterbenden immer wieder gestellt. Sie lautet: Gibt es auf der Schlussgeraden des Lebens vielleicht so etwas wie Weisheit? Wächst in uns – vor dem großen Abgang – so etwas wie eine bedeutungsvolle Erkenntnis? Es müsste nicht gleich die große Erleuchtung sein, also keine finale göttliche Offenbarung, aber vielleicht eine Art von letzter Reife? War es früher einfacher zu sterben? Früher, als man noch selbstverständlich an einen Himmel glauben konnte, ein jenseitiges Paradies, das uns nach diesem Leben erwartet?

Dieses Buch ist keine wissenschaftliche oder philosophische Abhandlung über das Sterben. Es will auch keine Analyse über den Tod in unserer Gesellschaft sein und es ist schon gar kein Ratgeber für Sinnsuchende. Vielmehr sollen hier konkrete Erfahrungen und Begegnungen im Zentrum stehen. Ich erzähle, wie Menschen heute sterben, und halte fest, was für sie am Ende wirklich zählt.

Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Tod und mit ihm die ganze Thematik um das Sterben eine Art von Tabu. Über diese Dinge sprach man nicht und schon gar nicht, wenn man selbst betroffen war. Nein, um Gottes Willen. Warum auch? Das hat sich in den vergangenen 30 Jahren völlig geändert. Heute ist der Tod sozusagen «in aller Munde». Mehr noch: Menschen, die über den Tod schreiben, singen, reden, nachdenken, wollen gehört und wahrgenommen werden. Hinzu kommt: Gewandelt und verändert hat sich auch, WIE heute über Sterben und Tod gesprochen wird. Neue Gefäße und neue, zeitgemäße Literaturformen entstehen. Gerade Online-Sterbetagebücher scheinen heute auf eine große Resonanz zu stoßen. Millionen von Menschen schauen sich die Film- und Tonbandaufnahmen von Sterbe-BloggerInnen an. Sterbe-Blogger? Ja, genau. Das Leiden und Sterben der jungen deutschen Bloggerin Lisa Wagenführ geboren Kallenbach4 mag hier als Illustration dienen. Ihr Sterben oder besser gesagt, ihre Videoeinträge und ihr «Zur-Schau-Stellen» ihres eigenen Sterbens, verfolgten am Schluss fast eine Million Follower. Im Internet können unzählige Podcasts zum Thema heruntergeladen werden.

Aber auch auf dem klassischen Büchermarkt scheint das Thema en vogue zu sein. Jedes Jahr tauchen zahlreiche Neuerscheinungen über Inhalte wie Sterben, Trauer und Tod auf. Sterben – so könnte man meinen – hat heute Hochkonjunktur. Die Titel lauten: ‹Letzte Wünsche – Was Sterbende hoffen, vermissen, bereuen›, ‹So sterben wir› oder auch ‹Anleitung zum guten Sterben›5. Irgendwie ist es schon etwas paradox, dass man für das Selbstverständlichste dieser Welt, nämlich zu sterben, eine Anleitung beziehungsweise einen Ratgeber meint brauchen zu müssen. Das gleiche Bild zeigt sich in den vielen wissenschaftlichen Arbeiten und Sachbüchern von medizinischen Fachleuten – Ärzten, Pflegenden, Psychologinnen und Seelsorgern. Auch dieser Markt wird mit Fachbüchern über Sterben und Tod geradezu geflutet. Manchmal befürchte ich, das Thema könnte ein ähnliches Schicksal erleiden, wie es der Erotik im ausgehenden 20. Jahrhundert beschieden war. Aus dem einstigen Tabu wurde ein Markt und schließlich wurde das Thema Sex allgegenwärtig, aber leider auch trivial.

Und doch: Sterben bewegt, berührt, es fordert uns heraus als Gesellschaft und als Individuen – vielleicht auch weil es uns alle betrifft. Auf der anderen Seite werden die Themen Krankheit, Alter, Sterben und Tod zunehmend in Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime und Sterbehospizen «ausgelagert» und damit immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt. Sterben und Tod, das betrifft doch nur die Sterbenden und ihre nächsten Angehörigen, denken viele. Ein Widerspruch? Ja und nein. Wir verdrängen das Sterben und sind doch zugleich fasziniert vom Thema Tod. Eine Hassliebe? Vielleicht. Aber leben Menschen nicht oftmals mit Widersprüchen?

