Jenseits der Inseln - Martina Dr. Schäfer - E-Book

Jenseits der Inseln E-Book

Martina Dr. Schäfer

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Beschreibung

Europa ist im Jahr 2089 in verschiedene Frauenländer aufgeteilt, denen jeweils Männerprovinzen untergeordnet sind. Die Frauenländer werden diktatorisch von Magna Matres regiert, die in autoritärer Weise herrschen und alle Erinnerungen an die früheren Epochen radikal abgeschnitten haben. Johanna Helgesdott ist dem politischen System des Matriarchats gegenüber immer misstrauischer geworden. Die Frauen leben in Städten mit zentralen Tempelanlagen, in welchen jährlich grosse Menschenopfer stattfinden. Väter sind unbekannt, die Kinder entstehen durch Besamung. Keusche Priesterinnen, die mit ausgewählten Heroen, welche für die Menschenopfer ausersehen sind, schlafen dürfen, leben in den Tempeln. Gleichgeschlechtliche Liebe ist verboten. Es gibt sehr rafinierte Umerziehungslager. Als Putzfrau im Tempel und Spionin einer Widerstandsgruppe verliebt sich Johanna eines Tages in eine Priesterin von sehr hohem Rang. Das ist natürlich in dieser matriarchalen Diktatur streng verboten. Sie wird verhaftet und flieht auf die Insel Rügen in eine christlich-fundamentalistische Gemeinschaft. Hier leben die Menschen noch in klassisch, kinderreichen Familien mit einer Rollenverteilung, die ungefähr dem 19. Jahrhundert entspricht. Johanna deckt den sexuellen Missbrauch an Kindern einer Dorfschulklasse auf und die Dorfgemeinschaft trennt sich. Während ihrer Überfahrt zu einer neuen Siedlung fischen Johanna und ihre Freunde ein geflohenes Liebespaar, aus dem Wasser: Hannah, eine junge Priesterin und einen Heroen. Auch Hannah und der zu Opferung bestimmte junge Mann hatten eine illegale Liebesgeschichte begonnen. Sie flohen unter Lebensgefahr, wobei sie ihr neu geborenes Kind zurück lassen mussten.

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Über die Autorin

Geboren 1952, Schriftstellerin und Komponistin, studierte Pädagogin ab 1976, promovierte Germanistin im Jahre Tschernobyl 1986, magistrierte Prähistorikerin seit 2003 mit Schweizer Schulleiterzertifikat seit 2007.

Veröffentlichungen:

2011 Benedikt von Nursia. Oratorium (Verlag Müller & Schade, Bern)

2011 Missa islamica. Cross-over-Messe (Verlag Müller & Schade, Bern)

2009 a) Kommunikation, Wahrnehmung und Beobachtung. (careum - Verlag, Zürich) b) Berufsbild und Ethik. (careum - Verlag, Zürich)

2008 "Brückenbauen. Ein Kurshandbuch zur interkulturellen Pädagogik". (h.e.p. - Verlag Bern)

2007 1. Preis des Internationalen Menschenrechtsforums Luzern

2004 Der Gewalt keine Chance! Ein Leitfaden zur Prävention. (Paulusverlag Fribourg)

2001 Die Wolfsfrau im Schafspelz. Autoritäre Strukturen in der Frauenbewegung.  (vormals Hugendubel München, jetzt Random House, bei Ammazon erhältlich)

2000 Die magischen Stätten der Frauen. (2003Taschenbuchausgabe Heyneverlag/Ullsteinlist)

1999 In Teufels Küche. (Kriminalroman unter Pseudonym Magliane Samasow KBV - Verlag Elsdorf)

1996 Die Tafeln der Maeve (Fantasyroman unter Pseudonym Magliane Samasow Querverlag Berlin)

Über das Buch

Die Geschichte beginnt im Jahr 2089 mit der Verhaftung der Hauptperson Johanna Helgesdott, die ein heimliches Verhältnis mit einer Priesterin angefangen hat.

Nach grossen Kriegen, gesellschaftlichen Umwälzungen und der Durchsetzung frauenpolitischer Ziele, ist Europa in verschiedene "Frauenländer", mit zugeordneten "Männerprovinzen" aufgeteilt.

In unregierbaren Gegenden, die wegen massiver Umweltschäden aufgegeben wurden, haben sich verschiedene Dissidentengruppen festgesetzt.

Johanna Helgesdott wird von einer Widerstandsgruppe befreit und kann fliehen.

Ihre Flucht, die auch eine lange Suche nach ihrer verlorenen Geliebten ist, führt sie durch verschiedene Frauen- und Männerländer, sie begegnet unterschiedlichen Dissidenten und erlebt einige gefährliche Abenteuer.

Martina Schäfer

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Frauenprojekten sind völlig unbeabsichtigt und rein zufällig.

Zeittafel

Was davor geschah

1960 1. September: Urgrossmutter von Johanna geboren

1970 Im Frühling: „Ein uneheliches Kind gehört nicht auf ein Gymnasium!“

1990 Die Stasiakten der Ex-DDR kommen ans Tageslicht. Etwa zur selben Zeit: Beginn der später so genannten postpatriarchalen Epoche, Beginn der Rückführung weiblichen Eigentums in Frauenhände und vermehrter politischer Förderung von Frauen durch so genannte Frauenbeauftragte, Gleichstellungsstellen und andere Initiativen und Gleichstellungsbüros in aller Herren Länder

2001 Beginn der Radikalisierung des patriarchalen Rollbacks in Form des damals so genannten „Radikalislamismus“. Diese Bezeichnung sollte suggerieren, dass es eine Art gutes, vulgo demokratisches und eben eine Art böses, vulgo islamisches Patriarchat gäbe.

2001 Anfang September: Radikalislamisten zerstören durch ein Kamikazeattentat in New York zwei Hochhäuser mit mehr wie dreitausend Menschen darin. Als Folge dessen Beginn einer weltweiten Entdemokratisierung sowie vermehrter Bereitschaft, Kriege zu führen und bestehende Frauenrechte zurück zu schrauben.

2010 4. Januar: Erster, radikaler Frauenaufstand in den USA, nachträglicher Begin der feministischen Zeitrechnung, der der Einfachheit halber und um der Symbolik willen auf den Beginn des neuen Jahrtausends vorverlegt wird.

2010 weltweiter Geschlechterkrieg, Partisaninnenkämpfe,

2020 Gründung der ersten Frauenländer

2030 Johannas Mutter wird von einer Pilotin geboren

2035 Johannas Mutter und ihr Bruder Martin werden adoptiert

Erstes Buch: Villa Garbo

2062 Johanna wird geboren

2064 Ihre Zwillingsschwestern werden geboren

2069 Ihre jüngste Schwester, kommt zur Welt

2075 Johanna erlebt das erste Mal ein öffentliches Herosopfer vor dem Kalitempel ihrer Stadt

2089 Johanna ist 27 Jahre alt, im Herbst wird sie verhaftet und kommt in Untersuchungshaft

2090 ihre Mutter ist 60 Jahre alt, Johanna wird Anfangs März in die Villa Garbo verbannt, sie flieht im September aus der Villa nach Udars auf Rügen;

Zweites Buch: Am anderen Ufer

2090 erste Septemberwoche: Johanna schaut sich die fromme Gemeinschaft an,

bis Mitte der 2. Woche: sie besucht die Institutionen, insbesondere die Schule,

17. Tag: Sie spricht mit Ella und Heinz über Pater John,

18. Tag: Ein Baum stürzt auf die beiden Frauen,

28. Tag: Johanna kann wieder im Bett sitzen und erhält Besuch

31. Tag: Ella und Johanna schlafen miteinander das erste Mal

35. Tag: Generalversammlung, Tod von Erwin und Pater John

Anfang Oktober: Begräbnis von Pater John und Erwin

Drittes Buch: Die Liebenden

2090 Mitte Oktober: Abfahrt von der Insel, Rettung Hannahs und Jan-Sans

Ende Oktober: Ausschiffung der drei und Abmarsch an der Albamündung

Mitte November: Ankunft im Ruhrloch, Lagebesprechungen und

Anfang Dezember: Erneuter Aufbruch von Johanna, Shulamit mit dem AerztInnenteam

Viertes Buch: Ein kleines Mädchen

2090 18. Dezember: Shulamit und Johanna entführen Hannahs Kind

Fünftes Buch: Jenseits der Inseln

2090 19. Dezember: Johanna erreicht am Abend Zell

21. Dezember: Die grossen öffentlichen Kaliriten

Was danach geschah

2091-2101 Epoche verschiedener Sezessionskriege und Aufstände in den Frauenländern

