Jesus und die himmlische Welt - Jan-A. Bühner - E-Book

Jesus und die himmlische Welt E-Book

Jan-A. Bühner

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Beschreibung

Die Studie unternimmt eine religionsgeschichtlich-historische Einordnung Jesu in die Entwicklung des Judentums der Zeitenwende, die entscheidend von der Lösung des Judentums vom Tempel in Jerusalem beeinflusst ist. Da nach gemeinsamer jüdischer Anschauung im Tempel der Zugang zum Himmel verwaltet wurde, stellte sich die Frage, wie man auch ohne Tempel den Zugang zum Himmel behalten und gestalten kann. Die Untersuchung unterscheidet drei außerchristlich jüdische Traditionslinien: eine vorrabbinisch-pharisäische, eine kult-apokalyptische und eine charismatisch-praktische. Als vierte Rezeptionslinie kommen Jesu Auftreten und die Formulierung seines Anspruches hinzu. Jesus vollbringt Heilungstaten, die herkömmlich in den Bereich der Aufgaben des Tempelkultes fallen, und erntet dafür den Vorwurf, er habe den Beelzebul. Hier zeigt sich, wie Deutungen als hochpriesterliche Erlösungsgestalt die ältesten Überlieferungen von Jesus prägen.

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Jan-A. Bühner

Jesus und die himmlische Welt

Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

ISSN 0939-5199

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-7720-8725-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0118-5 (ePub)

Inhalt

Gewidmet dem Gedenken an ...Vorwort des Verfassers: Hermeneutische VoraussetzungenGeleitwort von Prof. Dr. Klaus Berger, HeidelbergERSTER HAUPTTEIL: Hinführung zum Thema und Aspekte der ForschungsgeschichteA) Hinführung zum ThemaB) Aspekte der Forschungsgeschichte: Von der ‚konsequenten Eschatologie‘ zur ‚kultgeschichtlichen Betrachtung‘1. Eschatologische Zukunft und religiöse Hochstimmung: die konsequente Eschatologie2. Die Lösung der Eschatologie von Raum und Zeit3. Das Ergebnis der religionsgeschichtlichen Betrachtung: Himmlischer Raum und eschatologische Zeit als Dimension des Kultes4. Kultgeschichtliche Betrachtung und die Frage nach dem irdischen JesusC) Zusammenfassung und AusblickZWEITER HAUPTTEIL: Rezeptionen des Motivs der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen JudentumA) Der Tempel als Schnittpunkt der Schöpfung und das Problem seiner SubstitutionB) Die vorrabbinische, pharisäische Rezeptionslinie: der wahre Aaron-Dienst und sein Bezug zum Himmel nach MAb 11. ‚Simon der Gerechte‘ (um 220 v. Chr.)2. Antigenos aus Sochos (um 180 v. Chr.)3. Jose ben Joezer und Jose ben Jochanan (um 150 v. Chr.)4. Joshua ben Perachia und Nittai aus Arbela (um 110 v. Chr.)5. Judah ben Tabbai und Simeon ben Shetach (um 90 v. Chr.)6. Hillel und Schammai (um 30 v. Chr.)7. ZusammenfassungC) Die apokalyptische Rezeptionslinie: der himmlische Hintergrund des Kultes als Ausgangspunkt einer eschatologischen Neuordnung der verklärten SchöpfungI) Die Kultordnung des Himmels und die eschatologische Verklärung des Zion nach 1HenII) Der priesterliche Erlöser als Vollzieher einer kultischen Neuordnung der Schöpfung1. Die Testamente der XII Patriarchen2. Der Menschensohn als priesterlicher Interzessor vor dem Thron Gottes nach 1HenIII) ZusammenfassungD) Die charismatisch-‚praktische‘ Rezeptionslinie: der Sohn aus dem Haus des VatersI) Die Beschwörung Gottes im Kreis1. Choni der Kreiszieher (gest. 65 v. Chr.)2. Die Rückbindung an den Kultpropheten Habakuk3. Mose als KreiszieherII) Der kult-charismatische Hintergrund der Sohn-Lehre1. Chanina ben Dosa (Mitte 1. Jhdt. n.Chr.)2. Jischmael ben Elischa (Zeitgenosse von R. Akiba)3. R. Meir (Mitte 2. Jhdt. n.Chr.)4. Eleasar ben Pedat (gest. 279 n. Chr.)5. Reprojektion auf biblische Figuren: Jakob und Mose6. Nochmals: Choni der KreiszieherIII) ZusammenfassungE) Die kult-rezeptiven Bewegungen des Judentums und der historische Jesus DRITTER HAUPTTEIL: Jesus und die himmlische Welt – der kultische Hintergrund der von Jesus ausgehenden ChristologieEinleitungA) Beelzebul und Menschensohn1. Βεελζεβοὺλ ἔχει2. Der Menschensohn als himmlischer Hoherpriestera) Die zugrunde liegende Argumentationb) Der Menschensohn in der Stephanus-Traditionc) Der Menschensohn in den Sendschreiben der JohApokd) Der Menschensohn in Hebr 2e) Der Menschensohn im 4. Evangelium3. Kultische Züge im Menschensohn-Bild der Synoptikera) Der Menschensohn als Bevollmächtigter über die himmlisch-eschatologische Kultordnungb) Der Menschensohn als priesterlicher Interzessor (Lk 12,8f. par.; Mk8,38 par.)c) Das Selbstopfer des Menschensohnes (Mk 10,45)4. Jesus und der MenschensohnB) Die pneumatisch-visionäre Grundlage der Vollmacht Jesu: die Zugehörigkeit des Sohnes zum Haus des Vaters1. Zur Forschungsgeschichte2. Die Taufgeschichte als Visionsschilderung3. Taufe, πνεῦμα und Sohnschaft in der vorlukanischen, paulinischen und johanneischen Rezeption des Stoffesa) Apg 8,38-40b) Röm 1,3f.c) Röm 8 und Nebentraditionend) Taufe, Geist und Sohnschaft in der johanneischen Tradition4. Verklärung und Sohnschaft: die himmlische δόξα des kultischen Ursprungsgeschehens5. Der Sohn aus dem himmlischen Haus: die Christologie des Weinberg-Gleichnisses6. Offenbarung und Vollmacht des Sohnes nach Mt 11,25-27 par. Lk 10,21f.C) Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Jesus und die himmlische Welt1. Jesus und die Christologie2. Zur Eschatologie JesuD) Ergebnis der UntersuchungNachwort des Verfassers von 2020Literaturverzeichnis

Gewidmet dem Gedenken an Otto Michel (1903–1993) und Hans Peter Rüger (1933–1990)

Vorwort des Verfassers: Hermeneutische Voraussetzungen

Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren zwischen 1977 und 1983. Sie wurde in Tübingen als Habilitationsschrift eingereicht, durchlief das akademische Verfahren jedoch ohne Erfolg. Der Verfasser trat danach in den Dienst der Württembergischen Landeskirche als Pfarrer, Dekan und Generalsekretär (der Deutschen Bibelgesellschaft, ehemals Württembergische Bibelanstalt). Nach fast 40 Jahren wurde der Wunsch an mich herangetragen, die Arbeit zu veröffentlichen. Die Herausgeber der TANZ haben sich diesen Wunsch gern zu eigen gemacht. In diesem Zusammenhang danke ich Prof. Dr. Klaus Berger, Heidelberg, der diese liegengebliebene Arbeit mit großer Treue im Auge hielt und nun den Anstoß gab, sie doch noch in das Licht der Fachöffentlichkeit zu stellen. Nachdem eine Digitalisierung das Bearbeiten mit Hilfe moderner Computermethoden ermöglichte, liegt die Arbeit nun in leicht bearbeiteter und korrigierter Form vor. Auf eine Aufarbeitung der Forschungssituation seit 1983 musste ich verzichten, was die Herausgeber akzeptiert haben. So ist diese Arbeit auch ein historisches Dokument, von dem mich mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit trennt.

Die Arbeit entstand bei Otto Michel, wie zuvor die Dissertation ‚Der Gesandte und sein Weg‘. Mit dem Tübinger Seminardirektor Hans Peter Rüger, dessen Seminarassistent ich 10 Jahre lang war, verband mich eine besonders vertrauensvolle Beziehung. Von Michel übernahm ich drei hermeneutische Rahmenbedingungen.

Zunächst verwies er auf Hugo Odeberg, mit dem ihn ein in der Nachkriegszeit angesiedelter akademischer Austausch verband. Odeberg war für ihn Inspirator einer Beschäftigung mit ‚jüdischer Mystik‘. „Odeberg glaubte an die himmlischen Dinge“. Für Michel stand fest, dass man Jesus nur vom Himmel her verstehen kann. Daraus ergab sich der Titel für die Arbeit.

Die zweite hermeneutische Rahmenbedingung, die Michel vorgab, war das ‚Ernstnehmen des Judentums‘. Schnell war auch klar, dass die Kategorie des ‚Himmels‘ am stärksten im Tempelkult verankert war. Er ist die Schnittstelle von ‚oben‘ und ‚unten‘ und ist Ort der Gottesbegegnung. Nun steht aber die nachexilische Zeit für die allmähliche und dann totale Loslösung Israels vom Tempel. Wie konnte eine Opferreligion sich so manifest verwandeln und diese Verwandlung zwei Jahrtausende weiter kraftvoll gestalten? Wie gehören Jesus und die auf ihn zurückgehende Messiasbewegung in diesen Prozess hinein? Es war dann klar, dass Jesus und die von ihm ausgehende Messiasbewegung in Parallelität zu anderen Strömungen des Judentums stand, die ebenfalls den Himmel ohne Opfertempel ‚behalten‘ wollten.

Die dritte hermeneutische Rahmenbedingung aus Michels Schule war das ‚Ernstnehmen der Bibel‘. Michel verstand dies nie fundamentalistisch, sondern im Sinne eines Ernstnehmens der Geschichte. Historisch-kritisch hieß für ihn, die Religionsgeschichte und die Rückbindung an die Anthropologie in allen Aspekten durchzuhalten. Das war der tragende Grund für manche radikalen Thesen, die mich beim Wiederlesen zunächst selbst erstaunten.

