Jesus als Reformator - Günter Unger - E-Book

Jesus als Reformator E-Book

Günter Unger

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Beschreibung

Jesus wollte kein Religionsstifter sein, sondern ein Reformator. Es war seine eigene Religion, die er zu verändern trachtete, gerade weil er ihr mit ganzer Hingabe angehörte. Manche seiner kraftvollen Aussprüche lassen erstaunlich weitreichende Reformziele erkennen. Die Urchristenheit hat sich jedoch einige dieser Ziele letztendlich nicht dauerhaft oder nur abgeschwächt zu eigen gemacht. Eine historisch-kritische Auslegung des in den Evangelien an manchen Stellen überlieferten engen Miteinanders von Reform-Sprüchen Jesu, urchristlicher Abmilderung und christologischer Einfärbung eröffnet sowohl Einblicke in das bis heute unausgeschöpfte Reformpotential der Lehre Jesu wie in die Interessenlage der Urchristenheit oder der Evangelisten und auch in den Übergang von der Lehre Jesu zur Lehre über Jesus. Impulse für christliches Umdenken und kirchliche Reformschritte in der Gegenwart springen implizit unweigerlich dort ins Auge, wo das Reformatorische an Jesus in den Blick tritt. Besprochen werden Reform-Worte Jesu zu den Sabbat- und Reinheitsgeboten, zum Fasten, zur Frage von Schuld und Vergebung, zum Religionsgesetz generell und den ihm überlegenen Leitmodellen, zum Tempel und zum Opferkult; zwei weitere Kapitel beschreiben Jesu Ansage der gegenwärtigen Gottesherrschaft und seine Absage an die Apokalyptik.

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Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Günter Unger

Jesus als Reformator

und das Zurückweichenhinter seine Reformimpulse

© 2016 Günter Unger

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7345-4912-0

Hardcover

978-3-7345-4913-7

e-Book

978-3-7345-4914-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorbemerkung

I. Jesus und das Religionsgesetz

1. Der Sabbat

Mk 3,1-6, die ‚Heilung der gelähmten Hand am Sabbat‘ (13ff) und das Prinzip, Leben zu fördern (19ff); Innensteuerung statt Außensteuerung (24f); das Doppelgebot der Liebe (27); Mk 2,23-28, das ‚Ährenausraufen am Sabbat‘ (30ff); die Rücknahme der Gesetzesfreiheit durch Matthäus (37ff); Gal 4,8ff und die Gesetzeshörigkeit des Jakobus (46ff)

2. Die Speise- und Reinheitsgebote

Mk 7,1-23: das ‚Korban‘-Wort (57ff); Jesu derber Spruch zur ‚Unreinheit‘ (61f); das Ende der Unterscheidung von rein und unrein (63ff); die schöngeistige Umdeutung des Wortes zur Reinheit (70ff); die Abschwächung und Rücknahme der Freiheit Jesu in der Reinheitsfrage durch die Gemeinde und bei Matthäus und Lukas (74ff)

3. Das Fasten

Mk 2,18-20: ‚Hochzeitsgäste fasten nicht‘ (86); Nachtrag: der Bräutigam wird weggenommen (86f); in der Basileia wird nicht gefastet (88f); Mt 6,16-18 und Jes 58 (89ff); die Urchristenheit fastet wieder (92ff); Mk 2,21f neuen Wein nicht in alte Schläuche (96f)

4. Sünde, Schuld und Vergebung

Das Thema ‚Sünde und Schuld‘ nimmt beim historischen Jesus überraschend geringen Raum ein (100); Jesus spricht Menschen helfend, nicht anklagend auf Sünde hin an (101f); Sünde ist das Schuldigbleiben der Liebe und das Nicht-Weitergeben der Güte Gottes (104f); Jesus spricht seinen Jüngern Vollmacht zu, Sünden gültig zu vergeben, einander, nicht als Unbeteiligte (109ff); die von außerhalb eines Konflikts zugesprochene Sündenvergebung in Mk 2,1-12 (112ff) und Lk 7,36-50 (117ff) ist nachträglich eingefügt (121ff); nach-sinnendes Gebet und Vergebung hängen zusammen (124ff)

5. Jesu grundsätzliche Überwindung des Gesetzes und die von ihm gelehrten überlegenen Alternativen

Mt 5,17-20, das angebliche Weitergelten des Gesetzes(128ff); die Kernsätze der 6 Antithesen (132f); die Antithesen lenken den Blick auf die unscheinbaren Anfänge der Probleme (134ff); Mt 5,25f, der Spruch vom Prozessgegner (137f); die weiteren Zwischenworte zwischen denAntithesen(139ff);derScheidebriefunddieUnkündbarkeit der Ehe (140ff); die Matthäusklausel zur Ehescheidung (143f); „dem Übel nicht widerstehen“ und die folgenden Sprüche (146ff); die intensive Spruchreihe Lk 6,27-38 (150ff); das Wort von der Feindesliebe (154ff) und weitere Sprüche der kreativen Zuwendung (158ff); das Problem einer insgeheim religionsgesetzlichen Erziehung (174ff)

II. Jesus und der Opferkult

Jesu sog. Tempelreinigung (178ff); Opferbestimmungen derThoraunddieOpferkritikderSchriftpropheten (184ff); das Gottesbild im Opferkult (190f); Jesu Wort gegen das Opfer Mt 5,23 (192ff); der Tempel, eine Stätte des Opfers oder ein Haus des Gebets (196f); nochmals: die Tempelreinigung Jesu (198ff); der Gegensatz des Opferkultes zur Basileia (204ff); Opfer-Aussagen im Neuen Testament, Hebr. 9,22 u.a. (206ff); die Sühnopfer-Deutung des Todes Jesu (207ff); eine Opfertodfreie Passions-Skizze (211ff)

III. Jesu Ansage der Gottesherrschaft

Jesu Basileia-Verkündigung (217ff); ‚Basileia‘ ist nicht ‚Himmelreich‘ (218f); die Gegenwärtigkeit der Basileia (219ff); die Seligpreisungen (222ff); Lk 17,21 und die nicht ‚außen‘ zu findende Basileia (227ff); die Basileia-Gleichnisse (230ff); das apokalyptische Missverstehen der Basileia und weitere Gleichnisse (243ff)

IV. Jesus und die Apokalyptik

Die ‚immanente‘ alttestamentliche Eschatologie (271f); das Entstehen der Apokalyptik in der Seleukidenzeit (273ff); typische apokalyptische Aussagen (276f); das sog. ‚Gleichnis vom Weltgericht‘ Mt 25 (282ff); die sog.‚Synoptische Apokalypse‘ Mk 13 (285ff); ein erster Überblick über die ‚Synoptische Apokalypse‘ (285ff) und Beobachtungen zu ihren Abschnitten (288ff); der Hauptteil der‚SynoptischenApokalypse‘Mk13,14-23istverschlüsselteWarnungvordemAnrückenderRömer(300ff); Lukas entschlüsselt in diesem Sinne (308f); Jesus selbst spricht in Mk 13 nicht und schon gar nicht vom Weltuntergang (309f); das ‚Dreikaiserjahr‘ 69 (313f); für LukasöffnetsicheinneuerZeitraumvordemEnde (318ff); für Matthäus folgt auf die Heidenmission die baldige Parusie (320ff); die apokalyptische Rede in Lk 17 (324ff); Jesus dachte und lehrte nicht apokalyptisch (333ff)

Schlussgedanke

Worterklärungen

(erklärte Begriffe sind, zumindest bei ihrem ersten Vorkommen, im Text mit * gekennzeichnet)

Hinweis:

Einige der im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Bibelstellen sind auch in zwei früheren Büchern des gleichen Verfassers (ausführlicher) behandelt.

Hierauf verweisen, jeweils im Text und mit Angabe der dortigen Seitenzahl, die Stichworte ‚Glaubensbekenntnis‘ und ‚Vaterunser‘:

Das Glaubensbekenntnis – am Neuen Testament kritisch erklärt. Stuttgart (Kohlhammer) 2009.

Das Vaterunser. Jesu Themensammlung für das eigenständige Beten und Besinnen der Jünger. Stuttgart (Kohlhammer) 2016.

Vorbemerkung

Jesus wollte kein Religionsstifter sein, sondern ein Reformator. Er hatte nicht die Absicht, eine neue Religion zu begründen,eineanderealsdieseinesVolkes,derermitganzerHingabeangehörte.Erwolltevielmehrdieseseineererbte Religion, die er zu Lebzeiten in einer bestimmten Konstellation vorfand, reformieren – und zwar derart tiefgreifend und umfassend, dass dieses Anliegen ihm größte Aufmerksamkeit, Zustimmung und Anhängerschaft einbrachte,ihnaberauchineinenheftigenundtödlichendenden Konflikt mit den herrschenden religiösen Autoritäten wie in die permanente Auseinandersetzung mit einflussreichenzeitgenössischenGruppenführte.Wennschließlich nachösterlich doch eine neue Religion aus der Jesus-Bewegungentstand,ebendiechristliche,sohattediesneben den grundlegenden Reformimpulsen Jesu noch andere Ursachen, die Zäsur der Kreuzigung, die Verkündigung seiner ihn und sein Programm auf neue Weise lebendig erfahrenden und glaubenden Anhänger, das Herzuströmen der Heiden, die fortschreitende Vermischung von hebräischjüdischem mit griechisch-römischem Geist und in all dem insbesondere die sich rasch und intensiv entwickelnde urchristlicheLehre über JesusalsdenSohnGottesundauferstandenenhimmlischenHerrn,dievonwesentlichenTeilendesJudentumsalsunvereinbarmitseinemstrengmonotheistischen Anspruch abgelehnt wurde und noch mehr Spaltungspotential und Anlass zur Abgrenzung mit sich brachte als die ursprünglichen, als Erstursachen hinter den Entwicklungen stehenden Reformvorhaben Jesu.