Register der wichtigsten Personen und ihr erstes Auftreten:

Erstes Buch: Villa Garbo

Johanna, Vernehmungsoffizier und spätere „Resozialisierungsarbeiterin“

Maja Margasdott ab Sarga, die Elevin und Geliebte Johannas

Helge, Johannas Mutter

ihre Geschwister

die Widerstandsgruppen „Ratten“ und „Sperlinge“

die Frau im Baum

die Hubschrauberpilotin

Zweites Buch: Am anderen Ufer

Pit, der Kutterführer

die Zwillinge Anneliese und Frank, seine Besatzung

Ella

Heinz, ihr Mann

Lena und Anna, ihre Töchter

Laura, ihre Mutter

Pater John, Lehrer und Priester in Udars

Pal-Men, geflohener Priesteraspirant

Kai-Ten, ebenfalls, Hilfslehrer in Udars

Abrahma, der älteste Mann

Klaus, Pits Schwager

Sarah, seine Frau

Bärbel, eine junge Frau

Else, eine ältere Frau

Joli, noch eine junge Frau aus Udars

Erwin, ein aufgeweckter Junge

seine Eltern

Drittes Buch: Die Liebenden

Olga, die Kutterkapitänin

Hannah , geflohene Elevin des höchsten Ranges

Jan-San, geflohener Priesteraspirant, ihr Geliebter

ihr Kind

Ulk, die ältere Dame mit den falschen Pässen

Shulamit, eine junge Ärztin

eine Fahrerin, welche alte Möbel restauriert

Jakob, der irisch-jiddische Cellist

Sascha, sein italienisch-böhmischer Geliebter und Impressario

Viertes Buch: Ein kleines Mädchen

Tate Martin, der Bruder von Johannas Mutter

ein Junge aus dem Pfahlbaudorf

Erstes Buch

Villa Garbo

„Wissen Sie, warum Sie überhaupt noch leben?“

Der Vernehmungsoffizier lehnte sich bequem im weissledernen Sessel zurück, die bunte Uniformjacke fröhlich geöffnet und locker nach hinten geschleudert, das helle Hemd darunter liess vage die kleinen militärisch-asketischen Brüste ahnen.

Eine Frauenwelt ist eine schöne, eine heile Welt!

Keine alten, faschistoiden Holztische, keine neopatriarchalen schuss- und schlagfesten Glaswände, keine Gitter oder bis in Kopfhöhe dunkel-schmutzig-grün gestrichene Endlosgänge verstellen den Blick auf die feminine Realität.

Sie wippte freundlich mit dem aufs Knie gelegten, besockten Fuss, ihre sportiven Trainingslaufschuhe lagen lässig unter dem Glastisch verstreut, auf dem Säfte und hübsche, kühle Porzellanbecher verteilt standen. Einer dieser leuchtend, knall-blendend-hellgrünen Schuhe lag nahe bei meinem Fuss, den ich weniger locker an mich herangezogen hatte. Ich sitze nicht gern in tiefen, weichen Sesseln, ich kann nicht rasch aufspringen und werde schnell müde.

„Demonstrieren ist kein Staatsverbrechen!“

Sie nickte mir bestätigend zu.

„Natürlich nicht! Trotzdem müssen wir gewisse - äh - restaurative Tendenzen in Schranken halten!“

Die Frauenwelt liebt bunte, bequeme, Aggressionslosigkeit signalisierende Bekleidung: Im Dienst lustige Uniformen, welche irgendwie an die Husaren-Nussknackeruniformen des europäischen 19. Jahrhunderts erinnern, oder im Zivilleben lockere, den Körper kaschierende Pluderhosen, weite, lange Röcke und bräunlich erdfarbene Kaftane darüber; weiche, lange Haare, offen im Zivilleben, geflochten, hochgesteckt unterm feschen Militärmützchen im Dienst.

„Und diese ewigen Schnüffeleien von Ihnen und Ihresgleichen müssen auch einmal ein Ende haben!“ Alles im Frauenland ist sehr sauber, unverschmiert, neu und bequem. Selbstverständlich stehen auch keine Aschenbecher im gemütlichen Vernehmungszimmerchen! Abgesehen von der unangenehmen Luftverschmutzung könnten böse Frauen wie ich, in fester, viel taschiger Leinenhose und schwarzem Rollkragenpullover, auf die dumme Idee kommen, damit zu schmeissen! Die Porzellanbecher hängen an festen Ketten, die Saftflaschen bestehen, ausnahmsweise mal, aus leichtem Plastik! Schliesslich gibt es unter uns erstens welche, die tatsächlich noch rauchen, zweitens sogar besonders abartige, die in ihrer Verzweiflung bei den wenigen Demonstrationen, die unser Land zugelassen hat, die hübschen, Verkehrs beruhigenden Kopfsteinpflaster, welche heile Kleinstadtidylle des Mittelalters selbst in jeder Grossstadtmegalopolis signalisieren, herausgerissen haben, um damit zu schmeissen. Ganz zu schweigen von der dritten Gruppe, diesen Lauten mit ihrem undankbaren, kritischen Geheul!

„Ein Grund ist dieser hier!“

Sie schob einen Stapel meiner Bücher in den Mittelpunkt des Glastischchens.

„Die Frauen, besonders die der unteren Schichten, lesen ja begeistert Ihre Bücher, Ihre Groschenromane! Diese Groschenromane! Dieser Schund hat Sie leider überall so berühmt gemacht, dass wir Sie nicht verschwinden lassen können!“

„Der Sacharow-Effekt!“

„Wie bitte?“

Ein weiteres Kennzeichen unserer heilen Zeit ist die Freiheit von jeglicher unnötiger Geschichtsbelastung. Es ist nicht mehr nötig, dass sich die Frauen mit der dunklen, vom Patriarchat verseuchten Vergangenheit beschweren. Wir knüpfen nahtlos an die utopistische Vergangenheit matrizentrischer Stadtkulturen an und überspringen die Sümpfe der von Männern dominierten, dunklen Zeitalter. Der fröhliche Vernehmungsoffizier mit den kleinen Brüstchen unterm sauberen Hemd schaute mich irritiert an.

„Wie dem auch sei! Mein Geschmack ist diese Massenproduktion aus Herz und Schmerz nicht. Sie schenken der matripotenten Utopie zu wenig Aufmerksamkeit und beziehen sich zu sehr auf spätpatriarchale Erzählmuster!“

Vermutlich hatte Johannes Mario Simmel damals weniger Leichen auf dem Gewissen als diese saubere Charge in ihrer frisch gelackten Uniform. Ich zog fragend die Augenbrauen hoch -

„Ein weiterer Grund - man hat sich an höchster Stelle für Sie verwandt! Bitte, es gehört doch Ihnen...?“

Mir wurde flau in der Magengegend. Der Vernehmungsoffizier warf ein Foto auf den Tisch. Es rutschte über die Glasplatte und lag dann zwischen meinen machtlosen Händen: Maya - mit aufgestütztem Fuss über einer Felsenbucht stehend...

Das war im Frühsommer gewesen, vor fast einem Jahr, drei Monate vor meiner Verhaftung... Ich schluckte betroffen.

„Sie wollen mir ja sicher nicht weismachen, dass dieses Foto in Ihrer Ausweistasche nur der besondere Ausdruck der Verehrung für die Magna Matres ist! Wir tragen alle sieben bei uns!“

Sie klopfte auf die Brusttasche ihrer Jacke und lächelte den faltigen Porträts an den Wänden des Vernehmungszimmerchens zu.

Maya war die jüngste Tochter von Marga ab Sarga, der Nummer Drei unter den Top Sieben, designierte Nachfolgerin, wenn ihre Mutter einmal den Stab abgeben sollte!

Die Top Sieben, unsere verehrten Magna Matres, die Weisen Alten Frauen, welche das Frauenland seit seinem Bestehen in ihrer unendlichen Weitsicht und Güte als Erbamt leiteten.

Da sich demokratische Regierungsformen als unfähig erwiesen hatten, Kapitalismus, Vergewaltigungen, Patriarchat, Verkehrschaos, Umweltverseuchung, Terrorismus und Kindermorde zu verhindern, griffen die Frauen fast überall auf der Welt auf frühgeschichtliche, matriarchale Formen der Gesellschaftsorganisationen zurück.

Der Verrohung moderner Gesellschaften versuchte man durch Degradierung sexueller Aktivitäten und der Tabuisierung von roher, öffentlicher Gewalt zu begegnen.

