Jedes Sterben ist ein Riss - Jürgen Burkhardt - E-Book

Jedes Sterben ist ein Riss E-Book

Jürgen Burkhardt

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Beschreibung

Im Unterschied zu einer Sterbe- und Trauerbegleitung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, haben Seelsorgerinnen und Seelsorger in Pfarrgemeinden oft nur punktuellen Kontakt mit Sterbenden und Trauernden. Dennoch sind diese Begegnungen bedeutsam. Denn sie können, wenn sie gut und professionell gestaltet werden, zu hilfreichen "Trittsteinen" in der Trauer werden. In Grundlagenartikeln und mit Beispielen aus der Praxis macht dieses Buch Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Palliativ- und Trauerbegleitung für das seelsorgliche Handeln fruchtbar.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Herausgeber

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Jürgen Burkhardt/Rita Krebsbach/Christoph Rüdesheim (Hg.)

Jedes Sterben ist ein Riss

Seelsorge in der Begegnung mit Trauernden

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Zur Grundlegung

Seelsorgeverständnis, Anliegen und Aufbau dieses Buches

Jürgen Burkhardt/Rita Krebsbach/Christoph Rüdesheim

Qualifizierte Seel-sorge durch Trauerbegegnung und Trauerbegleitung

Grundzüge eines Konzeptes für das pastorale Handeln im »Triptychon der Trauer«

Jürgen Burkhardt/Ruthmarijke Smeding

Seelsorgliche Trauerbegegnungen: Menschen an Knotenpunkten ihres Trauerweges kommunikativ und rituell begleiten

Trauerbegleitung als »produktive Unterbrechung« im seelsorglichen Handeln

Jürgen Burkhardt im Gespräch mit Georg Köhl

Sterbesegen – »Letzte Ölung« – Abschied am Totenbett

Welche Rituale brauchen wir im Umkreis des Todes?

Erhard Weiher

Und worauf hoffst du?

Persönliche Hoffnungsbilder als Kraftquellen

Heidelinde Bauer

Inhalte und Ziele eines Kondolenzgesprächs

»Werkstattbericht« aus einer Fortbildung

Jürgen Burkhardt/Peter Klauer

»Ich kenne Sie, Sie haben meinen Vater beerdigt«

Beerdigungsdienst im Seelsorgealltag

Werner Görg-Reifenberg

Wenn der Tod uns trennt

Das Bild vom »Riss« als Inspiration für eine Bestattungspredigt

Engelbert Felten

Ein Trucker-Gottesdienst wird zur Trauerfeier für Oma Hildegard

Raum für Trauer an einem ungewöhnlichen Ort

Bernd Faßbender

Seelsorgliches Handeln bei erschwerter Trauer

Jürgen Burkhardt/Theresia Wagner

Die Frage nach Gott und die spirituelle Dimension in Trauerprozessen

»Wenn guten Menschen Böses widerfährt«

In prekären Lebenssituationen von der Treue Gottes sprechen?

Heinz-Günther Schöttler

Trauernde als Experten ihrer Spiritualität sehen und begleiten

Impulse aus der mystagogischen Seelsorge

Sabrina Koch

»Das gerettete Lied«

Musik aus dem Augenblick bei Traueranlässen – Ermutigung zur Improvisation

Winfried Späth

Ist der Bestseller »Die Hütte« ein hilfreiches Buch für eine christliche Trauerbewältigung?

Lebensgeschichte und Spiritualität in Alltagserfahrungen

Jürgen Burkhardt/Renate Schmitt

Sr. Ursula Bonin

Trauerpastoral weiterentwickeln

Bestattungsfelder für früh- und fehlgeborene Kinder

Plädoyer für ein kirchliches Engagement

Peter Weber

Ehrenamtliche Trauerbegleitung als eigenständiger Bestandteil der Trauerpastoral

Jennifer Jost

Darf man um ein totes Tier trauern?

Über ein Tabuthema in der katholischen Kirche

Ursula Hoffmann

Das Projekt »Antigone«

Sozialbestattungen von Menschen ohne Konfession

Winfried Späth

Tote beerdigen – ein Werk der Barmherzigkeit

Perspektiven für die Wiedergewinnung eines gemeindlichen Grunddienstes

Christoph Rüdesheim

Die Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

Tafelteil

Vorwort

Die Grundlage des vorliegenden Buches bildet der Intervallkurs »Trauernde Menschen seelsorglich begleiten« des Theologisch-Pastoralen-­Institutes Mainz. In diesem zweijährigen Kurs, der 2016/2017 zum ­vierten Mal durchgeführt wurde, verfolgen wir das Anliegen, Seelsorgende in ihren persönlichen und fachlichen Kompetenzen in der Begegnung mit trauernden Menschen und in der Begleitung Trauernder zu stärken. Dabei fragen wir danach, wie die Kirche der ihr aufgegebenen Sorge für Trauernde im Sinne eines umfassenden pastoralen Handelns unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nachkommen kann.

Die Idee zu diesem Buch entstand im Verlauf eines solchen Intervallkurses und sein Zustandekommen ist durch die Mitarbeit der Leitung, der Referenten und der Kursteilnehmenden möglich geworden. Darüber hinaus haben sich weitere Autorinnen und Autoren beteiligt und dieses Buch mit wichtigen Themen und seelsorglichen Perspektiven für die Trauerpastoral bereichert.

Die Beiträge haben bewusst unterschiedlichen Charakter: Es haben neben längeren Fachartikeln auch Praxisprojekte und thematische Impulse als Anregungen für die seelsorgliche Begleitung von trauernden Menschen Eingang in dieses Buch gefunden. Auf diese Weise ergänzen sich theoretische Konzepte und konkrete pastorale Praxis.

In der Konzeption des Intervallkurses stellt das Modell »Trauer erschließen« von Ruthmarijke Smeding den humanwissenschaftlichen Bezugsrahmen dar. In dem grundlegenden Artikel dieses Buches formulieren deshalb Ruthmarijke Smeding und Jürgen Burkhardt Grundzüge eines Konzeptes für das pastorale Handeln aller Personen und Einrichtungen, die vonseiten der Kirche in der Begleitung trauernder Menschen tätig sind.

Der Fokus dieses Buches liegt auf den Rollen und Aufgaben der Seelsorgerin/des Seelsorgers im gesamten Kontext von Sterben, Tod und Trauer und schärft den Blick für eine qualifizierte Seelsorge in der Begegnung mit trauernden Menschen. Gleichzeitig möchten die Beiträge Impulse für die Entwicklung einer umfassenden Trauerpastoral aufzeigen. Die Bandbreite der Artikel spiegelt die unterschiedlichen Begegnungsorte mit Trauer wider und bildet einen Teil der vielfältigen Schwerpunkte ab, die das Thema Trauer beinhaltet.

Unser Dank gilt allen, die die Publikation dieses Buches ermöglicht haben: den Autorinnen und Autoren, die ihr Wissen und ihre seelsorgliche Praxis eingebracht haben, Andrea Langenbacher für die kompetente fachliche und verlegerische Betreuung im Lektorat, Dorothee Fischer-Zilligen (†) und Gerhard Schmitz für die kritische Bearbeitung einzelner Beiträge sowie Silvia Mertens und Winfried Späth, die als Kursteilnehmende zu Beginn des Buchprojektes in der Redaktion mitgearbeitet haben.

Einen herzlichen Dank richten wir auch an Heidelinde Bauer für die Abdruckgenehmigung ihres Bildes »Der Riss« und Regina Mortazawi für die Abdruckgenehmigung des Bildes »Das gerettete Lied« aus dem Nachlass des Künstlers Ernst Alt.