In einer Zeit, in der die christlichen Kirchen fast unentrinnbar an ihrer Selbstsäkularisierung arbeiten, scheint die Beschäftigung mit dem Himmel total aus der Zeit gefallen. Doch stellt man verblüfft fest, dass zentrale Motive unmittelbar in die Moderne transportiert worden sind. Eines der Konzeptalben der modernen Popmusik von der Gruppe ‚Cream‘ trägt den Namen ‚Wheels of fire‘ und stellt so ihre ekstatische Musik in das Licht der Merkaba. Die in Hamburg errichtete ‚Elbphilharmonie‘ folgt in ihrer architektonischen Grundstruktur der des orientalischen Stufentempels, ja auch die kultische Zeltstruktur zeigt sich in der Dachkonstruktion. Die scharfe Aufteilung in ‚unten‘ und ‚oben‘ und die Begegnung der ‚Unteren‘ mit den ‚Oberen‘ nach dem Aufstieg führen zu dem Anspruch, die Begegnung mit den ‚Oberen‘ habe verwandelnde Kraft. Es geht um eine Neuschöpfung unter dem Einfluss ‚himmlischer‘ Musik.

In einer durcheinandergeratenen Welt sollte auch das segnende, entsühnende Angebot einer Neuschöpfung vom Himmel her Aufnahme finden. Die Ordnung der Schöpfung im Sinne segensreichen Wetter- und Klimageschehens wird gesucht. Es geht um eine menschliche Ökologie, die Erde und Himmel einander näherbringt. Die religiöse Kategorie ‚Schöpfung‘ mit der ordnenden und heilenden Rückbindung des irdischen an den himmlischen Teil wird unverzichtbar. Der Mensch steht im Zentrum. Findet er einen Zugang zum Himmel, der ihn verändert und weiterbringt?

So hoffe ich, dass die vorliegende Arbeit trotz ihrer Unzeitigkeit Anregungen gibt über das enge Fachgebiet der Evangelien-Exegese hinaus für eine Inspiration von allen, die an ernstgemeinter Religion Interesse haben.

Frau Gisela Kienle fertigte 1982/83 das ursprüngliche Typoskript. Für die Mühe und Umsicht, die damit verbunden waren, bin ich ihr bis heute dankbar. Für die Digitalisierung und erste Korrektur des Manuskripts ist Frau Bronwyn Emma Leone und für die diesbezügliche Beratung Herrn Dr. Juan Garcés (Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden) sehr herzlich zu danken.

 

Cuxhaven, Oktober 2020    Jan-A. Bühner

Geleitwort von Prof. Dr. Klaus Berger, Heidelberg

Dr. Jan Bühner ist mir seit meiner Zeit an der Universität Leiden 1971-1974 bekannt. Nach meinem Weggang aus Leiden und ohne mein Zutun erhielt er 1975 für seine Tübinger Dissertation den Preis der Godgeleerd Genotschap der Teylers Stichting in Haarlem. In der Heidelberger Zeit besuchte mich dann regelmäßig Jan Bühners Lehrer Otto Michel, mit dem mich eine große Liebe zum Judentum, besonders zur jüdischen Mystik und zum Erbe Gershom Scholems verband. Auch Hugo Odeberg wurde bei unseren Treffen stets mit Hochachtung erwähnt.

Für mich ergaben sich Querverbindungen aus Jan Bühners und Otto Michels Ansätzen aus meinen Interessen im Bereich der Apokalyptik, und zwar gerade deshalb, weil ich das komplexe Miteinander von Kult- und Geschichtsapokalyptik in der neutestamentlichen Apk erforsche. Wie die Erze in dem Bergwerk meiner Heimat sind sie so eng miteinander vermengt und verschmolzen, dass es schon chemischer (und nicht nur mechanischer) Methoden bedurfte, um sie überhaupt bei der Verhüttung voneinander zu trennen.

Jan Bühners Weg in Tübingen habe ich stets mit Anteilnahme verfolgt, und das betrifft auch das Entstehen seiner damals geplanten Habilitationsschrift. Nun, fast 40 Jahre später, sah ich es als ein Gebot der Gerechtigkeit gegenüber Dr. Bühner an, dass seine große und aus meiner Sicht sehr wichtige Arbeit endlich publiziert werden kann.

Denn die Thesen Jan Bühners halte ich für extrem stimulierend und auch nach der Zeit, die inzwischen vergangen ist, noch immer für hochaktuell. In dieser Situation greift Bühners Arbeit gerade zum Beispiel die Menschensohn-Frage neu auf. Mit der Stephanus-Vision zu beginnen halte ich für richtig, und ebenso die These, dass sich Jesus und das Bild des Menschensohnes sukzessive angenähert haben. Vor allem freut es mich immer wieder zu sehen, dass Jan Bühner neben der noch stets herrschenden Orientierung an der zeitlichen Schiene die räumliche Dimension betont und neu bewertet. Das Phänomen „Gnosis“ hatte hier lange Zeit die Aggressionen auf sich gezogen und damit eine klare Sicht blockiert.

Der Leser sollte beachten, dass die Kategorien der Kultspiritualität und die Orientierung an Tempel und Priestertum nicht konfessionell zu betrachten sind, sondern religionsphänomenologisch, oder sagen wir es verständlicher: auch von der Theologie Martin Luthers her. So hilft dieses Buch, gerade das lutherische Christentum von seiner Wurzel her neu und etwas weniger einseitig zu sehen, als es sonst geschieht. Wenn man das erkannt hat, wird die aktuelle Bedeutung des Buches durchaus noch größer.

Alles das und auch eine Würdigung des Beitrags der Ostkirche zu diesen Problemen wäre ein guter Gegenstand der ökumenischen Diskussion, deren Aufblühen ich als eine der Früchte dieses Buches erwarte.

Vor allem aber sollte der jüdischen Himmelsmystik Gerechtigkeit widerfahren, ohne die schon ein Großteil der Texte aus Qumran nicht verständlich ist. Und Jesus redet schließlich vom „Himmelreich“. Und: Warum haben wir so lange vom Himmel nicht geredet?

 

Heidelberg, Oktober 2020    Klaus Berger

ERSTER HAUPTTEIL: Hinführung zum Thema und Aspekte der Forschungsgeschichte

A)Hinführung zum Thema

Das historisch und theologisch notwendige Bemühen um eine sachgemäße Verbindung von Altem und Neuem Testament kann sich auf mehrere Rahmengrößen beziehen, die beide Testamente zusammenbinden. In der neueren Theologie hat man dabei vor allem den geschichtsbezogenen Charakter der biblischen Theologie hervorgehoben.1

Die Geschichte Gottes mit seinem Volk ist jedoch nicht der einzige gemeinsame Rahmen für die Theologie beider Testamente, vollzieht sich diese Geschichte doch auf einem sie erst ermöglichenden Grund, nämlich der Welt als Schöpfung Gottes.

Die biblische Betrachtung der Welt als Schöpfung ist vom ersten Buch des Alten bis zum letzten des Neuen Testaments geprägt durch eine Unterscheidung zweier Räume der Schöpfung, des Himmels und der Erde. Dabei ist unübersehbar, dass auch der Himmel Teil der Schöpfung ist;2 ebenso unübersehbar ist die Voraussetzung in beiden Bereichen der biblischen Tradition, dass der himmlische Teil der Schöpfung der Heiligkeit Gottes nähersteht. Die Priestertheologie von Gen 1 macht dies durch die betonte Vorordnung des Himmels deutlich, während die Kultapokalyptik der Johannesoffenbarung aus der Schau der himmlischen Prozesse einen Übergang des himmlischen Lebens um den Thron des Lammes herum in die eschatologische Neuschöpfung von Himmel und Erde ableitet. Der himmlische Teil der Schöpfung hat seit Anbeginn, und auch für die Endzeit, eine gesteigerte Lebensqualität.

Dieser biblischen Schöpfungslehre entspricht es, wenn das Neue Testament die Lehre von Gott, dem Christus und der Erlösung vor dem Hintergrund einer eschatologischen Neuverbindung der getrennten Schöpfungsräume expliziert. So geschieht es schon auf der frühesten Stufe der nachösterlichen Tradition: Mit Phil 2,5-11 zitiert Paulus einen bekenntnisartigen Hymnus.3 Er handelt von Jesus Christus, der aus der Würde einer überhimmlischen Gottgleichheit heraus sich für seinen irdischen Gang der göttlichen Gestalt entäußert hat und nach seinem gehorsamen Weg an das Kreuz nun als Erhöhter den kosmischen Machtnamen besitzt, der ihn zum eschatologischen Herrn der Schöpfung macht.4 Bis in die altkirchliche Lehrbildung hinein – und von ihr aus bis in die Theologie der beginnenden Neuzeit – lässt sich unschwer feststellen, dass eine mehr räumliche als zeitlich-geschichtliche Deutung der Schöpfung den Rahmen für die Darstellung des Heilshandelns Gottes an der Welt gegeben hat. Die biblische Erfassung der Wirklichkeit als Geschichte ist nicht nur ein Relikt nomadischer Väter-Religion, sondern bezieht ihren zukunfts- und zielorientierten Charakter aus der Spannung der zweigeteilten Schöpfung, die hinweist auf eine Neuschöpfung, welche diese Spannung aufheben wird.

Die vorliegende Untersuchung will die Beobachtung historisch und theologisch verständlich machen, dass die Evangelien Jesus aus einer ihm eröffneten Beziehung zur himmlischen Welt verstehen, ja Jesus sich selbst so versteht. Durch Taufe, Verklärung und Passion-Erhöhung ist Jesu irdischer Weg als ein Geschehen gedeutet, welches sich aus dem Himmel heraus vollzieht. Seine Verkündigung und sein vollmächtiges Wunderwirken realisieren die Gegenwart der himmlischen Basileia Gottes. Im Vollzug seines irdisch-geschichtlichen Lebens öffnet sich der der himmlischen Heiligkeit Gottes und der eschatologischen Neuschöpfung nahe Teil der Schöpfung zum irdischen hin. Jesu Gebet eröffnet im Medium kultischer Sprache den Zugang zum Vater ‚im‘5 Himmel. Er realisiert geradezu die erlösende Kraft der Gemeinsamkeit zwischen himmlischer und irdischer Gemeinde in der Doxologie des Schöpfers.6

Trotz breitester biblischer Fundierung ist das Thema ‚Himmel‘ und damit auch der Versuch, die Jesus-Tradition in diesem theologischen Rahmen zur Sprache kommen zu lassen, seit der Aufklärung verdrängt worden.

Der Liberalismus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat hierbei entscheidende Weichen gestellt: Er reduzierte die Christologie auf eine Darstellung des Werkes Jesu im Sinne der Bedeutsamkeit seiner Botschaft. Das Reich Gottes, welches in der Verkündigung Jesu auch eine gegenwärtige, himmlische Größe ist, wurde so zu einem höchsten sittlichen Gut, das als zukünftig erreichbare Größe erschien. Jesu Person wurde zum sittlichen Vorbild, ausgedrückt in Kategorien hervorgehobenen, heroischen Menschseins.7 Die Kategorie der Zeit wurde damit zum tragenden Rahmen des Versuchs, Jesus dem modernen Menschen nahezubringen und das Menschsein entsprechend seinem Vorbild voran zu bringen.

