Jenseits von Timbuktu - Stefanie Gercke - E-Book

Jenseits von Timbuktu E-Book

Stefanie Gercke

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Beschreibung

Verwirrende Gefühle, atemlose Spannung, unwiderstehliches Afrika

Anita ist auf dem Gipfel ihres Glücks, da raubt ihr das Schicksal die Menschen, die sie liebt. Um nicht in Trauer zu versinken, geht sie der abenteuerlichen Vergangenheit ihrer Eltern nach. Sie stößt auf viele Fragen, deren Antworten nur in Afrika zu finden sind. Dort wird Anita mit einer Wahrheit konfrontiert, an der sie zu zerbrechen droht. Aber sie lernt auch jemanden kennen, der Halt und Nähe verspricht. Verheißt er auch ein neues Glück?

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Seitenzahl: 1115

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Copyright

1

Die Geschichte begann an Anita Carvalhos Geburtstag, einem ungewöhnlich heißen Julitag im Jahr 2008, auf einem Segelboot vor der südöstlichen Küste Mallorcas.

Eineinhalb Jahre später, mitten im afrikanischen Busch, in einem stinkenden, kakerlakenverseuchten Loch, fragte sich Anita, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wären sie an diesem Morgen nicht zu einer Segeltour aufgebrochen.

Wären sie an Land geblieben und hätten stattdessen einen Bummel durch Palmas Altstadt gemacht und anschließend ihren Geburtstag auf der Terrasse vom Can Carica gefeiert.

Hätte ihre Mutter keine Migräne bekommen.

Aber sie waren nicht an Land geblieben, sie waren hinausgesegelt, und ihre Mutter hatte Migräne bekommen.

An jenem Tag saß Anita auf dem Vordeck der Segelyacht und konnte es nicht fassen, dass das Leben so schön sein konnte. Die Welt schimmerte wie eine gläserne Perle. Kein Hauch regte sich. Der Himmel war endlos, das Meer seidenglatt, und Salzschleier drifteten glitzernd in der Luft. In der Ferne glänzten die weißen Häuser der Küstenorte zwischen sattem Piniengrün, die Berge, die das Rückgrat der Insel bildeten, waren hingewischte Pinselstriche in Monet-Blau.

Ein Tag zum Träumen, dachte Anita und sah einer Möwe nach, die auf lautlosen Schwingen in die blaue Unendlichkeit glitt. Ein Tag, an dem die Welt heil ist. Ein perfekter Tag, den man bis in alle Ewigkeit dehnen möchte. Träge lauschte sie dem leisen Plätschern am Rumpf des Bootes, das in der Mittagsflaute dümpelte. Die gleißende Julihitze, die über der Insel lag, dämpfte alle anderen Geräusche. Ihre Gedanken verschwammen.

Zu ihrem Geburtstag hatte ihre Mutter sie und Frank für eine Woche in das kleine Haus in Mallorcas warmen Hügeln eingeladen, das ihre Eltern vor vielen Jahren von einem Künstler  – einem Keramiker, der recht bekannt war  – gekauft hatten. Es lag im Inneren der Insel und war aus dem typischen goldenen Sandstein der Gegend gebaut worden. Ihre Eltern hatten das Haus mit viel Eigenarbeit umgebaut, alte Wände abgedichtet, neue gezogen, Fenster hineingebrochen und den Boden gefliest. Zwei Schlafzimmer waren so entstanden, ein Badezimmer, die kleine Küche und ein Wohnzimmer, dessen zweiflügelige Glastür auf eine sonnige Terrasse führte und einen wunderbaren Blick über das weite Tal zum Meer bot, das als intensiver blauer Farbklecks den Horizont markierte. Der Ort herrlicher Erinnerungen an lange, müßige Ferientage, der Ort, an dem sie und ihre Eltern auf innigste Weise glücklich gewesen waren.

Einst hatte das Häuschen wohl als Schweinestall für die große Finca gedient, die fünfhundert Meter weiter am Berghang lag, denn an windstillen, heißen Tagen meinte Anita, in der winzigen Küche noch einen Hauch von Schwein riechen zu können. Aber dann wehte der himmlische Duft von Orangenblüten herein und vertrieb die Erinnerung an die ursprüngliche Bestimmung des Häuschens.

Seit dem Tod ihres Vaters 1985 verbrachte ihre Mutter die meiste Zeit des Jahres hier. Sie war gerade 77 Jahre alt geworden, schlank und von endlosen Stunden auf dem Golfplatz  – den einzigen Luxus, den sie sich leistete  – und der Arbeit in ihrem kleinen Garten von der mediterranen Sonne lederbraun gebrannt. Anita hatte mit Vergnügen bemerkt, dass der Besitzer der großen Finca, ein distinguierter Mallorquiner, der ebenfalls verwitwet war, immer öfter ihre Gesellschaft suchte, seit beide festgestellt hatten, dass sie die Leidenschaft für Golf und das Gärtnern teilten.

Schritte erklangen, ihre Mutter, in weißen, weiten Hosen und lockerem marineblauem Oberteil, erschien an Deck und machte sich daran, den Tisch im Cockpit aufzuklappen und Leinensets und Besteck zu verteilen. Anita öffnete die Augen und reckte sich ausgiebig. Die Segeltour war Franks Geburtstagsüberraschung, und für den Abend hatte er einen Tisch im Can Carica gebucht, dessen quirliger Inhaber den besten Fisch in Salzkruste zubereitete, der an Mallorcas Ostküste zu finden war. Ihre Mutter, die sich ab und zu ein Essen dort leistete, hatte ihn empfohlen. Anita stand auf, um zu helfen.

»Frank hat mir lediglich erlaubt, die Salatsoße zu machen, und mich an das übrige Menü nicht herangelassen.« Ihre Mutter stellte eine Flasche mit einer honigbraunen Flüssigkeit auf den Tisch. »Es ist sehr clever von dir, einen zu heiraten, der so gut kochen kann«, bemerkte sie mit einem blau funkelnden Seitenblick auf Anita. »Wenn ich mich recht erinnere, gelingen dir allenfalls Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose.«

Anita lachte vergnügt, während sie das im leichten Wind flatternde Sonnensegel über dem Cockpit festzurrte. »Aber nein. Rühreier kann ich auch. Ziemlich leckere sogar. Die klassische Rollenverteilung gilt eben nicht mehr. Heute können Männer kochen und manche Frauen eben nicht.«

»Und wie kommt er mit deinem Temperament zurecht?«

»Na, aber ganz prima, Anna-Dora.« Frank kam mit einem üppig beladenen Tablett den Niedergang hoch und grinste seine zukünftige Schwiegermutter an. »Bei mir schnurrt sie wie ein Kätzchen, und die übrige Zeit ist sie handzahm.« Er wechselte ein verstohlenes Lächeln mit Anita und stellte das Tablett vorsichtig auf den Tisch. Sein ärmelloses schwarzes T-Shirt klebte ihm am Körper, das Haar war verschwitzt. Mit einem Hemdzipfel trocknete er sich das schweißglänzende Gesicht ab. »Heiß wie in der Hölle da unten.«

Sie setzten sich, und Frank legte je zwei Langustenhälften auf die Teller, reichte Knoblauchbrot und den Salat herum und goss Wein ein. Anita naschte vom Salat und spießte mit verzücktem Ausdruck ein Stück Languste auf. »Der Salat ist köstlich, die Langusten sind himmlisch, und das Knoblauchbrot würde jeden Vampir in die Flucht schlagen!« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.

Auch ihre Mutter hatte mit angestoßen und beschäftigte sich jetzt mit abwesendem Ausdruck mit ihrer Languste. »Denkt ihr auch an Kinder?«, fragte sie dann wie beiläufig.

Zu ihrem eigenen Erstaunen spürte Anita, dass sie rot wurde. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie diese Gefühlswallung das letzte Mal überkommen hatte. Als Schulmädchen vermutlich. Sie legte die Hände an ihr glühendes Gesicht und sandte Frank dabei einen schnellen Blick unter gesenkten Wimpern zu, worauf ein kleines Lächeln seine Mundwinkel kräuselte und er mit einem winzigen Nicken antwortete.

Anna-Dora Carvalho war eine aufmerksame Beobachterin. »Meine Güte, ist es etwa schon so weit?«, rief sie. »Das ist ja wunderbar. Ganz wunderbar. Enkelkinder …« Ihre Augen glänzten. »Ganz wunderbar. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue! Wissen es deine Eltern schon, Frank?«

Er schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe seit Wochen nichts von ihnen gehört, also geht es ihnen sicher gut. Sie werden irgendwo tief im Dschungel stecken. Seit sie diesen kleinen Indianerstamm am Amazonas entdeckt haben, sind sie völlig aus dem Häuschen und für nichts anderes ansprechbar. Aber ich nehme an, sie werden sich auch freuen.«

Die drei am Tisch schwiegen versonnen. Jeder träumte seinen Traum. Von Wärme. Von Gemeinsamkeit. Von Liebe. Einem einfachen Leben, dachte Anita. Nichts Großes. Nichts, was den Neid der Götter der Finsternis herausforderte.

Frank hob sein Glas. »Alles Liebe zu deinem Geburtstag, mein Schatz.« Er lehnte sich vor und küsste sie ausgiebig. »Noch zwei Wochen, dann hab ich dich ganz«, murmelte er, seine Lippen immer noch auf ihren. Ihr Atem mischte sich. Anitas Puls galoppierte.