Wir geben dieses Buch den Leserinnen und Lesern in die Hand und wünschen uns, dass sie auf neue und inspirierende Denkangebote stoßen, dadurch Impulse für die eigene pastorale Praxis erhalten und somit das Anliegen der Autorinnen und Autoren teilen: trauernde Menschen adäquat und kompetent seelsorglich zu begleiten.

Jürgen Burkhardt, Rita Krebsbach und Christoph Rüdesheim

Zur Grundlegung

Jürgen Burkhardt/Rita Krebsbach/Christoph Rüdesheim

Seelsorgeverständnis, Anliegen und Aufbau dieses Buches

Sterben als Riss

Mit jedem Tod verlässt ein Mensch unwiderruflich die Welt und alle Lebenskontexte, in die er eingebunden war und die er mitgestaltet hat. Hier passt des Bild vom Riss, der Beziehungen und Lebenswelten trennt. Es trifft auch dort zu, wo man an ein Dasein nach dem Tod in einer anderen Dimension glaubt. Der Tod trennt diejenigen, die sterben bzw. weggehen, von denen, die zurückbleiben. Nicht jeder Riss, der durch einen Tod verursacht wird, ist einschneidend. Manche Risse aber erschüttern bis auf den Grund der Seele, zerreißen die tragenden Sinnstrukturen und hinterlassen Spuren, die das Leben von einem Moment auf den anderen tiefgreifend verändern. Der Tod eines Menschen kann einen schmerzlichen Riss in der eigenen Biografie erzeugen. Oft werden persönliche Hoffnungen und Erwartungen an die Zukunft zerstört. Ein Riss geht häufig auch durch den Glauben und verändert die persönliche Spiritualität, das Verhältnis zu Gott.

Das Bild vom Riss ist ein Leitmotiv dieses Buches. Es weist auf die gebotene Ernsthaftigkeit gegenüber dem Tod und der Trauer hin, sowie auf die Mühe, die viele Menschen nach einem existenziell tiefgehenden Verlust bei der Neugestaltung ihres Lebens und der Rekonstruktion ihrer Welt und ihres Sinngebäudes haben. Der Riss mahnt gerade Theologen und Theologinnen, die Lücke nicht zu schnell mit den (vermeintlichen) Tröstungen des Glaubens zuzuschütten, sondern sich selbst betreffen zu lassen, mitzugehen und mit den Betroffenen behutsam nach Wegen zu suchen, den spirituellen Schatz der Riten, Symbole und Texte so zur Geltung bringen, dass sie den Trauernden helfen, ihre Situation zu erschließen und die eigenen Ressourcen zu stärken.

Das Bild »Der Riss« von Heidelinde Bauer (siehe S. 128) nimmt die genannten Aspekte symbolisch auf und ist offen für eigene Deutungen, die der Leser/die Leserin eintragen mag. Engelbert Felten bezieht sich in seinen Überlegungen zur Predigt anlässlich einer Beisetzung auf dieses Bild. Auch einige andere Beiträge greifen das Motiv vom Riss als Bild für den Tod und die persönliche Trauersituation ausdrücklich auf.

Ein zweites Bild (siehe S. 256) ergänzt dieses Leitmotiv. Es stammt von Ernst Alt und trägt den Titel »Das gerettete Lied«. Abgebildet ist eine Frauengestalt, die vor der Ruine einer zerfallenen Kirche Harfe spielend ein Lied singt: Symbol für das Bewahren tiefer Bindungen und Erfahrungen im eigenen Herzensgrund über den Tod hinaus. Die beiden Bilder spannen den Bogen, auf dem sich die Beiträge dieses Buches bewegen. Sie stehen auch für das Verständnis von Trauer und Seelsorge, das diesem Buch und den Kursen, aus denen heraus es entstanden ist, zugrunde liegt.

Seel-sorge

Der Tod ist der »Ernstfall des Glaubens« wie Kerstin Lammer sagt: »Wo er eintritt, sind die Religionen im Zentrum ihrer Aufgabe gefordert.«1 Seelsorge ist in diesen existenziellen Verlustsituationen gefragt, sich um die Seele des Menschen, das heißt um seine ganze Person und sein gesamtes Befinden zu sorgen, so wie es Georg Köhl u. a. formulieren: »Ein Blick in die Bibel zeigt, dass ›Seele‹ alttestamentlich als Inbegriff des Lebens und der Lebendigkeit verstanden wird. Sie ist ein Synonym für Person, für das Selbst. Im Neuen Testament kommt eine neue Akzentuierung hinzu: Leben ist mehr als die irdische Existenz. Die Seele wird quasi zur Brücke zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben. ›Sorge‹ kann im platonischen Sinn als ›Therapie der Seele‹ verstanden werden. Der Begriff ›Therapie‹ zeigt an, dass Seelsorge ganzheitliche Förderung eines Menschen – orientiert an seiner Bedürftigkeit – beinhaltet. Seelsorge ist Begegnung. Sie braucht und schafft ein persönliches Verhältnis.«2 Diese Umschreibung hebt den personalen Charakter des seelsorglichen Handelns hervor, der auch für die Trauerpastoral von besonderer Bedeutung ist, denn die Begleitung von trauernden Menschen kann nur gelingen, wenn sie im Kontext von Beziehung und personaler Begegnung stattfindet.

Begegnung

Diese Betonung mag wie eine banale Selbstverständlichkeit klingen, aber wie im menschlichen Leben insgesamt gibt es auch in der Seelsorge Kontakte, die keine wirklichen, Beziehung stiftenden Begegnungen sind. Martin Buber, in dessen Philosophie das Phänomen Begegnung eine zentrale Rolle spielt, hat für das »Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen« den Begriff »Ver-gegnung« geprägt.3 Begegnung statt »Vergegnung« ist für Seelsorge grundlegend. Erst wenn Beziehung geschaffen und Begegnung entstanden ist, können die anderen Aspekte von Seelsorge authentisch zur Geltung und zur Wirkung kommen. Georg Köhl betont diese personal-dialogische Dimension, weil nach seinem Verständnis qualifizierte Begegnungen und Beziehungen Grundkategorien von Seelsorge sind. Auf dieser Basis können die anderen von ihm genannten Dimensionen, die mit dem seelsorglichen Handeln verknüpft sind, zum Tragen kommen: die universal-kosmische Dimension, die alle Menschen und die gesamte Schöpfung als Ziel der Seelsorge betrachtet, die ekklesiale Dimension, die anzeigt, dass Seelsorge von Kirche getragen, organisiert und gemäß dem biblischen Auftrag durch spezifische Handlungsformen zum Ausdruck kommt, sowie die eschatologische Dimension, die das menschliche Handeln angesichts des unvollendeten und unverfügbaren Reiches Gottes relativiert, ohne den Einzelnen aus seiner Verantwortung zu entlassen.4

Seelsorge knüpft an der menschlichen Heilsbedürftigkeit an. Diese wird in Trauersituationen besonders offensichtlich, gerade dann, wenn Menschen die Sehnsucht nach Heilung ihrer Schicksalswunden spüren und auf der Suche nach Lebensmöglichkeiten in einer zerbrochenen Welt sind. Viele kommen in diesen Lebenssituationen mit Kirche in Berührung: bei der Verabschiedung und Beerdigung eines Verstorbenen oder auch schon vor dem Tod beim Kontakt mit einem Krankenhausseelsorger/einer Krankenhausseelsorgerin, durch eine Hospizbegleitung, einen gemeindlichen Besuchsdienst oder einen kirchlichen Pflegedienst. Manche haben auch nach einem Verlust noch Kontakte zu kirchlichen Personen oder Einrichtungen oder knüpfen diese neu, wenn sie Unterstützung in einer kirchlichen Beratungsstelle oder in einem Angebot der Trauerbegleitung suchen. Seelsorge umfasst alle diese Dienste und beschränkt sich nicht allein auf das Handeln der hauptberuflichen Seelsorgerinnen und Seelsorger. Denn alle, die in der beschriebenen Art und Weise an der Begleitung von Trauernden beteiligt sind, tragen Sorge für die Seele und sie verbindet ein für die Kirche grundlegendes diakonisches Denken und Handeln. Dies entspricht einer Pastoral im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils, denn diese ist »in ihrer Wesensmitte eine diakonisch-helfende Pastoral, die die Orte der Armen und Bedrängten aufsucht, sich auf die Begegnung mit ihnen einlässt, um sie in ihrem Menschen-Sein zu retten«.5