Frauenbeziehungen wurden in den gebildeteren Schichten in geringem Ausmass geduldet, denn es wurden für den Fortbestand der hehren Frauenwelt frei schwebende Technikerinnen, ungebundene Intellektuelle und kinderlose leitende Arbeitskräfte gebraucht. In den unteren Schichten wurden Heterosexualität und manchmal auch Frauenliebe, je nach politischer Lage und Geburtenrate, sanft, aber konsequent verhindert. Für die gebildeteren Schichten galt intergeschlechtliche Sexualität als unfein, denn frau ging ja auch nicht mit ihren Hunden ins Bett. Die obersten Schichten arbeiteten an ihrer seelischen Vervollkommnung, um das Rad der Wiedergeburten anstandslos zu durchlaufen. Ihre Lieben waren rein geistiger und spiritueller Natur, die Fortpflanzung geschah sowieso nur zu vorgeschriebenen, rituellen Zeiten in den abgezirkelten heiligen Heinen. Auf jeden Fall waren sie aus der kruden Beschäftigung mit direkten erotischen Kontakten zwischen sterblichen Normalfrauen ausgeschlossen. Oder, wie es die Magna Matres auszudrücken pflegten: Sie wurden verschont, um nicht von ihrem Weg abgelenkt zu werden, reife und vollkommene Führerinnen der Frauengesellschaft zu werden.

Wir weiter unten pflegten zu sagen, dass sie einen wackeren Preis zahlten... aber wofür? Und wir achteten darauf, unsere alltäglichen kleinen Frauenfreuden nicht zu laut und eher unter uns auszuleben, wie es ja auch gewünscht wurde.

Unerfüllte Sehnsucht mag ein ebensolcher Faktor in der Leitung gesellschaftlicher Organisationen sein, wie Hunger, Wohnraummangel oder Unterbezahlung. Alles Zustände, deren Überwindung unsere wunderbare Frauenwelt in den Umsturzjahren und während der ersten Generation ihres Bestehens versprochen und seit mindestens zwei Generationen sogar erreicht hatte und woraus diese Regierungsform ihre starke Legitimation bezog.

Gegenüber jenen Elevinnen aus den oberen Ständen war ich ein Nichts, gebildete Mittel- na ja eher Unterschicht, schlimmer: Eine Demonstrantin. Aelteste und somit erbrechtlich fast rechtlose Tochter einer Bauarbeiterin und Tempelputzfrau. Maya aber eine Elevin des achten Ranges. Wenn für sie überhaupt etwas Sinnlich-Erotisches in ihrer Laufbahn vorgesehen war, dann würde sie sich im Hain fortpflanzen, um die Tradition der Top Sieben über ihren eigenen Körper nahtlos an die einzigste oder jüngste Tochter weiterzugeben. Frauenland brauchte Nachwuchs, und die Oberen waren angehalten, uns Niedrigen mit gutem Beispiel voranzugehen. Maya, ausersehen, in späteren Jahren eine der Magna Matres zu werden, war mir über den Weg gelaufen, als ich mit der Baukolonne meiner Mutter Renovierungsarbeiten im Zentraltempel der Stadt vornahm, wobei ich eifrigst meine Augen für unseren Informationssammeldienst wandern liess.

Sie kam eine Treppe herunter, im spirituellen Weiss ihres Standes, die strohgelben Haare hochgesteckt über dem schmalen Gesicht. Sie sah nicht sehr glücklich aus. Ich hockte am Fuss dieser Treppe, kratzte Farbflecken vom roten Marmor und befingerte insgeheim die Stufen nach verborgenen Schalllöchern oder Süssrauchdüsen. Als die weissen Hosenbeine vor mir auftauchten, schaute ich etwas erschrocken hoch, ihre grau-grün-braunen Augen lächelten mich freundlich, aber ein wenig müde an. Das war die Müdigkeit einer neunzigjährigen Frau! Aber Maya war kaum ein paar Jahre älter wie ich.

Damals ahnte ich in meiner Naivität nicht, dass ich mein Leben mit dieser Liebesgeschichte gefährden würde, mein Leben, das meiner konspirativen Freundinnen, Demonstrantinnen und sogar das von Maya, der Elevin des achten Ranges im Hauptgebäude unserer Stadt. Damals wollte ich nur diese Müdigkeit wieder zum Lachen bringen und diese Weisheit, die einer kaum dreissigjährigen Frau genauso wenig anstand wie mir die verarbeiteten Hände der Unterschicht ... nur zum Lächeln - -!

Es war auch sonst nicht mehr, was wir Demonstrantinnen und Dissidentinnen wollten: Lachen in den Strassen, laute Zurufe zufriedener Frauen, Witze von Fenster zu Fenster gerufen, Karikaturen in den Zeitungen und nicht gleichgeschaltete Berichterstattungen, mehr Leben und Lärm, und ein anderes Bunt, wie vorgeschrieben, das Recht auf Besäufnisse wenn Eine das unbedingt wollte und Zeit für Lustbarkeiten aller Art, denn die Frauenwelt konnte einen ganz schön in Atem halten: Versammlungen, Treffen, Rituale und Sippenstrassenmeetings. Ich war, mit zwei Berufen, noch eine der weniger rund um die Uhr beschäftigten Frauen. Was mir Zeit und Ausgeschlafenheit für meine konspirativen, unzufriedenen Aktionen gab.

Dass ich damit auch Mayas Leben gefährdet hatte, wurde mir erst in diesem verdammt sauberen Zimmerchen klar! Ich starrte den stieglitzbunten Offizier entsetzt an:

„Wo ist sie?“

„Früher sagte man: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Maya Margasdott ab Sarga geht Sie nichts an, hat Sie nie etwas angegangen und wird Sie auch in Zukunft nichts mehr angehen! Sie haben unsere Elevin viel zu sehr abgelenkt und verwirrt. Das muss ein Ende haben!“

Sie blitzte mich an und beugte sich vertraulich vor.

„Es kam sogar so weit, dass sie drohte, sich öffentlich umzubringen, als sie von der Festnahme Ihrer Demonstrantinnensippschaft erfuhr. Öffentlich! Im Haupttempel der Stadt! Eine bedauerliche seelische Abirrung, doch verständlich, wenn wir die Anstrengungen in Betracht ziehen, denen unsere Elevinnen ausgesetzt sind.“ Sie machte die rituelle Demutsgeste zur Stirn hin, die ich ihrem Stirn runzelnden Blick verweigerte. Meine Verehrung für Maya hatte anders ausgesehen!

„Nun, fast jede Elevin braucht in ihrem schweren, entsagungsvollen, spirituellen Werdegang irgendwann einmal Hilfe, und diese wird Maya Margasdott ab Sarga zuteil!“

Die Husarenuniform lächelte mich an.

„Auch deshalb erwartet man vorläufig noch regelmässige Lebenszeichen von ihnen. An höchster Stelle...,“ Beginn der rituellen Demutsgeste: „Genauer gesagt, legt Marga Selasdott ab Sarga viel Wert darauf, dass die Seele ihrer Tochter nicht noch mehr strapaziert wird.“ Abschluss der rituellen Demutsgeste von der Stirne in den Schoss hinab, „... ebenso wie im Volk.“

Sie schlug auf den Stapel Bücher, und der verrutschte ganz unästhetisch schräg nach rechts in bedrohliche Nähe einer der Plastiksaftflaschen.

„Normalerweise würden wir so eine unbedeutende Demonstrantin wie sie es sind kurzerhand umerziehen. Das hat bisher bei allen Abgeirrten geklappt.“ Sie rieb sich in süchtiger Vorfreude die Hände, als gälte es, unsichtbaren Schmutz zu entfernen. „Andererseits sind sie durch ihre Veröffentlichungen eben leider doch nicht ganz so unbekannt wie eine normale Schwererziehbare. Wir könnten sie auch nicht so ohne weiteres verschwinden lassen. Schade! Ich persönlich lehne jegliches unqualifiziertes Rabaukentum zutiefst ab.“ Sie rümpfte die Nase. „Als ob in unserem Frauenland nicht Jede ausreichend genügend Gelegenheiten bekäme, ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und eventuellen Missständen, wovor die Grossen Sieben uns bewahren mögen, durch Eigeninitiative abzuhelfen.“ Sie machte die Demutsgeste.

„Sie werden weiterhin schreiben - Johanna Helgesdott - und regelmässig publizieren! Wie bisher! Gut versorgt und bestens ernährt! Irgendwann wird wohl auch die Qualität Ihrer Schreibe versagen. Das Publikum wird das Interesse an Ihnen verlieren, Ihre Geliebte -“ Sie legte das Wort auf die Zunge wie eine bittere Pille - „sowieso, wenn sie Ihrem Einfluss endgültig entzogen ist und sie ihren spirituellen Weg unbelastet von Ihren scheinkollektiven Phrasen weitergehen kann. Dann ist immer noch Zeit, Ihnen den Prozess zu machen!“

Sie lehnte sich zufrieden zurück, ich starrte sie erstaunt an.