Diese liberale Reduktion untersteht deutlich dem aufklärerischen Impetus, den Menschen als verantwortlichen Gestalter der ihm begegnenden Wirklichkeit zu sehen, einer Wirklichkeit, die, soll sie nicht irrelevant sein, eben eine irdische und zeitliche ist. Das religiös Bedeutsame muss sich im Rahmen eines Zeitbegriffs verankern lassen, der die Verbindung dieses religiös Bedeutsamen mit dem Jetzt der menschlichen Geschichte ohne Postulat einer Transzendenz offenhält.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich diese aufklärerische Hermeneutik des Christentums als einer sittlichen Bewegung auch mit einer eschatologischen Deutung verbinden kann. Sie drängt auf das Ziel der Erziehung des neuen Menschen hin. Dabei wird die Zukunft nicht mehr als Paradigma der Transzendenz8 gesehen, sondern als Paradigma für den Anspruch, dass die Menschheit um ein letztes geschichtliches Ziel weiß.9

Hier taucht die grundsätzliche Frage auf, ob es letztlich egal ist, von einem räumlichen oder zeitlichen ‚Himmel‘ zu sprechen, wenn nur festgehalten wird, dass es einen raum-zeitlichen Aspekt der Schöpfung gibt, welcher sich dem Zugriff des Menschen entzieht und Paradigma des Einbruchs der Transzendenz ist.10

Wichtig ist eine doppelte Beobachtung. Einerseits ist die Tendenz erkennbar, die Zukunft als Dimension des Handelns Gottes gegen das räumliche Oben des Himmels, als die der Transzendenz nähere Sphäre, auszuspielen. Die moderne Situation ist dann deutlich mit der Gefahr verbunden, Zukunft als Verlängerung irdischer Geschichte zu verstehen.11 Andererseits zeigt die Religionsgeschichte, dass das grundlegende, alles andere tragende Angerührtsein des Menschen von der Transzendenz sich in den stärker ‚senkrecht‘ orientierten Phänomenen, wie beispielsweise Ekstase und Gebet, äußert. Neutestamentlich muss man mit H.R. Balz fragen, „… ob sich die urgemeindliche Eschatologie … wirklich nur als ein Zeitproblem verstehen lässt …“12 Karl Barth hat mit Entschiedenheit gegen eine drohende Verengung im Umkreis der ‚konsequenten Eschatologie‘ das Augenmerk darauf gelenkt, dass der pneumatisch-gegenwärtige, himmlische Christus der Ermöglichungsgrund für den Blick in die eschatologische Zukunft ist.13 Jenseits des Zeitproblems steht also die Antwort der Religionsgeschichte und auch des biblischen Zeugnisses, dass es eine Verbindung im Pneuma zum himmlischen als dem der Transzendenz näheren Raum gibt.

Der Fixpunkt für die urchristliche Eschatologie liegt in der durch das Pneuma gewährten Beziehung der Gemeinde zu ihrem himmlischen Herrn. Daraus ergibt sich die Erwartung, dass auch die Reich-Gottes-Ansage Jesu ihren eigenen Fixpunkt in seinem gegenwärtig-pneumatischen, personhaften Einbezogensein in das Reich Gottes findet. Jesus blickte dann nicht nur auf eine zukünftige Realisierung des Reiches. Mehr noch ist es eine Größe, die aus der himmlischen Verborgenheit in die Wirklichkeit der neuen Schöpfung eintritt.

Diese Konsequenz zog M. Dibelius in seinem Jesusbuch: „… eine (scil. Jesu) Verkündung des unbedingten Gotteswillens hat das Kommen des Reiches zur Voraussetzung; die Art, wie er die Menschen vor die Wirklichkeit Gottes stellt, ist begründet in der Aussicht, dass diese himmlische Wirklichkeit demnächst irdische Wirklichkeit werden solle.“14

Jesus kennt die Basileia als himmlische Wirklichkeit und weiß darum, dass diese himmlische Wirklichkeit sich anschickt, nach der Erde auszugreifen. Ändert man den etwas vagen Ausdruck der ‚Aussicht‘ bei Dibelius zu dem der pneumatischen Gewissheit, so ergibt sich unausweichlich, dass Jesus mit dieser himmlischen Wirklichkeit einen intensiven Kontakt gehabt haben muss, ja zu ihr gehört hat. Urchristlicher Pneumatismus mit der Vielzahl seiner Phänomene als Haftpunkt urchristlicher Eschatologie verlangt als begründende Analogie ein Jesusverständnis, nach dem er Pneumatiker gewesen ist, der schon als Irdischer der himmlischen Basileia zugehörte.

Für eine hermeneutisch nicht eingeschränkte historische Forschung15 scheint es also aus mehreren Gründen notwendig zu sein, die Dimension des Himmlischen als Raum der angrenzenden Transzendenz weder aus der neutestamentlichen Christologie noch aus dem historisch erkennbaren Bild vom irdischen Jesus zu entlassen:

die räumliche Dimension der biblischen Lehre von der in Himmel und Erde getrennten Schöpfung wehrt sich heftiger gegen alle Versuche, das Transzendente in den irdischen Geschichtsablauf einzubinden, als eine rein zeitliche Eschatologie. Die Rede vom ‚Himmel‘ benötigen wir, um Eschatologie vor dem Versinken in Immanenz zu bewahren.

Auf der Folie der räumlichen Kategorie ‚Himmel‘ werden die mit der Religionsgeschichte unlösbar verbundenen pneumatischen Phänomene wieder erkennbar und als Zeichen präsentischer Eschatologie deutbar.

Neutestamentlich ergibt sich aus diesem in die biblische Schöpfungslehre eingebundenen Rückgriff auf den ‚Himmel‘, dass Jesus als Pneumatiker deutbar wird. Wenn er der Anfänger der Bewegung ist, die die eschatologische Neuschöpfung mit dem gegenwärtigen Pneuma-Besitz verschränkt, dann gehört er bereits als Irdischer auch zur himmlischen Welt.

B)Aspekte der Forschungsgeschichte: Von der ‚konsequenten Eschatologie‘ zur ‚kultgeschichtlichen Betrachtung‘

1.Eschatologische Zukunft und religiöse Hochstimmung: die konsequente Eschatologie

Der Umbruch in der modernen Jesusforschung wird gewöhnlich mit dem Buch von Johannes Weiss ‚Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes‘, 1. Aufl. 1892, (2. Aufl. 1900) verbunden.1 Weiss übernimmt die systematisch-theologische Vorentscheidung der liberalen Tradition, wonach Jesus und das Christentum letztlich nur von der Reich-Gottes-Verkündigung her zu verstehen seien.2 Gegen seine liberalen Väter betont Weiss jedoch, dass das Reich Gottes kein sittliches Gut und keine die geschichtliche Entwicklung der Menschheit betreffende Größe sei, sondern als streng endgeschichtliches, nur zu erhoffendes, aus der Zukunft her kommendes, transzendentes, geschenktes Gut zu verstehen sei.

Dieser antiliberale Ansatz, den Weiss vor allem in der 1. Auflage programmatisch betonte, bleibt nun aber an zwei Punkten der älteren aufklärerisch-liberalen Tradition verhaftet:

Er übernimmt in der Grundlage doch das Programm einer Verortung der christlichen Religion in der menschlichen Geschichte. Transzendierend ergänzt er, dass das Reich Gottes in Jesu Verkündigung zwar der unverfügbaren Zukunft, jedoch grundsätzlich als eine dem menschlichen Geschichtsempfinden qua Antizipation zuwachsende Größe angehört.3

Mit dem grundsätzlichen Verbleib auf der Ebene eines linearen Geschichtsbildes gemäß aufklärerisch-liberaler Tradition hängt zusammen, dass Weiss Jesus weiterhin in den Bahnen der heroischen Vorbildchristologie sieht. Jesus lebe aus religiösen Stimmungen; er sei – gemäß der liberalen Propheten-Anschluss-Theorie – der größte Prophet;4 Weiss stößt im letzten bei Jesus auf religionspsychologisch zu deutende Phänomene, die in ihrem subjektiven Erlebnischarakter auch die von ihnen abhängigen Momente einer Gewissheit der Nähe des Reiches tragen. Auch Jesu Berufung und seine Gewissheit, dass er den Teufel zeichenhaft überwinden kann, ist religiöse Stimmung. Nur negativ gelte: Wie das Reich Gottes eine rein zukünftige Größe sei, so sei es Jesus verwehrt, seine messianische Würde außerhalb individueller religiöser Stimmungen5 zwischen Hoffnung und Glauben festzumachen. Auch die Aussage einer Vollmacht vom Himmel her, mit der Weiss für die hinter dem Tauf- und Verklärungsbericht stehende Wirklichkeit rechnet,6 bleibe eingefangen in die Spannung zwischen einer bloß subjektiven Gewissheit und dem ontologisch allein dominierenden Element endgeschichtlicher Erfüllung, in der die Transzendenz sich dem Maßstab irdischer Geschichtsevidenz anpassen wird.7

Weiss nennt exegetische Beobachtungen, die über die Vorentscheidung hinausweisen, letztlich die irdische Geschichtslinie zum Kriterium theologischer Evidenz zu machen. Das Reich Gottes sei ursprünglich Begriff himmlisch-transzendenter, kultischer Theokratie.8 Keine Religion könne auf Dauer ohne Qualifizierung der Gegenwart auskommen.9 Jesus und die neutestamentliche Zeit seien im Grund nicht an einem linearen Geschichtsbild orientiert, sondern an einem Himmlisches und Irdisches umfassenden Orientierungsrahmen.10 Diese ergänzenden Bemerkungen, die das Programm der ‚konsequenten Eschatologie‘ eigentlich in Frage stellen, kann Weiss verständlicherweise nicht positiv aufnehmen.