Trauer

Der Verlust einer nahestehenden, lebensbedeutsamen Person ist für viele eine bedrängende Erfahrung, die nach und nach in das persönliche Leben integriert werden muss. Dieser Prozess findet heute unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen statt als zu früheren Zeiten. Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt unsere Zeit als »liquid modernity«, flüssige Moderne. Ruthmarijke Smeding bezieht sich darauf und spricht davon, dass in der Trauer nicht nur die persönliche Welt zerfließt und sich die Sicherheiten auflösen, sondern auch die äußere Welt in unserer Gesellschaft. Trauer führe deshalb oft am Ende nicht zur Wiederkehr desselben Lebens.6Smeding sagt: »Um eine neue ›Welt‹ aufzubauen, braucht es Zeit und eine intensive Bearbeitung der vorigen Ordnung – und auch Arbeit, um die vorige hinter sich lassen zu können. Das ursprüngliche trauertheoretische Gedankengut, das vorschrieb, diese Verbindungen loszulassen, erwies sich oft als nicht hilfreich: Trauernde wollen in den meisten Fällen genau das nicht.«7

Der Riss, durch den der Tod menschliche Beziehungen trennt, weckt Emotionen. Davon spricht auch die Bibel: der Tod ruft Klagen, Weinen, tiefe Erschütterung, das Bestreuen des Hauptes mit Asche und das Zerreißen der Kleider hervor. Solche Reaktionen bleiben auch einem gläubigen Menschen nicht erspart. Wenn es in 1 Thess 4,13 heißt: »Wir wollen euch über die Verstorbenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben«, dann ist damit die Trauer nicht als unchristlich oder eines gläubigen Menschen unwürdig abgewehrt. Es wird nicht davon gesprochen, dass Trauer angesichts der Hoffnung auf die Auferstehung keine Berechtigung hat, sondern dass die Trauer im Horizont des Glaubens anders werden, sich anders zeigen kann. Aber auch darin bleibt sie ein Prozess, der verlangt, sie als persönliche Trauer zu durchleben, den eigenen Trauerweg zu finden und den Sinn des Lebens neu zu gewinnen.

Das Modell »Trauer erschließen« von Ruthmarijke Smeding sieht den trauernden Menschen als »Experten seiner Trauer« an und begleitet ihn mit seinen eigenen Ressourcen und Fragen auf seinem individuellen Weg. Für eine Seelsorge, die sich als Unterstützung auf dem Weg der Subjektwerdung, Heilung und Befreiung im Horizont des biblischen Glaubens versteht, ist der weltanschaulich neutrale Ansatz von Smeding ein geeignetes humanwissenschaftliches Modell. Er ist kompatibel mit der befreienden und lebensfördernden Botschaft der Bibel und hilft, die Aufgaben derjenigen zu präzisieren, die in der pastoralen Begleitung bei Sterben, Tod und Trauer Verantwortung tragen.

Der Artikel »Qualifizierte Seelsorge durch Trauerbegegnung und Trauerbegleitung« im ersten Kapitel legt dies ausführlich dar. Er nimmt den gesamten Bereich von Sterben, Tod und Trauer in den Blick und ordnet das pastorale Handeln aller involvierten haupt- und ehrenamtlichen Professionen in ein Triptychon von Sterbetrauer, Todestrauer und Weiterlebetrauer ein. Dabei wird zwischen einer Trauerbegleitung, die sich als Prozess über längere Zeiträume hinweg erstreckt, und punktuellen Trauerbegegnungen an bestimmten Stellen des Trauerweges unterschieden. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind in beiden Kategorien tätig, deshalb wird ein generelles Profil für das seelsorgliche Handeln in der Begegnung mit Trauernden vor dem Hintergrund des pastoralen Auftrags und im Verschnitt mit dem Modell »Trauer erschließen« ­beschrieben.

Trauerbegegnungen

Da seelsorgliche Begegnungen mit trauernden Menschen mehrheitlich punktuell sind und sich überwiegend im Umfeld der Bestattung ereignen, nehmen Trauerbegegnungen an Knotenpunkten des Trauerweges einen großen Raum in diesem Buch ein. Das zweite Kapitel enthält Beiträge, die Sterbesegen, Krankensalbung, Abschied am Totenbett, Kondolenzgespräch, Beerdigung und liturgisches Totengedenken als solche Begegnungsorte beschreiben. Diese werden besonders hinsichtlich der Frage reflektiert, wie eine professionelle, seelsorgliche Begleitung heute aussehen muss und was dies für die kommunikative und rituelle ­Ausgestaltung bedeutet. In diesem Zusammenhang werden auch die Aspekte der persönlichen Vorbereitung und der spirituellen Haltung seitens des Seelsorgers/der Seelsorgerin thematisiert. Ein abschließender Artikel entwickelt Kriterien für einen verantwortungsbewussten seelsorglichen Umgang mit Menschen in erschwerten und besonders belastenden Verlustsituationen.

Theologie und Spiritualität

Im dritten Kapitel finden sich Beiträge, die sich mit der Frage nach Gott und der transzendenten Dimension in Trauerprozessen befassen. Hier geht es darum, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Begegnung mit Trauernden ihre »Kerndisziplin« einbringen, wie sie die Spiritualität trauernder Menschen wahrnehmen und aufgreifen und wie theologische Fragen und Inhalte kommuniziert werden können. In Entsprechung zum Modell »Trauer erschließen« wird der Trauernde dabei als »Experte seiner Spiritualität« gesehen, der mit seinen Deutungen, Fragen, Aporien und Anklagen gegenüber Gott ernst genommen werden muss. Die Beiträge geben Impulse für die seelsorgliche Begleitung von trauernden Menschen in punktuellen Begegnungssituationen und in längerfristigen Prozessen, vor allem auch in prekären Verlustsituationen, in denen es schwer wird, von der Treue Gottes und einem heilsamen Trauerweg zu sprechen. Das Bild »Das gerettete Lied« von Ernst Alt sowie der Beitrag über musikalische Improvisation bei Traueran­lässen machen auf die spirituelle Bedeutung von Kunst und Musik ­aufmerksam.

Die Beiträge über die theologischen und spirituellen Aspekte in der seelsorglichen Trauerbegleitung verdeutlichen, dass es nicht darum gehen kann »Gott zu den Trauernden zu bringen«, sondern vielmehr darum, wie Gott, die Beziehung zum Transzendenten und die persönliche Spiritualität in den Brüchen des Lebens und im individuellen Umgang mit der Trauer zur Sprache kommen - sowohl durch den trauernden Menschen selbst als auch in der Verkündigung und in der Begleitung. In einem solchen Prozess darf es nicht in erster Linie um die Vermittlung von Inhalten oder von Wissen gehen. Trauernde als Experten ihrer Spiritualität zu begleiten bedeutet, in einen dialogischen Prozess einzutreten, darin der impliziten und expliziten Spiritualität der Trauernden Raum zu geben und für Glaubenskommunikation auf Augenhöhe offen zu sein. Das setzt voraus, Spiritualität im Kontext der gesamten Lebens- und Glaubenssituation zu sehen und nicht nur auf ausdrückliche oder dogmatisch passende Glaubensthemen zu beschränken.