Die Reform-Ansätze des irdischen Jesus zu erkennen und nachzuzeichnen,erfordertfreilicheinexegetischeswieauslegungsgeschichtlichesBewusstseindafür,dassdieLehre des Jesus von Nazareth den Evangelien des Neuen Testaments nicht so klar und eindeutig zu entnehmen ist wie etwa die Gedanken des Paulus der Anzahl der von ihm selbst verfassten Briefe. Denn was Jesus gesagt und gelehrt hatte und was über ihn berichtet wurde, ist jahrzehntelang vor der Niederschrift des Stoffes mündlich überliefertundindieserZeitspannevondenurchristlichen Gemeinden, die mit diesem Material als ihrem identitätsstiftenden Gut gearbeitet (und es ins Griechische übertragen) haben, ebenso bewahrend weitergegeben wie auch neu formuliert, auf Kernaussagen konzentriert wie auch erweitert, auf neue Herausforderungen hin aktualisiert und von neuen Erfordernissenherauchübermaltworden.Diesgeschahjeweilsin bester Absicht und nahezu unvermeidlich, denn bereits die Christen der ersten und zweiten Generation hatten die überkommeneJesus-ÜberlieferunganzuwendenfürVerkündigungundUnterweisung,fürden Dialog und den Abgleich mit der sich rasch entwickelnden urchristlichen Theologie, für interne Diskussionen und Richtungskämpfe, für die missionierende Gewinnung von Heiden ebenso wie für die apologetische Auseinandersetzung mit dem Judentum, für Seelsorge, spirituelle Begleitung und für die Ermutigung zum Durchhalten in der Verfolgung. Erst das MarkusevangeliumzeichnetekurzvordemJahre70denjenigen Teil der Jesus-Überlieferung, der seinem Verfasser zugänglich war, schriftlich auf; eine wohl schon früher geschriebene Spruch-Sammlung, die sogenannte Logien-Quelle ‚Q‘* (die als solche, eigenständig überliefert, nicht erhalten ist) hatte bereits Aussprüche Jesu umfänglich gesammelt; und diese beiden Schriften wurden von Matthäus (grob: um 80) und Lukas (grob: um90) zusammen mit weiteren Jesus-Überlieferungen und selbstverfassten Abschnitten ineinander gearbeitet. Hinzu kommt, dass in der Zeit der mündlichen Überlieferung mittlerweile urchristlichePropheten,analogdenalttestamentlichen,dieeinst„ im Namen des HErrn*“ zu sprechen pflegten, nun im Namen des auferstandenen Christus als des neuen „Herrn“ weitere von ihnen selbst formulierte ‚Jesus‘-Worte dem Überlieferungsstrom beigesteuert hatten. Der Johannes-Evangelist vollends bietet wenig altes überliefertes Material, sondern lässt seinen Jesus aus nachösterlicher Sicht und im Dienste seiner eigenen, johanneischen Theologie im ebenso anspruchsvollen wie zugleich eingängigen Stil der Lehrdialoge griechischer Philosophen reden. So sind Aussagen über die vorösterliche Verkündigung Jesu vor allem aus den nachösterlich geschriebenen ersten drei synoptischen* Evangelien nicht oberflächlich abschöpfend, sondern nur analysierend, den Überlieferungs- und Entwicklungsprozess bis zur Niederschrift mitbedenkend, zu gewinnen. Diesem komplexen Sachverhalt entspricht eine im Verlauf der Forschungsgeschichte wechselnde kritische Einschätzung der Chancen, die Verkündigung Jesu überhaupt, gar sicher, rekonstruieren zu können.

Die folgenden Auslegungen sind jedoch von der Zuversicht getragen, an markanten ausgewählten Stellen noch die Stimme Jesu hinreichend deutlich, ja sogar mit großer Kraft zuvernehmen.MitÜberraschungundBetroffenheitistaberbeimehrerenderausgewähltenTextabschnittefestzustellen, dass die in ihnen sichtbar werdenden Reform-Ansätze Jesu offenbar weder von allen Gruppen der Urchristenheit voll aufgenommen oder durchgehalten noch von den christlichen Kirchen bis heute hinreichend umgesetzt und verwirklicht worden sind. Wenn bereits die frühenachösterlicheUrchristenheit,nochvorderVerschriftlichung der Jesus-Überlieferung, den weitgreifenden Reformimpulsen Jesu – wie es an mehreren zu besprechenden Stellen erkennbar wird - nicht konsequent gefolgt ist,sondernsieabgemildertundteilweiseblockierthat,obwohl diese Impulse manchen von ihr gleichwohl weitergegebenen Worten Jesu deutlich zu entnehmen sind, dann können nach aller Wahrscheinlichkeit solche Reformworte und -gedanken nicht nachösterliche Gemeindebildungen sein, sondern müssen von Jesus selbst stammen.

Eine Auslegung solcherart ‚reformatorischer‘ Jesusworte formuliert zwar implizit auch jeweils Desiderate für christlichesUmdenkenodergarkirchlicheReformenim 21.Jahrhundert, hat aber primär und explizit zu beschreiben, welches neue Denken und welche Veränderungen Jesus seiner Zeit und Umwelt abverlangt hat und welche Gründe dafür zu erkennen sind, dass bereits vom Urchristentum diese wichtigen Anliegen Jesu lediglich unvollständig weitergereicht oder verwirklicht worden sind. Denkanstöße für die Gegenwart ergeben sich aber bei dem Versuch, die Reformimpulse Jesu und die sie hindernden Gegenkräfte zu beschreiben, wie von selbst.

Reformbestrebungen zielen zunächst grundsätzlich auf dasaktuelleigeneSystem,siekönnenabereinestarkeResonanz-Nachwirkungentfalten,wennsie,alshilfreicherkannt undfürrichtigbefunden,auchaufspätere,zumalanalog reformwürdige Systeme angewandt werden. Das exegetische Herausarbeiten eines tiefgreifenden Dissenses und Konfliktes zwischen Jesus und jenen Autoritäten, Gruppierungen und Strömungen, die einst im zeitgenössischen Judentum den Tempelkult und die Gesetzesauslegung beherrschten oder apokalyptisches Gedankengut verbreiteten, will daher nicht schlichtweg als rückschauende Kritik an vor- und außerchristlichen Positionen verstanden werden, sondern im erkennbaren Ineinander von Rezeptionsund Abwehrvorgängen auch eine uns Heutigen gestellte Positionierungsaufgabe benennen, es will als kritische Anfragegesehenwerdenanvergleichbarexistierendeundherrschende Kreise, Autoritäten und Anschauungen in den christlichen Kirchen (wie, im Nebeneffekt, auch in importierten fremdreligiösen Fundamentalismus-Strömungen mit analogen aktuellen Einflussansprüchen), ja sogar an verbreitete und Dominanz beanspruchende ähnliche Denkmuster in modernen säkularen Gesellschaften. Erst wenn diese Optik scharf gestellt ist, kann Jesus auch heute wieder als ‚Reformator‘ gesehen werden und wirken.

I. Jesus und das Religionsgesetz

1. Der Sabbat

Wir beginnen mit der Betrachtung eines nicht übermäßig bekannten, aber überraschend aussagekräftigen Abschnitts aus dem Markusevangelium, der Erzählung von der ‚Heilung einer gelähmten Hand am Sabbat‘, Mk 3, 1-6:

1 Und er [Jesus] ging abermals in eine Synagoge. Und es war da ein Mensch, der hatte die Hand verdorrt. 2 Und sie belauerten ihn, ob er am Sabbat ihn heilen werde, damit sie ihn verklagen könnten. 3 Und er spricht zu dem Menschen, der die dürre Hand hatte: „Steh auf, in die Mitte!“ 4 Und er spricht zu ihnen: „Ist es recht, am Sabbat Gutes zu tun oder Schlechtes zu tun, Leben zu erhalten oder zu töten?“ Sie aber schwiegen stille. 5 Und sie ringsum anblickend mit Zorn, sehr betrübt über die Verhärtung ihres Herzens, spricht er zu dem Menschen: „Strecke deine Hand aus!“ Und er streckte [sie] aus; und seine Hand ward wiederhergestellt. 6 Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald einen Rat mit des Herodes Leuten über ihn, dass sie ihn umbrächten.

Das Wichtigste an dieser kurzen Geschichte steht in ihrer Mitte; der Kernsatz der Erzählung ist Jesu Frage (Vers 4b): ‚Soll man am Sabbat Gutes tun oder Schlechtes tun, Leben erhalten oder töten?‘ Bei diesem Satz ist nicht nur auf den Sinn, sondern auch auf die verwendete Ausdrucksweise zu achten. Die Frage gibt sich nämlich in ihrer Zweiteiligkeit als Doppel-Formulierung zu erkennen, die aus zwei Sprach-Milieus hervorgegangen ist: sie besteht aus einer typisch griechisch geformten ersten Hälfte und einer erkennbar hebräisch-aramäisch klingenden zweiten. Beide kurze Satzhälften sagen das Gleiche aus, formulieren es aber auf dem Hintergrund verschiedener Sprach- und Kulturkreise: „Gutes tun“ oder „Schlechtes tun“, „agathon poiēsai“ oder „kakopoiēsai“, ist so typisch griechisch ausgedrückt, wie die Worte „Leben erhalten“ oder „töten“ hebräisch-aramäisch gedacht und formuliert sind. „Leben“ (hier im griechischen Markustext „psyche“) kann im semitischen Sprachraum das gleiche Wort wie „Seele“ sein (hebr. „näfäsch“), der lebendige Wesenskern eines Menschen, die ‚lebendige Seele‘, deren Wesen es ist, zu ‚leben‘, und die ‚un-lebendig‘ zu machen oder zu halten eben heißt, sie zu ‚töten‘.

Jesus hat aramäisch gesprochen. Ganz offensichtlich ist in diesem mittleren Kern-Sätzchen von Mk 3,4b ein altes originales Jesus-Zitat bewahrt und zunächst in recht wörtlicher griechischer Übertragung überliefert, dann aber zusätzlich noch mit einer dem Verständnis dienenden griechischen vorangestellten kurzen Paraphrase erweitert worden, damit auch diejenigen griechischen Leser oder Hörer des Evangeliums, welche mit dem semitischen Idiom nicht bestens vertraut sind, den Sinn richtig verstehen. Die semitisch klingenden Worte in diesem Vers 4b, welche die Überlieferer offensichtlich durch eine verdeutlichende Zufügung besser verständlich zu halten bemüht waren, dürfen somit als echtes erhaltenes Original-Zitat von Jesus angesehen werden.