Forschungsgeschichtlich aufgenommen und weitergeführt wurde der eschatologische Ansatz bei W. Bousset. Bousset übernimmt in seinem 1904 erschienenen Buch zur Jesusfrage die Grunderkenntnis, dass Jesus auf zukünftiges Gericht und zukünftiges Heil verweise und dadurch die Gegenwart seines Auftretens zur Zeit der Scheidung mache. Dabei bleibt dieser, auch bei ihm streng eschatologisch-zukünftig gedachte, Ansatz verbunden mit einem liberalen, religiös-psychologischen und bei der Aufnahme der entscheidenden Begriffe höchst zeitgebundenen Jesusbild.11 Die Ankündigung der eschatologischen Wende realisiert sich bei Jesus folgendermaßen: „und in allem die starke, königliche Natur, das Bewusstsein, die Dinge zu Ende zu führen und das letzte, entscheidende Wort zu reden, diese Zuversicht der allernächsten Nähe seines himmlischen Vaters, die starke königliche Kraft, mit der er die Seelen der Seinen zwang und das Höchste von ihnen forderte …“12. Es ist auffällig, dass antiliberaler Impetus in der Darstellung des Reiches Gottes und ein betont religionsgeschichtlich-kritischer Ansatz sich mit einem für heutige Betrachtung äußerst unkritischen, zeitgebundenen Jesusbild verbinden können. In ihm scheint Jesus dem Ideal eines monarchischen Souveräns angeglichen. Sollte dies daran liegen, dass die rein zukünftige Fassung des Reiches Gottes keinen echten religionsgeschichtlichen und im tiefsten religiösen Bezugspunkt für die Beschreibung Jesu zulässt und deshalb die angeblich bei Jesus nicht vorhandene Kategorie der religiös gefüllten Gegenwart außerhalb exegetischer und theologischer Kontrolle eingetragen wird?

In seinem forschungsgeschichtlich bedeutenden Buch ‚Kyrios Christos‘ zieht Bousset weitere Konsequenzen. Während Jesus und die palästinische Urgemeinde für die jeweils kurze Zeitspanne ihrer Geschichte bei der brennenden und rein zukünftigen Naherwartung bleiben konnten, ‚füllt‘ die heidnisch-hellenistische Gemeinde vor Paulus die himmlische Welt mit dem Kyrios Jesus als ihrem Kultgott. Die palästinische Gemeinde lebte aus der reinen Zukunft des kommenden Menschensohnes, wobei der Himmel nur den bloß vorstellungsmäßig notwendigen Aufbewahrungsraum Jesu, jedoch keine irgendwie die Gegenwart qualifizierende Größe abgab.13

Boussets Arbeit ist damit über Weiss hinaus in mehreren Punkten interessant:

Die gegenwärtige Beziehung zur himmlischen Welt als religiös-soteriologischer Erfahrung, welche Weiss nur gegen seine Grundthese als irgendwie bei Jesus in gehobener Stimmung vorhanden bezeichnete, wird bei Bousset ganz dem (heidnisch-)kultischen Denken zugeordnet. Damit verschafft er sich die Möglichkeit, Jesus und die Urgemeinde streng eschatologisch zu deuten und sie zu befreien von solchen, die reine Zukünftigkeit der Erwartung auflösenden Motiven, wie Christologie, Wunder Jesu, Weissagungskraft Jesu und soteriologischer Deutung seines Geschickes.14 Das streng eschatologische und zugleich unchristologische Jesusbild muss offenbar in der historischen Analyse gestützt werden durch präsentische, himmlische, kultische Elemente der urchristlichen Religion.

Bousset verweist auf die Verbindung von Kultus, himmlischer Welt und präsentischer Erlösungserfahrung: auf den Gegensatz von Kultus und Eschatologie einerseits und den Gegensatz zwischen einem Bezug zum Himmlischen und eschatologischer Erwartung andererseits. Diese Gegenüberstellung hat sich in der Forschung zunehmend als einseitig erwiesen.15 Vor allem ist an Bousset die Frage zu stellen, ob ‚Kultus‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Himmel‘ vornehmlich heidnische Kategorien sind. Hat nicht auch der Jerusalemer Kult seine eigene Symbolik entwickelt, die ein Himmel und Erde umfassendes Weltbild und eine gegenwärtige Erlösungserfahrung ausdrückt? Stehen die palästinische Gemeinde und Jesus dem kultischen Denken des Tempels nicht historisch näher als den Mysterienkulten?

 

Wir halten fest:

Die konsequent-eschatologische Deutung der Jesus-Tradition kann die neu erkannte Bedeutung des transzendenten Charakters der Basileia nur negativ abgrenzen. Eine Pneumatologie, die geeignet wäre, auch für die Gegenwart (Jesu und der Gemeinde) eine positive Beziehung zum Reich auszusagen, ohne es in die Immanenz hinabzuziehen, fehlt im klassischen Ansatz von Weiss. Die konstatierten Phänomene religiöser Hochstimmung müssen theologisch irrelevant und unkontrolliert bleiben.

Die konsequente Eschatologie hat schon bei Weiss die Tendenz, sich auf eine endgeschichtliche Offenbarung zu beziehen, die sich schließlich doch dem Evidenzdruck immanenter geschichtlicher Erfahrung wird beugen müssen. Boussets Weiterentwicklung führt zur Konstruktion eines doppelten Ansatzes: Dadurch wird die konsequent-eschatologische Jesus-Deutung geschützt. Die religionsgeschichtlich unabweisbare Frage nach dem positiven, lebendigen Zentrum der urchristlichen Religion, welches allein sie hat zur geschichtlichen Größe werden lassen, wird beantwortet durch Hinweis auf den Kyrios-Kult der hellenistischen Gemeinde. Dadurch wird aber andererseits die palästinische Jesus-Tradition stark isoliert.

2.Die Lösung der Eschatologie von Raum und Zeit

Die konsequente Eschatologie versuchte, die Transzendenz des Reiches durch eine radikale Futurisierung zu sichern. Die dialektische Theologie, zumal in ihrer auf die Deutung der menschlichen Existenz bezogenen Ausformung, ist von dem theologischen Impetus getragen, die Transzendenz des Reiches nochmals gegen die in der alleinigen Futurisierung liegenden Gefahren zu schützen. Da hierzu die vor-moderne Kategorie des Himmels nicht mehr zur Verfügung stand, wurde eine neue Grenzlinie für den Einbruch der Transzendenz in die Immanenz gefunden: das Individuum in seiner Betroffenheit. Der streng eschatologische Ansatz bei Weiss, Bousset und Schweitzer1 steht an den Anfängen der dialektischen Theologie und der existentialen Jesus-Interpretation bei Bultmann.2 Um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und damit die Forschungssituation – sofern sie von dieser Seite her bestimmt wird – zu erhellen, gehen wir ein auf das Jesusbuch von G. Bornkamm.3 Diese häufig abgedruckte Darstellung repräsentierte für eine lange Zeit, wohl wie keine andere, die Perspektiven und Ausdrucksmöglichkeiten der eschatologisch-dialektisch-existentialen Betrachtung Jesu. Auch Bornkamm setzt ein mit dem klassischen Topos einer Ankündigung der zukünftigen Weltenwende durch Johannes den Täufer und Jesus. Diese Ankündigung geschieht nun aber nicht als Einstimmung in eine brennende Naherwartung, sondern gemäß existentialer Interpretation als Ruf, der kommenden Weltenwende schon jetzt im Dasein Raum zu geben.4 Wie der Täufer durch die Taufe gleichsam die zukünftige Wende in die Gegenwart hineinhalte, so tut Jesus dies durch sein Wort und die helfende Tat.5 Die Interpretation Bornkamms hat also – anders als die ältere eschatologische Deutung – den Impetus, die Kategorie der Gegenwart hervorzuheben.6 Der Vorwurf Bornkamms an das Judentum, man habe sich zwischen Vergangenheit und Zukunft verloren,7 trifft auch die Jesus-Deutung der älteren, konsequent-eschatologischen Richtung.8

Wir bemerken, dass die Gewinnung einer theologisch relevanten Kategorie ‚Gegenwart‘ für die Forschung offensichtlich ein Problem ist: Für Weiss war die Bestimmung der Gegenwart in einem theologisch qualifizierten Sinn ein vom Ansatz her unlösbares Problem, da Jesu Verkündigung und Tun ausschließlich durch Bezug auf die zukünftige Wende als sinnvoll erscheint. Die Antizipation des Umbruchs ist gebunden an nicht eigentlich vermittelbare, religiöse Hochstimmungen Jesu. Bousset verwies auf den Kultus der heidenchristlichen Gemeinde als allererste Ermöglichung für die Erfahrung einer theologisch qualifizierten Gegenwart. Nach Bornkamms Darstellung hat sich nur der Täufer eines kultähnlichen religiösen Mittels zur Vergegenwärtigung der Ansage von Gericht und Heil bedient, während Jesus diese Vergegenwärtigung ohne bestimmbare, äußere, traditionelle, ja religiöse Kennzeichen bewirke: Weil er jede Legitimation für sich und seine Botschaft ablehne9, wird im Ganzen die Kategorie einer sich nicht weiter ausweisenden oder auch religionsgeschichtlich explizierbaren Unmittelbarkeit für Bornkamm zum Verstehensschlüssel für diese Vergegenwärtigung bei Jesus. „Immer ist die Wirklichkeit Gottes und Autorität seines Willens unmittelbar da und wird so zum Ereignis.“10 „Aus dieser Unmittelbarkeit des Ereignisses Gottes ergibt sich die erstaunliche Souveränität Jesu, mit der er … die Situation meistert.“11 Schimmert im Souveränitätsbegriff alte liberale Tradition noch durch, so macht Bornkamm diesen und den des Ereignisses fest an einem betont überweltlichen, übergeschichtlichen und deshalb unreligiösen Gottesbergriff.12 Der überweltliche Gott könne sich innerweltlich nur als Souverän erkennbar machen, der übergeschichtliche nur so, dass er nicht Teilhaber des menschlichen Geschichtsverlaufs werde, sondern in seiner übergeschichtlichen Macht je und je Augenblicke zum eschatologischen Ereignis werden lasse. Jesus partizipiere an der Souveränität Gottes; zu fragen, wie, das hieße etwas fragen, was die Souveränität der Offenbarung, ihre Überweltlichkeit und Übergeschichtlichkeit, aufheben würde. Deshalb betont Bornkamm: Anders als die Propheten lehne Jesus jede Legitimation für sich und seine Botschaft ab; es gäbe keine Berufungsgeschichte, keinen Prophetenspruch, keinen Rückgriff auf Entrückungen und Gesichte, keine Offenbarung der jenseitigen Welt, keine Einblicke in Gottes wunderbare Ratschläge.13

Bornkamms Interpretation – und damit die dialektisch-existentiale Jesus-Deutung in ihren Grundzügen – kann man forschungsgeschichtlich also charakterisieren als nochmalige Zuspitzung der eschatologischen Deutung seit Weiss. Gemeinsam ist die antiliberale Frontstellung, wobei Bornkamm den Vorgriff auf die reine Zukunft umdeutet in die Überweltlichkeit und Übergeschichtlichkeit Gottes und seiner Offenbarung. Während Weiss und die frühe Phase der Überwindung des Liberalismus also auf der Ebene der Geschichte als Bezugsbasis für Jesu Reich-Gottes-Predigt blieben und damit grundsätzlich auch in geschichtlichen, religionsgeschichtlichen und religiösen Kategorien, lässt Bornkamm, unter einem übergeschichtlichen Begriff des Reiches Gottes als der Nähe Gottes, die immer wieder an die Immanenz gebundenen Kategorien von Raum und Zeit hinter sich: Der nahe Gott ist im eschatologischen Ereignis der existentiellen Entscheidung jenseits von Zeit und Raum nahe.