»Dreizehn Tage«, flüsterte sie. »Welch ein unbeschreiblich herrlicher Tag ist das heute.« Sie schmiegte ihr Gesicht an seines, war süchtig nach Hautkontakt, nach intimer Zweisamkeit. Der Anfang meines Lebens, dachte sie, der Anfang von meinem Traum, der nie ein Ende haben wird.

Ihre Mutter beobachtete sie und lächelte auf eigenartige Weise. »Oh, da fehlt noch die Hauptüberraschung.« Ohne eine weitere Erklärung stand sie auf und stieg den Niedergang hinunter.

Anita schaute ihr verwirrt nach. »Noch ein Geschenk? Was das wohl ist? Hoffentlich hat sie nicht zu viel Geld ausgegeben. Ihre Pension ist nicht sehr üppig.«

»Vielleicht schenkt sie dir ein Schmuckstück aus ihrem Bestand. Das hat sie doch früher schon getan.«

Aber ihre Mutter schenkte ihr keinen Schmuck. Sie legte einen schlichten weißen Umschlag vor ihr auf den Tisch, zwischen Brotkrümeln, Salzstreuer und dem Keramikgefäß, das die Knoblauchbutter enthielt. Anita nahm ihn verwundert hoch. Er hatte einen Fettfleck abbekommen. Sie rieb ihn mit der Serviette weg, wie um Zeit zu gewinnen, ehe sie ihn mit dem Fingernagel aufschlitzte. Dabei blickte sie ihre Mutter zweifelnd an, fand, dass sie merkwürdig erregt wirkte, denn ihre Augen glänzten fiebrig, und sie konnte ihre Hände offensichtlich kaum stillhalten. Der Umschlag musste etwas ganz Besonderes enthalten.

Und das war es. Etwas ganz Besonderes. Es war eine Einladung für Anita und Frank, zusammen mit ihr nach Südafrika zu fliegen. Anita starrte die Worte an, die fein säuberlich mit blauer Tinte auf weißen Leinenkarton geschrieben standen: Flug von Hamburg nach Frankfurt und weiter nach Durban, Südafrika, Aufenthalt in einem Hotel namens Cabana Beach in Umhlanga Rocks, KwaZulu-Natal. Rückflug zwei Wochen später auf derselben Route.

»Aber Mama«, brach es konsterniert aus Anita heraus.

Ihre Mutter hob lachend eine Hand. »Es ist an der Zeit. Das hätte ich schon vor sehr langer Zeit machen sollen.«

»Zeit … wozu?« Anita sah sie hilflos an.

Wieder dieses Lachen. Aufgeregt, ein bisschen überdreht. Glücklich. Glücklicher, als sie ihre Mutter seit Langem erlebt hatte. »Du wirst schon sehen.«

Anita fand keine Worte. Was war nur in ihre Mutter gefahren? Woher wollte sie das Geld nehmen? Rasch überschlug sie die Kosten. Unter fünftausend Euro würde ihre Mutter kaum davonkommen, schätzte sie und erschrak.

»Ausgeschlossen«, sagte sie laut. »Mama, das ist zu viel! Viel zu viel.«

»Anita hat recht, Anna-Dora«, mischte sich Frank ein. »Das ist einfach zu viel. Lass uns wenigstens die Flüge selbst bezahlen.« Liebevoll streichelte er seiner Schwiegermutter über den Arm. Ihr Verhältnis war von Anfang an sehr gut gewesen. Er mochte sie sehr.

Anna-Dora hob lachend beide Hände. »Geht nicht. Sind schon bezahlt.«

Anita und Frank sahen sich verblüfft an. Anita zuckte in einer ratlosen Geste die Schultern.

»Ich hab’s gespart. Macht euch keine Sorgen.« Anna-Dora hatte den Blickwechsel der beiden offenbar bemerkt.

»Von deiner Rente?«, platzte Anita heraus.

Wieder lachte ihre Mutter. »Keine Angst, ich habe noch ein paar Reserven. Meine Rente brauchte ich nicht anzutasten. Und nun möchte ich nichts mehr über Geld hören. Freust du dich nicht?« Es klang vorwurfsvoll.

Anita riss sich zusammen und drückte ihre Mutter fest an sich. »Doch, Mama, natürlich. Danke. Das ist das überraschendste Geschenk, das ich je bekommen habe  – und das üppigste.« Es kam seltsam hölzern heraus, und ein merkwürdig unruhiges Gefühl setzte sich in ihr fest, besonders als sie bemerkte, dass ihrer Mutter die Tränen in den Augen standen. »Es ist an der Zeit … Willst du mir nicht verraten, was du damit meinst?«

Anna-Dora blickte durch sie hindurch, war ganz offensichtlich in Gedanken weit weg. »Nein, das will ich nicht. Nicht jetzt. Gedulde dich noch ein wenig. Wir fliegen am 20. Januar. Es dürfte doch kein Problem für euch sein, dann Urlaub zu bekommen, nicht wahr? Einen Mietwagen habe ich auch schon bestellt.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stand sie auf und fing an abzudecken. Sie kippte die Langustenreste in eine Plastiktüte und verknotete sie, damit nicht das ganze Boot danach stank, anschließend trug sie die abgegessenen Teller in die Kombüse.

Frank sah ihr nach. »Du musst mit deiner Gynäkologin sprechen, ob du im Januar noch eine solche Reise machen kannst.«

»Das mache ich, wenn wir zurück in Deutschland sind. Der siebte Monat wird die Grenze sein. Vielleicht kann Mama den Flug auf einen früheren Termin umbuchen.«

Er lehnte sich zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. »Hast du irgendeine Vorstellung, was Anna-Dora meint? Wozu ist es jetzt Zeit? Es muss etwas mit dem Leben deiner Eltern in Zululand zu tun haben, da bin ich mir sicher.«

Sie hob die Schultern. »Ich habe keinen Schimmer. Ich habe schon mein Gedächtnis gründlich durchforstet, aber mir ist nichts eingefallen. Über ihre Zeit in Zululand weiß ich so gut wie gar nichts.«

»Hast du deine Eltern denn nie gefragt? Sie haben doch immerhin rund zwanzig Jahre dort gelebt.«

»Doch, schon«, antwortete sie und spielte dabei mit einer Gabel. »Immer wieder. Jahrelang. Aber ich habe nie wirklich Antworten bekommen. Ich weiß nur, dass sie dort eine Farm hatten, die sie Timbuktu genannt haben. Früher haben sie davon geschwärmt, vom einfachen Leben im Einklang mit der Natur, den freundlichen Menschen, so ganz allgemein. Über ihr tägliches Leben in Zululand haben sie aber nie ein Wort verloren. Dann ist mein Vater gestorben, ganz plötzlich an einer banalen Grippe, und danach hat meine Mutter endgültig jeden Versuch von mir abgeschmettert, dieses Thema anzuschneiden. Und nun das! Ich versteh das alles nicht.«

Das letzte Mal, als sie mit ihrer Mutter darüber sprechen wollte, hatte die nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht. »Das ist eine lange Geschichte«, hatte sie gesagt und sehr abweisend und geradezu unfreundlich dabei ausgesehen. »Eine für kalte Wintertage, wenn wir am Kamin sitzen.« Mit leidender Miene hatte sie die Augen zusammengekniffen und sich über die Stirn gestrichen.

Anita kannte diese Geste seit ihrer frühesten Jugend. Ein Migräneanfall war im Anzug. Mindestens zwei Tage lang war sie danach kaum ansprechbar, und ihr blieb nur die bohrende Frage, was in Zululand vorgefallen war, dass die bloße Erwähnung dieses heftige Verhalten auslösen konnte. »Wir haben gar keinen Kamin«, hatte sie leise gesagt, aber ihre Mutter hatte sich verschlossen und in sich zurückgezogen.

»Ich bin immer gegen eine Mauer aus Schweigen und Abwehr angerannt. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Ich möchte wirklich wissen, was vorgefallen ist, dass sie jetzt aus heiterem Himmel beabsichtigt, dorthin zurückzukehren, und vor allen Dingen, warum sie uns mitnehmen will.« Sie stand auf und stapelte die leeren Schüsseln ineinander. »Lass uns den Rest hinunter bringen.«

»Langsam bin ich sehr gespannt darauf, was uns dort erwartet.« Frank nahm ihr die Schüsseln und Pfeffer- und Salzmühle ab. »Ich bringe das in die Kombüse.«

Anita legte die Tischsets zusammen und verstaute sie unter der Sitzbank. Ihre Mutter kam gleich darauf den Niedergang hoch, dicht gefolgt von Frank.

Anna-Dora setzte sich ans Ruder, krempelte die Hosenbeine bis zum Knie auf, verknotete das Oberteil in der Taille und strich sich anschließend mit beiden Händen ihr weißes Haar hinter die Ohren. Sie legte eine Hand aufs Steuerrad. »Ich pass auf das Boot auf. Geht ihr ruhig schwimmen.«

Anita zögerte. »Wir sollten den Anker auswerfen, damit nichts passiert … Ich meine, ein Boot zu steuern ist doch etwas anderes, als ein Auto zu lenken.«

Anna-Dora schmunzelte nachsichtig. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich kann ziemlich gut segeln. Ich habe meine Feuertaufe vor der Küste Natals in den Brechern des Indischen Ozeans erhalten. Danach kommt mir das Mittelmeer vor wie eine Badewanne.«

»Ui!«, machte Frank anerkennend. »Der Indische Ozean. Eines der schwierigsten Segelreviere der Welt. Unberechenbares Wetter, meterhohe Wellen und viele hungrige Haie im Wasser.«

Anita starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. »Du hast nie davon erzählt, dass ihr gesegelt seid. Du und Papa.«

»Nein«, sagte Anna-Dora und schaute an ihrer Tochter vorbei zum südlichen Horizont. »Davon habe ich dir nie erzählt.«

»Hast du einen Segelschein?«, fragte Frank. »Ich muss das fragen, sonst darf ich dich laut Chartervertrag nicht ans Ruder lassen.«

»Sporthochseeschifferschein«, war die lakonische Antwort. »Alles in einem Wort geschrieben.«

»Alle Achtung!« Frank grinste überrascht. »Okay. Das reicht. Komm, Liebling, das Boot ist in besten Händen. Deine Mutter dürfte auf hoher See einen Tanker steuern. Außerdem herrscht totale Flaute. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Da könntest sogar du am Ruder sitzen.«

Er kletterte über die Reling, sprang kopfüber ins Wasser und tauchte in einem Sprudel von Luftblasen wieder auf.