Trotz ihres Bemühens um Verdeutlichung fällt die griechisch erklärende Paraphrase gegenüber dem Originalton Jesu spürbar ab an Bildhaftigkeit und gebündelter Kraft des Gedankens. Dass man „Gutes“ tun solle und nicht „Schlechtes“, klingt wesentlich konventioneller, abstrakter, harmloser und zustimmungsfähiger als die von Jesus in die als angespannt dargestellte Situation geradezu hinein-geknallte Alternative: soll man – speziell soll er jetzt, in dem hier vorliegenden Fall – „Leben retten“, eine lebendige Seele lebendig erhalten, wieder aufleben lassen oder sie „töten“, in ihrer Lebendigkeit eingeschränkt bleiben lassen?

Diese Alternative könnte, derart formuliert, als Übertreibung aufgefasst werden. Ein Mensch, der eine gelähmte oder verkrüppelte Hand hat (wahrscheinlich ist an eine Lähmung zu denken; zur Vorstellung von „verdorrt“ kann man 1 Kön 13,4 vergleichend heranziehen), stirbt daran nicht, schon gar nicht noch am gleichen Tag, am Sabbat. Es geht nicht wirklich, nicht wörtlich um ‚Leben und Tod‘.AberJesus–und das wird von seiner alltäglichenMuttersprachedesAramäischenundseiner gehobenen Religions-Sprache des Hebräischen besser ausgedrückt als vom Griechischen – empfindet es dennoch so, in übertragener Tiefe: eine solche Behinderung ist eine Einschränkung des Lebens, der Lebendigkeit, und zwar nicht nur der körperlichen, sondern auch – und das ist im hebräischen Wort ‚näfäsch‘ und sogar im griechischen Wort ‚psyche‘ eben inbegriffen – der seelischen. Sich hier für das Leben zu entscheiden, ist – obwohl der Gedanke in eine rhetorische Frage gekleidet begegnet – für ihn eben keine Frage.

Diese Alternative, die Jesus denen vorträgt, die ihn „belauern“ und die ihm keine Antwort geben werden, ergeht in der unverkennbaren Gestalt einer ‚Fach‘-Frage, einer Frage unter ‚Fachleuten‘, nämlich Gesetzeskundigen: sie beginnt mit der ganz spezifischen Formulierung „Ist es erlaubt“, ist es möglich, ist es recht (griechisch: ‚exestin‘)? So formulierten die Rabbinen, wenn sie religionsgesetzliche Entscheidungen diskutierten und trafen. Dieses „Ist es erlaubt“ – oder nicht – meint: Ist etwas konform mit der Thora, mit dem Religionsgesetz? In eben diesem Sinne begegnet das Wort auch in Mk 2,24pp.26pLk; 6,18pMt; 10,2pMt; 12,14pp; Mt 27,6; Lk 14,3.

Die religionsgesetzliche Bestimmung, die hier zur Diskussion steht, war die äußerst ernst genommene und streng ausgelegte Verpflichtung zur Sabbatruhe. Eine Heilbehandlung am Sabbat war ‚nicht erlaubt‘. Zwar kannten und diskutierten die Rabbinen sehr wohl auch Ausnahmen; vor allem war eine solche bei Lebensgefahr möglich. Doch Lebensgefahr, ja auch nur die Gefahr einer Verschlimmerung lag bei einer (schon seit langem) gelähmten Hand nicht vor. Der Fall war eindeutig. Würde Jesus den Mann am Sabbat ‚behandeln‘, „heilen“, wäre sein gesetzesübertretendes Verhalten offenkundig, er hätte sich als ‚Gottloser‘ (so lautet die stehende deutsche Bezeichnung in der Lutherbibel für den Gesetzesübertreter, den ‚raschac‘, an unzähligen alttestamentlichen Stellen) selbst öffentlich diskreditiert.

An dieser Stelle erscheint es ratsam, die direkte Auslegung für einen Moment zu verlassen und eine in der Erzählung enthaltene Schwierigkeit anzusprechen. Denn bevor wir die Szene und deren Mitte, diesen Ausspruch Jesu, eingehender bedenken, ist eine kurze Überlegung zu dem Umstand angebracht, dass die vorliegende Erzählung die Züge einer Wundergeschichte trägt. Disqualifiziert dies womöglich die Einschätzung des zentralen Jesus-Wortes, des Verses 4, als historisch?

Der Abschnitt Mk 3,1-6 stellt eine Mischung zweier ‚Gattungen‘ dar. Innerhalb der Rahmenhandlung einer Wundergeschichte, einer Wunderheilung, wird – wie es die Exegese nennt – ein ‚Streitgespräch‘ wiedergegeben bzw. überliefert. Das Streitgespräch ist im Falle von Mk 3,2-4 allerdings sehr kurz, ja rudimentär, nämlich einseitig: nur Jesus spricht, die andere Seite schweigt anfangs lauernd – und zwischen den Zeilen wird ausgedrückt, dass Jesus dies wahrnimmt und richtig deutet – und schweigt am Ende wiederum, nun verstockt, um Jesus nicht recht geben zu müssen. Dennoch sind die kontroversen Positionen dem Leser klar, so als ob sie ausgesprochen worden wären. Doch nun ist dieses rudimentäre Streitgespräch hineingestellt in eine ähnlich rudimentäre Wunderheilungserzählung: es wird in der rahmenden Wundererzählung nur gesagt, dass ein Mensch mit einer gelähmten Hand anwesend war, dass Jesus ihn aufforderte, die Hand auszustrecken, und die Hand „wiederhergestellt“ wurde. Andere Wundergeschichten sind wesentlich intensiver ausgeschmückt. Ohne den Einschub eines Mini-Streitgesprächs würde wohl deutlicher auffallen, dass mehrere ‚Gattungs‘-Merkmale einer Wundergeschichte hier fehlen, etwa anfängliche Ausführungen dazu, wie sehr und wie lange der Kranke schon litt, oder ein staunendbejubelnder ‚Chorschluss‘ am Ende.

Bereits im vorangehenden Kapitel, in Mk 2,1-12 begegnet eine vergleichbare Kombination von Wunderheilungsgeschichte mit eingelagerten streitgesprächsartigen Sätzen. Dort wird ein Gelähmter auf seinem Lager durch dasabgedeckteDacheinesRaumes,indemJesuszur dichtgedrängten Volksmenge spricht, von Helfern herabgelassen; Jesus spricht dem Gelähmten Sündenvergebung zu; daraus entwickelt sich ein (gleichfalls einseitig stummes) Streit‚gespräch‘ über die Frage, ob Jesus die Vollmacht habe, Sünden zu vergeben; am Ende heilt Jesus den Gelähmten mit der (so drastischen wie bekannt gewordenen) Aufforderung: „Nimm dein Bett und wandle!“ Die Intensität der Krankheit, die Dringlichkeit des Wunsches nach Heilung, die verblüffende ‚Heilmethode‘ und der staunende Chorschluss der Menge sind in jener Geschichte, anders als hier, miterzählt.

Wie kommt es zur Verschmelzung von Streitgesprächen mit Wundergeschichten, oder anders gesagt, dazu, Überlieferungen, welche von heftigen Kontroversen über Lehr- und Verhaltensfragen Kunde geben, in Heilungserzählungen einzubetten; warum werden Aussprüche, die Reflexions- und Abstraktionsvermögen voraussetzen, hineingestellt in leicht und angenehm zu hörende Wundergeschichten? Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar – und wenn dies nun kurz an‑gedacht wird (ausführlicher unten S. 113ff), dann nicht zu dem Zweck, eine (zu) kurz greifende Mini-Erklärung des komplexen Phänomens der Wundergeschichte zu geben, sondern um für heutige Bibelleser mit verschiedenem Vorverständnis in der Wunder-Frage gleichwohl dem wichtigsten Satz in unserer Erzählung von der ‚Heilung der gelähmten Hand am Sabbat‘, diesem Wort Mk 3,4 – dessen intensivere Auslegung noch ansteht – auch bei mehreren möglichen Betrachtungsweisen des ‚Wunders‘ Gewicht beizumessen als einem aussagekräftigen und auslegungswürdigen Satz, der ein Stück alter Überlieferung darstellt.

Als eine Möglichkeit wäre denkbar, dass Jesus tatsächlich verblüffende Heilerfolge erzielt hat, insbesondere in Fällen, die von der Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts vielleicht als ‚hysterische Lähmungen‘ bezeichnet worden wären (der erste bedeutende Fall des jungen Sigmund Freud, den er von seinem Lehrer Breuer übernahm,jenePatientin„AnnaO.“,littunteranderemanderartigen Symptomen). In diesem Falle hätte das Ineinander von Wundergeschichte und Streitgespräch einen historischen Kern. Als andere Möglichkeit wäre vorstellbar, dass im Verlauf des Weitererzählens sich gerade kleinere Überlieferungseinheiten verschiedener Gattungen bisweilen gemischt haben, sei es unabsichtlich oder absichtlich. Letzteres wäre dann etwa aus dem Motiv heraus geschehen, einem zwar wertvoll wirkenden, aber sich angesichts seiner Kürze nicht von selbst voll erschließenden Überlieferungs-Einzelstück, dessen Verortung in einer historischen Situation nicht mitüberliefert war, einen gefälligen Rahmen zu geben, der seine Beachtung und Verbreitung befördert. Nicht im kleinen Maßstab einer Einzelstelle, sondern im großen Maßstab eines komplexen Werkes erweckt speziell das gesamte Markusevangelium, wenn man dies einmal so pauschal ausdrücken darf, bisweilen den Eindruck, Markus arbeite recht gerne mit Wundergeschichten, weil diese Erzählungen einem noch nicht besonders hochentwickelten Interesse an Jesus entgegenkommen, um den Leser, einmal angelockt, dann doch auf eine geistigere Stufe der Erkenntnis zu führen und um schließlich die benutzten Wundergeschichten mit der recht stereotypen Mahnung wieder deutlich zu neutralisieren, dass man – wie eigentlich schon von Anfang an, als es ‚geschah‘ – das Wunder am besten gar nicht weitererzählen solle. – Unabhängig davon, ob nun die eine oder andere Erklärung auf unseren Abschnitt zutreffen könnte oder nicht, der Kernsatz Mk 3,4 büßt durch seinen Standort innerhalb einer Wundergeschichte nichts von seiner Authentizität ein, denn er weist sich durch seine beschriebene ‚Doppel-Sprachlichkeit‘, seine in griechischem wie in aramäischem Idiom transportierte Aussage, als ein Stück alter Jesus-Überlieferung aus.