Sterbebegleitung

Wann immer wir von sterbenden Menschen sprechen, müssen wir auch von deren Begleitung reden. Aber was ist eine gelungene Sterbebegleitung? Hier gehen die Meinungen auseinander. Meine Antwort: Ein Mensch soll sich in seiner terminalen Phase «getragen, verstanden und unterstützt» fühlen. Deshalb ist eine wertschätzende, achtsame Grundhaltung in der Sterbebegleitung unabdingbar. Als Sterbebegleiter leite ich nicht, ich schenke einer Person meine volle Aufmerksamkeit, meine Zuwendung. Es geht nicht darum, zu führen oder zu lenken, sondern eben einfach «da» zu sein, für ihre Fragen, ihre Wünsche, ihre Ängste – auch ihr Schweigen – ihre Hoffnungen und die vielen kleinen, letzten Dinge, welche die dahinscheidende Person vielleicht belasten, erfreuen, bewegen und beschäftigen. Das klingt im ersten Moment sehr einfach und simpel, ist es aber überhaupt nicht. Es geht auch um das Aushalten, das Geschehen lassen. Die letzte Meile gibt es nicht nur im Business der Telekommunikation, sondern vielmehr – ganz existentiell – im Leben selbst, wenn ein Mensch nur noch ein paar Wochen oder Tage zu leben hat und er begleitet werden möchte auf dieser letzten Etappe.

Es wird immer wieder betont, Sterbebegleitung vermittle Trost und sei demnach tröstend. Zu fragen wäre hier, was denn die Worte ‹Trost› oder ‹tröstlich› bedeuten? Trost wird meist definiert als eine besondere, freundliche, einfühlende Zuwendung zu einer bestimmten Person, die Schmerz, Angst oder Leid ertragen muss.

Es gibt auch den «billigen Trost», der nicht tröstet, sondern vertröstet. Vertröstung ist, wenn man das Leid des anderen gerade auf eine plumpe, eben «billige» Art aufheben und ihn zum Beispiel hinhalten oder auf später hoffen lassen will, im Sinne von: «Das kommt schon wieder gut.» Echter Trost kann durch Worte, Gesten, auch durch Berührung «gespendet» und einem Gegenüber zu Teil werden. Der Sinn des Trostes ist nicht die Aufhebung des Schmerzes oder des Leids, sondern die Linderung und der Beistand. Der getröstete Mensch soll spüren, dass er in seiner Situation, in seinem Schmerz, in seiner Verzweiflung nicht allein ist, sondern dass jemand da ist und Anteil nimmt.6

Seelsorge

Der italienische Humanist und Kardinal Domenico Capranica verfasste im 15. Jahrhundert ein Erbauungsbuch über den «guten Tod». Er nannte es ‹Speculum artis bene moriendi›, was so viel heißt wie ‹Spiegel der Kunst des guten Sterbens›. Darin ging es tatsächlich um den «guten Tod». «Gut» war im 15. Jahrhundert und nach Capranicas Vorstellung ein Tod, bei dem man auf das Jenseits und auf Gott vorbereitet war. Sowieso wurde das Leben im Diesseits damals als eine Art Vorbereitung auf das Jenseits gesehen. Darum bedeutete ein «guter Tod» die Eintrittskarte in den Himmel, das einzige Ziel und der eigentliche Sinn des Lebens.

Heute könnten wir von dieser spätmittelalterlichen Vorstellung vom guten Tod nicht weiter entfernt sein als die Menschen des 15. Jahrhunderts. Und doch ist die ‹Kunst des guten Sterbens› ganz neu Thema geworden in der Sterbebegleitung und in der ‹Palliative7 Care›-Arbeit seit rund 20 Jahren. Heute wird diese Kunst allerdings völlig losgelöst von religiösen Vorstellungen gedacht und umgesetzt. Längst hat nämlich die Medizin die Deutungshoheit und das Primat über Sterben und Tod übernommen. Sie allein definiert heute, was ein «guter Tod» sei: nämlich, wenn man die Schmerzen der Sterbenden palliativ lindere, für sie da sei, ihnen Unterstützung und menschliche Wärme zukommen lasse, dann – hier sind sich Ärzte weitgehend einig – sei ein «gutes» Sterben, ein «guter Tod» möglich. Aber wo bleibt dann der spirituelle Aspekt in der «Kunst des guten Sterbens»? Oder ein wenig provokativ gefragt: Braucht es heute überhaupt noch «Seelsorge» am Ende des Lebens? Genügte es nicht, dass sterbende Menschen einfach eine einfühlende Ansprechperson haben, jemand, der jetzt an ihrer Seite steht oder vielmehr sitzt und einfach da ist?