„Ich soll im Gefängnis schreiben?“

„Natürlich. Die Frauenwelt ist eine gute Welt. Wir stellen Ihnen einen hübschen Bungalow zur Verfügung, ein hübsches Gärtchen zum Spazieren gehen, ein hübsches Wasserbecken zum Schwimmen und Trainieren, denn wir wissen, dass Sie eine ausgezeichnete Taucherin sind, ein hübsches Arbeitszimmer und eine gute Bibliothek. Solange sie leben, schreiben Sie. Und für uns sind sie damit erst einmal aus dem Verkehr gezogen! „

„Sie sind verrückt! Sie können mir doch Nichts vorwerfen!“

Ich stützte den Kopf in die Hände. Auch das hatte es in patriarchalen Zeiten bereits, wenn auch nur in Romanform, gegeben!

„Nein, das nicht so genau. Aber, was sie bisher alles angestellt haben, reichte voll aus, um den Zorn der Magna Matres - „ Demutsgeste -, „auf sich zu ziehen, so dass sie es in ihrer Weisheit für besser hielten, eine Aufwieglerin wie sie erst einmal kühler zu stellen, bis sich die Wogen beruhigt haben. Natürlich werden wir ein bisschen Einfluss auf Ihre Schreibe nehmen müssen! Nicht so viel Lesbisches, das fördert nicht gerade die Gebärwilligkeit der jungen Frauen. Nicht so viel Erotisches, eher mal eine spirituelle Herosbegegnung im Hain! Aber wir halten uns zurück. Wir wollen Ihren Stil ja nicht verderben!“

„Meine Honorare? Bisher habe ich einen Teil unseres Familieneinkommens damit bestritten!“

„Nun, im Grunde genommen, erhalten sie, wie alle anderen Frauen auch in unserem Land, im Austausch zu ihrer Arbeitsleistung Sachwerte, wie ich sie ja gerade eben beschrieben habe. Glauben sie mir, meine Liebe...“ Sie beugte sich vertraulich vor, „es gibt immer noch eine Menge Frauen auf dieser Welt, die glücklich wären, ein trockenes Dach über dem Kopf und regelmässige Ernährung ihr Eigen nennen zu können.“ Sie schaute mich kopfschüttelnd ob meiner kritischen Undankbarkeit an. Sicher - ich sollte wohl froh sein, überhaupt noch zu leben, zog ich gewisse Dinge in Betracht, die uns gerade in den letzten Wochen bei unseren Forschungsarbeiten zu Ohren gekommen waren. „Darüber hinaus müssen wir den Aufwand irgendwie finanzieren, den wir für Sie treiben.“ Abermals beugte sie sich vor, stemmte die Socken rechts und links neben das Tischlein - „meinen Aufwand, wenn Sie verstehen, was ich meine -“ Sie deutete auf das Bild, welches wie eine verlorene Schwanenfeder auf dem gläsernen Teich lag: „ Ein Grossteil des Wohlbefindens unserer geliebten Elevin hängt von meiner Hände Arbeit ab, ihre Stimmung richtet sich sicherlich in der nächsten Zeit leider noch nach dem, was ich von Ihrem Befinden, Johanna Helgesdott, berichten werde. Und umgekehrt möglicherweise auch.“ Sie seufzte in gespielter Überforderung.

„Wie erkenne ich, dass Sie mich nicht belügen?“

Der Vernehmungsoffizier zuckte nachlässig mit den Schultern.

„Vertrauen, ihr Demonstrantinnen habt kein Vertrauen in die Ziele der Frauenwelt, das ist es. Ich belüge Sie schon nicht, bei den Honoraren!“

Wir schwiegen. Sie starrte mich beinahe lüstern an, ich blickte über ihre goldbetresste Schulter hinweg zum Fenster hinaus in den grauen Himmel: Margasdott! Diesen Zusatz ihres Namens hatte sie gehasst.

„Ich gehöre niemandem, und wenn ich wüsste, wohin so ein bekanntes Gesicht wie das der dritten Thronfolgerin fliehen könnte, würde ich fliehen bis ans Ende aller Welt!“

So hatten wir an einer abgelegenen Steilküste gesessen, Mayas Kopf in meinem Schoss und tief unten das brüllende, Felsen beissende Meer. „Fassadenkletterin“ hatte sie mich genannt und ein leiser Ton neidvoller Bewunderung auf meine Art, mit den immer bedrohlicher werdenden Problemen des Frauenlandes umzugehen, schwang darin mit.

„Was wirst du zuerst verändern, wenn die anderen sechs Geier dich lassen und das Schranzentum der alten Tempelweiber?“

„Die Opfer -“ Sie schauderte- „wenn ich die Stelle meiner Mutter einnehme - die Opfer!“

Der Vernehmungsoffizier wartete neugierig das Schweigen ab. Sollte ich ihr mein letztes Quäntchen Stolz opfern? Allein Mayas Namen in dieser lässigen Umgebung zu denken, erschien mir wie eine Entweihung all dessen, was ich liebte und was mir in meinem halblegalen Leben teuer und heilig war. Aber ich wollte nicht leben, ohne wenigstens eine Ahnung ihrer Sicherheit zu haben:

„Was ist, wenn ich mich weigere?“

Die goldbetresste Vernehmungsnussknackerin knöpfte sich die Jacke langsam zu und beugte sich zu ihren Schuhen hinab. „Schade wäre das -“ sie schlüpfte in die Schuhe und zerrte vorgebeugt an den Schuhbändern. „Frauenland verliert zwei fähige junge Frauen. Tragisch, ein hoher Preis für unsere Freiheit, für die Stabilität.“

Sie schaute mir wieder ins Gesicht. „Leben und regelmässige Nachrichten - okay?“

Sie stand auf und trat mit dem Absatz mehrmals auf die unter dem Teppich verborgene Kontaktglocke. Vier Ordonanzen sprangen zackig in das Zimmerchen, propere, blaue Jäckchen, wie bunte Boleros, mit Silberstreifen, kecken Rangabzeichen, saubere Käppis über strahlenden Gesichtern.

„Wir sehen uns dann. Abführen - Garbo-Haus, Bungalow vier!“

Die Ordonanzen salutierten eifrig, bedachten diese etwas schmierige Demonstrantin mit neugierigen Blicken und führten mich, ohne mich überhaupt anzufassen, aus dem gemütlichen Zimmerchen hinaus.

Auf dem Gummen im Jahr 135 (2135 n.d.Zt.)

Ich bin alt geworden, alt wie diese Ferienhaussiedlung, hoch oben in den ehemaligen Schweizer Alpen. Die Holzhäuser werden nicht mehr so oft gestrichen wie damals, aber das Plateau ist noch genauso unzugänglich wie eh und je: Die schmale, kurvenreiche Strasse ist gut kontrollierbar, ebenso die mörderisch verkommene Kabinenbahn, die ächzend und quietschend den Höhenunterschied vom Tal herauf bewältigt. Den Zufahrtsweg von hinten über das Aeckerli haben wir gesperrt. Aber auch so lässt man uns hier oben, nach den beiden im Sande verlaufenen Scheinrevolutionen und der einen, echten, brutal niedergeschlagenen mehr oder minder in Ruhe -: Eine Art dissidenter Altersruhesitz illegaler oder halblegaler Leute, meist Lesben, jeweils in kleinen Hausgemeinschaften von drei bis fünf Frauen lebend. Vorne, im alten Zentrum der Siedlung an der Drahtseilbahn, leben auch ein paar schwule Brüder, ein klassisches Heteropärchen wie in alten Zeiten führt das heruntergekommene Hotel, und ihre alte Mutter versorgt das kleine Lädchen, in dem die Dorfgemeinschaft ihre notwendigen Dinge zum Leben erhält. Auch die Höfe und Almen in diesem Gebiet werden von Leuten bewirtschaftet, die sich darauf verstehen und Spass daran haben, Zäune zu ziehen oder Mist zu schaufeln. Sie sind unsere Lebensversicherung, falls es denen unten im Tal einmal an der nötigen, toleranten, Frauen bezogenen Gleichgültigkeit mangeln sollte. Doch solange wir uns nicht vermehren, lassen sie uns hier oben in Ruhe hocken. Wir sterben ja sowieso nach und nach aus.