»Komm zu mir«, rief er ihr zu und streckte die Arme aus.

Anita warf ihrer Mutter noch einen zweifelnden Blick zu, schob aber dann ihr ungutes Gefühl energisch beiseite und folgte ihm mit einem Kopfsprung ins türkisblaue Wasser. Warm und seidig weich umspülte es ihren Körper. Sie schwamm Frank in die Arme.

Anna-Dora sah ihnen nach und wischte sich dabei fahrig mit einer Hand über die Stirn, als säße da ein lästiges Insekt. Die Hitze drückte, die Segel hingen schlaff herunter, das Meer lag bleiern unter dem brennenden Himmel. Ihr Kopf fühlte sich geschwollen an, und die Sonnenstrahlen stachen ihr in den Augen.

Anita tauchte neben Frank auf. »Sporthochseeschein … Was bedeutet das?«, rief sie wassertretend.

»Sporthochseeschifferschein«, korrigierte Frank sie. »Das heißt, sie darf alle Meere befahren, unter Segel und Motor. Ich muss schon sagen, das hätte ich Anna-Dora nicht zugetraut. Ich werde mit jeder Sekunde neugieriger auf das, was in Natal auf uns wartet.«

Neugierig ist die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Anita. Ich platze geradezu. Mit beiden Armen warf sie sich vorwärts und kraulte davon. »Fang mich!«, schrie sie.

Frank holte sie mühelos ein. Nachdem sie mehrere Male das Boot umrundet und sich anschließend eine übermütige Wasserschlacht geliefert hatten, kletterten sie wieder an Bord. Nass wie sie waren, warfen sie sich auf ihre Liegekissen auf dem Vorschiff, hielten sich an den Händen und schauten den Möwen nach, die über den azurblauen Himmel in die Ferne glitten. Es roch salzig nach Meer. Nach Freiheit.

Nach Leben, dachte Anita und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Das ungute Gefühl verzog sich in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins.

Über dem sonnenverbrannten Inland der Insel hatte die Sonne indessen die letzte Feuchtigkeit aufgesaugt. Hitze knisterte in den Pinien, die Mallorquiner legten sich zur Siesta nieder, die Touristen rösteten sich entweder am Strand oder suchten Abkühlung an der Bar oder in den Swimmingpools. Die aufgeheizte Luft stieg vom heißen Boden auf und traf auf kühlere, feuchtere Schichten. Wassertröpfchen entstanden, die sich bald zu milchigem Dunst vereinigten. Er wurde dichter und schwerer, und nach und nach ballte er sich zu Wolken.

Die Keimzelle eines gewaltigen Gewitters war geboren.

Anita und Frank, die im lichten Schatten des Sonnensegels dösten, schienen nichts davon zu merken. Ihre Finger hatten sie fest ineinander verflochten, die Augen geschlossen.

Anna-Dora saß neben dem Ruder auf der Bank und hielt das Rad locker mit einer Hand, mit der anderen wischte sie sich den Schweiß vom Gesicht. Besorgt spürte sie, dass sich ein heißer Druck von der Größe eines Tennisballs in ihrem Hinterkopf zusammenballte. Für gewöhnlich verhieß das eine Drei-Tage-Migräne. Früher hatte ihr nicht einmal die Hitze in Afrika etwas ausgemacht. Seit sie jedoch die siebzig überschritten hatte, setzte ihr schwüles Wetter immer mehr zu. Plötzliche Blitze vor ihrem Blickfeld kündigten den nächsten Anfall an. Stöhnend ließ sie den Kopf in den Nacken fallen, wobei sie das Ruder versehentlich fahren ließ.

Das Boot reagierte fast unmerklich, aber Frank richtete sich dennoch auf. »Alles in Ordnung?«, rief er ihr zu.

Anna-Dora nickte stumm, bemüht, nicht zu zeigen, wie sie sich fühlte. Sie hatte nicht vor, ihrer Tochter diesen Tag mit Gejammer über Kopfschmerzen zu verderben.

»Bekommst du Migräne?«, rief er besorgt. »Sollen wir den Motor anwerfen und in den Hafen fahren?« Er stemmte sich auf die Füße.

»Ach was, nein. Ich nehme ein Aspirin, und dann geht’s wieder.« Hoffentlich, dachte Anna-Dora und strich sich über die Stirn. »Aber ich glaube, das Wetter ändert sich.«

Ihre Annahme wurde Minuten später bestätigt. Eine plötzliche Bö ließ Staubwirbel über den Strand tanzen, die verkrüppelten Pinien am Ufer schüttelten sich, und das Meer bekam eine Gänsehaut. Das Segelboot schwankte kurz und heftig, wobei Frank fast die Balance verlor. Der Dunstschleier über dem Horizont verdichtete sich zu einer soliden, giftig violetten Wolkenwand. Der erste Donner rollte übers Meer. Noch war er kaum wahrnehmbar, verursachte eigentlich nur eine Erschütterung der Luft.

Frank aber hatte ihn gehört. »Ich muss die Segel reffen«, rief er.

Auf einmal fegte ein starker Windstoß übers Wasser, die Segel blähten sich mit einem Knall, und das Boot nahm Fahrt auf. Mit einem Satz war Frank beim Baum und wickelte eilig das überschüssige Tuch des Großsegels mittels der Handkurbel um den Baum, den er anschließend gegen weiteres Verdrehen sicherte. Seine Badeshorts flatterten in der steifer werdenden Brise.

»Herrlich! Wir bekommen endlich Wind«, schrie er Anita zu, die das hin und her schlagende Sonnensegel festhielt. »Hol bitte die Schwimmwesten.«

Der Himmel zog sich zusehends zu. Das strahlende Blau war von einem schweren Bleigrau verschluckt worden.

»Das gibt ein Unwetter!«, rief Frank mit wilder Begeisterung.

Anita lachte. Frank liebte extremes Wetter. Stürme, Gewitter, Hagel, Platzregen  – alles, was andere Leute sofort Schutz suchend unter den nächsten Unterstand flüchten ließ, wirkte auf ihn wie ein Aufputschmittel.

»Kannst du das Ruder noch für einen Moment übernehmen?«, rief er Anitas Mutter zu, während er die Liegekissen einsammelte, die von der Bö übers Deck verteilt worden waren. »Ich übernehme es, wenn Anita die Schwimmwesten gebracht hat. Wir nehmen Kurs auf den Hafen, und zwar schleunigst.«

Breitbeinig stand er da, den Kopf zurückgeworfen, das kurze, dunkelblonde Haar verweht, die hellblauen Augen funkelnd vor Lebensfreude. Geschmeidig balancierte er die Schieflage des Decks aus und winkte Anita lachend zu. »Himmel, ist das Leben schön!«

»Sei vorsichtig«, mahnte sie ihn und sprang den Niedergang hinunter, um die Westen zu holen.

Anna-Dora nickte, packte das große Holzrad fester und bereitete sich darauf vor, den von Frank angewiesenen Kurs einzuschlagen. Der Winddruck auf den Segeln wurde stetig stärker, sie spürte den Zug am Rad und in ihren Armen. Die Muskeln an ihren Oberarmen traten hervor, so kräftig musste sie dagegenhalten.

Anita öffnete die Tür zu der großen Kajüte im Bug. Die aufgestaute Hitze schlug ihr wie eine Wand entgegen. Sofort brach ihr der Schweiß aus und strömte ihr über Ausschnitt und Rücken, obwohl sie nichts weiter als einen äußerst knappen Bikini trug. Seit zwei Wochen war es brütend heiß, regte sich fast kein Lüftchen, was besonders im Schiffsinneren jede Bewegung zu einer schweißtreibenden Anstrengung machte. Sie hörte die Wellen hart gegen den Bootsrumpf klatschen und hoffte, dass sie einen Wetterumbruch ankündigten. Sie sehnte sich nach einem erfrischenden Regenguss.

Die Schwimmwesten waren unter ihrer Koje verstaut. Die Schublade hatte sich verkantet, und sie benötigte einige Zeit, bis sie ihrem kräftigen Rucken nachgab und sich wieder öffnen ließ. Sie zerrte die Westen heraus, prüfte, ob sie einsatzbereit waren. Anschließend klemmte sie sich den Stapel unter den Arm, verließ die Kajüte und durchquerte den Wohnbereich, in dem eine breite, weich gepolsterte Sitzbank mit viel Stauraum darunter und ein solider Tisch eingebaut waren. Hinter dem gut gefüllten Bücherschrank verbarg sich die winzige Küche.