Eine Seelsorge, die sich auf diese Weise sowohl an der Lebenswirklichkeit als auch an der Glaubenswirklichkeit orientiert, hat immer bipolaren Charakter. Sie bewegt sich zwischen den Polen Beratung und Verkündigung, zwischen Diakonie und Mystagogie, zwischen individuellem Trost und politischem Anspruch8: Georg Kühl beschreibt dies so: »Die Aufgabenfelder der Seelsorge liegen demnach gerade in der Verbindung der Besinnung auf Gott und die Zuwendung zum Menschen, der Gottes- und Nächstenliebe, der Mystagogie und der Diakonie, der Kontingenzbewältigung und der Gesellschaftskritik.«9

Horizonterweiterungen

Das vierte Kapitel enthält Beiträge, die innerhalb dieser Biopolarität des seesorglichen Handelns andere Aspekte betonen als die vorherigen Kapitel. Hier werden einige Impulse für die Weiterentwicklung der Trauerpastoral vorgestellt. Die Beiträge geben Anstöße für eine innerkirchliche und in die Gesellschaft hineinwirkenden Horizonterweiterung geben. Dabei richten die beiden Artikel über den Stellenwert des Ehrenamtes in der Trauerbegleitung und über den Beerdigungsdienst durch »Laien« als Aufgabe der Gemeinde den Blick auf die nicht hauptamtlich organisierten Charismen in der Kirche und stellen Überlegungen zu deren Beitrag für die Trauerpastoral an. Die beiden Beiträge über eine kirchliche Beteiligung bei Sozialbestattungen von Menschen ohne Konfession und über Bestattungsfelder für früh-und fehlgeborene Kinder verstehen sich als Plädoyers für kirchliche Solidarität und unbedingte Menschenwürde auch über den Tod hinaus. Schließlich greift der Beitrag über Trauer um Tiere ein »Tabuthema« auf, das zwar viele Menschen betrifft, aber innerkirchlich bisher kaum Beachtung findet. Damit wird ein Augenmerk auf Trauerfahrungen gerichtet, die weitgehend ausgegrenzt und ausgeblendet werden. Im Sinne einer universal-kosmischen Ausrichtung von Seelsorge, die die gesamte Welt und Schöpfung in den Blick nimmt, hat die Pastoral auch die Aufgabe, tabuisierte Trauer nicht zu übergehen, sondern sorgfältig zu reflektieren, entsprechende Bewältigungsformen zu entwickeln und in der Öffentlichkeit zu kommunizieren.

Denn eine Seelsorge, die die Nöte der Menschen in den Rissen und Brüchen ihrer Biografien sieht und ernst nimmt, kann sich die Einrichtung nicht nur auf kircheninterner, schützender Orte und Begegnungen beschränken, sondern muss auch ihre gesellschaftliche Wirksamkeit bewusst einsetzen und bei der Umsetzung gemeinsamer Anliegen die inner- und außerkirchliche Vernetzung mit anderen Menschen und Organisationen suchen. Für diese Bandbreite des pastoralen Handelns im Kontext von Sterben, Tod und Trauer möchten die Beiträge dieses Buches Reflexionsmöglichkeiten und Impulse geben.

Jürgen Burkhardt/Ruthmarijke Smeding

Qualifizierte Seel-sorge durch Trauerbegegnung und Trauerbegleitung

Grundzüge eines Konzeptes für das pastorale Handeln im »Triptychon der Trauer«

Trauerpastoral im 21. Jahrhundert

Wenn von »Trauerpastoral« die Rede ist, werden die meisten Seelsorgenden wahrscheinlich zunächst – oder sogar ausschließlich – an die kirchliche Begräbnisfeier und das vorausgehende Trauer- bzw. Kondolenzgespräch denken, denn die Zeit zwischen Tod und Bestattung steht im Zentrum der kirchlichen Sorge um die Verstorbenen und ihre Angehörigen. Selbst Menschen, die sich von der Kirche distanziert haben, suchen bei Sterbefällen immer noch häufig den Kontakt zur Seelsorge. So bildet die Bestattung nach wie vor den Schwerpunkt des kirchlichen Handelns bei Sterben und Tod. Durch die Hospiz- und Palliativbewegung und Angebote zur Trauerbegleitung, die sich in Deutschland vielfach auch im Raum der Kirche herausgebildet haben, hat sich das Blickfeld in den vergangenen Jahren jedoch erweitert. Diese Ausweitung der Sterbe- und Trauerbegleitung durch eine intensivere Begleitung vor dem Tod und weitere Begleitangebote nach der Beerdigung führten zu einer verstärkten Wahrnehmung in der Gesellschaft.

Im Zuge dessen machten sich auch Seelsorgerinnen und Seelsorger ebenso wie engagierte Ehrenamtliche die Unterstützung von Sterbenden und Trauernden zunehmend zum Anliegen. Heute ist mehr Menschen als früher bewusst, was Verlusterfahrungen bedeuten und wie schwer die Wege der Trauerbewältigung in der heutigen Gesellschaft sein können. Die einstigen Tabuthemen Tod und Trauer sind mehr und mehr in die Öffentlichkeit gerückt und viele interessieren sich für die Erkenntnisse aus der Trauerforschung. Die Professionalität in Bezug auf Hospizbegleitung, Palliative Care und Trauer ist in starkem Maße gestiegen, die Komplexität hat zugenommen und die Ansprüche an alle Beteiligten sind höher geworden. Auch der Erfahrungsschatz und das daraus gewonnene Wissen sind in der Sterbe- und Trauerbegleitung stark gewachsen. Es gibt zahlreiche neue Ansätze und neue Formen der Begleitung, zum Beispiel durch ambulante Hospizdienste, Lebenscafés und andere Angebote für Trauernde.

All dies wirkt sich auch auf die Pastoral aus und so stellt sich für die Seelsorgerinnen und Seelsorger neu die Frage nach der eigenen Rolle und nach der spezifischen Aufgabe in Unterscheidung und Ergänzung zu anderen Professionen. Zudem ist zu fragen, wie das Wissen aus der Trauerforschung integriert werden kann und wie andere Menschen und Einrichtungen, die vonseiten der Kirche in Begleitprozesse eingebunden sind und somit Anteil an der Pastoral haben, gesehen werden. Generell stellt sich die Frage, wie hoch der Bedarf an Trauerbegleitung insgesamt ist und wie viel davon die Seelsorge abdecken kann. Mancherorts wird auch diskutiert, was die Kirche angesichts rückläufiger personeller und finanzieller Ressourcen in Zukunft in diesem komplexen Feld noch leisten kann.

Da die Sorge für kranke, sterbende, tote und trauernde Menschen aber ein grundlegender Auftrag von Kirche ist, möchte dieser Artikel Anregungen für eine umsetzbare und zukunftsfähige Trauerpastoral geben, die

Krankheit, Sterben, Tod und Trauer als ein zusammenhängendes pastorales Feld siehtalle handelnden Personen und Professionen in den Blick nimmt und Trauerbegleitung als multidisziplinäres Fach konzipiertdurch eine stärkere Aufgabenteilung und differenzierte Rollen­beschreibungen die Chancen einer profilierten Seelsorge skizziert.

Die Überlegungen in diesem Artikel basieren auf dem Modell »Trauer erschließen« (Smeding). Dieses pädagogische Modell versteht sich ausdrücklich als ein neutraler, weltanschaulich nicht gebundener anthropologischer Ansatz, der Trauererfahrungen von Erwachsenen beschreibt und darauf ausgerichtet ist, dass alle Berufsgruppen, die mit der Trauer von Menschen vor, im und nach dem Tod konfrontiert sind, diesen Ansatz im Blick auf ihre jeweilige Berufsrolle in die dort vorgesehenen Konzepte integrieren können. Das Modell »Trauer erschließen« ist ganzheitlich ausgerichtet, zielt auf die eigenständige Gestaltung des individuellen Trauerweges und schreibt dabei auch der Spiritualität eine bedeutende Funktion zu.