Und tatsächlich: Es gibt Spitäler, Pflegeheime und Hospize, die heute Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter für Menschen am Ende ihres Lebens engagieren, die Sterbenden in dieser letzten Phase des Abschiedes zur Seite stehen. Sehr oft sind das keine ausgebildeten ‹Seelsorger› im theologischen Sinn und auch keine Psychologen, sondern lebenserfahrene und einfühlsame Menschen, die diese wichtige Aufgabe übernehmen.8 Also: Braucht es da noch eine professionelle Seelsorge? Nein, wenn es um die veraltete, auch für mich als Theologen, längst überholte Vorstellung geht, dass der Mensch auf die Gnade Gottes und Erlösung angewiesen sei und demnach – auf seinem Sterbebett – den Zuspruch und die Vermittlung der Kirche brauche. Und ja, wenn wir Seelsorge als unbedingte Offenheit für die spirituelle Dimension des Menschseins definieren. Ziel einer solchen professionellen Seelsorge ist allerdings nicht mehr die Vermittlung von Gottes Gnade, sondern spirituelle Kraftquellen zu erschließen, die helfen, zum Beispiel existenzielle, persönliche Fragen nach dem Sinn des Lebens zu formulieren und den nahenden Tod zu bewältigen.

Nach dem Philosophen Peter Sloterdijk bleiben Deutung und Auslegung der Existenz, auch im 21. Jahrhundert, eine wichtige Aufgabe von Religion.9Wenn ich diese Aussage von Sloterdijk auf die Seelsorge beziehe, könnte man auch sagen: Deutung und Auslegung der Existenz, das wäre auch die zentrale Herausforderung einer Seelsorge am Ende des Lebens. So verstandene Seelsorge fragt nach dem, was Menschen im Leben und im Sterben trägt, was sie ermutigt, ihnen Sinn und Inhalt gibt, kurz: alles, was ihrer Seele jetzt guttut. Diese Form von Seelsorge wäre darum eine freie, wertschätzende, empathische, interessierte und aufrichtige Begegnung zwischen dem Seelsorgenden und dem sterbenden Menschen.

Heute steht die Frage nach einem würdigen Sterben zurecht im Fokus der Gesellschaft und der Medizin. Es geht im Sterben auch um Menschenwürde und die normative Frage: Wie soll gerade nicht gestorben werden müssen? Langsam, aber sicher wuchs in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahren nämlich ein neues Bewusstsein, dass zu einem menschenwürdigen Sterben körperliche, psychische und auch soziale Aspekte gehören. Das ist heute die Norm. Als professioneller Seelsorger und spiritueller Begleiter von Sterbenden plädiere ich dafür, dass auch seelische und spirituelle Bedürfnisse sterbender Menschen in dieses neue Bewusstsein eines würdigen Sterbens sickern.

Seelen-Begleiter

Spirituelle Begleitung ist darum nie konfessionell gebunden, sondern unabhängig von religiösen Bekenntnissen – egal welcher Prägung – weil ich überzeugt bin, dass Spiritualität zum Menschen gehört, wie Sprache, Musik, Kunst und Kultur. Spirituelle Begleitung am Ende des Lebens ist offen für alle Fragen nach dem Sinn und Unsinn des Daseins, sie spricht das an, was einen Menschen trägt, was ihm Halt oder Hoffnung gibt in der Krise des nahenden Todes. Sie ist für den Menschen da und nicht umgekehrt.

In vielen Kulturen, Religionen und Mythen der Menschheit gingen Sterbende am Ende ihres Lebens nicht allein auf die große Reise. Sie wurden – nach den Vorstellungen der Menschen – ins Jenseits begleitet. Zum Beispiel bei den Ägyptern von ‹Anubis›, dem Gott mit dem schwarzen Schakalkopf. Seine Aufgabe war es auch, die Herzen der Menschen zu wägen. Bei den Griechen hieß dieser Begleiter der Seelen ‹Hermes›. Nach einer anderen mythologischen Vorstellung gab es auch ‹Charon›, den Fährmann, der die toten Seelen über den Fluss ‹Styx› ruderte. Nach christlichen und islamischen Vorstellungen sind es manchmal Todesengel, die Verstorbene auf die «andere Seite› des Lebens bringen.