Als sie den Fuß auf die unterste Stufe des Niedergangs setzte, passierten zwei Dinge auf einmal. Sie vernahm ein eigenartiges Geräusch  – so als würde eine Kokosnuss aufgeschlagen  –, und gleichzeitig legte sich das Boot mit Schwung auf die andere Seite. Der Boden unter ihr kam hoch, sie fiel hin und stieß sich den Kopf an der Tischkante. Mit einem saftigen Kraftausdruck rappelte sie sich auf. Das Wendemanöver, das ihre Mutter ausführen wollte, war offensichtlich aus irgendeinem Grund schiefgegangen. Vermutlich war der Baum herumgeschwungen, und es war zu einer Patenthalse gekommen  – eine höchst gefährliche Situation an Bord.

Ein flimmernder Angstknoten setzte sich in ihrer Magengegend fest, obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum. Das Boot schwamm schließlich noch und lief hart am Wind, also wurde es von jemandem gesteuert. Entweder von ihrer Mutter oder von Frank. Trotzdem zitterten ihr die Hände. In fliegender Eile raffte sie die Schwimmwesten zusammen, die ihr bei dem Sturz heruntergefallen waren, und hastete hoch. Mit dem Fuß stieß sie die Tür zum Deck auf und trat hinaus.

Das Boot schoss mit hoher Geschwindigkeit übers Wasser. Ihre Mutter saß im Cockpit, hatte die Hände in die Speichen des Ruders verkrallt und starrte kalkweiß mit aufgerissenen Augen ins Leere. Frank war nirgendwo zu sehen.

Anita musste sich an der Reling festhalten. In den kabbeligen Wellen bockte die Yacht wie ein störrischer Esel. »Wo ist Frank?« Die Angst brach durch, fraß sich rasend schnell durch ihren Körper, machte ihre Stimme brüchig.

Ihre Mutter antwortete nicht. Ihr starrer Blick flackerte.

»Mama, wo ist Frank?«

Wieder bekam sie keinerlei Reaktion. Nicht einmal eine, die ihr bestätigt hätte, dass ihre Mutter sie überhaupt gehört hatte.

Anita warf die Westen ins Cockpit und lehnte sich über die Reling. »Frank!«, rief sie. Der Wind riss ihr die Worte vom Mund und wirbelte sie hinaus über das aufgewühlte Meer.

Niemand antwortete. Jetzt verbiss sich die Angst wie ein wildes Tier in ihrer Kehle. »Frank!«, schrie sie noch einmal, bekam aber wieder nichts als das Echo ihrer eigenen Worte. Sie packte ihre Mutter an der Schulter und schüttelte sie. »Mama, wo ist Frank?«

Anna-Dora Carvalho bewegte nur benommen den Kopf. In diesem Augenblick erinnerte sich Anita an den dumpfen Schlag, dieses grauenvolle Geräusch, als platzte eine Kokosnuss, und ihr wurde schlagartig klar, was geschehen sein musste.

»Frank!«, schrie sie, rannte wieder hinüber zur Reling und lehnte sich weit vor. »Liebling!«

Weiße Katzenköpfe tanzten auf den Wellen, lange Schaumschleier trieben dahin. Wasser, so weit sie blicken konnte. Sonst nichts. Eine schiefergraue Fläche, leer bis an den Horizont.

Die gläserne Perle zerbarst.

Später, als das Gewitter längst in sich zusammengefallen war, kreiste ein Hubschrauber der Küstenwache über dem Gebiet, wo Frank im Meer verschwunden war. Anita hatte sie über Funk gerufen. Ihr Notruf war von mehreren Motorbootkapitänen gehört worden, die jetzt bei der Suche halfen. Anita wandte den Kopf und sah dem Boot der Küstenwache entgegen, das heranrauschte und sich schließlich längsseits legte. Der Comandante kam mit einem Kollegen an Bord ihres Bootes und begrüßte sie mit einem Nicken.

»Gehört die Yacht Ihnen, Señora?«, fragte er, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten. Er sprach englisch.

»Nein. Die ist für ein paar Tage gemietet.« Ihr Mund war trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen. Es machte das Reden schwer.

»Wie heißen Sie, und woher kommen Sie?« Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass sein Kollege alles notierte.

»Anita Carvalho.« Der Wind hatte deutlich nachgelassen, aber die Hitze war nicht wesentlich weniger geworden, trotzdem erschauerte sie unter dem dünnen Hemd, das sie über ihren Bikini geworfen hatte.

Der Comandante sah sie forschend an. »Carvalho? Sind Sie Portugiesin?«

»Nein, Deutsche. Mein Vater war Brasilianer. Meine Mutter heißt Anna-Dora Carvalho und lebt die meiste Zeit auf der Insel.«

»Ah«, machte der Comandante und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Und Sie heißen Anita. Die kleine Anna … hübsch.« Er lächelte. Seine Zähne schimmerten sehr weiß.

Sie nickte stumm. Die kleine Anna, so hatte ihr Vater sie als kleines Mädchen immer gerufen. Er war es gewesen, der den Namen Anita für sie gewählt hatte.

Der Comandante hatte einen Augenblick nachdenklich über die Wellen geschaut, jetzt drehte er sich um. »Der Vermisste … Wer war er?«

Die Frage kam unerwartet, und die Vergangenheitsform traf Anita in den Solarplexus. Sie rang nach Luft. »Mein Verlobter, Frank Börnsen. Er ist auch Deutscher.« Sie weigerte sich, von ihm in der Vergangenheit zu sprechen.

Der Comandante deutete mit einer Handbewegung auf seinen Kollegen. »Bitte buchstabieren Sie den Namen.«

Er wartete, bis Anita das getan hatte, dann fixierte er sie mit einem unerwartet scharfen Blick. »Was ist hier eigentlich vorgefallen?«

Das war genau das, worüber sie nicht einmal nachdenken wollte, geschweige denn reden. Aber nach einer kurzen Pause sammelte sie all ihre Kraft und berichtete mit monotoner Stimme, was vermutlich passiert war. »Gesehen habe ich den Unfall nicht, ich war unter Deck, aber ich habe gehört, wie der Baum herumgeschwungen ist und … und jemand getroffen hat.« Wie sich das Geräusch angehört hatte, das konnte sie einfach nicht in Worte fassen. Eine Welle saurer Übelkeit drohte sie zu überrollen. »Ich habe meine Mutter gefragt, immer und immer wieder, aber es ist nichts herauszukriegen, kein Wort. Es ist, als ob sie mich überhaupt nicht versteht.«

Der Comandante tippte an seine Mütze. »Das reicht. Für jetzt. Eine genaue Aussage können Sie dann an Land bei der Hafenpolizei machen.«

Danach wies er seine Besatzung an, die alte Señora, die offenbar einen so schweren Schock davongetragen hatte, dass sie nicht ansprechbar war, in sein Boot hinüberzubringen. »Bringt sie unter Deck und schnallt sie fest«, befahl er.

Zwei seiner Leute beeilten sich, dem Befehl nachzukommen. Anna-Dora Carvalho wurde vorsichtig hinüber auf das Boot der Küstenwache gehoben und unter Deck gebracht.

Der Comandante verabschiedete sich mit einem zackigen militärischen Gruß und rief einem seiner Offiziere zu, an Bord des Segelbootes zu kommen und bei Señora Carvalho zu bleiben. Dann ging er selbst von Bord. Sein Steuermann ließ die Motoren röhren, das Boot legte sich schräg und entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit. Anita blieb tränenüberströmt zurück.

»Es ist besser, wenn Sie sich jetzt etwas ausruhen«, sagte der Offizier der Küstenwache, löste vorsichtig ihre verkrampften Hände vom Ruder und übernahm es. »Ich bringe Sie in den Hafen.«

Anita hielt sich am Ruder fest und schüttelte in Panik den Kopf. »Nein!«, schrie sie. »Ich bleibe hier, bis wir Frank … bis wir meinen Verlobten gefunden haben.« Sie presste die Kiefer zusammen, um zu verhindern, dass ihre Zähne klapperten, als stünde sie in eisigem Sturm.

Der Polizist sah sie an, sah ihr Zittern, die Verzweiflung, die Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten, und nickte schließlich. Er warf den Hilfsmotor der Segelyacht an und lenkte sie dorthin, wo die Motorboote langsame, systematische Kreise zogen.

Bis die Dunkelheit hereinbrach, kreisten sie dort.

Sie fanden nicht die geringste Spur.

Der Polizist musterte Anita verstohlen. Sie starrte noch immer in verzweifeltem Schweigen auf die Wellen. Ihre Augen waren rot gerändert, ihre Gesichtszüge schmerzverzerrt. Sichtlich verlegen schaute er hinaus übers Meer, wo der Widerschein der untergegangenen Sonne den Himmel wie Perlmutt schimmern ließ. »Es gibt hier starke Strömungen«, sagte er leise.

Anita verstand sofort. Ihre Knie knickten ein. Sie konnte sich gerade noch an der Reling festhalten. Alles, was sie hervorbrachte, war ein tonloses Wimmern.

»Ich bringe Sie jetzt in den Hafen«, murmelte der Offizier, und sein Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Anita setzte sich aufs Deck, barg ihr Gesicht in den Armen und schluchzte, als würde sie von innen zerrissen, während die Yacht in den Hafen tuckerte.