Was sagt der Satz nun? Jesus stellt der gesetzesbeachtenden Frage, der in der Szene nicht voll ausgesprochenen Frage „Was ist im vorliegenden Fall vom Religionsgesetz, von der Thora und ihrer gültigen Auslegung her geboten oder verboten“ – und dies war eine Frage, die im Umkreis von gesetzesstrengen Pharisäern und gesetzeskundigen Frommen, denen Jesus als zu gesetzesliberal verdächtig schien, allgegenwärtig war –, er stellt also dieser Frage seiner Gegner „Was ist erlaubt oder nicht“ die Gegenfrage, die überbietende Alternative gegenüber: „Was dient dem Leben oder was behindert Leben?“

Diese Gegenfrage Jesu bewegt sich auf einer anderen Ebene als die Diskussion darüber, was am Sabbat erlaubt sei. Die Alternative „Was bewahrt und was behindert Leben“ verschließt sich einer Kasuistik ebenso wie einem Anknüpfen an die Überlieferungskette anerkannter religionsgesetzlicher Entscheidungen, wie wir sie im (später aufgezeichneten) Talmud finden („… Rabbi x hat gesagt, dass Rabbi y gesagt hat, dass dieses so und nicht so zu entscheiden sei … “). Der Gedanke Jesu stellt auch kein apodiktisches göttliches Gebot dar („Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen“, Ex 20,8). Die Frage Jesu impliziert vielmehr eine Art ‚kategorischen Imperativ‘: ‚Handle jederzeit so, dass Du Leben förderst und nicht behinderst!‘

Man könnte einwenden, es sei im konkreten Lebensvollzug mit seinen tausendfach begegnenden Entscheidungsanforderungen nicht immer völlig klar ersichtlich, welche Alternative dem Leben besser dient. In der Tat, diese Maxime bedarf der Reflexion, der Selbstprüfung, des Einfühlens und einer grundlegenden tiefen Liebe zum Leben. Die Orientierung an vorgegebenen Normen erscheint im Vergleich dazu manchen Menschen als wesentlich einfacher. Doch gerade vorgegebene Normen rufen nach diffizil-komplexer Kasuistik und münden, ja entarten nicht selten in immer kleinteiligere Auslegungs- und Ausführungsbestimmungen hinein. Jesus überbietet, überlagert, überwölbt mit seiner Grundsatz-Alternative „Leben fördern oder behindern“ alle normsetzenden Konstrukte, alle religionsgesetzlichen Schul-Gebäude, alle verästelte Kasuistik, er macht die Orientierung an überlieferten Vorentscheidungen angesehener Autoritäten überflüssig, ja er stellt die Menschen davon frei, bei entstehenden Fragen des Rechtverhaltens eine Entscheidung des Rabbis einzuholen, er traut es den Menschen und seinen Jüngern zu, selbst das Richtige zu finden anhand solcher Maximen wie der hier begegnenden: ‚Frage dich, was dem Leben dient oder was es behindert‘, und – selbst wenn, modern gesprochen, die Entscheidung nicht hundertprozentig fällt, sondern mit 60 zu 40 Prozent Wahrscheinlichkeit – du hast die Antwort, zumindest die Richtung. Gewiss kann der Mensch, der nicht einem Gebotskatalog folgt, sondern selbst abwägt, bei seiner Entscheidung irren; aber noch häufiger und gravierender kann das gedankenlos sture Befolgen von Normen (das den Befolger auch nicht ‚reifen‘ lässt) ins ethische Abseits führen.

Diese Ermündigung zur Freiheit, zur Eigenverantwortung,dievonJesusausgeht,istatemberaubend.Siemuss Menschen, die im Gehorsam gegenüber einem alles bis ins Kleinste durchregelnden religionsgesetzlichen System zu leben gewohnt waren und die solchen Gehorsam als den vornehmsten und wichtigsten Dienst an Gott verstanden, wieeinblasphemischesBeiseiteschiebendesheiligenGottesgesetzes erschienen sein. Jesu Kernsatz von Mk 3,4 steht in etwa gleichberechtigt, wenn auch weit weniger beachtet und bekannt, neben der sogenannten ‚Goldenen Regel‘ aus der Bergpredigt (Mt 7,12 pLk 6,31): „Alles nun, was ihr irgend wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen!“ Auch diese ‚Goldene Regel‘ ermutigt und ermündigt die an ethischem Verhalten Interessierten dazu, das Richtige selbst herauszufinden, ohne religionsgesetzliche Kasuistik, ohne Befragung der Rabbinen. In einem Stück lukanischen Sonderguts (Lk 12,57) spricht Jesus es so aus: „Wieso eigentlich könnt ihr nicht von selbst (von euch aus) das Rechte herausfinden?“ Eben diese Reife erwartet Jesus von seinen Anhängern – und so verhält er sich auch selbst.

Jesus verhält sich der Erzählung nach (der wir nun doch wieder folgen) sogar recht demonstrativ in diesem Sinne. Wenn er in Mk 3,4a den Menschen mit der gelähmten Hand auffordert, aufzustehen und in die Mitte zu kommen, dann dient dieses Herausrufen gewiss nicht primär der etwaigen Heilung, sondern der ‚Lektion‘, die er den anwesenden Gesetzes-Eiferern erteilen will. Heilen oder behandeln können hätte Jesus den Mann auch am Rande der Synagoge, ja am folgenden Tage bzw. am Abend nach dem Ende des Sabbats – und der Mann wäre dafür gewiss nicht weniger dankbar gewesen. Doch Jesus nutzt den Anlass, den ihm der anwesende Kranke einerseits wie die ‚lauernden‘ gesetzestreuen Synagogenbesucher andererseits boten, nun (so die Erzählung) zum Aussprechen eines ‚Lehrsatzes‘, der – hier oder anderswo entstanden, entsprechend der obigen Überlegung – es wahrlich wert war, überliefert zu werden: Förderung und Bewahrung des Lebens und der Lebendigkeit haben Vorrang vor allem, was das Gesetz ohne ausdrückliche Orientierung an diesem Ziel sagt.

Dieser positive Gedanke hat eine brisante negative Kehrseite: wollte Jesus konkret im vorliegenden oder in einem ähnlichen Falle anders entscheiden oder würden die Gesetzesfrommen allgemein die überkommene engmaschige Gesetzesregelung befolgen, ohne auf dieses Haupt-Motiv, die Bewahrung des Lebens und der Lebendigkeit, zu achten, dann würden sie – „töten“. Hier klingt bei Jesus bereits deutlich die radikale ‚Umwertung aller Werte‘ gegenüber den zeitgenössisch gesetzesorientiert Frommen an, die Paulus in 2 Kor 3,6 wenige Jahrzehnte später so ausdrücken wird: „Der Buchstabe tötet; der Geist macht lebendig.“

Wenn Jesus der Frage, was das Gesetz gebietet, die Alternative entgegenstellt „Soll man Leben retten oder töten“, dann ist darin in der Tat die Kritik impliziert, dass Gesetzeseifer „töten“ kann. Das Problem ist zeitlos und betrifft wahrhaftig nicht nur jüdische Pharisäer des 1. Jahrhunderts. In der Szene von Mk 3,1-6, in der die kritisch beobachtenden Gesetzestreuen einhellig eine Heilung am Sabbat ablehnen, ist in Jesu Gegenfrage der massive Vorwurf enthalten, sie favorisierten das „Töten“ statt des „Bewahrens“ von Leben. Für einen überzeugten Pharisäer muss der Gedanke, die Befolgung von Gottes heiligem Gesetz, welches Leben ermöglicht, könne auf der Seite des Tötens verrechnet werden, als reine Lästerung erscheinen. Entsprechend heftig, aber stimmig, endet der Abschnitt in Vers 6 mit einer „Beratung“, Jesus umzubringen, zu ‚eliminieren‘ (‚apolesōsin‘).

Dieser Schlusssatz der Erzählung, Mk 3,6 ist im Markusevangelium der erste Vorausverweis auf die Passion Jesu. Er steht an eben jener Stelle, an der man eigentlich einen die Wunderheilung bejubelnden ‚Chorschluss‘ erwarten würde, wie er zu vielen Wundergeschichten gehört. Insofern ist der Satz schroff, krass, erschreckend gesetzt. Es ist möglich, dass er nicht Teil der alten Überlieferung ist, sondern von Markus oder seiner Quelle formuliert und angefügt wurde. Und dennoch führt der Satz nicht etwa auf falsche Gedankenspuren, sondern fasst richtig zusammen: der Gegensatz zwischen Jesus und dem gesetzestreuen Judentum in der Frage der Gesetzesbeachtung war so heftig, dass er letztendlich mitursächlich wurde für Jesu Tod (s. unten S. 40f; 42ff).

Eine kontroverse Diskussion über die Wertigkeit und die genauen Inhalte der Bestimmungen des Religionsgesetzes erscheint uns Heutigen nicht selten wie etwas Überholtes, das zwar zugestandenermaßen die historisch-kritische Exegese biblischer Texte beschäftigen mag, aber für gegenwärtige Entscheidungsfindung keine wichtige Rolle mehr spielt. Das aber ist eine Illusion, denn das Problem ist zeitlos, es begegnet nicht nur in unserer eigenen biblischen und kirchlichen Überlieferung, nicht nur aktuell mit neuer Wucht in Fremdreligionen, sondern sogar im säkularen Bereich. Jede Gesellschaft bedarf der Steuerung durch Gesetze und Regeln. Diese müssen sich aber in der Tat zum einen an der ‚Lebens-Förderung‘ orientieren und dürfen ihr nicht entgegenstehen. Zum anderen ist die Frage zu bedenken, wer in welchem Bereich auf Gesetzesobservanz zu verpflichten und was bzw. wie viel festzulegen ist. Gewiss sind Kinder und Jugendliche auf Regeln der Rücksichtnahme hin zu erziehen. Gewiss ist dem Gewalttäter,dem Verbrecher und dem Betrüger mit klarenBestimmungenEinhaltzugebieten.Gewisssind Grundfunktionen des Zusammenlebens zu ordnen und zu regeln. Aber der Geltungs-Anspruch des Religionsgesetzes reicht ja weit über Derartiges hinaus. Es weist auch noch den bereits bewusst und verantwortlich nach ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Lebensführung fragenden Menschen, also auch denjenigen, der bereits ein ethisches Sensorium entwickelt hat und der gar nicht darauf sinnt, sich über Grenzen der Rücksichtnahme und der Ehrlichkeit ungerührt hinwegzusetzen, immer wieder nur auf sich, das Gesetzessystem und seine weiteren Verzweigungen und Verästelungen zurück. Es spiegelt fälschlich vor, mit den zunehmenden Anforderungen eines differenzierter werdenden Lebens auch selbst, per zu entwickelnder Kasuistik, hilfreich mitwachsen zu können. Es wird mit seinem eigenen Anwachsen aber nicht nur übergewichtig, sondern es verhindert gerade auf diese Weise die Entwicklung der Mündigkeit und Urteilsfähigkeit des nach dem Richtigen suchenden Menschen. Er ersetzt Einsicht und Weisheit durch Gebotskenntnis (mit nicht endendem Fortbildungsauftrag in immer detaillierterem Gesetzesstudium). Es verhindert Ethik und propagiert Gehorsam. Es verschließt sich Neuem und reproduziert Altes.