Heute – im 21. Jahrhundert – haben wir keine mythologischen Bilder und Vorstellungen mehr von diesem «Hinübergehen». Sterben wird sowieso nicht mehr als ein Hinübergehen gedeutet, sondern als ein Prozess am Ende des Lebens. Seien wir ehrlich: Für die meisten Menschen sind kirchliche und religiöse Vorstellungen von einem Jenseits fragwürdig, ja leer geworden. Mit theologischen Begriffen wie dem ‹Ewigen Leben› oder der ‹Auferstehung von den Toten› kann man heute am Sterbebett kaum mehr jemand beeindrucken, geschweige denn trösten. Der Glaube an einen christlichen Himmel, wo die Seligen in ‹ewiger Gottesschau› Gott preisen, ist längst einer neuen Bejahung des alltäglichen Lebens im Diesseits gewichen. Hinzu kommt: Was uns über Jahrhunderte von Pfarrern, Priestern und kirchlichen Würdenträgern unter dem Stichwort ‹Himmel und Hölle› und eben ‹Jüngstes Gericht› zugemutet wurde, wollen die meisten Menschen heute völlig zu Recht nicht mehr hören. Und doch bleibt der Glaube an eine unsterbliche Seele und an ein Jenseits, wo es «keine Tränen, kein Leid und keine Schmerzen» mehr gibt – für viele Menschen lebendig, ja dieser Glaube gibt manchen immer noch Halt und Sinn im Leben und im Sterben. Aber eben bei weitem nicht mehr allen. Es gibt immer mehr Menschen, die ohne dieses jenseitige Sicherungsnetz auskommen und deshalb nicht schlechter oder gar verzweifelt sterben. Dann nimmt spirituelle Begleitung immer das auf, was für die sterbende Person eben spirituell ist, und ist offen für die Themen und Inhalte, die sie tragen und ihr Halt geben. Spiritualität – wie ich sie verstehe – nimmt die Beziehung eines Menschen zum Großen und Ganzen auf. Jeder Mensch hat hier seine eigene Vorstellung von der Schöpfung und vom Leben. So gesehen muss eine Begleitung immer offen sein, wenn sie nach der Spiritualität des Gegenübers fragt. Ein Leitsatz wäre hier für mich: Spiritualität ist immer das, was mein Gegenüber für spirituell hält.

Wenn wir den Menschen als Wesen denken, das über sich und sein Leben hinausfragen muss, wie müsste dann eine spirituelle Begleitung am Ende des Lebens gestaltet werden, die mehr ist als bloße Vertröstung auf ein himmlisches Paradies und auch mehr als eine Seelsorge, die vor allem auf ein Jenseits ausgerichtet ist? Welche Fragen müsste eine solche Sterbebegleitung auf dem Schirm haben?10

Meine erste Antwort wäre: Eine solche Begleitung nimmt Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Sinn des Sterbens auf. Auf dem letzten Abschnitt brechen sehr oft Fragen auf wie: Was hat denn mein Leben letztlich ausgemacht? Was ist gelungen und was vielleicht weniger? Was hat mein Dasein mit Glück erfüllt?

Weiter denkt spirituelle Begleitung am Ende des Lebens den Menschen als ein Wesen, das sich auch noch im Prozess des Sterbens weiterentwickeln kann. Der Mensch ist demnach nie fertig in seinem seelischen Reifer-Werden. Er kann immer noch wachsen, sich entwickeln – selbst im Sterben. Und manchmal sind die Tage und Stunden vor dem Tod intensiver als alle zuvor durchlebten Jahre, weil sich hier vieles noch lösen oder auch klären kann.

Und drittens: Spirituelle Sterbebegleitung versteht den Tod gerade nicht als Scheitern. Er ist kein Feind, den man besiegen oder bezwingen muss. Vielmehr bedeutet Sterben Vollendung und Abschluss unseres Daseins in der Welt. Der Tod ist ein natürlicher Vorgang und Teil unseres Lebens.