Im Hafen angekommen, streckte der Offizier die Hand aus, um ihr auf den Anlegesteg zu helfen, aber sie wehrte seine Hilfe heftig ab. Seine schönen dunklen Augen füllten sich mit Mitleid. »Haben Sie niemanden, zu dem Sie heute Nacht gehen könnten?« Als Anita stumm den Kopf schüttelte, trat er einen Schritt zurück. »Nun gut. Ich sehe, ich kann Sie nicht überreden, von Bord zu gehen. Bitte finden Sie sich morgen im Büro der Hafenpolizei ein, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.«

Sein Ton war sehr offiziell, er salutierte und ging den Steg entlang zum Kai, wo er, ohne sich noch einmal zu ihr umzuwenden, in ein wartendes Polizeiauto stieg.

Anita blieb an Deck und starrte hinaus in die samtige Schwärze der mediterranen Nacht, starrte, bis Sterne vor ihren Augen tanzten und ihr der Kopf zu platzen drohte. Irgendwann ließ sie sich einfach vornüber in die Dunkelheit fallen, glitt in die stillen, kühlen Tiefen, wartete, dass die Wellen sie hinaus in die Ewigkeit trugen. Zu Frank.

Aber sofort setzte ihr Überlebensreflex ein, und obwohl sie dagegen ankämpfte, verzweifelt versuchte, Wasser einzuatmen, tauchte sie nach Luft schnappend und um sich schlagend wieder auf. Trauer, nicht auszuhaltender Schmerz und so etwas wie Wut, das alles bündelte sich in dem lang gezogenen Schrei, der jetzt aus ihr herausbrach.

Von einer Segelyacht, die am übernächsten Liegeplatz festgemacht hatte, ertönte eine männliche Stimme auf Spanisch. »He, was ist los? Brauchen Sie Hilfe?«

Anita spuckte und gurgelte, wollte dem Mann zurufen, er solle sie verdammt noch mal in Ruhe lassen, solle sich verdammt noch mal um seinen eigenen Kram kümmern, brachte aber keinen Ton heraus. Sekunden später klatschte ein Rettungsring neben ihr auf, und unmittelbar danach sprang jemand in das ölschillernde Hafenwasser und kraulte zügig auf sie zu. Mit kräftigem Beinschlag tauchte sie erneut ab, wurde aber mit einem geübten Griff unter dem Kinn gepackt und in Richtung Land gezogen.

Ihr Retter war kräftig und ließ ihr keine Chance, sich wieder loszureißen, obwohl sie heftig strampelte. Sekunden später erreichte er mit ihr die Treppe am Steg.

»Das Leben ist ein Gottesgeschenk«, prustete er. »Das wird nicht einfach so weggeworfen!«

Mit diesen Worten zog er sie hoch auf die Holzplanken und stellte sie auf die Beine, ließ ihre Schultern aber nicht los, als befürchtete er, dass sie gleich wieder ins Wasser springen könnte. Der Mann, ein gut aussehender, braun gebrannter Spanier, beugte sich zu ihr herunter und zwang sie, ihn anzusehen. »Wollten Sie sich etwa umbringen? Ich glaube, ich sollte Sie ins Krankenhaus bringen.«

»Nein, natürlich nicht«, brachte sie mühsam hervor. »Ich bin ausgerutscht und habe Wasser geschluckt. Das ist alles.« Zur Demonstration hustete sie ausdauernd und zeigte dabei mit dem Daumen auf ihre Yacht. »Das ist mein Boot. Vielen Dank für Ihre Mühe und Ihren mutigen Einsatz, aber mir ist kalt, und ich möchte mich jetzt umziehen und schlafen.«

Und allein sein, um mir darüber klar zu werden, wie ich ein Leben ohne Frank leben soll, wie ich die leeren, einsamen Jahre, die vor mir liegen, durchstehen soll, setzte sie schweigend hinzu. Ihre Miene jedoch verriet nichts von ihrem inneren Zustand.

Der Spanier nahm mit zweifelnder Miene seine Hände von ihren Schultern, so als glaubte er, dass sie jeden Moment umfallen könnte. Sie zwang sich, seinen Blick mit einem freundlichen Gesichtsausdruck zu erwidern, und es gelang ihr, das Zittern so weit zu verbergen, dass er es offenbar nicht wahrnahm. Jedenfalls trat er einen Schritt zurück.

»Gut. Aber seien Sie in Zukunft vorsichtiger. Wenn Sie allein an Bord sind, sollten Sie immer gesichert sein. Das ist eine Grundregel für Solo-Segler  – das sollten Sie doch wissen«, setzte er mit unüberhörbarem Vorwurf hinzu. »Wenn Sie Hilfe benötigen, brauchen Sie mich nur zu rufen. Ich wohne auf meiner Yacht.«

»Okay, danke«, sagte sie mit gezwungenem Lächen, sprang auf den Steg, rannte zu ihrem Boot und kletterte an Bord. Sie schaffte es noch bis in ihre Kajüte, ehe sie wie von einer Axt getroffen auf der Koje zusammenbrach und in ein schwarzes Loch stürzte.

Das alles geschah Mitte Juli 2008.

Am nächsten Tag und an den darauf folgenden drei Tagen segelte sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang hinaus zu der Stelle, wo Frank ins Meer gefallen war. Es herrschte ein kräftiger Wind, der ihr das lange Haar immer wieder in die Augen blies. Impulsiv nahm sie eine Schere und schnitt es kurzerhand rundherum auf Kinnlänge ab. Die abgeschnittenen Haarbüschel warf sie über Bord. Den kühlen Luftzug, der nun ihren Nacken umfächelte, empfand sie als sehr angenehm.

Stundenlang kreuzte sie dort draußen unter der sengenden Sonne, starrte gebannt von der Reling in die Wellen, vergaß zu essen, kehrte erst in den Hafen zurück, als die Nacht längst hereingebrochen war und nur die Sterne ihr den Weg leuchteten. Sie schlief nur noch sporadisch, aß nicht, trank wenig, magerte ab, rutschte tiefer und immer tiefer in einen grauen Sumpf der Verzweiflung.

Jeden Tag besuchte sie ihre Mutter im Krankenhaus. In den paar Tagen seit dem Unfall war sie furchtbar gealtert, ihr Haar breitete sich glanzlos und strähnig auf dem Kissen aus. Ihre Augen waren leer, das Funkeln darin für immer erloschen. Stumpf sah sie ihre Tochter an, drehte sich dann wortlos zur Wand. Ein Jammerlaut wie von einem verletzten Tier, begleitet von einer heftigen Armbewegung, zeigte Anita unmissverständlich, dass ihre Mutter nicht mit ihr reden wollte.

Der Stationsarzt legte ihr nahe, sie zurück nach Deutschland in ihre gewohnte Umgebung zu bringen. »Es geht ihr nicht gut. Sie weigert sich zu essen und auch zu trinken, sodass wir sie an den Tropf legen mussten. Sie redet mit niemandem, antwortet auf keine Fragen. Bis heute haben wir nicht erfahren können, was dort draußen vorgefallen ist. Selbst ihren Namen weiß ich nur aus der Akte. Ich befürchte, sie ist in eine schwere Depression abgestürzt und braucht dringend ärztliche Hilfe, aber das hat nur Zweck, wenn es in ihrer Muttersprache geschieht.«

Anita sah ein, dass sie diese schreckliche Lethargie, die nicht nur ihre Glieder, sondern auch ihr Denkvermögen lähmte, abschütteln musste. Innerlich wie versteinert räumte sie auf dem Boot auf und packte ihre Sachen und die ihrer Mutter. Franks Sachen fasste sie nicht an.

Konnte sie nicht anfassen, konnte kaum hinsehen. Franks Schuhe standen vor seiner Koje, zeigten deutlich die Form seiner Füße. Das Kopfkissen trug noch den Abdruck seines Kopfes. Ein Sweatshirt, das er über einen Hocker geworfen hatte, roch nach ihm. Auf dem Regal über dem Becken im Badezimmer stand sein Rasierwasser, das Deo, lag sein Kamm, die Zahnbürste. Bewegungsunfähig stand sie davor.

Aber es half nichts. Die Yacht war nur für fünf Tage gechartert. Sie musste sich zusammenreißen und auch seine Sachen einpacken. Ihre Bewegungen waren hölzern, von puppenhaftem Automatismus, ihre Augen rot vor Schmerz. Jegliche Emotion war aus ihr herausgeronnen und hatte sie als leere Hülse zurückgelassen.

Spätnachmittags war sie fertig und wuchtete das Gepäck vom Deck aus auf den Steg. Über das Handy rief sie die Charterfirma an. Man bat sie, auf denjenigen zu warten, der die Übergabe durchführen würde. Sie musste nicht lange warten. Nach wenigen Minuten kam ein junger Mann den Steg entlang auf sie zugelaufen. Er stellte sich kurz vor und drückte ihr sein Beileid aus. Anschließend ging er an Bord, während Anita zurückblieb. Sie setzte sich auf ihren Koffer und starrte mit brennenden Augen in die Wellen. Der junge Mann notierte gelegentlich etwas auf einem Block, ehe er mit einem Satz an Land sprang.

»Alles okay. Sie brauchen nur noch zu unterschreiben.« Er deutete auf ihr Gepäck. »Werden Sie abgeholt?«

Anita schüttelte stumm den Kopf, während sie ihren Namen unter das Dokument setzte. »Es gibt doch wohl Taxis im Hafen. Ich werde eines rufen.«

Der junge Mann sah sie mitleidig an. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich bringe Sie zum Büro des Hafenmeisters, und von da aus können Sie dann ein Taxi rufen. Einverstanden?« Auf ihr stummes Nicken hin packte er die zwei schwersten Koffer  – er ließ Anita nur zwei relativ leichte Sporttaschen zum Tragen  – und marschierte los.