Eine solche Problematik ist jedem ausgestalteten Rechtssystem in nuce inhärent, ganz besonders aber einem, das sich als religiös (oder im säkularen Bereich als ideologisch) begründet versteht und für seine internen Fehlentwicklungen dadurch blind wird, dass es auch diese als besonders intensiven Dienst und ausgeprägten Gehorsam gegenüber Gott (bzw. gegenüber den Zielen der Ideologie) versteht.

Ein normatives System steuert den Menschen, der es befolgt, von ‚außen‘. Der Satz Jesu, es gelte dem Leben zu dienen, steuert von ‚innen‘ – denn er ist nicht mechanisch, nicht ohne eigene Abwägung, eigenes Einfühlen, eigene Intuition zu befolgen. Jesus will Außensteuerung durch Innensteuerung ersetzen. Innensteuerung ist das überlegene Prinzip. Außensteuerung ‚verhärtet‘ und muss Angriffe von außen abwehren, lässt aber innere Entwicklungsdefizite zurück; Innensteuerung stabilisiert und macht nach außen flexibel – doch diese letzteren Gedanken wollen erläutert werden (und zwar mit einem Beispiel aus dem Bereich der Biologie und einem aus der Architektur): ein Insekt hat das Stabilitätsgebende, Körper-Tragende außen, in Gestalt eines Chitin-Panzers. Dieser ‚panzert‘, stützt und trägt, er ist hart nach außen – doch wenn er durch äußere Einwirkung bricht, stirbt das Tier. Wirbeltiere (auch wir Menschen) haben das Stabilisierende, Tragende innen. Eine von außen kommende Verletzung kann in gewissem Umfang abgefangen und geheilt werden, und die Tragfähigkeit und Belastbarkeit ist nicht bezahlt mit Starrheit, sondern ermöglicht weiche Beweglichkeit. – Ähnlich hat ein herkömmliches Haus seine tragenden Elemente außen, in Gestalt von Außenmauern. Ein Hochhaus, gar ein Wolkenkratzer, hat sie dagegen innen (wären die Außenwände tragend, würde sich das hohe Gebäude unter Sonneneinstrahlung und unterschiedlicher Erwärmung krümmen). Überträgt man solche oder andere Beispiele auf das Psychische, dann heißt das: der außen-bestimmte Mensch panzert sich, lässt abprallen, und wenn er seinen Panzer verliert, verliert er auch seine Festigkeit und Stärke; der innen-gesteuerte Mensch hat seine Stärke, sein ‚Rückgrat‘ in seinem Inneren und kann nach außen weich sein, ohne instabil zu werden. – Man könnte die Vergleiche weiter treiben; der Unterschied ist deutlich. Gesetzesreligion bzw. Religionsgesetz verhindern ein Heranwachsen zum vollen offenen eigenverantwortlichen Menschsein.

Wiederum ist es Paulus, der diesen Sachverhalt etwas später meisterlich in Worte fassen kann: als wir noch unter dem Gesetz standen, sagt er, glichen wir einem heranwachsenden Jugendlichen, der sich von einem im gleichen Haushalt dienenden Sklaven nicht unterschied – denn beide mussten gehorchen. Als aber die Freiheit kam, die uns Christus schenkte, wurden wir zu mündigen, volljährigen erwachsenen Kindern, für die der Vater die Freiheit, anders als für die Sklaven, schon immer vorgesehen und vorherbestimmt hatte, zu der wir aber jetzt erst reif geworden sind (Gal 4,1ff). Und wenn Paulus den harten Satz formuliert „Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes“ (Gal 3,13), dann steht er mit dieser Einschätzung in der Spur Jesu, der Mk 3,4 gesagt hatte, die Gesetzesbefolgung hindere daran, dem Leben zu dienen. Oft wird in der theologischen Literatur Paulus gegen Jesus ausgespielt; zu Unrecht; dennanvielenmarkantenStellenzeigtsich:wichtigeGrundgedanken, die Paulus ausformuliert, hat er – von Jesus.

Es scheint in der Exegese des Neuen Testaments gegenwärtig eine zunehmende Tendenz sichtbar zu werden, Jesus derart in seine zeitgenössische jüdische Umgebung einzuzeichnen, dass er kaum mehr aus ihr heraussticht, sich auch in seinen Aussagen nicht bemerkenswert von dem entfernt, was jeder Rabbi mit seinen Kollegen hätte diskutieren können. Doch es ist zweierlei zu unterscheiden: Sprachgebrauch und Begrifflichkeit, Dialogtechnik und Bildhaftigkeit des Ausdrucks entnahm Jesus dem Alten Testament, dem Hebräischen und Aramäischen, dem zeitgenössischen Judentum; und er teilte dies alles mit dem Rabbinat. Zugleich konfrontierte er aber gesetzestreue (und ebenso priesterliche) Kreise derart heftig mit neuen Denkansätzen – die er natürlich in zeitgenössischer Begrifflichkeit vortrug –, dass er mit jenen in einen tödlich endenden Konflikt geriet.

Wenn Jesus – und das sei als drittes Parallelbeispiel neben die zwei Sätze Mk 3,4 vom ‚Leben bewahren oder töten‘ und Mt 7,12, die sogenannte ‚Goldene Regel‘, gestellt – das bekannte ‚Doppelgebot der Liebe‘ formuliert, dann kann mit Recht darauf hingewiesen werden, dass er doch hier nichts anderes tue als alttestamentlich-jüdische Tradition zu zitieren: wenn Jesus nach Mk 12,29ff pp sagt, das oberste Gebot sei, ‚Gott zu lieben‘ und ‚den Nächsten wie sich selbst‘, dann verbindet er Dtn 6,5 mit Lev 19,18 und formuliert insofern nichts Neues; in Mk 12 wiederholt der Jesus befragende Schriftgelehrte ja auch das soeben von Jesus zitierte Doppelgebot zustimmend (Mt hat diese Wiederholung weggelassen; bei Lk trägt nicht Jesus, sondern der Fragesteller das Zitat selbst vor), und er zitiert es sichtlich als etwas allgemein Bekanntes (der erste Teil ist schließlich das jedem Israeliten geläufige ‚Schemac‘*) und fügt hinzu: „das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer“ – und dies wiederum bringt ihm Jesu Lob ein: „Du bist nicht ferne von der Gottesherrschaft“. Doch gerade die von Jesus in unzähligen Gleichnissen und Sprüchen vor Augen gemalte ‚Gottesherrschaft‘ kommt offensichtlich ohne Religionsgesetz aus (s. unten S. 221ff), also auch ohne ein ‚erstes‘ und ‚oberstes‘ Gebot über vielen anderen – mit anderen Worten: bei Jesus wandelt sich das sogenannte ‚Liebesgebot‘ (unter der Hand und bei gleichem Wortlaut – es ist ja schließlich Zitat) von einem ‚Gebot‘ an der Spitze der Gebots-Skala zu einer ‚Faustregel‘, zu einem ‚heuristischen Rat‘, der nicht auf eine Wertung oder Hierarchie der Gebote zielt (sodass man, wenn man dem obersten folgt, die untergeordneten zwar außer Acht lassen könnte, dabei aber nicht die gesetzliche Orientierung überwinden würde), sondern der einem Menschen, der nach dem Richtigen sucht, zeigt, wie er das Richtige finden kann, ohne Gesetzeskunde, ohne Rabbinen-Auskunft: schlicht dadurch, den Nächsten zu lieben wie sich selbst.

Dieser allbekannte Satz „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“ wird etwa seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in ungezählten Psycho-Ratgebern und Selbsterfahrungsgruppen kritisiert und als unrealistisch und kontraproduktiv zur hilfreichen Selbstfindung abgelehnt und zurückgewiesen. Dem liegt ein Missverständnis zugrunde. Der Satz will nicht propagieren, man solle den Nächsten quantitativ ebenso lieben wie sich und kein bisschen weniger, sondern er will die Methode zeigen, die Faustregel benennen, mit der man, vor Entscheidungen gestellt, ohne Gesetzesvorgabe und Außensteuerung selbst das Richtige herausfinden kann; er sagt: versetze dich liebevoll einfühlend in die Lage des anderen und denke, du wärst anseinerStelle–undduhastdieAntwort.Derals‚Liebesgebot‘ bezeichnete Satz steht gleichsinnig neben der ‚Goldenen Regel‘, nicht an der Spitze einer Gebots-Pyramide, er ist bei Jesus nicht Lektion Numero 1 für Gesetzesgehorsame, sondern Anleitung zur Eigenentscheidung für Mündige.

Ein weiteres Mal ist es Paulus, der den hier ausgedrückten Grundgedanken, dass der Liebes-Grundsatz das Gesetzesdenken abzulösen habe, besser formulieren kann als alle anderen neutestamentlichen Autoren – allerdings ist der Gedanke so kühn, dass er bis heute Bibelleser und auch Bibelherausgeber zu überfordern scheint, denn er ist in allen verbreiteten deutschen Bibelausgaben unklar und unrichtig übersetzt. Paulus schreibt Röm 13,8: „Ihr seid niemandem etwas schuldig, außer einander zu lieben.“ Auf die Frage, was wir Christen, die von Christus vom Religionsgesetz befreit worden sind, schuldig sind zu tun, antwortet Paulus: „Niemandem nichts“ (‚mēdeni mēden‘) – „außer: einander zu lieben“. Nur so, als Indikativ verstanden, gibt der Satz Sinn und fügt sich zum Folgenden.