Endnoten

4Geboren am 27. März 1997 – gestorben am 17. November 2019.

5Vgl. Dorothea Mihm: Anleitung zum guten Sterben, Goldmann, 2015.

6Vgl. auch Wikipedia-Artikel zum Begriff ‹Trost›. Das Wort ‹Trost› sei verwandt mit dem indogermanischen Wort ‹treu›, das fest, beständig, zuverlässig bedeutet.

7‹Palliativ› ist abgeleitet vom lateinischen Begriff ‹Pallium› (Mantel, Umhang). In der palliativen Medizin und ‹Palliative Care›-Arbeit (‹care› meint Pflege, sich um jemanden sorgen) geht es darum, das Leiden einer unheilbar kranken Person zu lindern und ihr so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Tod zu ermöglichen.

8Die ‹Letzte-Hilfe-Kurse› wurden in Österreich und Deutschland entwickelt und erfolgreich erprobt. Siehe zum Beispiel auch: www.zhref.ch/letztehilfekurs.

9Vgl. Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen: über Theopoesie, Suhrkamp Verlag, 2020.

10Spiritualität – oder die ‹Ars Spiritualis› – muss heute jenseits von Religionen und Konfessionen völlig neu gedacht werden. Die institutionellen Kirchen haben ihr einstiges (sprich vermeintliches) Monopol für die Themen ‹Glaube›, ‹Religion› und eben auch ‹Spiritualität› längst verloren.

«Wer zuhören kann, hört dich auch, wenn du schweigst.‍»

2.Zuhören am Sterbebett

Seit fast 30 Jahren bin ich nun als Seelsorger und Sterbebegleiter tätig.11 Oft beginnt eine Begleitung, nachdem eine Onkologin oder ein Ärzteteam dem Patienten und seinen nächsten Angehörigen eröffnet hat, dass alle therapeutischen Mittel und Therapien ausgeschöpft seien. Für die allermeisten Menschen ist das ein Schock, eine Katastrophe. Wenn das Leben und der normale Alltag plötzlich in Frage gestellt werden, wenn der Gedanke «Es kommt schon gut» sich in einen medizinischen Befund aufzulösen droht, der keine wirkliche Zukunft mehr ermöglicht, dann bringt sehr oft auch eine Form von Leugnen und nicht wahrhaben nichts mehr. Und zugleich habe ich auch immer wieder erlebt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Trotzdem: Man hat vielleicht so lange gekämpft, gehofft, gebangt, und jetzt soll man einfach dem Tode geweiht sein? Dann rufen mich betroffene Menschen oder ihre Angehörigen an beziehungsweise sie schreiben mir eine Textnachricht und fragen, ob ich mal vorbeikommen könne. Meist haben sie konkrete Fragen rund um das Sterben oder ein Anliegen, das ihnen am Herzen liegt. Manchmal möchten sie mit mir auch einfach Fragen zu ihrer Abschiedsfeier besprechen. Sie suchen in mir nicht nur den Theologen, sondern in erster Linie den Menschen, den empathischen Zuhörer. So saß ich in den vergangenen 30 Jahren unzählige Male am Bett einer Person, die diesen letzten Wegabschnitt zu gehen hatte. Und immer wussten die Menschen, dass ihre Zeit bald da ist. Oft fanden diese Begegnungen im Spital oder auch zu Hause statt, manchmal in einem Pflegeheim oder in einem Sterbehospiz. Und jede Begegnung war anders, jede verlief vollkommen unterschiedlich. Keine Begleitung glich der anderen. Manchmal traf ich auf Menschen, die sehr müde und erschöpft waren, entkräftet von den vielen Medikamenten, die sie nehmen mussten, erschöpft auch vom Kampf gegen eine Krankheit, die doch am Ende immer stärker sein wird. Wiederum begegnete ich noch sehr vitalen Menschen, deren Stunde scheinbar noch lange nicht kommen wird (so dachte ich zumindest). Es gab neugierige, enttäuschte, hadernde Personen, aber sehr oft auch Sterbende, die ihr Schicksal akzeptiert hatten. Viele schliefen denn auch und doch wurden sie zwischendurch einen Moment wach. Dann lächelten sie mir zu, nahmen mich wahr und wussten, hier ist jemand da für sie. Schon das tat ihnen gut. Ja, es kam vor – besonders am Schluss einer Begleitung – dass ich als Sterbebegleiter einfach nur da war. Es brauchte nicht immer Worte. Auch schweigen war in Ordnung. Manchmal suchte der sterbende Mensch nach meiner Hand. Dann legte ich ihm meine Hand auf seine oder ich schob meine Hand vorsichtig unter die seine. So konnte mein Gegenüber jederzeit die Berührung beenden, wenn er oder sie das wollte. Nie nahm ich einfach so die Hand eines Patienten, nie berührte ich sterbende Menschen von mir aus, ohne dass sie es wünschten. Ich bin nicht aufdringlich. Eine Sterbebegleitung sehe ich als gelungen, wenn Menschen am Schluss ihr Leben und sich selbst in Frieden loslassen können.

Selbstverständlich gelingt (oder glückt) das leider nicht immer. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Frau, bei der meine Art überhaupt nicht ankam. Obschon sie mich zu ihr bestellt hatte, war unsere Begegnung geprägt von Misstrauen, Groll und Widerwillen. Ich versuchte professionell zu bleiben, ihre Aversion nicht persönlich zu nehmen, aber es gelang mir einfach nicht. So musste ich das Gespräch abbrechen und diese Frau unverrichteter Dinge zurücklassen. Das war eine schwierige Entscheidung und hat mir gezeigt: Sterbebegleitung kann auch scheitern. Zum Glück sind solche Begegnungen äußerst selten. Sehr oft kommt es nämlich zu intensiven, tiefsinnigen und ehrlichen Gesprächen und Begegnungen am Sterbebett. Davon will ich hier berichten.

Meine wichtigsten Beobachtungen

Sterben ist immer ein sehr individueller Prozess. Darum verläuft auch die Begleitung von sterbenden Menschen niemals nach einem vorgegebenen Schema. Sterbephasen, wie sie zum Beispiel die berühmte Sterbeforscherin Frau Elisabeth Kübler-Ross beobachtet haben will, kann ich aus meiner Sicht gerade nicht bestätigen. Die letzte Etappe auf dem Weg des Lebens sollte niemand allein gehen müssen. Folglich geht es in der Sterbebegleitung immer auch darum, einfach da zu sein, menschliche Nähe zu schenken. Selten gab es Sterbende, die den Wunsch äußerten, mit mir zu beten – und wenn, dann wünschten sie ein ‹Vaterunser›12. Noch seltener kam der Wunsch auf, dass ich ihnen etwas aus der Bibel vorlese. Die meisten Menschen mögen auch im Leben keine Bibelsprüche hören, warum sollten sie es dann im Sterben? Gebet, Bibelverse, Abendmahl und Eucharistie mögen Instrumente klassischer Seelsorge sein. In meinen Begleitungen von Sterbenden kam das Bedürfnis nach diesen Insignien kirchlicher Seelsorge nur sehr selten auf.

Ein «guter Tod» bedeutet für viele Menschen heute gerade nicht mehr, im Reinen mit Gott zu sein, sondern vielmehr im Reinen mit sich selbst zu sein und möglichst ohne Schmerzen und ohne medizinische Komplikationen zu sterben. Niemand will ersticken, niemand will vor Schmerzen kaum mehr denken können und niemand will am Ende ganz allein sein. Wenn ich Menschen auf der letzten Etappe ihrer Lebensreise fragte, wie sie denn sterben möchten, hörte ich sie sehr oft sagen: «Ich möchte einfach einschlafen dürfen, ohne noch lange zu leiden.» Meine Begleitung bestand häufig in diesem einfachen, offenen, immer sehr menschlichen und empathischen Da-Sein für jemanden und meinem Gegenüber das Gefühl zu geben, «... du und alles, was du jetzt denkst, sagst und fühlst, ist wichtig». Vielfach riefen mich Menschen, weil sie eine Ansprechperson für existentielle und spirituelle Themen suchten. Dann wurde meine Kompetenz als Theologe und auch meine offene Haltung in spirituellen Fragen geschätzt. Die sterbende Person darf auch einfach wissen, dass ich das, was sie mir sagt, nicht werte und nicht beurteile, wie das Angehörige, Freunde und nahe Menschen ständig tun. Ich werte nie, weder moralisch noch menschlich – sondern ich bin einfach ein aufmerksamer Zuhörer.