Somit ergibt sich:

Die Bedeutung der Gegenwart wird – im Rahmen einer historischen Jesus-Darstellung! – durch die theologische Aussage der Nähe Gottes bestimmt und philosophisch als Ermöglichung von Entscheidung gefasst; sie bleibt aber religionsgeschichtlich ungedeutet. Hermeneutisch fehlt der Versuch, Jesus positiv aus seiner Zeit heraus zu verstehen.

Hatte der Liberalismus die Kategorie des Raumes aus seinem theologisch relevanten Weltbild entlassen und hatte die konsequent-eschatologische Exegese versucht, den immanenten Geschichtsprozess mit der Transzendenz des Reiches an einem rein zukünftigen Punkt kollidieren zu sehen, so löst sich die dialektisch-existentiale Interpretation ganz von einem religiösen, u.d.h. in der Anschauung von Raum und Zeit festgemachten, Bezugsfeld. Es entsteht die Gefahr, Jesus nicht wirklich geschichtlich zu verstehen; sie zeigt sich im wohl höchst zeitgebundenen und theologisch einseitigen14 Bild vom Souverän.

3.Das Ergebnis der religionsgeschichtlichen Betrachtung: Himmlischer Raum und eschatologische Zeit als Dimension des Kultes

Wer in Hinblick auf ein historisches Verständnis von Handlung und Botschaft Jesu nach einer religionsgeschichtlich verantworteten Aufnahme der räumlichen Kategorie ‚Himmel‘ und der durch sie bestimmten der Gegenwart – ‚das Reich Gottes ist nahe‘ – sucht, muss die Fragestellung der konsequenten Eschatologie und ihrer Nachfolger verlassen. Als forschungsgeschichtliche Alternative verbleibt der Ansatz der älteren religionsgeschichtlichen Forschung, die eine kultgeschichtliche Betrachtung des NT forderte.1

Schon in unserem ersten Hinweis auf Bousset wurde deutlich, dass kultische Frömmigkeit, mit der Bousset für die hellenistische Gemeinde rechnet, an einem grundsätzlich mehr vertikalen Weltbild ausgerichtet ist. Die Kategorien des ‚Himmlischen‘ und der aus dem Bezug zum Himmlischen qualifizierten ‚Gegenwart‘ gehören zu einer kultischen Weltdeutung.

Bousset dachte als religionsgeschichtliche Basis für den Christus-Kult des (hellenistischen) Urchristentums an die am Sterben und Auferstehen chthonischer Gottheiten orientierten Mysterien.

Andererseits partizipiert auch der Kult in Jerusalem an der Grundlage der Kult-Symbolik des Alten Orients. Im Bau des Tempels liegt eine kosmische Symbolik, so dass vom Tempel als dem Mittelpunkt des Kosmos Himmel und Erde als die beiden Sphären kultischen Weltverständnisses ineinandergreifen. Im Tempel ist gleichsam der Himmel auf Erden,2 hier ist der Zugang zu Gottes Heiligkeit.3 Entsprechend schrieb Lietzmann über den urkirchlichen Gottesdienst: „Das Herz des christlichen Lebens ist der Gottesdienst der Gemeinde. Da ist die Stätte, wo die Kräfte der jenseitigen Welt in die Christenheit einströmen und sie zu dem neuen Volk der Gotteskinder machen, das nicht mehr von dieser Welt ist, sondern schon hier in wundersamer Gemeinschaft mit den himmlischen Bürgern des Gottesreiches lebt.“4

Es ergeben sich aus dieser nur angedeuteten forschungsgeschichtlichen Konstellation für unsere Fragestellung folgende Grundprobleme:

Sind eschatologisch-geschichtliches und kultisch-räumliches Denken unvereinbar?

Steht das Kultverständnis der neutestamentlichen Gemeinde religionsgeschichtlich nur in Nähe zu den Mysterien oder kann man mit traditionsgeschichtlichem Nachwirken des Tempelkultes in Jerusalem und seiner Theologie rechnen?

Ist forschungsgeschichtlich der Versuch vorgezeichnet, die Jesusfrage von der kultgeschichtlichen Betrachtung her anzugehen?

 

Die kultgeschichtliche Betrachtung ging aus von einer Parallelisierung des urchristlichen Sakramentsgottesdienstes mit den hellenistischen Mysterien-Feiern. Die Mysterienkulte bildeten sich um die Verehrung chthonischer Götter. An deren den Wechsel der Jahreszeiten ausprägendem Vergehen und Wiedererstehen will der Myste Anteil bekommen. Es geht um die Befreiung von kosmischen Kräften und um die Versicherung eines Gott-gemeinschaftlichen Lebens im Jenseits. Ist schon das griechische Denken überhaupt an einem zyklischen Geschichtsbild orientiert, so verdichtet sich dieses in den Mysterien zu einer ausgesprochen individuell-soteriologischen Grenzüberschreitung. Sie ist unabhängig vom äußeren Weltlauf jederzeit möglich, sofern der Kultus mit seinem je eigenen Kairos dazu die Möglichkeit gibt.5 Das Denken der Mysterienkulte ist uneschatologisch.

Der Verweis auf die Mysterienkulte und ihre Bedeutung für die urchristliche Religion untersteht von Haus aus dem von F. Chr. Baur eingeführten Schema des doppelten Ansatzes, in dem sich die individuelle Vater-Frömmigkeit Jesu6 bzw. die eschatologische Frömmigkeit Jesu7 und der – auch in Bezug auf die Lehrbildung – geordnete Kult der hellenistischen Gemeinde gegenüberstehen. Die Spannung zwischen Juden- und Heidenchristen ermöglichte die Klarheit einer echten These-Antithese-Bildung. Diese Grundposition des klassischen ‚doppelten Ansatzes‘ wirkt bekanntlich nach bis hin zu Bultmanns Aufriss der Theologie des NT, ja seiner Eliminierung der zukünftig-eschatologischen Passagen im Johannesevangelium.

Kommt nach dieser These mit dem an den Mysterien orientierten Christus-Kult etwas Fremdes in das Christentum hinein, das ihm himmlische, uneschatologische, mystische und christologisch-dogmatische Perspektiven erschließt, so ist die kultgeschichtliche Betrachtung in einem anderen Zweig der Forschung gerade auf eine Harmonisierung von Jesus-Evangelium und Kultfrömmigkeit ausgerichtet gewesen. „Unsere heilige Urgeschichte hat in Wirklichkeit darin ihren inneren Fortschritt, dass die durch das Evangelium Jesu entstandene messianische Bewegung mit ihrer völligen praktischen Eingestelltheit auf das nahe Weltende und die nahe Zukunft des Gottesreiches sich zuletzt als Kult historisch konsolidiert, als Kult Jesu des Herrn; anders ausgedrückt: dass das Evangelium sich umsetzt in Christentum.“8 Das Christentum bildet sich nach Deissmann als Kult ‚reagierenden Typs‘, insofern der galiläische Fischer Simon durch Offenbarung am Messiasbewusstsein Jesu teilbekomme. Jesus selbst habe keinen neuen Kultus gestiftet, sondern die neue Zeit verkündet; aber durch sein gewaltiges Ich-Bewusstsein habe er gemeinschaftsbildend gewirkt und damit die Entstehung des Felsens ermöglicht, auf dem dann die Gemeinde entstand. Jesu eschatologisches Ich-Bewusstsein habe als gemeinschaftsbildendes kultinitiatorische Kraft gehabt, so dass von Anfang an, schon in der apostolischen Urkirche Palästinas, der Bezug auf Jesus den Messias kultisch ausgeprägt sei, wie es sich deutlich im palästinischen Gebetsruf „Maranatha“ zeige. Mit dieser von Deissmann als organische Entwicklung postulierten Bewegung kontrastiert nun jedoch, dass der Kultus selbst in seinen Denkformen ganz aus hellenistischer Tradition stammen soll: „Das Evangelium Jesu verbindet die Anfänge unserer Religion aufs engste mit seiner Mutterreligion, dem Judentum. Der apostolische Jesuskult wirft dann, eben mit dem Kultischen, wie es ihm eigentümlich war, ein jedenfalls dem amtlichen Judentum wesensfremdes Element in den Schmelztiegel … Durch das Kultische tritt die andere der providentiellen Kräftegruppen der praeparatio evangelica in schöpferische Tätigkeit: die antike Welt der ‚Völker‘.“9

Deissmann behält also die grundlegende religionsgeschichtliche Herleitung des Christus-Kultes aus den Mysterien bei und bleibt damit auch bei dem theoretischen Gegensatz von Kultus und Eschatologie stehen. Was nach dem klassischen ‚doppelten Ansatz‘ des Evangeliums sauber auf zwei Gemeinde-Typen und Epochen verteilt wurde, erscheint hier als bereits im palästinischen Christentum verschmolzen. Deissmann baut dabei auf zwei Voraussetzungen: Jesu messianisches Ich-Bewusstsein wirke gemeinschaftsbildend und dadurch kultinitiatorisch; ferner sei Palästina zur Zeitenwende bereits so stark hellenisiert, dass man auch hier die jenseits des Judentums stehenden, hellenistischen Kultformen gekannt habe. Kultus und Eschatologie bleiben also religionsphänomenologisch in einem Gegensatz, der im NT ausnahmsweise überwunden werde.