Übersetzt wird er aber regelmäßig als Imperativ mit: „Bleibt niemandem etwas schuldig“ – und somit wird aus dem Satz ein neues Gebot, eine neue Forderung –, „außer einander zu lieben“ – und dieser letztere Satzteil gerät zum Unsinn, denn wieso sollten wir uns die Liebe schuldig bleiben? (Zwar verweist nach griechischer Grammatik die Verneinung ‚mē‘ statt ‚ou‘ normalerweise auf einen Prohibitiv oder einen finalen Sinn, aber hier dient sie der Emphase, dem besonderen Nachdruck. In gleicher Weise mit nachdrücklicher Betonung formuliert Paulus auch die Aussage von 2 Kor 6,3, er gebe in nichts einen Anstoß, mit doppeltem ‚mē‘: ‚mēdemian en mēdeni‘, ‚in überhaupt rein gar nichts nicht den geringsten‘ Anstoß.) ‚Schuldig‘, sagt Paulus hier in Röm 13,8, nämlich schuldig im Sinne des Religionsgesetzes, ‚seid ihr niemandem absolut gar nichts – außer‘, nämlich im Sinne Jesu, ‚einander zu lieben‘ [vgl. ‚Vaterunser‘ 144f].

Das Beispiel und ein Blick in die gängigen Bibelübersetzungen zeigt, wie sehr Jesu Freiheit vom Religionsgesetz, die von Paulus voll verstanden wurde, selbst für heutige kirchliche bibelorientierte Kreise noch schwer nachzuvollziehen ist. Lukas schließt übrigens an der Stelle des Dialogs Jesu mit einem Gesetzeskundigen über das ‚höchste Gebot‘ (das Lukas nicht mehr so nennt) Jesu berühmtes Gleichnis vom ‚Barmherzigen Samariter‘ an (Lk 10,30ff). Mit dieser eingängig erfundenen Geschichte definiert Jesus nicht, wer der Nächste ist – worum der Fragesteller ihn gebeten hatte (nur das gesetzliche Denken braucht derartige Definitionen als Geltungsbereichs-Angaben und Ausführungs-Bestimmungen), sondern er erzählt ein Beispiel: wer mir der Nächste ist, muss ich in der jeweiligen Situation selbst erkennen, so wie ich das richtige Verhalten ohne Gesetzesnorm selbst finden muss – und kann! [ausführlicher: ‚Vaterunser‘ 145ff]

Jesus ersetzt den strikten Gehorsam gegenüber den Vorgaben des Religionsgesetzes mit der Aufforderung und dem Zutrauen, das Richtige aus dem Geist der Nächstenliebe und der Lebensorientierung heraus selbst zu finden. Damit gewährt er zugleich große Freiheit, wie er ebensogroße Eigenverantwortung einfordert. Er ‚macht es‘ seinen Nachfolgern nicht etwa ‚leicht‘, sondern er zielt auf etwas Anspruchsvolles. Die Freiheit vom Gesetz besteht nämlich nicht schlichtweg in einem ersatzlosen Wegfall der Normen, nicht in einem reinen Verzicht auf Regulierung – denn dies würde dem Leben nicht dienen, sondern das Übervorteilen und (wiederum) das ‚Töten‘ erlauben –, sondern diese neu qualifizierte Freiheit bedeutet: wo vorher Außensteuerung herrschte, muss Innensteuerung aktiv werden, wo Gehorsam war, müssen Verantwortung und Mündigkeit wachsen. Freiheit ist letztlich nicht allein ein Frei-Raum, hat nicht den Charakter eines reinen ‚Vakuums‘ an Pflichten, sondern bedeutet ein aktives ‚Können‘, eine Kunstfertigkeit, eine Fähigkeit, mit sich bietenden Möglichkeiten recht umzugehen und die Räume positiv zu füllen, die sich durch den Wegfall von Verboten und Begrenzungen geöffnet haben. Um dies an konkreten modernen kleinen Beispielen auszuführen und zugleich anzudeuten, wie sehr dies auch im profanen Bereich gilt, könnte man sagen: die in einer Demokratie garantierte Freiheit, die eigene Meinung zu äußern, nutzt demjenigen nichts, der keine hat. Die Freiheit zur eigenen Meinung beinhaltet im Grunde die Verpflichtung, sich eine solche umsichtig und verantwortungsvoll zu bilden. Das Recht der Freizügigkeit (den Wohnsitz frei zu wählen) ist von einem Menschen kaum wahrzunehmen, der nicht die materiellen oder (auf der europäischen Ebene) die fremdsprachlichen Fähigkeiten dafür vorbereitend erworben hat. Freiheit will auf eine höherwertigere Weise wahrgenommen werden als die Unfreiheit, und das heißt, der Freiraum muss ‚gefüllt‘ werden; Freiheit ist angewiesen auf positive Qualifikationen dessen, der sie nutzen möchte. Diese zu erwerben, zu pflegen und anzuwenden, ist die anspruchsvollere Aufgabe im Vergleich zum Gesetzesgehorsam. Einer Norm zu folgen, zumal einer strafbewehrten, ist auch einem Unmündigen sehr wohl möglich. In Freiheit richtige Wege zu gehen, bedarf dagegen der menschlichen psychischen Reife.

Eine in Aussage und Ergebnis ähnliche Überlieferung aus dem Markusevangelium kann als zweites Beispiel für Jesu Reform-Denken gegenüber dem ‚Gesetz‘ dienen, der Abschnitt Mk 2,23-28:

23 Und es begab sich, dass er am Sabbat am Rande durch die Saatfelder wanderte, und seine Jünger begannen, als sie vorwärts schritten, die Ähren auszureißen. 24 Und die Pharisäer sagten zu ihm: „Siehe, wieso tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ 25 Und er spricht zu ihnen: „Ihr habt wohl noch nie gelesen, was David tat, als er dringend etwas brauchte und er selbst Hunger litt und die mit ihm,26 wie er in das Haus Gottes hineinging unter dem Hohenpriester Abjathar und die ausgelegten Schaubrote aß, die zu essen nicht erlaubt ist, außer den Priestern, und er auch denen, die mit ihm waren, abgab?“ 27 Und er sprach zu ihnen: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat. 28 Folglich ist der Sohn des Menschen Herr auch über den Sabbat.“

Höhepunkt und Kernaussage dieses Abschnittes sind die letztenbeidenSätze,dieVerse27und28.Siekönntenüberliefert worden sein und wären aussagekräftig auch ohne das Vorangehende. Dieses Vorhergehende wirft fast mehr Fragen auf, als es Antworten enthält. Die einleitende Situationsangabe ist kurz, die Jünger ‚wandern‘, wörtlich: sie „machen den Weg“, und das heißt wohl nicht, dass sie ihn sich mühsam bahnen, sondern hier liegt schlichtweg ein für den Evangelisten Markus typischer Latinismus vor; hinter dem griechischen ‚hodon poiein‘ steht das lateinische ‚iter facere‘. So kann man sich vorstellen, wie die Jünger beim (unangestrengten) Wandern Ähren erst ausreißen und dann die Körner ausrubbeln und diese schließlich essen,d.h.zerkauen–aberdastutmanwenigerausakutem ‚Hunger‘, dem Stichwort der folgenden Sätze, sondern eher aus Beschäftigungsdrang und Spielerei. Wieso ‚die Pharisäer‘ bei diesem Wandern ‚entlang‘ der (‚para-‘) und ‚durch‘ die (‚dia‘) Felder als Beobachter oder gar Teilnehmer dabei sind, bleibt offen. Schließlich war wohl schon zur Zeit Jesu am Sabbat das ausgiebige Wandern über die 2000 Ellen eines ‚Sabbatweges‘ hinaus (vgl. Apg 1,12) für gesetzestreue Menschen ebenso verboten wie nach dem späteren Mischna-Traktat Schabbat VII,2 die Feldarbeit; daher können die anklagenden gesetzesstrengen Pharisäer kaum mitgewandert sein oder die Wanderer von ihren eigenen Feldern aus beobachtet haben. Vielleicht begegnen ‚die Pharisäer‘ als ‚klassische Gegenspieler‘ Jesu hier rein erzählerisch eingefügt. Die folgenden Verse 25 und 26 wirken aufgesetzt schriftgelehrt, sie zitieren eine tausend Jahre zurückliegende Begebenheit, aber sie zitieren falsch:derbetreffendeHohepriesterwarnach1Sam21,1-7 Ahimelech und nicht Abjathar. Und der in diesen Versen als Argument gezogene Vergleich ‚hinkt‘: damals bei David lag keine Sabbatverletzung vor, sondern es ging ums Essen verbotener Nahrung aus Hunger, hier jedoch geht es um ‚Arbeit‘, speziell um ‚Ernte‘-Arbeit am Sabbat (die nach Ex 34,21 ausdrücklich verboten ist). Man möchte fragen, ob die rechtfertigende Aussage der Verse 25 und 26 in einer Situation, wie sie die Einleitung vorgibt, nicht hinter der von Jesus normalerweise gewohnten gedanklichen und sprachlichen Kraft zurückbleibt. Hier scheinen, wie es auch die doppelt, je zu Beginn der Verse25 wie 27 begegnende Einleitungsformel für ein überliefertes Wort „und er spricht“/„und er sprach“ vermuten lässt, in der Tat verschiedene Worte zusammengewachsen zu sein. Die im ganzen Abschnitt am kraftvollsten, echtesten und kühnsten wirkenden sind eindeutig die beiden letzten Sätze. Sind die vorhergehenden Verse (mit ihren diversen kleinen Unstimmigkeiten) eingefügt worden, um diese als schroff empfundene Kühnheit zu mildern und um mit biblischem Vergleich argumentierend und zustimmungswerbend auf sie hinzuleiten?

Wechseln wir gedanklich kurz in die Gegenwart, um nachzufühlen, wie weitreichend der Satz Mk 2,27 ist: ‚Der Sabbat ist für den Menschen gemacht (wörtlich: ‚geworden‘, d.h. erschaffen worden) und nicht der Mensch für den Sabbat.‘ Wollte man heutige Begriffe einsetzen, könnte er lauten: ‚Die Schule ist für die Kinder da und nicht die Kinder für die Schule.‘ Oder: ‚Die Kirche ist für die Menschen da und nicht die Menschen für die Kirche.‘ Oder: ‚Die Verwaltung ist für die Bürger da und nicht die Bürger für die Verwaltung.‘ Oder: ‚Die Arbeitsplätze sind für die Menschen gemacht und nicht die Menschen für die Arbeitsplätze.‘ – In dieser Weise könnte man fortfahren.