Für die Pastoral ist nach den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils der Rekurs auf humanwissenschaftliche Erkenntnisse unerlässlich10 und im Blick auf die Trauerpastoral ist das Modell »Trauer erschließen« aufgrund der genannten Vorgaben und auf der Basis einer über 30 Jahre lang entwickelten Kooperation mit der Seelsorge im Kontext von Ausbildungskursen dafür gut geeignet. Dieser Artikel zeigt, wie eine gelungene Korrelation11 von anthropologischen Erkenntnissen aus der Trauerforschung mit pastoralpraktischen und theologischen Überlegungen dazu beitragen kann, seelsorgliches Handeln zu überdenken und zu profilieren. Es wird zugleich deutlich, wie eine solche Korrelation dazu verhilft, den Blick auf die Spezifika der Seelsorge und anderer Dienste in der Trauerbegleitung zu schärfen und durch die Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse fundierte neue Wege zu beschreiten.

Das Triptychon der Trauer

Vieles, was sich in der Versorgung und Begleitung von Menschen bei Krankheit, Sterben, Tod und Trauer in den letzten Jahrzehnten verändert hat, ist besonders auf den Einfluss der Hospizbewegung und der Entwicklung von Palliative Care zurückzuführen. Diese beiden Ansätze haben wesentlich dazu beigetragen, dass bereits im Krankheits- und Sterbeprozess eine intensive Begleitung etabliert werden konnte. Dies geschah zunächst in den englischsprachigen Ländern, wurde dann aber Ende der 1980er-Jahre von der deutschen Hospizbewegung und seit den 1990er-Jahren durch die offizielle Einrichtung der Fachgebiete Palliativmedizin und Palliative Care aufgegriffen. Auch die Trauerbegleitung wurde ungefähr zu dieser Zeit ausgebaut und als eigenes Handlungsfeld integriert.12

Die von Cicely Saunders für die Begleitung von Betroffenen geforderte Zusammenschau von Sterben, Tod und Trauer ist heute auch in der WHO-Definition der Palliativbegleitung festgeschrieben13 und kann damit weltweite Gültigkeit beanspruchen. Saunders hatte als Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin alle Dimensionen von Sterben und Tod sowie auch die Trauer danach im Blick. Sie sagte einmal: »Die Sozialarbeiterin in mir veranlasste mich dazu, nach dem Tode noch zu den Leuten nach Hause zu gehen.«14 Saunders sah, was Menschen nach einem Verlust erlebten, und leitete daraus die ethische Verpflichtung ab, diejenigen nicht im Stich zu lassen, die nach ihren – unter Umständen sehr tiefgehenden und belastenden – Erfahrungen am Krankenbett und beim Versterben eines Angehörigen auch nach dem Tod noch ­einen schweren Weg vor sich hatten. Dabei richtete sie bereits vor dem Tod die Aufmerksamkeit der Begleitung nicht nur auf den Patienten selbst, sondern bezog auch das Lebensumfeld und die Beziehungen mit ein und bezeichnete den Patienten bzw. die Patientin zusammen mit den An- und Zugehörigen15 als eine Einheit, die es gemeinsam zu begleiten gilt (unit of care).

Im Anschluss an dieses Konzept und gestützt durch die Befragung und Rückmeldungen zahlreicher Kursabsolventen hat das Modell »Trauer erschließen« mit dem Dreischritt Sterben, Tod und Trauer, dem sogenannten »Triptychon der Trauer«, ein didaktisch-methodisches Modell zugrundegelegt, das die Verbindung zwischen der Trauerzeit nach dem Tod mit der Zeit vor dem Tod deutlich machen soll. In diesem Modell richtet sich die Aufmerksamkeit durchgehend und ganz im Sinne von Cicely Saunders darauf aus, die Patienten bzw. Sterbenden mit den Angehörigen als zusammengehörende Einheit zu sehen. Dadurch ist auch im Blick, wie sich das Handeln und Erleben in der Phase vor dem Tod auf die noch kommenden Phasen von Tod und Trauer auswirken können und was eine Begleitung bereits vor dem Tod für eine Befähigung der Angehörigen und Zugehörigen für die Zeit des Weiterlebens ohne die verstorbene Person nach dem Tod ermöglichen kann.

Zeit eins: Die Zeit der Sterbetrauer

Im Erleben von Sterben, Tod und dem Weiterleben nach dem Tod zeigt sich Trauer in verschiedenen Facetten. Deshalb lässt sich aus Sicht der Angehörigen und Zugehörigen ein »Triptychon der Trauer« skizzieren, das in drei aufeinanderfolgenden Zeiten den Zusammenhang der Geschehnisse deutlich macht. Die erste Zeit der Sterbetrauer, die man auch als »Ende-des-Lebens-Trauer« bezeichnen kann, bezieht sich nicht nur auf den unmittelbaren Sterbeprozess, sondern kann je nach Situation auch die längere Zeit einer vorangehenden Krankheit umfassen, in der die Trauer zwar immer wieder auftaucht, daneben aber eine Intensivierung der Beziehungen und des Erlebens auftreten kann, sodass diese Zeiten auch als wertvoll und schön erlebt werden16: Trauer bedeutet nicht nur »Negatives«17. Auch wenn eine mehr oder weniger lange Zeit der Vorbereitung gegeben ist, wird die Trennung im Augenblick des Todes häufig dennoch als »plötzlich« erlebt. So beschreibt es auch eine Aussage, die häufiger in Todesanzeigen zu finden ist und von Franz Kafka stammt: »Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel wird.«

Im Blick auf die Sterbetrauer hat sich in den vergangenen 25 Jahren durch entsprechende Aus- und Fortbildungen vieles verändert. So belegen zahlreiche Publikationen aus dem hospizlichen und Palliative-Care-Bereich, dass das Ausmaß der sogenannten iatrogenen bzw. tertiären Trauer abgebaut werden konnte. Darunter versteht man eine Trauer, die zusätzlich zu dem Verlust (primäre Trauer) und den individuellen Folgen des Verlustes, zum Beispiel im sozialen, physischen, psychischen oder materiellen Bereich (sekundäre Trauer) noch eine tertiäre Trauer aufbürdet, die durch unprofessionelles, unreflektiertes Handeln vonseiten beruflicher Begleiter entsteht. Dies geschieht ­beispielsweise, wenn die individuelle Trauer nicht zugelassen oder nicht gewürdigt wird.

Heute werden viele Angehörige darin unterstützt, ihre Betroffenheit und ihre Emotionen beim Sterben und beim Tod auf ihre Weise zum Ausdruck zu bringen. So werden die Angehörigen in vielen Kliniken und Einrichtungen in die Begleitung während der Sterbephase einbezogen und zum Abschiednehmen ermutigt. Man darf am Bett eines Verstorbenen sitzen bleiben, um den Tod wahrzunehmen, aufzunehmen und sich zu verabschieden. Aus der Trauerbegleitung weiß man heute, wie wichtig es für die zurückbleibenden Angehörigen und Zugehörigen sein kann, später sagen zu können, dass man für den Sterbenden da war und in seinem Sinne alles nur Mögliche getan hat. Wenn alle Professionen, einschließlich der Seelsorge, dazu beitragen, dass man die ersten Schritte im »Land des Sterbens und des Todes« wo nötig begleitet gehen und wo erwünscht dabei auch selbst aktiv sein kann, ist für den Weg durch die Trauer schon etwas grundlegend Wichtiges getan. Denn was die Angehörigen bzw. Zugehörigen im Abschiednehmen für sich als bedeutsam erleben, wird zum »Trittstein« für die Trauer.