Es war schon dunkel, als das Taxi die schmale, gewundene Auffahrt zum Haus ihrer Mutter hinauffuhr und vor der Tür hielt. Der Taxifahrer stellte ihr die Koffer in die Diele, tippte mit zwei Fingern dankend an seine Baseballkappe, als er das Trinkgeld sah, und fuhr davon.

Anita packte gar nicht erst aus, sondern rief sofort am Flughafen an. Es gelang ihr, Flüge für den nächsten Tag zu bekommen. Mit der Buchung forderte sie einen Rollstuhl für ihre Mutter an, die nicht imstande sein würde, allein die Gangway hochzusteigen. Danach erkundigte sie sich im Krankenhaus nach ihrer Mutter, sprach mit dem Stationsarzt und vereinbarte, dass ihre Mutter mit einem Krankenwagen ans Flugzeug gebracht wurde.

Schlaflos geisterte sie durch das kleine Haus. Die Sonne war längst untergegangen, Mondlicht floss silbern über den steinernen Boden und die Wände, an denen Bilder in den glühenden Farben Brasiliens wie Juwelen funkelten. Ihr Vater, der aus einer sehr wohlhabenden Kaffee-Dynastie stammte, hatte sie mit in die Ehe gebracht. Ruhelos streifte sie daran vorbei. Obwohl er selbst gemalt hatte, und zwar ihrer Meinung nach wirklich gut, hing nirgendwo eines seiner eigenen Werke. Vor zwei Aquarellen mit sehr bekannten Signaturen  – eines zeigte einen Sonnenaufgang über dem Meer, das andere eine Marktszene  – blieb sie stehen und ließ Farben und Stimmung auf sich wirken, spürte, wie sie sich zumindest ein wenig entspannte. Gerade als sie sich abwandte, um in den Garten zu gehen, stutzte sie jedoch. Sie schaltete eine Stehlampe ein, nahm eines der Bilder von der Wand und sah es sich im Lampenlicht ganz genau an. Danach prüfte sie das zweite, dann war sie sich sicher. Beide Aquarelle waren durch Drucke ersetzt worden. Sie hängte beide Kopien zurück und starrte sie grübelnd an.

Ihre Mutter liebte die Bilder. Vielleicht hatte sie den Erlös für die Tickets nach Südafrika verwendet? Wenn sie diese zwei tatsächlich verkauft hatte, wäre das ein bedeutender Hinweis darauf, wie wichtig ihr die Reise war. Tief in Gedanken öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus. Was steckte bloß hinter dieser Einladung?

Mondlicht lag als schimmernde Pfütze zwischen den Bougainvilleen. Feuchtigkeit stieg aus der Erde, Fledermäuse huschten durch die warme Nacht, und die kleinen Blüten eines unscheinbaren Buschs strömten einen betörenden Duft aus. »Galán de noche« hieß er, wie sie sich erinnerte. Ihr Vater hatte ihr das erzählt. Abwesend pflückte sie eine der grünlich weißen Trompetenblüten und zerbröselte sie zwischen den Fingern.

Warum wollte ihre Mutter mit ihr nach Südafrika fliegen? Zwar hatten ihre Eltern dort gewohnt, an der Ostküste in Zululand, rund zwanzig Jahre lang, aber das war sehr lange her. Sie rechnete nach. Etwa 1972 oder 73 waren sie nach Deutschland zurückgekehrt, fünf oder sechs Jahre vor ihrer Geburt. So genau hatte sie das nie erfahren, und sie hatte sich auch nie darum gekümmert. Es hatte nichts mit ihrem Leben zu tun.

Die letzten Schnipsel der duftenden Blüte schwebten zu Boden. Sie wischte ihre Hand an ihren Leinenhosen ab und ging zurück ins Haus. Wenn es ihrer Mutter besser ging, würde sie ihr das wohl erklären können. Es war an der Zeit, dass sie alles erfuhr, und sie würde nicht lockerlassen, ehe sie jede Einzelheit kannte. Nur wovon, davon hatte sie keine Ahnung, und das war wie ein juckender Pickel.

Am nächsten Morgen bestellte sie ein Taxi, rief im Krankenhaus an, um sicherzustellen, dass ihre Mutter reisefertig war, und fuhr mit allem Gepäck zum Krankenhaus.

Man hatte die Kranke bereits in einen Warteraum im Erdgeschoss gebracht. Apathisch saß Anna-Dora Carvalho im Rollstuhl, apathisch hing sie in ihrem Sitz an Bord der Chartermaschine, apathisch ließ sie es geschehen, dass Anita ihr den Sicherheitsgurt anlegte. Sie verweigerte Essen und Trinken, schlief nicht, schien überhaupt nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Anita saß neben ihr und hielt den gesamten Flug über ihre Hand. Sie war kalt und trocken und völlig reglos. Als wäre ihre Mutter bereits tot.

In Hamburg wartete ein Flughafenangestellter mit einem Rollstuhl auf Anna-Dora Carvalho und schob sie bis zum Ausgang des Flughafengebäudes. Anita rief ein Taxi heran, bugsierte ihre Mutter gemeinsam mit dem Fahrer auf den Beifahrersitz und schnallte sie fest, während er schon die Koffer einlud. Sie gab ihre eigene Adresse an, ihre Mutter konnte schließlich unmöglich allein in ihrer Wohnung in Travemünde bleiben, und ins Krankenhaus wollte sie sie nicht bringen. Der Mutter einer Freundin hatte man im Krankenhaus schwere Beruhigungsmittel gegeben, worauf die alte Dame bei dem nächtlichen Unterfangen, die Toilette rechtzeitig zu erreichen, gestürzt war, sich verletzte, operiert werden musste und danach völlig verwirrt in einem Pflegeheim endete. Diesen Horrortrip wollte sie ihrer Mutter ersparen. Und sich auch.

Der Taxifahrer und sie brachten sie nach oben. Anna-Dora Carvalho kam so weit zu sich, dass sie, nur gestützt von Anita, die kurze Strecke von der Tür zum Gästezimmer bewältigen konnte. Anita bezahlte den Fahrer, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und telefonierte anschließend mit ihrem Hausarzt, der seinen Besuch noch für denselben Abend zusagte. Sie hievte das Gepäck ihrer Mutter ins Gästezimmer und bezog das Bett. Anna-Dora Carvalho setzte sich auf die Bettkante und ließ sich von Anita ausziehen. Plötzlich warf sie ihrer Tochter die Arme um den Hals.

»Es tut mir leid … es tut mir so furchtbar leid …«, stammelte sie und drehte sich, ihre Hände vor den Mund gepresst, zur Wand. Alle Versuche Anitas, mit ihr zu reden, prallten an ihrem abgewandten Rücken ab. Anita bemühte sich, sie dazu zu bewegen, sich hinzulegen, aber Anna-Dora Carvalho blieb störrisch sitzen. Mit einem Seufzer stand Anita auf, um ihr eigenes Bett fertig zu machen. Ihre Mutter würde sicherlich irgendwann müde werden und sich von allein hinlegen.

Anitas eigene Koffer standen noch in der Diele. Sie ließ sie stehen und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Zu Franks und ihrem Schlafzimmer. Als ihr Blick auf das Doppelbett fiel, das sie zusammen mit ihm erst eine Woche zuvor gekauft hatte, wurde ihr so plötzlich übel, dass sie es kaum ins Badezimmer schaffte.

Nur mit größter Selbstbeherrschung konnte sie sich dazu zwingen, die Bettwäsche abzuziehen. Es gelang ihr, bis der Duft von Franks Rasierwasser ihr ganz schwach aus seinem Kopfkissen in die Nase stieg und einen Weinkrampf auslöste. Sie rutschte auf den Boden, schlang sich die Arme um den Leib und schrie, als würde ihr jemand ein Messer ins Herz stoßen.

Irgendwann war der Anfall vorüber. Restlos ausgelaugt und so schwach, als wäre sie schwer krank, öffnete sie das Fenster, um Franks Geruch zu vertreiben, und wechselte die Bettwäsche. Ihr war längst klar, dass sie in diesem Bett nicht würde schlafen können. Nach kurzer Überlegung ging sie ins Gästezimmer. Ihre Mutter hatte sich nicht gerührt. Regungslos hockte sie auf der Bettkante, protestierte aber nicht, als Anita sie hinüber ins große Schlafzimmer zu dem Doppelbett führte. Widerstandslos legte sie sich in die Kissen.

Anita stellte den Koffer ihrer Mutter ans Fußende und saß noch eine Weile neben ihr, streichelte ihr die Hand, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und überlegte, ob und wie sie es schaffen konnte, ohne Frank weiterzuleben. Sie blieb am Bett sitzen, bis es klingelte. Es war Dr. Witt.

Er stellte seinen tropfenden Regenschirm im Flur ab. »Es schüttet fürchterlich«, sagte er freundlich. »Ihre Mutter ist krank, sagten Sie am Telefon?«

Dr. Witt war ein Mann um die fünfzig, und Anita kannte ihn schon seit Jahren. Sie schätzte seine präzisen Diagnosen und die schnörkellose, aber einfühlsame Art, wie er mit seinen Patienten umging. Mit nüchternen Worten berichtete sie ihm von dem, was auf dem Segelboot geschehen war.

Er wurde blass. »Mein Gott, Anita. Das ist ja entsetzlich. Aber was ist mit Ihnen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Impulsiv legte er ihr eine Hand fest auf die Schulter. Sie spürte seine Wärme durch das dünne T-Shirt, und das gab ihr fast den Rest.