Die alte Frau im Laden wird von uns allen liebevoll „Gummenkönigin“ genannt, da ihre Urgrossmutter, als das Dorf noch ein blühender, bürgerlicher Ferienort halb- oder ganz reicher Schweizer war, die hier ihre Häuslein setzten, wirklich die ungekrönte Königin dieser Matten war, reich geworden durch die konsequente Verwandlung von Weideland in Bauland. Alt, aber gross aufgerichtet mit einem wachen, weitflächigen Blick, der Horizonte in seinen grauen Seeaugen umfasst, erinnert sie mich trotzdem immer wieder an Maya - Maya, die nach Horizonten hungerte wie das Meer nach ihnen hungert, und ewig feindlich das begrenzte Land benagt, das sich dazwischen stellt.

Damals, während der Jahrtausendwende, die mehr war, als nur das Ende dieser zweitausend Jahre christlich-patriarchaler Kultur, als die Mütter unserer Mütter aus ihren ersten, politischen Kinderschuhen herausgewachsen waren, hatte es so geschienen, als seien Grenzen gestürzt: Auf ein vereintes Europa folgte die friedliche, ökologisch geborgene Einheit der Welt, die später so genannte postpatriarchale Phase und, nach einem etwa zehnjährigen, radikalpatriarchalen Rollback, die Machtübernahme von Frauen, welche wiederum die Landkarten dezentralisierten und viele kleine Provinzen gründeten. Das 20. Jahrhundert wurde deshalb auch in der Geschichtsschreibung als das „letzte spätpatriarchale Jahrhundert“ bezeichnet. Die Frauen begannen im Nachhinein die Geschichtsschreibung einfach wieder neu beim Jahre 1. Mit dem bewaffneten landesweiten Aufstand von Frauen in den spätpatriarchalen USA am 4. Januar 2010 gegen die Unfähigkeit der Polizei, die Mädchen-und Frauenmorde einzuschränken, der in der Erstürmung einiger Männergefängnisse und geschlossenen Therapieeinrichtungen sowie der öffentlichen Hinrichtung einiger mehrfach rückfällig gewordener Vergewaltiger und der Kastrierung sämtlicher einsitzender Vergewaltiger gipfelte. Das war, so weit man wusste, der erste bewaffnete Frauenwiderstand seit dem historisch verbürgten, so genannten „Böhmischen Mädchenkrieg“ aus dem Jahre 734 christlich-patriarchaler Zeitrechnung, vor mehr wie 1300 Jahren.

Man hatte nachträglich den Beginn des Frauenjahrtausends, sowohl aus symbolischen als auch aus praktischen Gründen, auf den 1.1.2000 verlegt. Auf diese Weise wurde die rechnerische Abgleichung mit der christlich-patriarchalen Epoche leichter, wenn frau überhaupt Wert darauf legte: Zu der aktuellen Zeit mussten einfach 2000 Jahre hinzugezählt werden, um sich elegant in die präfeministische Chronologie einklinken zu können. Wie gesagt... falls die Frauen überhaupt Wert darauf legten! In diesen ersten Jahren nach der Zeitwende bemühten sich die etablierten Staaten um frauenfreundliche Regierungen und Gesetzgebungen. Später wurde diese Phase als postpatriarchal gekennzeichnet. Ihr Charakteristikum war, zumindest europaweit, eine dezidierte Mehrheit der Frauen in allen nationalen und internationalen Parlamenten, Gremien, Gewerkschaftsausschüssen, Kirchen-, Arbeiter-, und anderen Verbänden. Danach, ungefähr vier Dekaden vor meiner Geburt begann die schrittweise Ablösung der etablierten Staaten durch die Frauenländer, was nicht ohne heftige Krisen, bürgerkriegsähnliche Zustände und massiven anderen Widerstand abging seitens des Postpatriarchats, dass sein letztes, grosses Aufbäumen in den globalen Kriegen der ersten Dekade des neuen Jahrtausends auslebte, die von den demokratischeren Patriarchate gegen die fundamentalistischen geführt wurden. Die vielen, kleinen Frauenländer wurden anfänglich basisdemokratisch und bürgerinnennah regiert, sie waren umweltfreundlich und männerfeindlich. Auf dem Gebiet des ehemaligen Europas etablierten sich einige Frauenländer mit ihren dazugehörigen Männerprovinzen, in die sich immer mehrere Frauenländer teilten, um den Genfluss zu gewährleisten. So gehörte die Männerprovinz, in welcher der Bruder meiner Mutter, Tate Martin, lebte gleichzeitig zum linksrheinischen Frauenland Champagnien, in welchem Französisch gesprochen wurde und zum spätbayrisch sprechenden Frauenland, in welchem ich aufgewachsen war. Die Pyrenäen gehörten als Männerprovinz dem okzitanisch sprechenden Frauenland Okzitanien sowie der spanisch sprechenden Frauenrepublik Ebro an.

Östlich meines Landes erstreckten sich weitere Frauenländer mit den eingestreuten Reservaten und Männerprovinzen zwischen ihnen.

Basierend auf ethnologischen und soziologischen Arbeiten feministischer Forscherinnen des letzten spätpatriarchalen Jahrhunderts, war man fast überall auf der Welt dazu übergegangen, Frauen und Männer in getrennten Regionen leben zu lassen, wodurch das Problem der Vergewaltigungen mit einem Schlag gelöst wurde. Die Frauenländer konnten alle Arten von Regierungsformen umfassen, meistens jedoch beriefen sie sich nicht auf die spätpatriarchalen Demokratieversuche, sondern entwickelten eigene Regierungsformen, basierend auf den Kenntnissen über vorgeschichtliche, matriarchale Gesellschaften, die ebenfalls im letzten spätpatriarchalen Jahrhundert entwickelt worden waren und entscheidenden Einfluss auf das Selbstbewusstsein der damals lebenden Frauen hatten. Die Männerprovinzen wurden in der Form von Protektoraten durch Governementsregierungen geleitet, deren Gremien sich paritätisch aus Frauen der jeweils angrenzenden Frauenländer zusammensetzten. Alles bestens, so schien es, bis dann doch, unmerklich, etwas in unseren Ländern begann, schief zulaufen, sich Gewichte verschoben im Bild der Machtverteilung, die wir vorher nicht einmal wahrgenommen hatten, geschweige denn in ihrer Bedrohlichkeit erkannt hätten. Als fände die menschliche Entwicklung niemals Ruhe, als scheue die Geschichte letztendlich doch den selbstgenügsamen Frieden wie der Teufel weiland das Kruzifix.

Hätte man uns Dissidentinnen damals, in jungen Jahren, gefragt, wogegen wir eigentlich demonstrierten, wir hätten es nicht zu benennen gewusst. Es war ein vages Unbehagen, das sich die Rückenwirbel hinauf schlich, an den hochgezogenen Schultern und geduckten Köpfen zerrte und durch die Lungen strich, die Sehnsucht hatten, frei zu atmen - zu atmen!

Es mögen viele solcher Ereignisse gewesen sein, die dann zum ersten Ausbruch eines Widerstandes führten, zur ersten Erhebung, zum Schrei der Massen auf dem grossen Platz vor dem Kalitempel damals - - und meine Erlebnisse waren vielleicht nicht einschneidender, wie die anderer Dissidentinnen vom Ende des ersten frauenbezogenen Jahrhunderts. Aber dennoch schreibe ich sie auf, denn es waren meine Erlebnisse und meine Gefühle die eines der vielen kleinen Erdbeben lostraten, die die Frauenwelten zu erschüttern begannen, kleine Flutwellen..., die dennoch bisher alle im Sande verlaufen waren, weil moderne Gesellschaften moderat und weich wie Schwämme sind, die alles auffangen und verkraften, ohne krude Gewalt oder Menschen fressende Kriege... ausser, dass einige ersticken und untergehen -versinken, wie ich Maja, meine erste Liebe, in all den Ereignissen versinken sah, mit hochgereckten Armen über der weichen, unbesiegbaren Wasserflut moderner, frauenzentrierter Gesellschaften. Einzig ein rasch aufgetürmter Geröllhügel auf irgendeiner einsamen Passhöhe in den Alpen blieb zurück, Mahnung und nachdenklicher Platz meiner alten Erinnerungen.

Erinnerungen an das Jahr 69 (2069 n. d.Zt.)

„Wenn frau bedenkt, dass die Grossmutter meiner Aufzieherin noch zu hören bekam, ein uneheliches Kind gehöre nicht aufs Gymnasium, so ist doch erstaunlich viel passiert in kurzer Zeit. Zappel nicht so, Johanna, und wehe, du schaffst es, dir fünf Minuten, ehe wir losziehen, noch die weissen Hosen zu verdrecken!“

Meine Mutter stupste mich auf die Bank neben der Haustüre.