Auch A. Schweitzer ist um eine Versöhnung der angeblichen Gegensätze Eschatologie und kultische Mystik bemüht.10 Die Mystik des Apostels Paulus, die er zentral in der Aussage des ‚Seins in Christo‘ findet, gründe in der Eschatologie Jesu und in der der vorpaulinischen Gemeinde. „Die Eschatologie unternimmt ja die Aufhebung der Transzendenz. Sie lässt die natürliche Welt durch die übernatürliche abgelöst werden und dieses Ereignis in dem Sterben und Auferstehen Jesu seinen Anfang nehmen. Ist es da nicht denkbar, dass einer spekulativen, in eschatologischer Erwartung glühenden Betrachtungsweise die beiden Welten für den Augenblick, in dem sich die unmittelbar einsetzende Ablösung vorbereitet, ineinandergeschoben erscheinen?“11 Durch die brennende Naherwartung erscheinen also diese und die zukünftige Welt gleichsam als obere und untere auf einander zugeschoben, so dass die eschatologische Naherwartung der zukünftigen Welt sich realisiere als mystisches Eindringen in die zukünftige als obere Welt. Die Sakramentsmystik des Paulus sei also eine Zuspitzung der alten Eschatologie Jesu. Dieser Prozess, dass Mystik aus eschatologischer Erwartung entsteht, ist auch für Schweitzer etwas religionsgeschichtlich Einmaliges.12 Zwar kommt die Sakramentsmystik des Paulus in auffällige Analogie zur Mystik der hellenistischen Mysterienreligionen, doch hängt für Schweitzer an dieser religionsgeschichtlichen Analogie nicht viel, da Paulus den Symbolismus der Mysterien nicht aufnehme und eben im Gegensatz zu den Mysterien eschatologisch denke.13 Eine gewisse religionsgeschichtliche Vorläuferschaft für die paulinische Verschmelzung von Eschatologie und Mystik sieht Schweitzer in den Apokalypsen Baruch und Esra, die die prophetische Messias- und die apokalyptische Menschensohnerwartung zur Abfolge zweier Epochen ordneten.14 Paulus übernehme diese doppelte Eschatologie, die er aber im Sinne einer einmaligen Lehre der doppelten Auferstehung umforme: Auch die Teilhaber am vorübergehenden messianischen Reich seien bereits, sakramental, in der Seinsweise der Auferstehung.15 Zum Teilhaber an dem messianischen Reich Christi werde man im sakramentsmystischen Zustand des Seins in Jesus, der Lebende und Verstorbene von der übrigen Welt seinsmäßig trenne.16 „Erlöst sind für ihn die Gläubigen dadurch, dass sie in der Gemeinschaft mit Christo durch ein geheimnisvolles Sterben und Auferstehen mit ihm schon in der natürlichen Weltzeit in den übernatürlichen Zustand eingehen, in dem sie im Reich Gottes sein werden.“17

Über Deissmann und Schweitzer hinaus hat K.L. Schmidt den Versuch unternommen, Mystik und Eschatologie einheitlich zu verstehen und diese Verbindung auf Jesus zurückzuführen. Beides gehöre von Anfang an zusammen: Vom Täufer bis zur Joh. Apok. sei die neutestamentliche Gemeinde eschatologisch ausgerichtet.18 Ja, von Jesus bis zur Joh. Apok. sei zugleich eine visionäre und mystische Bezugnahme auf das Himmlische gegeben.19 Schmidt bleibt in der religionsgeschichtlichen Analyse dennoch dabei stehen, dass grundsätzlich die mystischen Elemente zum hellenistischen Charakter des Urchristentums gehörten.20 Dass beide Elemente ineinandergriffen, ja dass sogar schon Jesus jenseits von Eschatologie, Ethik und Mystik stünde, ist religionsgeschichtlich für Schmidt nicht weiter zu erhellen.

G. Bertram ist innerhalb der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT unter geschichtsphilosophisch-methodischen Aspekten zu einer Kritik des Historismus gekommen: Eschatologische Erwartung und gegenwärtiger Heilsbesitz lägen für die urchristliche Kultgemeinde ineinander.21 Bertram konfrontiert dieses zugleich eschatologische und mystische Geschichtsempfinden mit unserem landläufigen, rationalistischen Geschichtsverständnis, das in begrifflichen Gegensätzen und in einem diachron-teleologischen Entwicklungsdenken sich bewege.22 Mit der kultgeschichtlichen Betrachtung ist aber nach Bertram durch den ihr vorgegebenen Gegenstand eine ‚Übernatürliches‘ einschließende Geschichtskonzeption gefordert, da rational-immanenter Historismus den ständigen Bezug zum Himmlischen nicht aufnehmen könne.23 Bertram scheint diese Verbindung von Eschatologie und Mystik und damit das Zusammenfallen von Aspekten, die normaler historischer Betrachtung auseinanderfallen, letztlich hermeneutisch im lebensphilosophischen Sinne zu verstehen: Es sei in dieser Verbindung enthalten ein Hinweis der Urgemeinde, ja Jesu selbst, auf die Unergründlichkeit und das Geheimnis des eigentlichen Lebensprozesses.24 Da wir auf Bertrams kultgeschichtliche Jesusdeutung unten nochmals eingehen werden, halten wir als Eigenart der Bertram’schen Betrachtung fest seinen Hinweis auf die phänomenologisch konstatierbare Eigenart, dass kultische Reflexion der Gemeinde in ihrem transzendenten, mystischen Zug die Immanenz, die diachrone Teleologie und die rationale Verkettung der Ereignisse aufbreche.25 Diesen Zusammenhang von Eschatologie und Mystik im Kultus bestimmt Bertram nicht eigentlich religionsgeschichtlich. Er will die Gegenüberstellungen in der ‚normalen‘ Forschung (Bousset, Heitmüller, Bultmann) durch einen der inneren Gesetzmäßigkeit kultischen Denkens abgelauschten Begriff höherer Einheitlichkeit überwinden. Dabei begreift er den urchristlichen Kult nicht als religionsgeschichtlich abgrenzbares Phänomen, sondern als Grund und Ausdruck der psychologischen Einstellung der Gläubigen.

Einen Ansatz zur Überwindung des Gegensatzes von eschatologischer und kultischer Frömmigkeit hat nicht zuletzt J. Weiss aufgewiesen. Schon in der 2. Aufl. von „Jesu Predigt vom Reiche Gottes“ nennt er neben der Eschatologie stehende religiöse Grundmotive, die für die Gegenwart Erfüllung vom Himmel her bedeuten.26 In seiner 1913 veröffentlichten Untersuchung zum Problem der Entstehung des Christentums deutet Weiss auf die Religion der Synagoge hin, welche in Gebeten und Schriftlesungen den Glauben an Gottes gnädige Nähe zum Ausdruck bringe und eine, in gewisser Weise, sogar mit Heil gefüllte Gegenwart für den Frommen erschließe. „Aber, wie gesagt, schon lange vor der Entstehung des Christentums hat dieser eschatologischen Stimmung eine Gegenwartsfrömmigkeit entgegengewirkt, die streng genommen zu ihr in Widerspruch steht. Denn wer schon im gegenwärtigen Leben die Hilfe und Gnade Gottes erfährt und auf sie vertrauen gelernt hat, der hat damit den metaphysischen Dualismus und die Spannung auf die Zukunft im Grunde überwunden.“27 Weiss leitet diese Beobachtung, die ihm dann auch für das Verständnis der Urgemeinde und Jesu wichtig wird, aus der Synagogenfrömmigkeit ab. Er weist damit auf einen wesentlich anderen kultgeschichtlichen Hintergrund für die Verbindung von Eschatologie und Mystik hin: Hinter der Synagoge wird die Frömmigkeit der Tempelgemeinde sichtbar.

Die kultgeschichtliche Betrachtung als ein Fundament der Formgeschichte hat offenbar in ihrer ersten Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die innere Dynamik entwickelt, den Gegensatz von Eschatologie und Mystik zu entschärfen und für die Urgemeinde und Jesus sogar als in nuce aufgehoben zu postulieren. Der eschatologische ‚Ausbruch‘ bei den ‚Konsequenten‘, den J. Weiss und A. Schweitzer selbst mit der urchristlichen Kultmystik in Einklang zu bringen suchten, hat im Wesentlichen über Bultmann die folgenden Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung in Deutschland bestimmt. Dieser von Bousset und Bultmann gegen den Hauptteil der kultgeschichtlichen und formgeschichtlichen Betrachtung des NT durchgehaltene Gegensatz von Eschatologie und Kultmystik hatte auf seiner Seite die angeblich rein hellenistische Basis des urchristlichen Kult- und Sakramentsverständnisses und die Logik des älteren Baur-Harnack’schen Geschichtsverständnisses der dialektischen Entwicklung. Es bleibt aber festzuhalten, dass die genannte kult- und formgeschichtliche Forschung zu einem theologisch, christologisch und historisch wesentlich einheitlicheren Bild des NT tendierte, welches im Urchristentum von Anfang an ‚Mystik‘ als Umgang mit dem Himmlischen neben die eschatologische Erwartung stellte und beide in einem sich gegenseitig verstärkenden und durchdringenden Verhältnis sah.

Diese Tendenz zur Überwindung des angeblichen Gegensatzes von Kultus und Eschatologie konnte aber solange nicht zu dem gewünschten Ziel kommen, als es nicht möglich war, für die kultischen Elemente des Urchristentums eine religionsgeschichtliche Basis zu finden, die nicht von vornherein mit dem Problem des ‚doppelten Ansatzes‘ belastet war.

In dieser Situation bedeutete es einen großen Fortschritt, die eigene kultische Tradition des palästinischen Judentums und damit auch des palästinischen Urchristentums wahrzunehmen, den Tempelkult Jerusalems. Auch der jüdische Kult enthält eine ausgesprochen räumliche, himmlische Dimension, die das Leben des Kultteilnehmers mit dem im Tempel anwesenden Herrn zu verbinden verspricht.