Die verpflichtenden Palliativ-Care-Kurse in den Ausbildungen von Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten tragen viel zur Bewusstseinsbildung und zur Vermeidung iatrogener Trauer bei. Für Seelsorgerinnen und Seelsorger, die in Krankenhäusern und anderen stationären Einrichtungen tätig sind, werden ebenfalls zunehmend Fortbildungen zu den Themen »Palliative Care und Seelsorge« oder » Spiritualität im Krankenhaus« angeboten. Dagegen ist die Gemeindepastoral bislang kaum mit diesen Themen und deren Umsetzung vertraut. Dazu könnten entsprechende Fort- und Weiterbildungen beitragen.

Exemplarisch für qualitative Veränderungen ist die Begleitung von schwerkranken und sterbenden Kindern und Jugendlichen. Hier haben zahlreiche Einzelinitiativen im ambulanten und stationären Bereich, das Engagement von Vereinen wie zum Beispiel dem Deutschen Kinderhospizverein und ein zunehmendes systematisches und wissenschaftlich reflektiertes Handeln, das sich auch in der Gründung von zwei fachspezifischen Professuren in Deutschland niedergeschlagen hat, zu vielen Verbesserungen beigetragen. Durch stationäre Hospize wird vielen Eltern bereits in der Zeit vor dem Tod ihres Kindes ein Anbindungsort gegeben, durch den sie bei Bedarf auch in der späteren Trauerzeit Unterstützung erhalten können. Die Seelsorge ist oft ein fester Bestandteil dieser Angebote. Daneben ist in Deutschland durch den Bundesverband verwaiste Eltern e. V. und andere Initiativen eine breite Selbsthilfelandschaft entstanden, die Eltern und Familien auch nach dem Tod ihrer Kinder Begleitung anbietet. So ist die Trauerbegleitung in diesem Bereich fast überall zu einer aktiv angenommenen Selbstverständlichkeit geworden.

Durch die beschriebenen Veränderungen können Angehörige beim Tod von Kindern und Jugendlichen häufig schon in der Sterbezeit institutionell aufgefangen werden. Bei plötzlichen und nicht krankheits­bedingten Todesfällen verhält es sich anders. Hier ist die Gemeinde­seelsorge in einem stärkeren Maße gefordert. Allerdings wird sie dabei heute durch die Aktivitäten der Notfallseelsorge unterstützt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notfallseelsorge können in der akuten Konfrontation mit einer plötzlichen Verlustsituation die Nöte der ­Betroffenen begleiten, müssen jedoch im Anschluss daran die weitere Unterstützung an andere Personen übergeben.

Zeit zwei: Die Todestrauer bzw. Schleusenzeit®18

Im Zentrum des »Triptychons« steht die Todestrauer, die sich auf die Zeit zwischen Tod und Bestattung bezieht und im Modell »Trauer erschließen« als »Schleusenzeit« bezeichnet wird. In der westeuropäischen, ursprünglich christlich orientierten Welt gibt es hier keine einheitliche Vorgehensweise. So ist es in manchen Kulturen, zum Beispiel in Skandinavien, üblich, die Bestattung innerhalb von 24 Stunden vorzunehmen. Diese kann mit oder ohne Anwesenheit der Angehörigen und Zugehörigen, mit oder ohne offizielle Trauerzeit stattfinden. Wenn die Angehörigen nicht mit dabei sein können, werden hier zunehmend Gedächtnisfeiern ohne Anwesenheit des Leichnams abgehalten, bei denen das Leben des Verstorbenen im Mittelpunkt steht. Andere Kulturen, zum Beispiel auch die deutschen, kennen eine parallele »Schleusenzeit«, in der die Trauernden in Anwesenheit des Verstorbenen bzw. seiner materiellen Überreste ihre ersten Abschiede vollziehen können.

In Deutschland hat sich hier in den vergangenen Jahrzehnten gesellschaftlich und kirchlich einiges verändert. Dies lässt sich zum Beispiel an der Gestaltung der Verabschiedungsformen aufzeigen, die noch bis in die 1990er-Jahre hinein sehr stark totenzentriert ausgerichtet waren. Früher achtete man in erster Linie darauf, alles so zu gestalten, wie es die Verstorbenen wollten, und man orientierte sich am Jenseits, weil man darin den Trost für die Hinterbliebenen verankert sah. Heute ist neben diese Ausrichtung eine starke Fokussierung auf die Hinterbliebenen selbst getreten. Diese schlägt allerdings zuweilen in eine ausschließliche »Trauerndenzentrierung« um, die aus Sicht der Trauerbegleitung nicht als hilfreich angesehen werden kann.19 Angemessen ist vielmehr eine Kultur, die in ausgewogener Weise sowohl die Verstorbenen als auch die Trauernden in den Blick nimmt. Dies entspricht auch dem Hospiz-Palliative-Care-Ansatz, der beide als eine Begleiteinheit ansieht.

In besonderem Maße hat sich der Umgang mit den Verstorbenen verändert. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herrschte die Meinung vor, man müsse die Angehörigen bzw. Zugehörigen hier besonders beschützen. Nur durch Glaswände hindurch war es ihnen möglich, ihre Verstorbenen aus der Ferne zu sehen. Mit der Absicht, durch dieses »geschützte« Anschauen das Abschiednehmen und das Realisieren des Todes zu erleichtern, erreichte man jedoch oft das Gegenteil. Zunehmend wurde – vor allem in den Neunzigerjahren – deutlich, dass dieser »Schutz« bei vielen eine große Not auslöste, die sich häufig erst später in unvollendeten Abschieden oder schweren Trauerwegen äußerte. Was als tröstend gedacht war, wurde als Entfremdung und Trennung empfunden. Hinzu kam, dass sich die liturgischen Abschiedsrituale aufgrund der nicht durchlebten Abschiede gewissermaßen im luftleeren Raum vollzogen. Die anthropologische Funktion des Rituals und damit seine Wirksamkeit wurden dadurch abgeschwächt. Solche Prozesse haben sich in der Geschichte immer wieder ergeben.20

Erfahrungen von unzureichenden Abschieden wurden besonders von trauernden Eltern formuliert und waren ausschlaggebend für die Konzeptualisierung der »Schleusenzeit«. Mit diesem Begriff sollten – zumindest für den mitteleuropäischen Kulturkreis – sowohl die getrennten als auch die gemeinsamen Wege der Verstorbenen und der Angehörigen bzw. Zugehörigen deutlich und nachvollziehbar gemacht werden. Zudem sollte das Konzept der »Schleusenzeit« helfen, unterstützende Handlungsformen für die Betroffenen selbst und die begleitenden Professionen zu beschreiben und zu lehren. Dabei wird zum Beispiel hervorgehoben, wie wichtig am Sterbebett eine »doppelte Sprache« ist. Einerseits ist der Verstorbene ein Leichnam, der von Ärzten und Bestattern entsprechend versorgt werden muss und gesetzlichen Bestimmungen unterliegt. Andererseits haben die Angehörigen und Zugehörigen häufig ein anderes Empfinden: Sie sehen primär den Menschen, dem sie noch nahe sind und dessen Präsenz sie vielleicht sogar noch spüren. Dies wird auch in der Redeweise deutlich. So sagt zum Beispiel eine Witwe »Hier liegt mein (verstorbener) Mann.« Diese Sprache sollten Begleiter und Begleiterinnen unbedingt aufnehmen und in dieser Situation nicht von einer »Leiche« sprechen. Der Verstorbene wird im Bewusstsein der Angehörigen gewissermaßen erst mit dem Fortschreiten der Zeit zu einem Leichnam, der dann schließlich bestattet werden kann. Diese Zwischenzeit dauert in Deutschland einige Tage an.21 Die geschilderten Erfahrungen machten im Laufe der 1990er-Jahre zunehmend die Notwendigkeit einer anderen Abschiedskultur bewusst. Das Konzept der »Schleusenzeit« war eine der Reaktionen auf diese Erkenntnis.22