„Ich richte die Zwillinge her. Bleib‘ ja ruhig hier und warte, bis wir fertig sind.“

„Warum sagst du nicht ‚Meine Mutter‘, Mama?“

Sie stutzte und trat noch einmal über die Schwelle zurück.

„Und diese meine älteste Tochter geht kaum ein Jahr zur Schule! Was du immer alles hörst! Sie war nicht meine leibliche Mutter, sie war eine Lesbe, die mich und Tate Martin adoptierte. „

„Aber der war dein echter Bruder?“

„Natürlich. Wir waren die Kinder einer Pilotin, die während der Geschlechterkriege bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Er hat auch mit drei bereits den Leuten das Wort im Mund verdreht - wie du.“

„Also: Deine Oma wurde noch beschimpft, und deine Mama belohnt?“

„Richtig, mein Schatz, so schnell ging das. Deshalb freuen wir uns doch auch immer so auf die grossen Freiheitsfeiern. Wir wissen eben noch zu genau, wie übel es den Frauen vorher erging.“

Sie verschwand im Haus, und kurz darauf hörte ich sie in der Küche mit den Zwillingen, welche eigentlich das Frühstücksgeschirr spülen sollten, fröhlich herumschimpfen.

Die Feste: Grosse, landesweite Feiern mit Tänzen auf allen öffentlichen Plätzen, Würstchenbuden, langweiligen Ansprachen und feierlichen Szenen in den Tempeln, manches Mal ebenso langweilig wie die Ansprachen, manches Mal aber auch von irgendeinem seltsamen, spannenden Schauer umgeben.

„Je weniger Blumen, desto spannender.“ Ich blickte unser Vorgärtchen hinab. „Ah, und je wärmer, desto langweiliger!“

Es war warm auf dem Bänkchen, unsere Mutter schob die Zwillinge aus der Haustüre.

„Setzt euch zu Johanna. Aber wehe, ihr streitet!“

Überall rechts und links unseres Häuschens schoben nun die Mütter ihre Töchter mit Ermahnungen, liebevollen Klapsen oder Lachen aus den Häusern. Wir hockten in den Vorgärten, die Mutigsten und Aelteren flanierten bereits auf der Sippenstrasse herum. Mütter, welche keine kleinen Mädchen oder Säuglinge zu versorgen hatten, standen auch bereits vor den Gartentörchen, versammelten die Töchter um sich und riefen ungeduldig zu den anderen Häuschen herüber.

Unsere Mutter kam endlich heraus. Wie immer etwas seltsam wolkig, wenn sie die weisse Kleidung der Frühjahrsfeste trug, unser Kleinstmädchen im Rucksack auf dem Rücken.

„Schaut nicht so blöd!“ rief sie und scheuchte uns voran.

„Ich weiss, dass Weiss mir nicht steht! Werde genau so schnell dreckig wie meine Brut!“

„Kannst ja heute Nacht wechseln!“

Die älteste Nachbarstochter, eigentlich schon eine junge Frau, lachte.

„Ich mag das Rot auch lieber!“ Sie kokettierte mit den Hüften.“

„Na ja, in dem Alter!“ brummte unsere Mutter.

„Johanna, glotz‘ nicht so. Bis du eingekleidet wirst, Dauert es noch mindestens fünf Jahre. Ich habe auch sehr spät das erste Mal geblutet.“

„Anna geht sowieso gleich ganz schwarz, Mama!“ Die Zwillinge lachten und zeigten auf einen Fleck, der bereits irgendwie auf meine weisse Hose geflogen war.

„Womit sie eigentlich recht hat!“ Unsere Mutter stöhnte, knuffte mich fast liebevoll und trieb uns in der Schar der anderen Frauen und Mädchen die Sippenstrasse Richtung Stadtzentrum hinab.

„Ganz ihre Mutter! Schornsteinfegerin stünde ihr gut an!“

Das Vernehmungszimmerchen lag in einem der kleinen Bungalows, die ich schon bei meiner Ankunft bewundern durfte. Die Bungalows verstreuten sich locker zwischen Rhododendrenbüschen, natürlich blühend! und kaum frauhohen Koniferenpflanzen, wie in einer der früheren Feriensiedlungen.

Vor drei Generationen hätte es sich tatsächlich noch um solch eine ehemalige, kleinfamiliäre Kolonie handeln können, die im Zuge der Zurücknahme weiblichen Eigentums in ein Umerziehungslager verwandelt worden war. Doch diese der schnellen Verrottung spätpatriarchaler Leichtbauweise unterworfenen Hausansammlungen waren inzwischen zum grössten Teil verschwunden, und die Top Sieben liessen an anderen Orten, so wie hier am Kiemensee, grössere, weitläufige Parkareale anlegen, zur Resozialisierung unkontrollierbarer gesellschaftlicher Elemente. Jedes Schwererziehbarenheim aus den Zeiten unserer Urgrosseltern hätte sich vor Neid auf diese didaktische Wiederaufbereitungsanlage störender Elemente in den pädagogischen Grund und Boden geschämt: Kaum sichtbar teilten die mäandernden, weissen Kieswege, auf denen jeder Schritt, besonders bei Nacht, meterweit zu hören war, kleinere Einheiten von drei bis vier Bungalows ab, in welchen überschaubare Gruppen Schwererziehbarer oder Unzufriedener gemeinsam lebten, kochten, schliefen oder sich sonst wie beschäftigten. Das sollte ihre soziale Integrationsfähigkeit fördern, hatte aber den praktischen Nebeneffekt, dass man sich ein aufgeblähtes Zentrum mit Küchentrakt, Speisesaal, unberechenbaren Kalfaktoren sowie das tägliche, mehrmalige Zusammenkommen aller Demonstrantinnen aus allen Bungalows sparen konnte.

Keine wusste genau, wie viele genau in dem grossen, blühenden Areal lebten, das sich, oberhalb eines kilometerlangen Kiesstrandes, zwischen See und Gebirge wirklich von Horizont zu Horizont erstreckte. Unauffällig dazwischen gestreut waren die Betreuungs-, Wach- und Versorgungseinrichtungen in Bungalows untergebracht, die sich in keinster Weise von den Wohnbehausungen der Unzufriedenen unterschieden. Diese dezentralisierte Anordnung sollte die prinzipielle Gleichartigkeit aller Frauen in unserer Gesellschaft signalisieren. Sie diente dem Abbau von Angst und Aggressionen und stand für die Gleichwertigkeit aller Frauen im Angesicht der Göttin - egal, ob Delinquentin oder angesehene Husarenuniformträgerin. Gleichzeitig wusste jedoch keine genau, wo das Kommandozentrum des Lagers lag oder in welchen Bungalows die Ordonanzen mit ihren lustigen Käppis lebten. Legten sie die doch, wenn sie ausser Dienst waren, ab und mischten sich in Zivil als Frau unter die anderen Frauen, welche sich über die Wege zwischen den Rhododendrenbüschen bewegen mussten. Keine wusste, wo alle Einsitzenden registriert waren. Ja selbst sich in den kilometerlangen, mäandernden Wegen ohne Nummern und Namen zurechtzufinden zwischen den Rhododendrenbüschen, gelang wohl nicht einmal den langjährig dort Einsitzenden. Auch der Aufbau einer wie auch immer gearteten, konspirativen Infrastruktur hatte sich, wie ich bereits vorher erfuhr, als fast unmöglich erwiesen, denn nach einem uns schwer Erziehbaren nicht zu durchschauenden System wurden die Insassinnen alle drei Monate über das gesamte Areal umverteilt, neue Angeschuldigte kamen dazu, und oft wurden auch Ordonanzen als Spitzel in die Wohngruppen eingeschleust, die ausserdem meistens von so genannten ‚Sozialarbeiterinnen‘ angeleitet wurden, die auch in den Bungalows schliefen, assen, kochten und willkürlich ausgetauscht wurden.

Zwar kannten wir Frauen, die die Lager wieder verlassen durften, doch die Umerziehung hatte bei denen gut geklappt: Sie schauten mit unruhig flatternden Augenlidern irritiert an der Fragenden vorbei und erzählten, wie toll sie es dort gehabt hätten und dass sie nun vieles, besonders ihren eigenen Anteil an der seltsamen Unruhe oder Unzufriedenheit begriffen hätten, die, je nachdem von einer über protektionierten Mutterbeziehung, einer schlecht verarbeiteten Geschwisterrivalität oder einem unbewältigten Tochterstatus, jüngste oder älteste zumeist, und den daraus resultierenden Privilegien oder Nachteilen verursacht worden sei. Doch nun hätten sie, den psychologisch ausgebildeten Sozialarbeiterinnen sei Dank! und der grossen Göttin auch sowie der Magna Matres‘ Güte, ihre eigenen Mechanismen durchschauen gelernt und sich Techniken erarbeitet, sich dort wohl zufühlen, wohin sie das Schicksal gestellt hätte.