Sein Mitgefühl warf sie um. Sie versteifte sich, ballte die Hände zu Fäusten und spannte jeden Muskel an. Es kostete sie eine ungeheure Kraftanstrengung, sich nicht in seine Arme zu werfen und ihre Trauer hinauszuschreien. Schroff wehrte sie ihn ab und ging ihm mit hölzernen Schritten voraus ins Schlafzimmer. Dr. Witt folgte ihr mit seinem Arztkoffer.

Ihre Mutter war wach, aber obwohl sie die Augen geöffnet hatte, ging ihr Blick ins Leere. Sie schien Dr. Witt nicht einmal wahrzunehmen. Er zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Anita ging hinaus, stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen.

Es dauerte einige Zeit, ehe der Arzt wieder aus dem Schlafzimmer kam. Ohne Umwege teilte er ihr mit, dass ihre Mutter sofort ins Krankenhaus verlegt werden müsse. »Auf die …« Er zögerte nur kurz, bevor er weitersprach. »Auf die Psychiatrie.«

»Nein«, sagte Anita. »Sie bleibt hier. Sie ist alles, was ich noch habe. Ich werde für sie sorgen und alles tun, was Sie mir sagen, aber meine Mutter bleibt bei mir.«

Dr. Witt musterte sie und nickte dann, als hätte er diese Reaktion erwartet. Er schrieb ihr zwei Rezepte aus und reichte sie ihr. »Das ist für Ihre Mutter. Etwas zum Schlafen und ein Mittel gegen Depressionen. Und das ist für Sie. Auch ein Schlafmittel. Sie müssen endlich mal eine Nacht zur Ruhe kommen. Ich komme morgen wieder, dann besprechen wir alles Weitere. Ihre Mutter braucht einen Facharzt, und zwar dringend.« Er zog sein Mobiltelefon hervor, rief die Apotheke an und veranlasste, dass die benötigten Medikamente umgehend geliefert wurden.

»So, das ist geregelt«, sagte er und steckte das Telefon ein. »Ich werde einen Termin mit einem mir bekannten Psychiater machen und sage Ihnen dann Bescheid. Natürlich können Sie beziehungsweise Ihre Mutter selbst entscheiden, ob Sie den Termin wahrnehmen wollen. Ich würde Ihnen aber dringend dazu raten. Morgen um neun rufe ich Sie an.« Danach verabschiedete er sich und ging.

Anita stellte ihrer Mutter ein Glas Wasser auf den Nachttisch, schloss die Tür und ging ins Gästezimmer. Als sie sich aufs Bett fallen ließ, merkte sie, dass sie tatsächlich todmüde war.

Irgendwann schlief sie ein, wanderte von einem Albtraum zum nächsten, wachte dazwischen in kurzen Abständen durchgeschwitzt und mit Herzrasen auf. Am nächsten Morgen war sie wie gerädert. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits halb zehn war und die blinkende Anzeige auf ihrem Telefondisplay zeigte an, dass Dr. Witt angerufen hatte. Sie sprang aus dem Bett und rannte hinüber zum Schlafzimmer, klopfte leise und öffnete die Tür. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Anita, dass der Koffer ihrer Mutter geöffnet worden war. Sie musste aufgestanden sein, um irgendetwas herauszuholen. Dabei hatte sie wohl das Wasserglas auf dem Nachttisch umgestoßen. Es lag zerbrochen auf dem Boden.

Ihre Mutter schien noch zu schlafen. Ihre Lider waren geschlossen, ein Arm hing über die Bettkante. Auf Zehenspitzen ging Anita zum Bett, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Erst als sie unmittelbar davorstand, entdeckte sie es.

Aus einem langen Schnitt am linken Unterarm Anna-Dora Carvalhos sickerte Blut. Bettdecke und Laken waren blutdurchtränkt. Anita sah es, bekam aber keine Verbindung zu dem, was sich da vor ihr abspielte. Verständnislos starrte sie auf die besudelte Bettwäsche, die rot glänzende Lache auf dem hellen Teppich. Den Schnitt, der blutrot auf der weißen Haut ihrer Mutter klaffte.

Ein Blutstropfen quoll aus der Wunde. Wie hypnotisiert folgte sie seinem Weg. Er kroch übers Handgelenk in die halb geöffnete Hand ihrer Mutter und rann schließlich zwischen den Fingern herunter und fiel lautlos auf den Teppichboden.

Erst jetzt begriff sie. Sie schrie auf, geriet für Sekunden in kopflose Panik, rannte hinaus auf den Balkon, hechelte dabei, als bekäme sie nicht genug Sauerstoff. Als sie endlich zu sich kam, ging ihr auf, dass Blut nur dann aus einer Wunde lief, wenn das Herz noch pumpte. Ihre Mutter lebte noch! Sie rannte zurück ins Zimmer, legte einen bebenden Finger an den Hals ihrer Mutter, fühlte zu ihrer grenzenlosen Erleichterung ein schwaches Pochen.

Während sie zum Bad hastete, schnappte sie sich ihr Handy, wählte im Laufen 112. Die Notrufstelle meldete sich sofort, und Anita erklärte, was vorgefallen war, gab mit ruhiger Stimme ihre Adresse an, während sie den Medikamentenschrank nach Verbandszeug durchwühlte. Nachdem ihr versichert worden war, dass der Notarzt auf dem Weg sei, lief sie mit Binden, Mull und Pflaster im Arm zurück ans Bett ihrer Mutter.

Eine der Binden schlang sie hastig zu einem dicken Knoten, den sie als Aderpresse auf dem blutenden Handgelenk benutzte, und legte darüber einen strammen Druckverband an. Mit angehaltenem Atem wartete sie, starrte auf den Verband, der sich auf der Unterseite schon rot färbte. Aber bald versiegte das Blutgetröpfel. Sie atmete auf und zog vorsichtig den rechten Arm ihrer Mutter unter der Decke hervor. Auch hier klaffte ein langer Schnitt. Schnell versorgte sie auch diese Wunde, fragte sich voller Sorge, nach welchem Zeitraum eine Aderpresse wieder gelockert werden musste.

Abermals ertastete sie die Halsschlagader der Kranken, bekam feuchte Augen, als sie noch Leben spürte. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter auf die andere Bettseite rollen sollte, um das Laken und die Bettdecke, die steif von trocknendem Blut waren, abzuziehen, dabei bemerkte sie etwas Weißes auf dem Boden vor dem Nachttisch. Sie bückte sich und hielt eine offene Medikamentenschachtel in der Hand. Als sie die Schachtel herumdrehte, fiel ihr eine Blisterpackung entgegen. Sie las den Namen eines sehr starken Schlafmittels. Nicht das, was Dr. Witt ihrer Mutter verschrieben hatte. Dieses stammte aus Spanien, und die Packung war leer.

Wie gelähmt hielt sie die Pappschachtel in der Hand, konnte keinen zusammenhängenden Gedanken fassen. Draußen jaulte eine Sirene die Straße herunter, und der durchdringende Ton riss sie aus ihrer Benommenheit. Ein Auto bremste scharf vor dem Haus. Sie sprang hoch, rannte zur Tür und riss sie auf. Zwei Sanitäter und ein Notarzt standen vor ihr.

»Sie liegt im Schlafzimmer. Ich glaube, sie hat auch Schlafmittel geschluckt …« Sie stotterte vor Aufregung und zeigte aufs Schlafzimmer.

Die drei Männer in ihren roten Reflektorjacken drängten an ihr vorbei und liefen den Korridor entlang zum Schlafzimmer.

»Verflucht«, entfuhr es einem der Sanitäter, als er die blutverschmierte Bettwäsche und die Blutlache auf dem Boden sah. »Da dürfte nicht mehr viel drin sein.«

Die darauffolgenden Minuten verschwammen für Anita in einem dichten Nebel. Der Arzt und die beiden Sanitäter waren ein eingespieltes Team und arbeiteten konzentriert und schnell.

Dabei verschob einer von ihnen das Kopfkissen, das auf der unbenutzten Seite des Bettes lag. Es fiel auf den Boden, und ein Blatt liniertes Papier, das darunter gelegen hatte, kam zum Vorschein.

Anita hob es auf. Sie erkannte, dass es eine herausgerissene, leere Seite war, die aus dem Heft des Berichts über die Odyssee ihrer Eltern quer durch Afrika nach Südafrika stammte. Eine von den Dutzend Seiten, die hinten unbeschrieben geblieben waren, denn nach 1972 brach der Bericht abrupt ab.

Hatte ihre Mutter etwas schreiben wollen? Einen Abschiedsbrief? Anita lehnte an der Wand und spürte den Drang zu schreien, etwas zu zerschlagen. Warum hatte ihre Mutter das getan? Ohne jede Erklärung, ohne ihr zu sagen, was wirklich passiert war. Warum wollte ihre Mutter sie verlassen? Für immer. Freiwillig. Sie schlug mit der Faust an die Wand, bis die Haut am Knöchel aufplatzte.

Kurz darauf hüllten die Sanitäter ihre Mutter behutsam in eine goldfarbene Isolierdecke und hoben sie anschließend auf die Trage. Ein blutverschmierter Arm rutschte unter dem Tuch hervor und baumelte über die Seite.

Anita wurde so unvermittelt schwarz vor Augen, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Sie fiel mit einem Schrei aufs blutbesudelte Bett und kam erst zu sich, als sie merkte, dass der Notarzt ihr eine Spritze gab.

»Nur zur Beruhigung, damit Sie schlafen können. Sie können jetzt ohnehin nichts für Ihre Mutter tun. Bis morgen ist sie mit Sicherheit nicht ansprechbar. Gibt es jemanden, der zu Ihnen kommen könnte?«

Sie schüttelte nur den Kopf. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass ihre Mutter inzwischen auf der Trage festgeschnallt war und aus dem Zimmer geschoben wurde.

Der Arzt legte die Instrumente in seinen Koffer zurück. »Wir müssen uns beeilen  – rufen Sie Ihren Hausarzt an, damit der sich um Sie kümmert«, rief er ihr entschuldigend zu, während er den Sanitätern im Laufschritt folgte. Sekunden darauf schlug die Wohnungstür zu, und sie war allein in der drückenden Stille.

Sie schwankte, tastete sich an der Wand entlang ins Badezimmer, zog ihre mit Blut verschmutzte Kleidung aus und schlüpfte in Jeans und ein sauberes T-Shirt. Im Wohnzimmer fiel sie auf die Couch, während sich das Beruhigungsmittel schnell in ihrem Körper ausbreitete. Es dauerte bis zum späten Abend, ehe die Wirkung der Spritze etwas nachließ, dass ihre Gedanken aufhörten, wie demente Fliegen herumzuschwirren. Sie hasste diese Benommenheit, die bleischweren Glieder, den trockenen Mund, die wirren Gedanken. Als sie endlich die Wirkung so weit abgeschüttelt hatte, dass sie aufstehen konnte, rief sie im Krankenhaus an und erkundigte sich nach ihrer Mutter.

»Es wäre besser, wenn Sie morgen früh hierherkommen, dann können Sie mit dem Arzt sprechen«, wurde ihr ausweichend geantwortet. »Telefonisch darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

In dieser Nacht schlief Anita nicht mehr.

Der Arzt im Krankenhaus, ein jüngerer Mann mit einer wirren, dunklen Haartolle und langen bleichen Händen, teilte ihr mit, dass ihre Mutter ins Koma gefallen sei und es fraglich sei, ob sie je wieder daraus erwachen werde. Auch wäre es bislang nicht sicher, ob sie durch den immensen Blutverlust einen Schaden am Gehirn davongetragen habe.

»Reden Sie viel mit ihr. Das hilft oft«, bemerkte er mit Mitleid in seiner Stimme. »Nehmen Sie sich Zeit.«

Zeit hatte sie. Sie, die als Biologin mit einigen zusätzlichen Semestern Pharmakologie in einem kleinen, aber feinen Forschungslabor für innovative Kosmetik als Laborleiterin arbeitete, war mittlerweile auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben worden.

Gleich nach dem Unglück hatte sie darauf bestanden, dass sie durchaus arbeiten könne. An ihrem ersten Arbeitstag nahm sie im Laborgebäude ihren üblichen Weg vorbei an den Käfigen der Äffchen, die für die Tests gebraucht wurden. Ganz ohne Versuchstiere gehe es nicht, wurde ihr auf ihre Fragen versichert. Es gab keine Alternative. Jeden Morgen musste sie diesen Weg nehmen, schon für einige Jahre, und wie jeden Morgen wollte sie sich auch jetzt abwenden. Der Anblick von Tieren, die gefangen in einem Käfig saßen, konnte sie auch nach all diesen Jahren nur schwer ertragen.

Nur einmal in ihrem Leben war sie in den Zoo gegangen, als Dreizehnjährige, und hatte anschließend nächtelang Pläne geschmiedet, wie sie sich hineinschleichen und die Käfige dort öffnen könnte. Natürlich fand sie heraus, dass der Zoo nachts und die Käfige immer fest verschlossen waren und dass ein Haufen Wächter auf dem Gelände patrouillierten. Sie schrieb einen flammenden Brief an den Zoodirektor, der ihre Empörung rührend fand und ihr zwei Freikarten für den Zoo sandte. Wütend hatte sie die Tickets in kleine Stücke gerissen, in einen Umschlag gesteckt und ihm zurückgeschickt.

Doch an diesem Tag schaute sie aus irgendeinem Grund nicht rechtzeitig weg und sah sich unvermittelt mit den so erschreckend menschlich wirkenden winzigen Gesichtern konfrontiert. Das Flehen in den dunklen Augen, die zusammengekauerte, fötale Haltung, löste eine Bilderflut aus. Gesichter von Kleinkindern wirbelten mit denen der Äffchen durcheinander, die  – halb wahnsinnig vor Angst festgeschnallt und mit Elektroden am Kopf  – die Laborversuche ertragen mussten. Die Bilder schoben sich übereinander, und aus den Äffchen wurden Menschenbabys. Sie meinte ihr eigenes Kind zu spüren, wie es in ihrem Bauch wuchs, und sie begann unkontrolliert zu zittern. Ihr wurde heiß und wieder kalt, und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Eine Laborantin fand sie. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Fliesenboden, ihre Zähne schlugen aufeinander, sie konnte kein zusammenhängendes Wort hervorbringen, geschweige denn wieder aufstehen. Ihre Kollegin rief den Betriebsarzt, der sofort entschied, dass sie auf keinen Fall arbeitsfähig sei, und sie mit der Auflage nach Hause schickte, schleunigst einen Psychotherapeuten aufzusuchen.

Aber Anita fand sich außerstande, das Seelenchaos, das in ihrem Inneren herrschte, überhaupt in Worte zu fassen, schon gar nicht einem fremden Menschen gegenüber. Zwei Tage später spürte sie einen heißen Schmerz im Unterleib und fing an zu bluten. Sie wusste sofort, dass ihr jetzt nichts mehr von Frank geblieben war.

Danach lag sie einfach apathisch im Bett, trank nur ab und zu etwas, aß das, was sie in der Küche fand. Cracker, Dosentomaten, Käsestangen. Ein paar Macadamianüsse unbestimmten Alters. Sie schmeckten dumpf. Bald vergaß sie, überhaupt etwas zu essen. Sie spürte keinen Hunger. Niemand kümmerte sich um sie, denn sie hatte niemand von ihrer Rückkehr unterrichtet. Ihre Freunde glaubten, dass sie und Frank nach wie vor auf Mallorca waren. Nur ihre Mutter wusste von dem Unglück, aber diese Information war in deren komatösem Gehirn verschlossen.

Franks Eltern hatte sie natürlich unterrichtet. Es war schwierig gewesen, sie zu erreichen, und als sie seinen Vater endlich per Satellitentelefon sprechen konnte, teilte der ihr mit, dass sie das Projekt am Amazonas nicht vorzeitig abbrechen könnten.

»Wir können mit unserer Anwesenheit auch nichts ändern«, sagte er. »Kopf hoch, Anita. Noch gilt er als verschollen. Gib die Hoffnung nicht auf. Wir werden ihn noch nicht für tot erklären lassen.«

Danach hatte sie einen stundenlangen Weinkrampf erlitten, bis sie keine Tränen und keine Kraft mehr hatte und ihr nur endlose Erschöpfung und eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben blieben. Wie ein vertrocknetes Blatt im Wind trieb sie ziellos durch die Tage. Tagelang hatte sie mit geschlossenen Augen im Bett gelegen, ganz still, und versucht sich davonzustehlen, einfach aufzuhören zu sein. Dabei fiel ihr ein Roman von Simone de Beauvoir ein, in dem der traurige Held zur Unsterblichkeit verurteilt war, sich nicht traute, sich zu verlieben, weil er wusste, dass seine Geliebte sterblich war und ihn irgendwann verlassen musste und er wieder allein sein würde. Einmal hatte er sich mehrere Jahrzehnte hinter eine Hecke gelegt und sich angestrengt, endlich zu sterben. Was ihm nicht gelungen war.

Ihr auch nicht, obwohl sie zwei Wochen lang wirklich alles daransetzte. Schließlich stand sie wieder auf, riss alle Fenster in der Wohnung weit auf, stopfte den Inhalt einer angebrochenen Packung weich gewordener Butterkekse in sich hinein, die wie Flussmoder schmeckten, erbrach sich danach prompt, wobei ihr Franks Verlobungsring vom Finger rutschte. Sie musste massiv abgenommen haben. In ihrem Kühlschrank befand sich nichts Essbares, aber sie entdeckte eine Dose Ravioli ganz hinten im Gewürzschrank, die sie aufwärmte. Die Nudeltaschen waren klebrig und zu salzig, aber sie würgte sie hinunter und behielt sie tatsächlich bei sich. Anschließend räumte sie in der Küche auf, kroch zurück ins verwühlte Bett und schlief eine Nacht, einige Stunden zumindest. Am nächsten Morgen duschte sie ausgiebig, schob die Post beiseite, die sich auf dem Dielenboden stapelte, lief im Platzregen zwei Straßenecken weiter zum Supermarkt und kaufte ein. Brötchen, Butter, Eier, Milch und was man sonst noch für ein ausgiebiges Frühstück brauchte. Zu Hause machte sie sich Rührei auf Brötchen und Kaffee und schlang alles hinunter. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fuhr ihren Computer hoch.

Als Erstes stornierte sie die Tickets, die ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, musste dabei natürlich schon wieder an Frank denken und konnte nicht verhindern, dass sie sich anschließend für Stunden die Seele aus dem Leib weinte. Am selben Nachmittag noch fuhr sie ins Krankenhaus, ergriff die Hand ihrer Mutter und schwieg, fand, dass sie einfach nichts sagen konnte. Ein scharfer, heißer Schmerz füllte sie vollständig aus, verdrängte jedes andere Gefühl, verdrängte alle Worte, alle Gedanken. Sie klammerte sich an der Hand ihrer Mutter fest, um diesen Schmerz irgendwie auszuhalten.