In dieser Geschlossenheit wohl als erster untersuchte J. Jeremias die mit der Kreuzigungsstätte verbundenen und aus der Jerusalemer Tempeltheologie stammenden und teilweise bereits in der Jesustradition wirksamen Kultsymbole.28 Jeremias wies auf die Tradition, wonach Adam, der Urmensch, vom Tempel aus erschaffen, in ihm auch beerdigt sei und man nunmehr seinen Schädel unter dem Kreuz Jesu begraben denke.29 Der Kultort bilde in der Tempeltheologie die Mitte der Erde, zugleich ihren höchsten Punkt, der in den Himmel hineinrage, ja zugleich Eingang in das Erdinnere sei: Golgatha als Nachfolgegröße des Zentralheiligtums übernimmt nach Jeremias diese kosmischen Kennzeichen.30 Auf Golgatha übertragen werde auch die jüdische Tradition, wonach am Brandopferaltar des Tempels die ‚Opferung Isaaks‘ stattgefunden habe, an dem Ort, wo zuvor der Hohepriester Melchisedek amtete.31 Am heiligen Felsen als der kosmischen Mitte liege danach der Ausgangspunkt der kosmischen und geschichtlichen Entwicklung. Er ist der Punkt, von dem her die creatio continua sich vollziehe und auf den hin die Geschichte ihren eschatologischen Zielpunkt nehme.32 Es sei klar, dass von diesem einzigartig qualifizierten Ort her Offenbarung geschehe, ja, dass Aufsteigen auf den Stufen des Altars am heiligen Felsen Aufstieg in den Himmel bedeute. Dieser kosmische Punkt sei zugleich himmlischer und irdischer Ort.33 Insonderheit die Opferung im Tempel sei Offenbarungszeit.34 Beim Felsen beginne die Wohnung der Himmlischen, beginne der Thron Gottes, unter dem das Paradies liege.35 Als Offenbarungsort und Stätte der kosmischen Erhaltung sei der heilige Fels der Möglichkeit und Gefahr magischer Einwirkung ausgesetzt, war doch auf ihm der heilige Gottesname eingeschrieben.36 Nach Jeremias darf betont werden, dass dies in gewissem Sinne statische Weltbild des durch den heiligen Felsen festgemachten Kosmos, an dem Himmel und Erde sich berühren und die Gemeinde mit den Himmlischen zum Gottesdienst zusammenkommt, gerade auch die Dimension der Geschichte aufnimmt, nämlich Protologie und Eschatologie, sowie die auf beide bezogene Offenbarung einer Neuschöpfung, vermittelt.37

Jeremias sieht in Lk 20,17f. Anklänge an diese Tempelsymbolik: Jesus sei der Schlussstein im himmlischen Heiligtum;38 nach Joh 7,37-40 sei Jesus Spender des kultischen Lebenswassers, das mit dem Heiligen Geist segnet. Das Laubhüttenfest mit seinem kosmisch-magischen Wassersegen habe sich in Christus gleichsam zum himmlischen Urbild und zur eschatologischen Vollendung erhoben.39 Schließlich sei nach Mt 16,16-18 Petrus zum unzerstörbaren Felsen der neuen, ganz im Einklang mit der himmlischen Gemeinde stehenden ἐκκλησία bestimmt, deren Halacha zugleich die der Himmlischen sei.40 Jeremias deutet so bestimmte Züge der Jesustradition als himmlische und eschatologische Vollendung der Kultsymbolik des Jerusalemer Heiligtums. Das Verdienst dieser Arbeit besteht nicht so sehr im christologischen Teil, sondern im Aufweis der Wirksamkeit der Kultsymbolik des Judentums, ja der Wirksamkeit eines gefestigten, kultischen Weltbildes und damit der im Judentum liegenden Möglichkeiten einer kultischen und, in gewisser Weise, ‚mystischen‘, ‚ekstatischen‘, ‚magischen‘ Erschließung des himmlischen Hintergrundes, ja der Möglichkeit einer intensiven religiösen Qualifizierung der Gegenwart.

Für die religionsgeschichtliche Neubestimmung der kultischen und ‚mystischen‘ Phänomene des Urchristentums weniger bedeutsam, jedoch wegen ihrer Geschlossenheit hier zu nennen, ist die 1932 erschienene Arbeit von H. Wenschkewitz über die Spiritualisierung der Kultbegriffe.41 Wenschkewitz geht von einem weiteren Kultbegriff der gesamten spätantiken Welt aus, für den das 'da ut des' Grundlage des Opferverständnisses sei.42 Hier liege ein Gegensatz zum ethischen Gottesbegriff, man denke grundsätzlich an eine Wirksamkeit ex opere operato.43 Im Judentum stünde dieses Opferverständnis im Gegensatz zum sittlich-religiösen Pathos der klassischen Propheten.44 Mystik könne wohl aus dem Kult herauswachsen, aber durch ihre spiritualisierende, freiere und direktere Gottesbeziehung nähme sie eine gebrochene Stellung zum Kultus.45 Mystik verinnerliche Religion: Der Gott der Mystik wohne nicht mehr im Tempel, sondern im Herzen. Mit der spiritualisierenden Tendenz der spätantiken Zeit hinge zusammen, dass der Kultus z. Zt. des Neuen Testaments nicht mehr zentrale Institution sei; im Judentum seien ja entsprechend die Essener tempellose Fromme.46

Diese hier zusammengestellten Einzelanschauungen über die Phänomene, deren Spiritualisierung Wenschkewitz untersucht, ja deren Bedeutung für ihn weitgehend an ihrer Spiritualisierungsfähigkeit hängt, sind, zumindest in der späteren Diskussion, kontrovers47 und weisen seinen Einsatz in eine bestimmte theologische Programmatik.48 Beachtlich ist jedoch, dass Wenschkewitz für das Neue Testament nicht einfach die ‚Propheten-Anschluss-Theorie‘49 aufnimmt, sondern den Kultus als Basis von Substitutionsmöglichkeiten ernst nimmt. Schon für die Zeit vor der Tempelzerstörung, erst recht danach, entdeckt Wenschkewitz verschiedene Versuche, das Anliegen des Kultus zu verdichten: Bei den Rabbinen ersetze das Tora-Studium den Kultus und schaffe so Gnade in der Welt,50 ein Gedanke, den auch Neusner zur Grundlage des Verständnisses der rabbinischen Tradierung der Kultgesetze gemacht hat.51 Dazu treten Gebet und andere fromme Leistungen an die Stelle des Opfers. Da Wenschkewitz Opfer hauptsächlich als menschliche Leistung versteht, entsteht durch diese Art der Substituierung kein Problem: Menschliche Leistung wird durch menschliche Leistung ersetzt, wenngleich Wenschkewitz andeutet, dass in beiden Gliedern sich Entsprechung zu einer göttlichen Offenbarung zeigen müsse.52

Diese rabbinische Art der Substituierung sei zu unterscheiden von echter Spiritualisierung, da die Rabbinen ja auch mit einem wunderbaren Wiederaufbau des Tempels rechneten.53 Spiritualisierung hebt nach Wenschkewitz auf eine religiös höherstehende Ebene, während Substitution das Fundament des Substituierten, die Tora, im Grund nicht verlässt.54 Die Spiritualisierung der Kulttradition zeige sich im Neuen Testament, im Gegensatz zur Zwischenschaltung der Tora bei den Rabbinen und einer stoischen Philosophie bei Philo, darin, dass Jesus aus seiner Gottunmittelbarkeit ordnend und vermittelnd in das Gottesverhältnis des Glaubenden eingreife. Seine Gottunmittelbarkeit trage seine geläuterte, in ethischem und sittlichem Sinne vertiefte Kultusfrömmigkeit. Es geht um eine Frömmigkeit, die Motive des Kultus – Vermittlung von Gnade – aufnehme und so prinzipiell den alten Kultus überwinde.55 Diese Gottunmittelbarkeit, die ἐξουsία Jesu, sei nicht weiter bestimmbar, äußere sich aber am ursprünglichsten darin, dass Jesus sich und sein Werk in das Licht von Jes 53 stelle.56 Jesus sei im Lichte von Jes 53 zwar kein Opfertier und sein Tod geschehe nicht rituell, aber der Sühnegedanke in seiner Objektivität verbindet Jesus nach Wenschkewitz mit dem Opferkult im Jerusalemer Tempel.57

Religionsgeschichtlich bzw. im engeren Sinne historisch untermauert Wenschkewitz diese These nicht. Jesu Beziehung zum Kult bleibt einerseits etwas Singuläres, entspricht aber anderseits dem Trend der Spätantike. Es geht um das Bemühen um Sittlichkeit und um eine von äußerlicher Ritualität befreiten Geistigkeit.58

Sah Jeremias den Zweck der Rezeption von Motiven der Kulttheologie in dem Anspruch, mit der Opferstätte Jesu nun den Himmel und Erde verbindenden kosmischen Knotenpunkt zu verwalten, stützt sich Wenschkewitz auf den geistesgeschichtlichen Trend der Spätantike, den kultischen Vollzug zu spiritualisieren. Das Kultverständnis des Neuen Testaments partizipiere daran.

Einen nochmals anderen methodischen Einsatz wählt E.O. James.59 Er arbeitet mit dem orientalischen ‚cult-pattern‘ der nordischen Schule, welches um die Figur des Königs als Mittler zwischen Gottheit und Menschheit kreist und in seinem Tod und Auferstehen rituell-magische Mitbegründung kosmischer Ordnung findet. “Thus, the dead and resurrection drama in its crudest form was a mystery play on the theme ‘Out with famine, in with health and wealth’, in which the king, or his heavenly counterpart, was the principal actor, and the story of creation was re-enacted as part of the ritual struggle.”60 Da das Judentum den unmittelbaren Hintergrund für das NT abgebe, seien die im nachexilischen Judentum mit der Figur des Königs verbundenen kultisch-kosmischen Traditionen für das Verständnis der neutestamentlichen Christologie heranzuziehen.61 Nachdem die Hoffnung auf die davidische Lösung sich mit der kultischen Restituierung nach dem Exil als unmöglich erwiesen habe, schaute man auf eine direkte Intervention vom Himmel, die sich in der makkabäischen Zeit in der Figur des Menschensohnes als des Urmenschen, darin alte Königsmythologie aufnehmend, verdichtet habe.62 Jesus setze mit dem anderen im Judentum nach dem alten cult-pattern entworfenen idealen Königsbild ein, dem deuterojesajanischen Gottesknecht.63 Er verbinde seine gegenwärtige königlich-kultische Opfer-Erniedrigung mit seiner zukünftigen himmlischen Erhöhung als Menschensohn.64 Die christliche Heidenmission stoße sofort auf andere Ausläufer des alten hero-pattern und ersetze die älteste Ebed-Menschensohn-Christologie durch den Kyrios-Begriff.65 James lenkt damit den Blick der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT weg vom Fixpunkt der älteren Forschung in den hellenistischen Mysterien. Wie das palästinische Judenchristentum diese alte Jesustradition kultisch genutzt haben soll, kann man nur spekulativ folgern.66

Religionsgeschichtlich einen ähnlichen Weg wie James geht Arvedson.67 Die altorientalische kultische Gattung des Dankopfers (תודה) findet er auch im AT, vor allem jedoch in den hellenistischen Mysterien, die die älteren Vegetationsmythen des Ostens aufnähmen und die kultischen Ausdrucksformen des Ostens übernähmen.68 Die ältere kultisch-räumliche Dialektik von Leben und Tod schlüge in den Mysterien um in eine gnostische von himmlischer und irdischer Existenz.69 Da die Jesus-Tradition sich in Mt 11,25-30 formgeschichtlich an die Todah-Gattung anlehne, spreche Jesus im ersten Teil zwar scheinbar von seiner Würde analog der eines altorientalischen Königs; da er im Folgenden aber die Umsetzung der königlichen Inthronisation – ein angeblich klassischer Fall für die Darbringung einer Todah – in die Selbstverkündigung eines hellenistischen Mystagogen voraussetze, sei der ganze Zusammenhang Mt 11,25-30 als Liturgie eines hellenistischen Mysteriums der Inthronisation des erlösten und erlösenden Offenbarers zu verstehen.70

Den Fortschritt zu einer auch traditionsgeschichtlich abgesicherten, nicht nur religionsgeschichtlich konstruierten Einbindung des Neuen Testaments und der Jesustradition in die alttestamentlich-jüdische Kultgeschichte zeigen die Arbeiten von H. Gese. Wegen der starken Berührung mit Thesen von Arvedson fügen wir hier den Hinweis auf Geses grundlegenden Aufsatz über „Ps 22 und das Neue Testament“71 ein. Auch Gese rechnet mit einer kultgeschichtlichen Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament, insofern Jesus und der palästinischen Gemeinde Kultbräuche des zweiten Tempels selbstverständlich bekannt waren. Jesus deutete seinen ihm bevorstehenden Tod im Rahmen der Feier einer Todah, eines Dankopfers, und stiftete in diesem Rahmen das Abendmahl.

Wenn Gese das urchristliche Abendmahl kultgeschichtlich an die Todah anbindet und dann methodisch ein ‚kultätiologischer‘ Übergang zum Leben des Irdischen erschlossen wird, so ist von vornherein eine erst hellenistische Entstehung des Abendmahls und eine Deutung im Sinne der Mysterien ausgeschlossen.

Vom Alten Testament herkommend, bedarf es weder der schwer zu beweisenden ursprünglichen Identität des Herrenmahls mit dem Passa noch der Annahme, dass die vorpaulinische hellenistische Gemeinde das wesentliche, schöpferische Element der neutestamentlichen Traditionsbildung darstelle. Vielmehr musste nach alttestamentlichen Maßstäben auf die Erfahrung der Auferstehung hin notwendig die Feier der Todah vollzogen werden, ja, die Verkündigung der Auferstehung kann vollständig, d. h. als Erfahrung der Auferstehung, nur in dem Todah-Mahl vollzogen werden.72

Die Feier der Auferstehung gemeinsam mit dem Auferstandenen, die Erfahrung ihrer Wirklichkeit, vollzieht sich also nicht im Rahmen einer hellenistischen Kultmystik, sondern ist Kennzeichen alttestamentlich-jüdischen Verständnisses von kultisch vermittelter, himmlisch-irdischer Wirklichkeit. Bestimmte Psalmen, so der von Gese untersuchte 22., enthielten geradezu eine apokalyptische Theologie, die vom Einbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ als Errettung vom Tode wisse.73 Diese kult-apokalyptische Theologie einer βασιλεία-Frömmigkeit sei getragen vom Bekenntnis zur Teilhabe am Leben aus den Toten, die herrühre aus der Erfahrung des Einbruchs der βασιλεία aus dem Himmel in die vom Christus neu qualifizierte irdische Wirklichkeit der Gemeinde. Die apokalyptische Eschatologie der urchristlichen Kultgemeinschaft wurzele letztlich in alttestamentlicher Kultspiritualität, welche Jesus in seinem Tod am Kreuz an die Wirklichkeit eschatologischen Lebens aus den Toten gebunden habe. „Derjenige, der diese βασιλεία in seinem Leben verkündet hat, führt sie in seinem Tod herbei …“74

Wir stoßen auf den Versuch, Kultus und Eschatologie, ja Kultus und Apokalyptik, Erwartung eschatologischen und Erfahrung himmlischen Lebens als Einheit zu sehen. Die Differenzierungen der älteren Forschung zwischen Eschatologie und Kultus und die daraus resultierende Konstruktion eines doppelten Ansatzes werden hier grundsätzlich in Frage gestellt.

Ganz deutlich ist auch, dass in dieser von Gese beschriebenen kultischen βασιλεία-Verkündigung und -Erfahrung ein raum-zeitliches Konzept von Eschatologie entsteht: Sie ist himmlische Größe, deren kultische Vermittlung zugleich auf die eschatologische Totenauferstehung verweist.

Da nach Gese Jesus das Abendmahl als Erfahrungsrahmen und Vermittlung der Realität seiner Auferstehung gestiftet hat, wird von diesem kultgeschichtlichen Ansatz her ein Zugang zum Zentrum der Jesustradition sichtbar. Die βασιλεία-Verkündigung Jesu bildet gleichsam die Konstante in der Traditionsgeschichte; Jesus selbst rezipiert die kultisch-apokalyptische βασιλεία-Theologie der Psalmen und gibt sie seiner Gemeinde in der eschatologisch realisierten Form einer Feier seines Todes und seiner Auferstehung weiter.

In seiner auf akademische Vorträge in Schweden zurückgehenden Untersuchung ‚Kultus und Evangelium‘ legt E. Lohmeyer 1942 eine Programmschrift vor, die konsequent auf die Bedeutung der Kulttheologie des 2. Tempels für das Verständnis der Jesustradition hinweist.75 Lohmeyer geht aus von einem damals in Deutschland nicht häufig anzutreffenden, in der nordischen Schule entwickelten, positiven Kultusbegriff. Kultus gründe auf Offenbarung Gottes76, er sei Gnadeninstitution77, durch die sich Gott binde, eine Ordnung der Entsühnung und Neuschaffung78; wie Jeremias weist Lohmeyer dem Kultus eine Kosmos und Geschichte ordnende Funktion zu. In ihm laufen Protologie und Eschatologie zusammen;79 der Kultus als Tat Gottes am Menschen eröffne eine Spannung zur Lebenserfahrung des Einzelnen und zur Geschichtserfahrung Israels und treibe so die Geschichte in die Perspektive der eschatologischen Verwirklichung einer Befreiung von Sünde, Tod und Teufel.80 Lohmeyer stößt zu der forschungsgeschichtlich bemerkenswerten These vor, dass aus dem Kultus die Apokalyptik erwachse.81 Der Kult als Gnadenordnung und Zentrum der Geschichtsvermittlung stehe über dem Gesetz, welches ihm nur zudiene.82 Das „Spätjudentum“ sei nicht so sehr Religion des Gesetzes als vielmehr Religion des Kultes.83 Der Kultus erschließe Israel eine gegenwärtige, lebendige Beziehung zum Vater im Himmel,84 ja gewähre Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde.85

Lohmeyer bringt zum Ausdruck, dass kultische Heiligkeit und sittliche Vollkommenheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern im Kultus immer auf einander bezogen sind. Es bleibe darin aber eine Spannung, in der der Kultus auf die eschatologische Neuschöpfung weise.86 Die ältere prophetische Kultkritik habe auch nicht auf sich selbst gestanden, sondern komme aus der eschatologischen Perspektive, in der der Kultus selbst seine Vollendung schaue.87 Z. Zt. des Neuen Testaments seien alle religiösen Bewegungen aus dem Kult selbst kommende Beerbungs- und Umsetzungsversuche.88 Lohmeyer macht vor diesem Hintergrund Ernst mit der alten exegetischen Beobachtung, dass die Aussage von Gottes Königtum eine kultische Tradition sei: Der Reich-Gottes-Begriff in Jesu Verkündigung ziele auf das himmlische Haus Gottes.89 Die christlichen Sakramente seien eschatologische ‚Aufhebungen‘ der Opfer, insofern sie eschatologisch wirksam von den zuvor kultisch angegangenen Negativ-Größen Sünde, Tod und Teufel befreiten.90 Lohmeyer kommt vor diesem Hintergrund zu einem stark hochpriesterliche Züge tragenden Jesusbild,91 wie wir unten entfalten werden.

Hier bleibt festzuhalten, dass Lohmeyer eine Programmschrift vorgelegt hat, die er leider selbst nicht mehr hat ausgestalten können. Er weist den Weg für eine konsequente kultgeschichtliche Betrachtung des NT – ja bereits der Jesustradition – vor dem Hintergrund der Kulttheologie des Alten Testaments und des Judentums. Lohmeyers These vom Kultus als Grundlage für die Ausbildung spezifischer Traditionen hat durch die spätere Entdeckung der Qumran-Texte eine grundsätzliche Bestätigung erfahren.

Noch vor der beginnenden Auswertung der Qumrantexte kam G. von Rad in einer Untersuchung zu ‚Gerechtigkeit und Leben in den Psalmen‘92 im Anschluss an Mowinckels kultgeschichtlicher Betrachtung der Psalmen93 zur Erhebung einer bestimmten Kultspiritualität. Der Kultus in Israel sei eingespannt in ein vertikal ausgerichtetes Weltbild, welches von dem der grundsätzlich geschichtlich denkenden Propheten letztlich unaufhebbar verschieden sei.94 ‚Leben‘ und ‚Tod‘ treten danach im kultisch erschlossenen Dasein als gegensätzliche Mächte auf, so dass gleichsam Scheol und Himmel im Griff nach dem Menschen sich gegenüberstehen.95 Der Kultus spreche in diesem Welt- und Daseinsgefüge Leben zu und dränge Scheol-Kräfte zurück. Teilhabe am Kultus bedeute deshalb, in der Sphäre himmlischen Lebens zu stehen. Zum Kultus gehört also eine von ihm erschlossene Lebensmystik, insofern der Fromme sein Leben unter dem Blick auf die himmlische Herrlichkeit zu führen vermag.96 Gelte dies nur potentiell von jedem Kultteilnehmer,97 so jedenfalls in gesteigertem Maße von dem, der ständig im Bereich des Tempels und seiner Symbolik zu Hause sei: „Die Kenntnis der Form kultischer Rede, das Umgehen mit sakralen Überlieferungen, ihre Bearbeitung und ständige Neugestaltung – das war Sache eines Berufes, einer bestimmten Vollmacht, ja auch eines Handwerks …“98 Die Lebendigkeit des Kultus, so könnte man sagen, hängt davon ab, dass bestimmte Kreise des Kultpersonals die Kulttheologie, die Ausdrucks- und Erlebnisformen des Kultus ständig neu interpretieren und verdichten. Daraus entsteht eine Spiritualisierung, die aus dem Kultbetrieb selbst erwächst. Der Kultus ist damit nach v. Rad grundsätzlich aus sich selbst und um seines zentralen Anliegens willen, die gnädige Gegenwart Gottes und seiner Heilsgüter erfahrbar zu machen, reformierbar, erneuerungsfähig. V. Rad denkt insonderheit an die Leviten, die, vom täglichen Dienstbetrieb des Opfers etwas entfernt, aus ihrer alten Priestertradition um die vertieften Dimensionen der Kultsymbolik wissen.99 Sie kennen das Geheimnis der Gottesschau im Kultus, sie wissen, dass die kultisch gewährte Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinausreicht; die Hoffnung auf ein Entrücktwerden im Tod gehöre deshalb zur Kultanthropologie dieser levitischen Spiritualen.100