Andere Entlassene waren uns nie begegnet.

Über dem ganzen Teil des rot-weiss blühenden Rhododendrenparks, durch den mich die Ordonanzen in ihren blauen Jäckchen führten, lag das unaufhörliche, leise Knirschen vieler, vieler Füsse, die über die Kieswege schnurrten. Die Wege waren teilweise so angelegt, dass frau sich fürchtete, das eigene, kleine Labyrinth allzu weit zu verlassen, denn die Gefahr, sich zu verirren, je weiter sie sich von ihrer Bungaloweinheit entfernte, wurde grösser und grösser, und das einzige Vergehen, für das es drakonische Strafen geben konnte, war das nicht rechtzeitige Eintreffen zu bestimmten Terminen wie zum Beispiel Mittagessen oder die täglichen Supervisionssitzungen. Ausserdem wurden jeder Insassin, natürlich im Unterschied zu den Ordonanzen, die sich frei und wohl auch mit geheimen Orientierungshilfen im Gelände bewegen konnten, bei der vierteljährlichen Umverteilung Metallbänder unterhalb der Knie angeschlossen, die vermutlich über ein unsichtbares, elektronisches Leitsystem ihren ständigen Aufenthalt im Gelände signalisierten. Das überschreiten, besser, Durchschreiten bestimmter, unsichtbarer Grenzen führte zu empfindlichen Stromschlägen, die einer Frau für lange Sekunden den Atem rauben konnten. Das gleiche galt für Versuche, hoch zu hüpfen oder in Bauchlage unter den Elektroschranken durchzurobben. Neue und Neugierige, die die unsichtbaren Grenzen ihres Aufenthaltsortes noch ausprobieren mussten, liessen das schnell bleiben. Zugunsten der Institution muss gesagt werden, dass immer, in Sekundenbruchteilen nach Erhalt des Stromschlages ein Erste-Hilfe-Kommando zur Stelle war, um die leichten Verbrennungen der Schienbeine oder die Kreislaufstörungen infolge des Stromschlages, so schnell und so gütig es irgend ging, zu behandeln.

Die Ordonanzen führten mich durch die verschlungen Wege zwischen Hecken, blühenden Büschen, kleinen Baumgruppen und Bungalows, die allesamt den freien Blick auf die Ferne verstellten, hindurch. Ich schielte hin und wieder zu ihnen hinüber, um irgendwie festzustellen, auf welche Art und Weise sie sich wohl in dieser verwirrenden Einfalt zurechtzufinden vermochten. Mit einer gewissen, unbehaglichen Unruhe erwartete ich die Stelle, da sie mir die berüchtigten Kniebänder umlegen und mich in deren Gebrauch, besser, Nicht-Gebrauch, einführen würden.

Erinnerungen an das Jahr 69 (2069 n.d.Zt.)

Unsere Mutter war Putzfrau, ein hoch geehrter Beruf im nachpatriarchalen Zeitalter. Sie rutschte nicht für wenig Geld über die zugigen Steinfliesen schlecht beleuchteter Grossstadtvillen, sondern scheuerte, nie alleine, immer mit einer ganzen Gruppe ihres Standes zusammen, die Säulen und Marmormosaike der städtischen Tempel und Kultanlagen. Sie pützelte die ungezählten, vielfarbigen Scheiben der Glasfenster, sie staubte, oft unter allgemeinem Kichern und Lachen ihrer Kolleginnen, die Brüste, Hälse oder segnenden Hände der Statuen ab. Ja, unsere Putzkolonnen übernahmen sogar leichtere Restaurations- oder Malereiaufgaben in den Haupttempeln der Stadt. Es gab, da die menschenfeindliche Technologie auf ein Mindestmass beschränkt worden war, genügend Arbeit für alle Hände, und von schlechter Bezahlung konnte deswegen keine Rede sein, da die meisten öffentlichen Funktionen von den geheiligten Top Sieben über das Parlament bis hinunter, hinüber zu den Putzkolonnen der Tempelanlagen eben in den allgemeinen und freien Warenumtausch eingeschlossen waren, was freies Wohnen, Essen, Bekleidung und so weiter für alle garantierte: Im Falle meiner Mutter das Reihenhäuschen in der Sippenstrasse und ein rundum gesichertes Auskommen für sie und ihre vier Mädchen: Mich, die Aelteste, im Jahr 60 nach der Zeitenwende geboren, das Jüngste, kurz vor der Menopause meiner Mutter im Jahr 68 und im Alter in der Mitte dazwischen 64 geboren, die Zwillinge.

Wir waren, ausgehend vom gemütlichen Vernehmungsbungalow, schon recht weit in das Gewirr der verschlungenen Wege unter den blühenden Rhododendrenbüschen eingedrungen. Hin und wieder bedeuteten die Ordonanzen mir, stehen zu bleiben. Dann stülpten sie rasch eine dunkle Kapuze über meinen Kopf, drehten mich mehrmals um die eigene Achse, führten mich rechts oder links einen Weg hinab und befreiten mich anschliessend wieder für eine Weile von dieser Kopftüte.

Auf die Fussbänder wartete ich vergeblich. Stattdessen stand ich plötzlich, nachdem sie abermals das Versteckspiel mit der Mütze zelebriert hatten, vor einem hohen, fest geschmiedeten Tor, das in einer circa zweieinhalb Meter hohen Mauer war, auf deren Krone ich das tückische Glitzern in Beton eingelassener Glasscherben erkennen konnte. Diese wirklich altmodische Verwahranlage entlockte mir einen Ausruf des Erstaunens, und die Ordonanzen lächelten wissend in sich hinein.

„Ehre, der Ehre gebührt!“ murmelte die eine leise, während sie, tatsächlich mit einem grossen Schlüssel das Tor öffnete, das glücklicherweise nicht in den Angeln quietschte, was ich auch wieder für sehr übertrieben gehalten hätte.

„Voila! Villa Garbo!“

Mit einladender Geste zog die Ordonanz das Tor beiseite und lud mich ein, näher zu treten.

Das Gelände erinnerte an einen verwilderten Klostergarten, durch dessen dichtes Gestrüpp und Unterholz viele, kleine Trampelpfade liefen wie Wildfährten in einem Wald. Dieser circa hundert Meter breite Streifen wurde dahinter abermals von einer ungefähr zwei Meter hohen, glatten Betonmauer begrenzt, die allerdings keine Glassplitterzacken auf ihrer Krone trug.

Die höfliche Ordonanz war meinen Blicken gefolgt:

„In dem Streifen zwischen den Mauern lassen wir ein Rudel Doberfrauen frei herumlaufen.“

„Wie bitte?“ Ich starrte sie verdutzt an.

„Hunde! Scharfe Hunde! Die Sklavenhalter des Patriarchats benutzten sie bereits, man nannte sie damals ‚Dobermänner‘. Aber wir haben ja doch die meisten Patriarchalismen aus unserer Sprache entfernt! Der Göttin sei Dank!“

„Und den Grossen Sieben auch!“ echoten die anderen drei Ordonanzen und vollführten die rituelle Demutsgeste von der Stirne zur Brust hin.

Ich pfiff auf die Demut und starrte unruhig in das Unterholz hinein, als sie mich zur gegenüberliegenden Mauer führten. Sie pufften mich, wie immer, wenn ich den allgemeinen Gruss verweigerte, unwillig in die Seite.

Das innere Tor lag mehrere Schritte seitlich versetzt in der Mauer, was auf jeden Fall den Weg durch das Gelände der streunenden Hundemonster verlängerte. Es war wesentlich niedriger und schmaler als das äussere Tor, ja, eigentlich nur eine Türklappe, die nun mit einem seltsamen Pfeifton aufsprang. In der Ferne hörte ich das erste Mal die Hundemeute jaulen, und ich zuckte unwillkürlich zusammen.

„Gut - was? Der Pawlow‘sche Reflex. Jeramaja ab Sarga-“ die rituelle Ehrfurchtsgeste erfolgte abermals. „war sehr tierlieb und studierte Verhaltensforschung, Biologie und so weiter. Sie hat die ganze Anlage hier eingerichtet. Der Göttin sei Dank!“

„Und den Grossen Sieben auch!“ tönte es im Chor.