Die Lebensorientierung, die Menschlichkeit Jesu, die aus der erstbesprochenen Perikope* Mk 3,1-6 hervorging, ist auch hier wieder deutlich zu spüren. Selbst eine heilige Ordnung hat dem Menschen zu dienen; der Mensch ist ‚heiliger‘. Und: Ordnungen haben konkret zu nützen, nicht abstrakt. Wenn die Sabbatruhe dem Menschen Erholung von der Arbeit, Zeit zum Besuch des Synagogengottesdienstes, Freiraum und Anreiz für Geistiges, Rhythmus und Struktur der Zeit schenkte (und dies bis heute – die 7-Tage-Woche ist das einzige Element, das alle Kalenderreformen unverändert überstanden hat), dann waren das konkrete, segensreiche Gaben. Wenn das Sabbatgesetz dagegen benutzt wird, um Minimalia zu regeln, ja zu verbieten, wie das Ausrubbeln und Kauen von Körnern, büßt es seine hilfreiche Funktion ein und wird pervertiert.

Doch nun fügt der Vers 28 einen neuen Gedanken hinzu: ‚Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.‘ – Wer ist der ‚Menschensohn‘? In der Regel wird der Begriff an dieser Stelle (zu Unrecht) als Hoheitstitel verstanden, mit dem Jesus sich selbst bezeichnet habe. Der Satz würde dann besagen: Jesus ist Herr über den Sabbat. Der Sinn wäre – und so wird die Stelle häufig ausgelegt: keineswegs jedermann, sondern nur und speziell Jesus als ‚Menschensohn‘ darf den Sabbat brechen bzw. die Sabbatgebote abweichend auslegen. So verstanden, würde der Vers 28 die weitergehende Aussage von Vers 27 wieder erheblich zurücknehmen.

Um beurteilen zu können, ob dem so ist, muss die Bedeutung des in den synoptischen Evangelien verbreiteten Ausdrucks ‚Menschensohn‘ bzw. ‚der Sohn des Menschen‘ – in extremer Kürze – erläutert werden: Zum einen ist mit dem ‚Menschensohn‘ an vielen Stellen unmissverständlich jene Gestalt gemeint, die am Ende der Zeiten, so der damalige jüdische Volksglaube, vom Himmel kommen werde, um die schrecklichen Wehen des Weltuntergangs in das Weltgericht überzuleiten und als himmlischer Richter die Erlösten von den Verdammten zu scheiden. Diese Variante der ‚Menschensohn‘-Vorstellung ist ein konstitutives Element der apokalyptischen* Enderwartung (s. S. 273ff), wie sie in zahlreichen Schriften aus der Zeit zwischen dem Alten und Neuen Testament begegnet und auch Eingang gefunden hat in die verschiedenen Schrift-Gattungen des Neuen Testaments, dessen letztes Buch, die ‚Offenbarung des Johannes‘ völlig von dieser Denkweise geprägt ist. Ihren Ursprung hatte die Apokalyptik im freiheitskämpfenden Judentum des 2. Jahrhunderts v. Chr. zur Zeit der Makkabäerkriege, das sich den Sieg gegen die ‚gottlosen‘ hellenistischen Heiden unter Antiochus IV. Epiphanes mit Hilfe kosmologisch dramatischer Umbrüche, mit dem Ende der gesamten alten Welt und dem Beginn einer neuen Weltzeit zurechtphantasierte. Aus exakt dieser Zeit stammt die Vision in Daniel 7, in der mit dem sukzessiven Aufsteigen von Tiergestalten allegorisch die Abfolge verschiedener Reiche, unter die Israel verknechtet war, andeutungsweise beschrieben wird und die auf den hoffnungsvollen Ausblick endet, dass nach dem Untergang der mächtigen Tiere schließlich ‚mit den Wolken des Himmels‘ ein „Menschensohn“ kommt, dessen Macht ewig sein werde. ‚Menschensohn‘ besagt in diesem Zusammenhang der Tiervisionen auch, dass das zuletzt kommende Wesen wieder menschliche Züge trägt, einem Menschen ähnelt oder gleicht, dass es aussieht wie ‚ein Mensch‘ – denn ‚Menschensohn‘ bedeutet nach hebräischer wie aramäischer Grammatik schlichtweg: ein einzelner Mensch. ‚Mensch‘ generell ist ein Kollektivbegriff; ein Individuum dieser Gattung aber ist ein ‚Sohn (/eine Tochter) des Menschen‘. – Diese vorchristliche Erwartung eines endzeitlich kommenden Menschensohnes hat sich in der Urchristenheit auf Jesus übertragen. Der auferstanden und ‚gen Himmel‘ gefahren gedachte Jesus wurde bald in eins gesetzt mit dieser apokalyptischen* Heilsgestalt; und diese Verschmelzung zweier ganz verschiedener Gedanken und Vorstellungen war nahezu unvermeidlich, denn die Urchristenheit hätte ja nicht annehmen wollen, es gebe neben dem seit der ‚Himmelfahrt‘ im ‚Himmel‘ gedachten erhöhten Jesus dort ‚oben‘ noch eine zweite machtvolle Figur; und außerdem verstand man die (bereits geschehen geglaubte) Auffahrt Jesu in den ‚Himmel‘ und das (erwartete) Kommen des ‚Menschensohns‘ aus dem Himmel herab als komplementäre Bewegungen, so dass die eine Vorstellung die andere stützte. – Dieser hoheitsvolle, fast allmächtige Menschensohn des Endgerichts trägt zwar nicht den Titel ‚Gottessohn‘, wird aber von der ihn erwartenden oder fürchtenden Urchristenheit (wie bis heute vom durchschnittlichen Bibelleser) als von ähnlich exklusivem Wesen und als von Gott ähnlich bevollmächtigt gedacht. – Die urchristliche Identifizierung Jesu mit dem bereits seit knapp 200 Jahren erwarteten apokalyptisch kommenden (nun als Jesus ‚wiederkehrenden‘) Menschensohn ist eine nachösterliche Entwicklung (von allergrößter Schädlichkeit für die Botschaft Jesu, s. unten S. 277ff; 334ff), die für die Verkündigung des vorösterlich-irdischen Jesus nicht vorausgesetzt werden kann. Es sind zwar in diesem Sinne ‚Jesus‘-Worte von der Gemeinde oder von urchristlichen Propheten gebildet und im Strom der Jesusüberlieferung weitergegeben worden (z.B. Lk 12,8 p Mt 10,32 – und hier ist sichtlich vom Evangelisten Matthäus die Identifikation vollzogen), aber für unsere Stelle Mk 2,27 und 28, die ein alt und echt überliefertes Jesus-Wort darstellen dürfte, kann dieser Sinn des apokalyptisch am Ende der Zeiten kommenden vollmächtigen Menschensohnes ausgeschlossen werden.

Zum zweiten begegnet in den synoptischen Evangelien eine andere Variante des ‚Menschensohn‘-Begriffs: nicht von einem hoheitsvoll-mächtig kommenden, sondern von einem demutsvoll leidenden ‚Menschensohn‘ wird vor allem inVorausverweisenaufdiePassionJesugesprochen–bzw. es wird an den entsprechenden Stellen dergestalt formuliert, als ob Jesus selbst, diesen Titel ‚Menschensohn‘ auf sich anwendend, in solcher Weise von seinem baldigen Leiden gesprochen habe, z.B. Mk 8,31 pLk, Mk 9,31pp; Mk 10,33pp. In diesen drei sog. Leidensankündigungen wird, in fortschreitender Detailgenauigkeit, das Leiden und das Auferstehen Jesu vorhergesagt und vorausbeschrieben. Es ist höchst wahrscheinlich, dass diese Worte ‚Voraussagen‘ sind, die von der Gemeinde, welche auf Jesu Passion zurückblickte und seine Auferstehung verkündigte, gebildet wurden, klassische ‚vaticinia ex eventu‘. Doch selbst eine andere Ableitung würde nichts daran ändern, dass die uns interessierende Stelle Mk 2,27f nicht zu diesem Vorstellungskreis vom ‚leidenden Menschensohn‘ zählt, sondern einer anderen Erklärung bedarf.

Zum dritten begegnen in den synoptischen Evangelien ‚Menschensohn‘-Aussagen, die weder zum ersten noch zum zweiten Vorstellungskreis zu rechnen sind, die weder vom apokalyptisch kommenden noch vom leidenden Menschensohn sprechen – und dazu gehört nun unsere Stelle. Wenn in einer, verglichen mit den erstgenannten beiden Gruppen, gewissermaßen ‚neutralen‘ Weise vom ‚Menschensohn‘ die Rede ist, so wie es etwa Lk 9,58 pMt heißt, die Füchse hätten Gruben und die Vögel des Himmels Nester, der ‚Menschensohn‘ aber habe nicht, da er sei Haupt hinlege, dann entfällt jede Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, nachösterliche urgemeindliche Formulierung am Werk zu sehen, dann ist die Frage ‚nur‘ noch, ob Jesus mit einer solchen Redeweise eine (nicht elitäre, sondern eher demütige) Selbstbezeichnung verwendet hat oder ob er allgemein vom ‚Menschen‘ redet, sich selbst nicht aus-, sondern einschließend. Nicht vergessen werden darf, wie schon gesagt, dass im Semitischen das Individuum mit dem ‚Sohn-‚ (oder ‚Tochter-‘) Begriff aus dem Kollektivbegriff herausgelöst wird: ‚Israel‘ beispielsweise ist ein Volk, ein einzelner Israelit hingegen ist ein ‚Sohn Israels‘, mehrere oder alle Israeliten sind (die) ‚Söhne Israels‘ (in der alten Luther-Übersetzung durchweg: „die Kinder Israel“); ‚Mensch‘ ist ein Gattungsbegriff, ein Mensch ist ein ‚Menschensohn‘. Gerade in poetischenWorten–unddieSpitzen-AussagenJesuhabennicht selten ein poetisches Kolorit – ist ‚Menschensohn‘ (oder gender-neutral übersetzt ‚Menschenkind‘) nicht nur die Konkretion von ‚Mensch‘, sondern auch die für den poetischen parallelismus membrorum*, die Zweigliedrigkeit der hebräischen Poesie erforderliche Variante von ‚Mensch‘, wie in Psalm 8,5: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ ‚Menschensohn‘ heißt demzufolge: ‚Mensch‘.