Dem methodisch-didaktischen Konzept der »Schleusenzeit« liegt das Bild einer Schiffsschleuse23 zugrunde. Wie ein Schiff nach der Ausfahrt aus der Schleuse auf einem anderen Niveau als zuvor weiterfährt, so befinden sich Trauernde nach der Bestattung in einer (völlig) anderen Situation als vor dem Tod. Der Tod hat ihr Leben verändert und in eine andere Richtung gebracht. Die beiden Schleusentore stehen für die Übergänge an den »Schnittstellen«: »vom Leben zum Tod« auf der einen und durch die Bestattung vom »Tod zum Leben« auf der anderen Seite. Mit der »Einfahrt« in die Schleuse ist medizinisch gesehen der Tod eingetreten, doch ist im Erleben der Angehörigen und Zugehörigen das Begreifen des Todes damit häufig noch nicht gegeben: Die Schleusentore schließen sich individuell unterschiedlich. Durch die Bestattung, die die »Ausfahrtstore« der Schleuse auf der anderen Seite markiert, ist die – leibliche, irdische – Trennung zwischen den Angehörigen und dem Verstorbenen, dessen sterbliche Überreste nun am Ort der Beisetzung zurückbleiben, endgültig vollzogen. Die Angehörigen erhalten einen neuen Status, werden zu Hinterbliebenen und sind mit der Bestattung, die auch als Initiationsritual zu verstehen ist, in die individuelle Zeit der persönlichen Weiterlebetrauer entlassen. Auch hier findet das Begreifen nicht zeitgleich mit dem Überschreiten der Schwelle statt, sondern muss im Trauerprozess erst eingeholt werden.

Das Modell der »Schleusenzeit« mit der Zwischenzeit zwischen Tod und Bestattung weist auf die große Bedeutung hin, die ein Abschied für den Trauerprozess haben kann. Was in dieser Zeit geschieht, kommt als »Chance« so nicht mehr zurück.24 Ein für die Angehörigen bzw. Zugehörigen als gut erfahrener Abschied kann zu einem entscheidenden »Trittstein« für die Trauer werden. Je nach Todesart, Lebensalter und Situation sind Abschiede unterschiedlich zu gestalten. Heute ist zunehmend im Bewusstsein, dass ein Tod, der hospizlich oder nach Palliativ Care vorbereitet wurde, eine andere Art von Begleitung braucht als ein plötzlicher Verlust durch einen Unfall, einen Suizid oder eine Katastrophe. Hier kommt den Schleusenwächtern® bzw. Schleusenzeitwächtern®, also den Trägerinnen und Trägern beruflicher Rollen im Kontext von Sterben, Tod und Bestattung, eine große Verantwortung zu.25

Zeit drei: Die Weiterlebetrauer – der Weg vom Hinterbliebenen zum Hierbleibenden

Im Modell »Trauer erschließen« geht die »Schleusenzeit«-Trauer mit der Bestattung auf einem anderen Niveau als vor dem Tod in die »Weiter­lebetrauer« über. Sie bezeichnet die persönliche Trauer und bezieht sich damit auf die Herausforderungen und Aufgaben, die sich jedem Hinterbliebenen auf individuelle Art und Weise stellen. Die Folgen und Auswirkungen, die mit dem Tod und dem neuen Status verknüpft sind, zeigen sich in ihrem vollen Ausmaß erst im Laufe der Zeit, wenn in der täglichen Konfrontation noch einmal anders spürbar wird, was der Verlust des verstorbenen Menschen für das Leben der nun Hiergebliebenen bedeutet. Auch wenn diese gemeinsam einen Verlust erlitten haben und gleichzeitig in Trauer sind, ist doch jeder auf sich selbst und seinen eigenen Trauerweg sowie auf den Umgang und die Konfrontationen mit den anderen Trauernden verwiesen. Oft wird nur langsam klar, dass man den Alltag und das eigene Leben neu gestalten muss, und das dauerhafte Fehlen der verstorbenen Person wird zunehmend schmerzlich bewusst. Nicht selten empfinden Trauernde dies im zweiten Trauerjahr noch stärker als im ersten Jahr nach dem Verlust und finden dann in einer Umgebung, die davon ausgeht, dass man sich nun schon mehr an das Leben ohne den Verstorbenen gewöhnt hat, nur noch wenig Verständnis. Oft werden Sinnfragen in diesem Prozess zu zentralen Themen.

Durch wissenschaftliche Forschungen ist die Vorstellung, dass Trauer in einer bestimmten Abfolge von Phasen verläuft, größtenteils aufgegeben worden. Dazu hat unter anderem die Utrecht-Gruppe beigetragen. Führende Vertreter dieser Gruppe sind Margareth Stroebe und Henk Schut, die Trauer als einen stetigen Wechsel zwischen Verlust- und Zukunftsorientierung beschreiben.

Im Modell »Trauer erschließen« wird Trauer als ein individuelles Kommen und Gehen der drei Gezeiten Januszeit®, Labyrinthzeit® und Regenbogenzeit® beschrieben. Je nach Verlustsituation, Persönlichkeit, Trauerstil, Ressourcen und Unterstützungsformen erlebt der Trauernde auf unterschiedliche Weise immer wieder und im meist unvorhersehbaren Wechsel diese Gezeiten: das Hin- und Hergerissensein zwischen der Rückschau in die Vergangenheit und der notwendigen Orientierung im Alltag (»Januszeit«), die Suche nach dem, was den Verlust tragen und das Leben neu strukturieren kann (»Labyrinthzeit«) und Momente der Integration des Verlustes in ein wieder lebenswertes Leben (»Regenbogenzeit«). Dabei deutet die Bezeichnung »Gezeiten« auf das Immer-Wiederkehrende hin, während der Wortteil »Zeit« darauf hinweist, dass es sich um Prozesse und nicht um einzelne Schritte handelt. Der Trauerprozess erlaubt es häufig nur langsam, vom Hinterbliebenen (gleich nach dem Tod) zum Hiergebliebenen (nach der Bestattung) und dann durch den Trauerprozess zum Hierbleibenden zu werden.

Das Aufrechterhalten und »Verwandeln« der Bindung zum Verstorbenen spielt dabei für viele eine wichtige Rolle.26 Trauerverläufe sind sehr verschieden. Manche werden abgeschlossen, andere ritualisiert, sodass ein Gedenken überwiegend auf persönliche oder allgemeine Gedenktage begrenzt bleibt. Andere Verluste werden integriert und bleiben ein durchgehend präsenter Bestandteil der Biografie bis zum Lebensende, sodass auch in einer beständigen »Regenbogenzeit« immer wieder kürzere »Janus- und Labyrinthzeiten« zu bestehen sind, selbst wenn diese nach außen sehr oft nicht sichtbar werden. In allen Fällen kann es eine »Resttrauer« geben, die in individueller Weise mitgetragen wird. Diese »Resttrauer« ist eine normale Form von Trauer, die anerkannt und bestätigt werden muss und nicht als ungenügende Trauer angesehen werden darf. Vor allem bei älteren und alten Menschen ist diese Form oft anzutreffen. In den meisten Fällen sind hier keine therapeutischen Eingriffe gefragt, sondern eine andere Art und Weise, über Trauer und bleibende Resttrauer zu kommunizieren.