Jeramaja Alldott ab Sarga, eine der Vor-Vorgängerinnen der jetzigen Magna Matres, zweite Generation, auch Adoptivtochter einer lesbischen Partisanin aus den spätpatriarchalen Umstürzen wie meine Mutter, weshalb sie die allgemeine Tochterbezeichnung `all-`trugen, was sie als Kinder `aller Frauen` bezeichnete. Auf Abbildungen immer im Kreise ihrer jeweiligen Lieblingstiere zu sehen: Katzen, Hunde, Ziegen oder Geparden!

Direkt hinter der Türe führte eine schmale, hühnerleiterartige Schräge hinauf in einem Schacht, und ich starrte die Ordonanzen verdutzt an.

„Der Eingang oder Ausgang ist so konstruiert, dass frau nur kriechend, Kopf oder Fuss voran, hindurch kommt. Das Türchen ist nur durch einen Hebel weit oben zu öffnen, sodass die Hunde genügend Zeit haben, auf ihr Fresssignal herbeizustürzen.“

„Wo sind sie jetzt?“

„Im Zwinger, bis wir wieder draussen sind. Später werden sie aus der Luft versorgt. Vorwärts!“

Sie stiessen mich in den Schacht und schlugen die Tür hinter mir zu.

„Passen Sie gut auf!“ rief die Ordonanz - „Ihre Vorgängerin hat auf sehr unelegante Art und Weise Selbstmord gemacht!“ Und lachend hörte ich sie durch das Gebüsch wieder zurück zum Aussentor eilen.

Auf dem Gummen im Jahr 135 (2135 n. d. Zt.)

Ich habe im oberen Zimmer des alten Ferienhauses meinen Schreibtisch an das Fenster gerückt. Vor mir schiebt sich, hell und klar, das Sonnenlicht vom Stanser Horn herab, und die Schatten schmelzen über die Matten auf das Dorf zu. Bald werden alle Häuser im Berglicht liegen, und die Sonne streckt buchstäblich auch für uns, direkt am Waldhang des Gummen gelegen, ihre spitze Nase über die Bäume auf dem Grat hinter dem Haus - hinein in den Gemeinschaftsraum mit kühlem Kamin und zerschlissenen, Jahrzehnte alten Sitzpolstern.

Ich weiss nicht, welche Art Trauer mich immer noch überkommt, wenn ich Majas Namen auf das Papier setze. Als wären ihre Trauer oder ihr Ernst, für die sie wohl nie Worte finden konnte und durfte, auf mich übergegangen, um wenigstens hier oben, in der Einsamkeit unseres Exils, einmal benannt zu werden, einmal bedacht und begründet, denn damals schien es scheinbar keine Gründe mehr zu geben für Trauer oder Sehnsucht, schon gar nicht für eine Frau aus der Spitze unserer Gesellschaft. Nur wir Demonstrantinnen, wir ewig unzufriedenen Lesben, störten das harmonische Gesamtbild mit unseren historischen Pflastersteinen.

Als wir geboren wurden, waren die friedlichen Revolutionen und feministischen Reformen, die lesbischen Partisanenkämpfe, die radikalislamischen Rollbackversuche des Patriarchats und die grossen, weltweiten Geschlechterkriege längst Teil des Geschichtsunterrichts geworden. Dass eine Urgrossmutter, von der es wenig Fotografien gab, lange Jahre ihr Geld mit Selbstverteidigungskursen für Frauen und Mädchen verdient hatte, mutete mich wohl immer ebenso seltsam an wie frühere Generationen der Beruf des Henkers aus dem Mittelalter: Selbstverteidigung? Mitten im Frieden?

Ich kroch vorsichtig die glatte, schmale Schräge hinauf, was nicht so schwer war, da in die Seiten Haltegriffe eingelassen waren, und gelangte schliesslich auf einen mit Gittern überdachten Söller hinter der Mauer, von dem eine ganz normale Treppe hinunter in die Tiefe führte. Unten an der Treppe war der Hebel, um die Hühnerklappe zu öffnen, so dass die Klappe einmal-Treppe-rauf und dann Aussenschräge-runter Zeit hatte, ihr Signal abzugeben um die Hunde herbeizurufen. Obwohl der Söller sich sicher auf der Mauerkrone befand, hatte er, ausser einem hübschen Rundblick über das gesamte Gelände der Villa Garbo mit dem angrenzenden Bungalowareal darum herum, mir für eventuelle Fluchtaktivitäten nicht viel zu bieten, denn der Gitterkasten bestand aus fest einbetonierten, beinahe armdicken Eisenstangen, die, selbst in wochenlanger Arbeit, wohl nicht durchzusägen gewesen wären. Abgesehen ausserdem von der relativen Öffentlichkeit auf diesem Söller, der von allen Seiten und wohl auch mittels Fernglas von weit her einzusehen war. Weit hinter den Rhododendrenbüschen ahnte ich, mehr als ich es sah, die Insel mitten im Kiemensee, welche in spätpatriarchaler Zeit den Namen „Herrenchiemsee“ trug und heute, in der Epoche einer Frauen bewussten Sprache „Frauenchiemsee“ hiess. Vor mir, im Parkgelände, lag einladend und freundlich, das weisse Gebäude der Villa, in deren Mauern ich, wie es wohl der Wille der Top Sieben war, mein Leben und meine Werke beschliessen sollte. Vergessen oder vielleicht sogar verraten, wenn die didaktische, späte Umkrempelungsarbeit an Maya Margasdott ab Sarga, der Elevin des achten Ranges im Haupttempel der Stadt, erfolgreich abgeschlossen war.

Noch war es wohl nicht soweit, und ich fragte mich, auf welche Weise die kesse Husarenuniform wohl die Zuträgerinnenschaft bewerkstelligen wollte.

Maya - oder auch Dscheltisna Maya, wie ich sie manches Mal, in Anspielung an ihre strohgelben Haare, genannt hatte - und ihre Augen, die damals erstaunt, liebevoll und unsicher zugleich auf mich hinunterschauten, wie ich da die roten Marmorstufen befingerte und ihr einen nassen Wischlappen genau in den Weg gelegt hatte.

Dieser Blick schlug mir schnell hinunter in den Magen. Ich senkte den Kopf, und es fiel mir nichts Besseres ein, als verlegen weiterhin den roten Marmor zu ihren Füssen abzuwischen.

„Johanna! Mach‘ doch Platz!“ rief meine Frau Mutter von irgendwo her, und Mayas Stimme fragte leise:

„Magst du mich nicht durchlassen?“

Da stand ich auf, durch die Stufen noch kleiner als im Vergleich zu ihr sowieso, und wusste mit einem Male, dass ich sie wirklich nicht durchlassen wollte, dass ich diese Augen vor mir sehen wollte, diese schmale Gestalt in den spirituell weissen Gewändern, die irgendwie ungeschickt, als handele es sich um die Kutte eines Bajazzo um ihren Körper hingen, diese Hand nicht lassen, die nun vorsichtig das Geländer berührte.

„Nein!“ Ich grinste und wischte die verschwitzten, putzfeuchten Haare aus dem Gesicht, während mit die Luft im Magen stehen blieb, festgehalten von der seltsamen Intensität und Trauer die ich plötzlich in ihren Augen entdeckte.

„Dann aber gleich, Beide zugleich!“ Lächelte sie, nahm sachte meinen Arm und schob mich so beiseite, dass sie die Treppe weiter heruntersteigen konnte und nun mit mir auf der gleichen Stufe stand. Irgendwie prüfend schauten wir uns weiter an.

„Du bist immer noch einen Kopf grösser als ich“, flüsterte irgendein leichtsinniger Vogel in mir, und sie antwortete: „Und du dafür zwei Turnschuhgrössen breiter!“

„Ich bin Johanna Helgesdott und arbeite in der Bau- und Putzkolonne meiner Mutter mit.“ Unbestimmt wies ich hinter mich in die Tiefe des Kultraumes hinein, wo ich die anderen Frauen bei der Arbeit wusste.

„Maya - ich heisse Maya“ antwortete sie einfach und spätestens da hätte ich erkennen sollen, zu welcher Frau ich meine Augen aufgeschlagen hatte! Dort, an der vornehmen Zurücknahme ihres Abstammungsnamens, hätte es mir auffallen müssen, dass Maya nicht nur irgendeine der Elevinnen war, sondern eine ab Sarga, eine jüngste Tochter, zur direkten Nachfolgerin einer der grossen sieben Alten bestimmt und erzogen dazu von Jugend auf!