Auf unsere Stelle Mk 2,28 angewandt bedeutet dies: Wenn man ‚Menschensohn‘ hier nicht als Hoheitstitel hört, sondern als ‚der Mensch‘, ‚ein Mensch‘, gar ‚jeder einzelne Mensch‘, dann stellt der Satz „Folglich ist der Sohn des Menschen Herr auch über den Sabbat“ keine Einschränkung des vorangegangenen Verses 27 mehr dar, sondern ist eine Bestätigung, ja eine in ihrer Infragestellung der strengen Sabbatgesetzlichkeit noch krassere Schlussfolgerung („folglich“… ), die aus Vers 27 gezogen wird: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat – folglich kann der Mensch bestimmen, was ihm am Sabbat gut tut, wie er den Sabbat zu seinem Besten nutzt. So verstanden, spräche Jesus keineswegs dem Sabbat seinen Wert und seine Bedeutung ab – er ist und bleibt eine wunderbar wertvolle Einrichtung –, aber er spräche dem Einzelnen, dem ‚Menschen‘, jedem ‚Sohn des Menschen‘ die Vollmacht und die Kompetenz zu, den Sabbat so zu begehen, wie es ihm, seinen Lebensbedürfnissen und nicht zuletzt seiner Seele gut tut. Ein solches Verständnis des Verses 28 entspräche dem großen Zutrauen, der großen Freiheit und der großen Mündigkeit, die Jesus auch an anderen Stellen (die in diesem Buche besprochen werden) seinen Nachfolgern, den Menschen der ‚Gottesherrschaft‘, entgegenbringt, schenkt und zuspricht.

Freilich liegt eine solche Auslegung nicht auf einer Linie mit der deutlich größeren Hälfte der Kommentatoren und Exegeten von der Antike bis zur Gegenwart. Dass Jesus eine nur ihm selbst zukommende, über das normale menschliche Maß hinausreichende und ihn von den anderen Menschen grundlegend unterscheidende göttliche Vollmacht besessen habe, war für frühere Ausleger selbstverständlich, und auch die gegenwärtige Exegese neigt zum größeren Teil – gerade in der komplexen und umfangreichen Menschensohn-Frage – einer solchen Sicht zu. Doch nicht erst in den Epochen späterer Schriftauslegung, sondern bereits in urchristlich-neutestamentlicher Zeit, innerhalb der jungen Christenheit selbst, ist die radikal-reformerische Freiheit Jesu als zu weitgehend empfunden und wieder ‚zurückgestutzt‘ worden – das zeigt der interessante Vergleich unserer Markus-Stelle mit den Parallelen bei den zwei späteren Synoptikern Matthäus und Lukas, die den Markustext vorliegen hatten, ihn abschrieben und dabei veränderten (und mit ihren Veränderungen wiederum die Rezeptionsgeschichte der gewichtigen Aussagen Jesu an dieser Stelle massiv beeinflussten). Es ist der Mühe wert, die Parallelstellen im Detail zu vergleichen:

Matthäus fügt in die Einleitung zu der Szene (Mt 12,1) die Bemerkungen ein, dass Jesu Jünger „hungerten“ und daher die Ähren „aßen“. Auf diese Weise bewirkt er, dass erst jetzt die erste Antwort Jesu, die ja auf den Hunger von David und seinen Gefährten (und eben nicht auf die Sabbat-Beachtung) abgehoben hatte, besser als bei Markus an die Ausgangs-Frage der Kritiker anschließt. Den Namen des falsch angegebenen Hohenpriesters lässt Matthäus aus, freilich ohne ihn durch den richtigen zu ersetzen, aber mit dieser behutsamen Korrektur durchaus seine (an vielen Stellen zu erkennende) Schriftkenntnis zeigend. Aus eben dieser seiner Schriftkenntnis heraus fügt er noch weitere alttestamentliche Zitate an und legt sie Jesus sozusagen im selben Atemzug wie den übernommenen Markustext in den Mund: „5 … oder habt ihr nicht gelesen im Gesetz, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat [bei ihrem Dienst] brechen und schuldlos sind? 6 Ich sage euch, hier ist Größeres als der Tempel.7 Wenn ihr nur erkannt hättet, was das bedeutet: ‚Mitleid will ich und nicht Opfer‘, hättet ihr die Schuldlosen nicht bezichtigt.“ Unmittelbar an diesen Satz fügt Matthäus nun als seinen Vers 8 den markinischen Vers 28 an: „Denn Herr über den Sabbat ist der Menschensohn.“

Es ist deutlich zu erkennen, aus welchem Verständnis heraus und in welche Richtung Matthäus die Vorlage des Markus verändert: Mit einem weiteren Beispiel aus der Thora (etwa Num 28,9f) ‚unterfüttert‘ Matthäus den bei Markus in der Tat etwas schwach wirkenden Vergleich auf David und die Schaubrote und bestärkt damit den Eindruck, dass Jesus keineswegs etwas revolutionär Neues sagte oder tat – denn Matthäus zielt keineswegs auf eine Ermächtigung aller Menschen, das Sabbatgebot frei zu handhaben, sondern er überträgt die seit jeher bestehende exklusive Ausnahmeregelung für die Priesterschaft auf eine noch exklusivere für die Person Jesu, den er von sich sagen lässt, in ihm sei Größeres, als es im Tempel war. Mit dem Zitat „Mitleid/Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“, einer Gottesrede nach Hosea 6,6 (aus der Septuaginta* zitiert) verfällt jedoch auch Matthäus wieder in assoziatives Argumentieren, denn um Opfer oder Opferkritik ging es im Zusammenhang des Ährenausraufens nicht; allenfalls könnte ‚Mitleid‘ (LXX*: ‚eleos‘), wenn es als barmherzige Großzügigkeit verstanden wird, das Argument tragen, dass die Pharisäer eben mangels dieser Qualität in kleinlicher Weise die „unschuldigen“ Jünger Jesu beschuldigen. Matthäus lässt Jesus argumentieren wie einen Rabbi, der sich bekannter Überlieferungen bedient; Jesu große grundsätzliche Freiheitszusage ist seinen Worten bei Matthäus nicht mehr in der Weise wie bei Markus zu entnehmen. Den Spitzensatz des Markus vollends, die griffige Aussage Jesu „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat“ tilgt Matthäus ersatzlos. Wenn er den bei Markus anschließenden Satz (nun ohne das „folglich …“) bringt: „Herr über den Sabbat ist der Menschensohn“, dann hört niemand mehr etwas anderes heraus, als dass eben Jesus dieser Menschensohn sei und damit allein berechtigt, die Sabbatgebote (nur für sich selbst) zu modifizieren.

Auch Lukas (6,1-5) verändert den Markus-Text: er verstärkt am Anfang ein Detail der Erzählung und sagt, dass die Jünger die Körner „mit den Händen zerrieben“ (was nach deutlich mehr verbotener Arbeit klingt), auch er übergeht den falschen Hohenpriesternamen, er hat naturgemäß die erst von Matthäus zugefügten Zitate nicht, und auch er lässt den markinischen Spitzensatz Mk 2,27 weg und schließt den Abschnitt mit der Aussage: „Herr über den Sabbat ist der Menschensohn“. – Hätten wir nur Matthäus und Lukas und nicht auch den älteren Markus – wir würden nicht ahnen, welche Freiheit Jesus sich nicht nur für sich selbst genommen, sondern auch für seine Jünger eingefordert und sie ihnen gewährt und zugesprochen hat.

Wie sehr Matthäus auch die bereits zuvor betrachtete Erzählung von der ‚Heilung der verdorrten Hand am Sabbat‘ (Mk 3,1-6, bei Mt 12,9-14, s. S. 13ff) ‚entschärft‘ hat, soll nun hier, nachdem die gleiche Vorgehensweise an der Ähren-Erzählung deutlich sichtbar geworden ist, nachgetragen werden: Bei Markus war der ‚dramaturgische‘ Höhepunkt der Erzählung jener Satz Jesu in der Mitte der Geschichte gewesen: „Und er spricht zu dem Mann, der die verdorrte Hand hatte: ‚Steh auf, tritt in die Mitte!‘“ Eben diesen Satz lässt Matthäus weg. Was bei Markus eine Demonstration war, eine zu erteilende Lektion, eine Vorwärtsverteidigung Jesu, wird bei Matthäus zurückgestutzt auf ein konventionelles Fachgespräch wie unter Rabbinen; denn anstelle des gelöschten Satzes fügt Matthäus ein: „11 Er aber sprach zu ihnen: wer unter euch würde ein Mensch sein, der ein Schaf hätte, und wenn dieses am Sabbat in eine Grube fiele, es nicht packen und herausziehen würde? 12 Um wie viel nun unterscheidet sich ein Mensch von einem Schaf. Folglich ist es erlaubt, am Sabbat auf gute Weise zu handeln.“ Der letzte Halbvers ersetzt bei Matthäus die bei Markus stehende Passage: „Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu erhalten oder zu töten? Sie aber schwiegen stille. Und sie ringsum anblickend mit Zorn, sehr betrübt über die Verhärtung ihres Herzens …“ – Matthäus nimmt den Markus-Text erst wieder auf mit dem Satz, der nicht mehr zum ‚Streitgespräch‘ gehört, sondern schon zur Wunderheilung: „Dann sagt er zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus …“. Es ist deutlich: Matthäus (der nicht nur hier, sondern durchweg, an vielen Stellen ersichtlich, die große Gesetzesfreiheit Jesu nicht vermitteln kann und will) stellt die grundsätzlich und unversöhnlich andere Position Jesu in der Gesetzesfrage wie einen Beitrag zu einer Diskussion unter Fachleuten dar, denen die nach Art der Rabbinen vorgetragene Meinung Jesu mit etwas gutem Willen durchaus als zustimmungsfähig erscheinen könnte. Bei Markus sprengt Jesus das überkommene System, bei Matthäus diskutiert er innerhalb des Systems.