Verliert der nahende Tod ein wenig seinen Schrecken, wenn man mit jemandem über das eigene Sterben sprechen und Fragen um den Tod aussprechen kann? Davon bin ich persönlich überzeugt. Und oft sind es die Fragen selbst, die wichtiger sind, als die vorläufigen, manchmal nur vermeintlichen Antworten, die wir finden. Alles, was es braucht für diese Form von Sterbebegleitung, ist eine große Portion Achtsamkeit und Neugier. Und vielleicht ist das gerade die ureigenste, zentrale Aufgabe von Sterbebegleitung: Ich bin zwar Gesprächspartner, aber vor allem aufmerksamer Zuhörer und schenke den Sterbenden einen Moment lang meine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit. Es ist also gerade nicht so, dass ich als Seelsorger an das Bett eines sterbenden Menschen trete und ihm etwas aus der Bibel vorlese oder ein Gebet spreche. Ich höre vor allem zu. Vielleicht ist das größte Problem in der zwischenmenschlichen Kommunikation, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen, sondern wir hören nur, um dann gleich zu antworten und unsere Meinung zu sagen. Darum geht es in der Sterbebegleitung am allerwenigsten. Es geht für einmal nicht darum, zu überzeugen, mit frommen Worten zu trösten, weise Einsichten zu präsentieren, mit schönen Begriffen zu argumentieren und schlussendlich Sterbende von etwas zu überzeugen. Am Sterbebett geht es nicht um Eloquenz und geschliffene Rhetorik. Es geht um das Zuhören. So leihe ich meinem Gegenüber – wie man so sagt – mein Ohr, nicht für die Lebensbeichte und schon gar nicht für ein finales Schuldbekenntnis, sondern für seine Lebensgeschichte und all das, was ihm in dieser letzten Phase des Lebens wichtig ist, so wichtig, dass er oder sie es jemanden erzählen will oder so wichtig, dass er oder sie einfach darüber reden möchte. «Da-Sein» und Zuhören, wenn mein Gegenüber am Sinn des Lebens zweifelt, an Gott oder dem nahen Tod verzweifelt, wenn sie oder er sich Gedanken über das Sterben macht, Ängste, Wut, Enttäuschung äußert oder sich fragt, was danach kommt. Ich bin da und gebe den Menschen nicht nur ein Gefühl, dass ich ihre Geschichte und ihre Themen hören will, sondern ich bin wirklich neugierig und begegne meinem Gegenüber mit dieser interessierten, ehrlich fragenden Grundhaltung. Und ganz wichtig: Ich schaue nie auf die Uhr. Menschen sollen spüren und wissen, dass Zeit in diesem Augenblick nebensächlich ist, weil es um sie geht. Sterbende bestimmen, wann sie müde sind oder das Gespräch beenden wollen.

Eine sterbende Frau im Spital erzählte mir von ihrer heimlichen, jahrelangen Liebe zu einem Priester. Niemand wusste davon – nicht einmal ihr Ehemann, mit dem sie über 40 Jahre lang verheiratet war. Noch nie in ihrem Leben hatte sie mit jemandem darüber gesprochen, jetzt wollte sie es mir erzählen. Und es war keine Beichte. Am Schluss erwartete sie keine Absolution, sondern einfach einen Menschen, der ihr zuhörte, nicht wertete und vielleicht gerade deshalb verstand. Sie wollte mir ein Geheimnis anvertrauen und es einem Menschen erzählen, von dem sie wusste, es bleibt unser Geheimnis.

Andere erzählten mir von ihren schönsten Momenten und ihre Augen strahlten dabei, wenn sie sich erinnerten und mir diese Momente auf farbige und lebendige Weise schilderten. Es gab auch immer wieder Menschen, die erzählten mir von ihren schlimmsten Erfahrungen: dem Tod eines Kindes oder einer Ungerechtigkeit, die ihnen bis heute seelische Schmerzen bescherte und ihnen leidtat. Ein betagter Mann in einem Pflegeheim bekannte mir – unter Tränen – wie ein Lehrer ihn, den Viertklässler in der Schule, gequält und gepeinigt hatte. «Du bist dumm und du wirst ein Leben lang ein Idiot sein», das waren die Worte des Lehrers, die sich in seine kindliche Seele wie ein Stigma eingebrannt hatten und ihn für immer prägten.