Wenn die oben beschriebenen Zeiten der Sterbe- und Todestrauer einigermaßen gut verlaufen sind, darf man annehmen, dass die Mehrzahl der Hiergebliebenen keine spezifische Trauerbegleitung mehr braucht. Diese Annahme kann jedoch auch zu falschen Schlussfolgerungen führen. Denn man muss bedenken, dass manche Schwierigkeiten im Trauerprozess erst nach und nach zutage treten und 15 bis 20 % aller Trauernden eine komplizierte Trauer entwickeln, die einer therapeutischen Unterstützung bedarf.27 Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass sich in der großen Gruppe derjenigen, die keine spezialisierte Begleitung brauchen, die »Risikogruppe« verbirgt. Dabei handelt es sich um »normale Trauer«, die sich zwar weiterbewegt, jedoch aufgrund der Todesumstände, der Beziehungsart oder vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensumstände unter erschwerten Umständen begangen werden muss. Forschungen haben gezeigt, dass diese Gruppe durch eine gute, aber nicht intervenierende Trauerbegleitung effektiv unterstützt werden kann. So kann es zumindest bei leichteren Formen von Risikofaktoren gelingen, die Trauer im Bereich des »Tragbaren« zu halten. Weiter ist zu beachten, dass Menschen, die nach psychologischen oder psychiatrischen Kriterien keine Trauerbegleitung brauchen, im sozialen und/oder spirituellen Bereich durchaus einer Unterstützung bedürfen.

Es kann festgehalten werden, dass sich auch für die Zeit der Trauer nach dem Tod in den vergangenen Jahrzehnten vieles qualitativ weiter entwickelt hat. Ein Teil der Trauernden, die noch Anfang der 1990er-Jahre dringend nach Begleitung suchten, dürfte nun in den vielfältigen Angeboten einen Weg gefunden haben. Viele Hospize, Kirchenkreise, Pfarrgemeinden, Dekanate und Bildungseinrichtungen haben Orte für die Trauerbegleitung installiert. Darüber hinaus sind zahlreiche Selbsthilfegruppen entstanden.28 Nicht zuletzt fängt das Internet heute viele Trauernde, sowohl Eltern als auch Verwitwete und Jugendliche auf.29 Diese Form der Selbsthilfe wird rege genutzt.

Ganzheitlichkeit in der Trauer- und Palliativbegleitung

Im Konzept vom Triptychon der Trauer wird die Begleitung von Menschen grundsätzlich ganzheitlich gedacht, so wie dies heute im Bereich von Hospiz-, Palliativ-Care- und Trauerbegleitung die Regel ist. Die meisten Konzepte haben eine bio-psycho-sozial-spirituelle Ausrichtung. Im Modell »Trauer erschließen« wurde Anfang der 1990er-Jahre als fünfte Dimension »Lernen und Lehren« hinzugefügt. Die Zusammengehörigkeit und das Zusammenspiel dieser fünf Dimensionen lassen sich im Bild eines Puzzles darstellen:

Das Puzzle weist darauf hin, dass Sterben, Tod und Trauer – ebenso wie das Leben insgesamt – immer multidimensional sind. Existenzielle Krisen und Prozesse haben Auswirkungen in allen fünf Bereichen und was in einem »Feld« geschieht, wirkt sich auch auf andere Teile aus. Das »Puzzle der Ganzheitlichkeit« ist als methodisch-didaktische Hilfe zu verstehen und soll verdeutlichen, dass die konkrete Gestalt dieser Anteile für jeden Trauernden und zu jeder Zeit individuell verschieden ist. In der Regel sind nicht alle Teile gleich groß und auch nicht ausgewogen. Veränderungen und Entwicklungen können nicht in allen fünf Bereichen gleichzeitig stattfinden. In jedem Bereich kann es Passives und Aktives geben. Es ist nicht nur das von Bedeutung, was einem Menschen widerfährt, sondern auch das, was eine Person mit ihren Fähigkeiten und Ressourcen gestalten kann. Gerade darin liegen Kräfte, die es zu unterstützen und zu stärken gilt.

Das »Puzzle der Ganzheitlichkeit« kann als Bild und als didaktisch-methodisches Element in allen Teilen des oben beschriebenen Triptychons der Trauer hilfreich sein. Exemplarisch soll es hier für die Weiterlebetrauer beschrieben werden:

Physische Dimension: Trauer hat häufig auch körperliche Auswirkungen wie zum Beispiel Schlafschwierigkeiten, Unruhe, Herzrasen oder Übelkeit. Manche Reaktionen ähneln sehr stark organischen Krankheitsbildern. Somit bedarf ein anfänglicher Trauerweg nach einem Todesfall immer auch einer ärztlichen Kontrolle. Die meisten Symptome verschwinden im Laufe der Zeit wieder bzw. reduzieren sich. Eine gute physische Verfassung sowie körperliche Aktivitäten können für den Trauerprozess bedeutende Ressourcen sein.Psychisch-emotionale Dimension: Die Ausprägungen in diesem Bereich sind sehr individuell. Es gibt keinen pauschalisierbaren Trauerverlauf. Es ist bekannt, dass viele Trauernde starke und zum Teil auch widersprüchliche oder bislang unbekannte Gefühle wie zum Beispiel Neid oder Wut empfinden. Die Bandbreite ist groß. Neben Ängsten und Verunsicherungen treten auch Gefühle von starker Sehnsucht und Verbundenheit auf. Für viele Trauernde ist es ein Vorteil, wenn sie sich adäquat und auf ihre Weise ausdrücken und über ihre Gefühls- und Gedankenwelt sprechen können.Soziale Dimension: Die Qualität der sozialen Beziehungen ist für die Trauer sehr bedeutsam. Das soziale Netz, zu dem außer den individuellen und gemeinschaftlichen Kontakten auch die Beziehungen in der Arbeitswelt zählen, kann eine Stütze, aber ebenso eine Belastung sein. Viele Trauernde machen die Erfahrung, dass sich ihr Beziehungsnetz mit der Zeit verändert, weil manche alten Kontakte nicht mehr hilfreich sind oder neue Beziehungen eingegangen werden. Die Ambivalenz, die viele Trauernde erfahren, wenn sie zwischen der Suche nach sozialer und mitmenschlicher Unterstützung und dem Wunsch nach Rückzug schwanken, belastet oft auch das Beziehungsgefüge. Gesellschaftliche Veränderungen im Blick auf Mobilität, Familienstrukturen und Lebensmodelle haben dazu geführt, dass heute über die Familie hinaus weitere soziale Unterstützungsformen gesucht werden. Auch das Internet spielt eine große Rolle. Forschungen haben ergeben, dass diesbezüglich besonders direkte Kontakte hilfreich sind30, auch Chatrooms werden von Einzelnen positiv bewertet. Vergleichbare Resultate im Blick auf die sozialen Foren sind schwieriger zu erheben. In der Trauerbegleitung ist das Stärken der sozialen Ressourcen ein wichtiges Thema. Hierbei muss allerdings vor dem Hintergrund der zunehmenden Individualisierung und der immer älter werdenden Bevölkerung beachtet werden, dass der soziale Umgang mit Trauer sowohl zwischen den Generationen als auch innerhalb der Generationengruppen selbst sehr unterschiedlich sein kann.Spirituell-religiöse Dimension: Spiritualität ist eine Kerndimension menschlichen Daseins, die mit Sinngebung und Transzendenz verbunden ist.31 Fragen nach dem »Warum« und dem Sinn eines Lebens ohne einen Verstorbenen, der für die eigene Existenz eine bedeutende Rolle gespielt hat, treten in den meisten Trauerprozessen auf. Die individuelle Gestalt von Spiritualität kann viele unterschiedliche weltanschauliche und konfessionelle Ausprägungen annehmen. In der Trauer ist sowohl ein Beibehalten der bisherigen Formen als auch eine Distanzierung, Ablehnung oder Verwandlung möglich. Dennis Klass hat in der Zusammenarbeit mit trauernder Eltern spirituelle Copingmechanismen erforscht und zeigt auf, wie die Transzendenz in der Beziehung zum verstorbenen Kind vielen Eltern hilft, ihr Leben wieder aufzunehmen und ihre Trauer zu tragen.32Mentale Dimension: