Jesus war kein Europäer - Kenneth E. Bailey - E-Book

Jesus war kein Europäer E-Book

Kenneth E Bailey

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Beschreibung

Jesus war kein Europäer, sondern lebte in einer Kultur, die uns fremd ist. Dieses faszinierende, leicht verständliche Sachbuch liefert Einblicke in die Denkwelt Jesu und des Neuen Testaments. Durch die Beschreibung des kulturellen Umfelds, in dem Jesus gelebt und gewirkt hat, bekommt man ein tieferes Verständnis seiner Aussagen. Der Autor Kenneth E. Bailey hat Jahrzehnte lang im Nahen Osten gelebt und gelehrt. Für seine Analysen zieht er noch weitere arabisch-christliche Bibelausleger des Mittelalters heran. So erfährt man zum Beispiel, warum Jesus in der Krippe, aber nicht im Stall geboren wurde, oder warum er in den Staub schrieb, als die Ehebrecherin vor ihm stand. Eine wertvolle Neu-Interpretation vieler biblischer Texte.

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Seitenzahl: 837

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KENNETH E. BAILEY

Jesus war kein Europäer

DIE KULTUR DES NAHEN OSTENS UND DIE LEBENSWELT DER EVANGELIEN

Aus dem Amerikanischen von Doris C. Leisering

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22869-4 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26648-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2018

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Jesus Through Middle Eastern Eyes

Originally published by InterVarsity Press as

Jesus Through Middle Eastern Eyes

by Kenneth E. Bailey.

© 2008 by Kenneth E. Bailey.

Translated and printed by permission of

InterVarsity Press, P. O. Box 1400, Downers Grove, IL 60515, USA.

www.ivpress.com

Weitere Bild- und Textnachweise siehe S. 6

Umschlaggestaltung: dyadesign, Volker Schächtele

Satz: τ-leχιs, Heidelberg

Für

David Mark Bailey

In tiefer Dankbarkeit für seine Entscheidung,zu hoffen, anstatt zu verzweifeln,und für seine Lieder in der Nacht

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Bild- und Textnachweise

Titelbildcollage

Portrait of an Ottoman Prince, Half Length, in Red and Gold. Francois-Henri-Alexandre Lafond (1815-1901). Oil on canvas. 81.2 × 64.7cm.

Bethlehem, April 6th 1839, plate 85 from Volume II of ‚The Holy Land‘, engraved by Louis Haghe (1806-1885) pub. 1843 (litho) Roberts, David (1796-1864) (after) beide Bilder Private CollectionPhoto © Christie’s Images/Bridgeman Images.

Wir danken folgenden Verlagen für freundlich erteilte Abdruckgenehmigungen

© 1957 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart (Anm. 108; 450)

© 2014 Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg (Anm. 114)

© 1956 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart (Anm. 147)

© 2015 marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden (Anm. 202)

© 1965 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen (Anm. 346)

© 2001 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH (Anm. 362)

Bibelzitate

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart (EÜ)

Hoffnung für alle® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HFA)

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft, Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten (NGÜ)

Das Buch. Neues Testament – übersetzt von Roland Werner. © 2009 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen (DBU)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen (NLB)

Inhalt

Über den Autor

Bild- und Textnachweise

Vorwort

Einleitung

Syrische und arabische christliche Bibelauslegung

Rhetorische Muster in hebräischen Texten

Zur Inspiration der biblischen Texte

Was dieses Buch will

ERSTER TEIL: JESU GEBURT

1. Die Geschichte der Geburt Jesu

Ein christlicher Roman

Zusammenfassung: Die Geschichte der Geburt Jesu

2. Der Stammbaum und Josef der Gerechte

Josef, der Gerechte

Josef kochte vor Wut …

Zusammenfassung: Die Ahnentafel und Josef der Gerechte

3. Der Retter, die Weisen und Jesajas Vision

Zu wessen Rettung kam Jesus auf die Welt?

Woher stammten die „Weisen aus dem Morgenland“?

Was haben Jerusalem und Jesaja 60 mit Weihnachten zu tun?

Zusammenfassung: Der Retter, die Weisen und die Vision Jesajas

4. Herodes’ Gräueltaten, Simeon und Hanna

Wie kam es zu diesem Verbrechen?

Warum gehört dieser blutrünstige Bericht zur Geschichte der Geburt Jesu?

Simeon und Hanna – Mann und Frau

Simeons Prophezeiung

Zusammenfassung: Der Kindermord des Herodes, Simeon und Hanna

ZWEITER TEIL: DIE SELIGPREISUNGEN

5. Die Seligpreisungen – Teil I

„Glückselig“ – keine Zukunftsmusik

Die erste Seligpreisung

Die zweite Seligpreisung

Die dritte Seligpreisung

Zusammenfassung: Die Seligpreisungen – Teil I

6. Die Seligpreisungen – Teil II

Die vierte Seligpreisung

Das Wesen der Gerechtigkeit

Die fünfte Seligpreisung

Die sechste Seligpreisung

Die siebte Seligpreisung

Die achte Seligpreisung

Die neunte Seligpreisung

Zusammenfassung: Die Seligpreisungen – Teil II

DRITTER TEIL: DAS VATERUNSER

7. Das Vaterunser: Gott, unser Vater

Leere Worte

Gebetsstil und -sprache

Die Einleitung zum Vaterunser

Bedeutung und Wert des Wortes abba

Gott: männliche und weibliche Bilder

Abba, der im Himmel ist

Zusammenfassung: Das Vaterunser – Gott, unser Vater

8. Das Vaterunser: Gottes Heiligkeit

Geheiligt werde dein Name

Lassen sich Liebe und Heiligkeit miteinander vereinbaren?

Zusammenfassung: Das Vaterunser – Gottes Heiligkeit

9. Das Vaterunser: Gottes Reich und unser Brot

Drei Geschichtsperspektiven

Drei Paradoxien im Reich Gottes

Vier klassische Sichtweisen auf das Reich Gottes

Die Bitte um die Erfüllung von Gottes Willen

Die vierte Bitte

Zusammenfassung: Das Vaterunser – Gottes Reich und unser Brot

10. Das Vaterunser: Unsere Sünden und das Böse

Die Vergebung von Schulden und Sünden

Versuchung und der bzw. das Böse

Erlöse uns von dem Bösen

Dein ist das Reich

Zusammenfassung: Das Vaterunser – Unsere Sünden und das Böse

VIERTER TEIL: DRAMATISCHES HANDELN JESU

11. Die Berufung des Petrus

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Die Berufung des Petrus

12. Der Beginn von Jesu Wirken

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Der Beginn von Jesu Wirken

13. Der Blinde und Zachäus

Der Blinde am Straßenrand

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Jesus und der Unterdrücker (Jericho und Zachäus)

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Der blinde Mann und Zachäus

FÜNFTER TEIL: JESUS UND DIE FRAUEN

14. Jesus und die Frauen

Der rhetorische Aufbau

Zusammenfassung: Jesus und die Frauen – Eine Einführung

15. Die Frau am Jakobsbrunnen

Einleitung

1. Überraschung: Bewusste Selbstentäußerung

2. Überraschung: Die Gabe Gottes ist ein Mensch, kein Buch

3. Überraschung: Das Getränk, das die Zeit besiegt

4. Überraschung: Eine Quelle für andere

5. Überraschung: Ausflucht in die Religion

6. Überraschung: Die Tradition wird von der Zions-Verheißung abgelöst

7. Überraschung: Das erste „Ich bin“

8. Überraschung: Der Auftritt der ersten christlichen Predigerin

9. Überraschung: Unsichtbare Speise

10. Überraschung: Der wahre Retter der Welt

Zusammenfassung: Die Frau am Jakobsbrunnen

16. Die kanaanäische Frau

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Die kanaanäische Frau

17. Diese Frau steinigen wir nicht!

Sühne

Ein Text-Dilemma

Die Falle

Jesus antwortet

Zusammenfassung: Diese Frau steinigen wir nicht!

18. Die Frau im Haus des Pharisäers Simon

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Die Frau im Haus des Pharisäers Simon

19. Das Gleichnis von der Witwe und dem Richter

Zusammenfassung: Das Gleichnis von der Witwe und dem Richter

20. Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen

SECHSTER TEIL: JESU GLEICHNISSE

21. Einführung in die Gleichnisse

Theologie: begrifflich und metaphorisch

Metaphern entschlüsseln

Zusammenfassung: Einführung in die Gleichnisse

22. Das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner

Dialog

Sieben Szenen des barmherzigen Samaritaners

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner

23. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom reichen Kornbauern

24. Das Gleichnis vom großen Festmahl

Tischgespräche

Das messianische Festmahl

Das Gleichnis

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Die Reaktion des Hausherrn

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom großen Festmahl

25. Das Gleichnis von den zwei Bauherren

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis von den zwei Bauherren

26. Das Gleichnis vom ungerechten Verwalter

Eine beunruhigende Geschichte

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Die Reaktion des Verwalters

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom ungerechten Verwalter

27. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Das Gleichnis

Der Pharisäer

Der Zöllner

Jesaja 66,1-6

Rhetorischer Stil

Jesaja 66 und das Gleichnis

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner

28. Das Gleichnis vom barmherzigen Arbeitgeber

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Ethik

Theologie

Christologie

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom barmherzigen Arbeitgeber

29. Das Gleichnis vom dienenden Herrn

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom dienenden Herrn

30. Das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann

31. Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden

Zusammenfassung: Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden

32. Das Gleichnis vom edlen Weinbergbesitzer und seinem Sohn

Der rhetorische Aufbau

Kommentar

Zusammenfassung: Das Gleichnis vom Weinbergbesitzer und seinem Sohn

ANHANG

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Schwarzhaarig, Vollbart und mit orientalischem Gewand – so wird Jesus von Nazareth in Gemälden oft dargestellt. Aber sein Reden und Denken stellen wir uns unwillkürlich doch recht europäisch vor. Kenneth Bailey hilft uns, die „Brille“ zu wechseln und Jesus konsequent als Menschen des Nahen Ostens zu betrachten. Sein Denken und seine Kultur erscheinen dadurch zunächst einmal fremd – doch gerade so verstehen wir Jesus, wie er wirklich war, besser.

Der Autor hat jahrzehntelang im Nahen Osten gelebt und gelehrt. So kann er faszinierende Einblicke in die Welt geben, in der Jesus lebte.

So erfährt man zum Beispiel, warum Jesus in der Krippe, aber nicht im Stall geboren wurde, warum er in den Staub schrieb, als die Ehebrecherin vor ihm stand, oder wie „verrückt“ sich der Arbeitgeber im Gleichnis verhielt, den Jesus mit Gott vergleicht.

Die Themen des Buches sind:

• Die Geburtsgeschichten Jesu

• Die Seligpreisungen

• Das Vaterunser

• Dramatisches Handeln Jesu

• Jesus und die Frauen

• Jesu Gleichnisse

KENNETH E. BAILEY (1930 –2016) war Dozent und Autor mit dem Schwerpunkt Neues Testament und Kultur des Nahen Ostens. 40 Jahre lang hat er in Ägypten, Jerusalem, im Libanon und auf Zypern unterrichtet. In Beirut war er zwanzig Jahre lang Professor für Neues Testament. Bailey lebte zuletzt in Pennsylvania, USA.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Dieses Buch ist nicht in einem Schwung, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden. Einige Kapitel waren ursprünglich Mitschriften von aufgezeichneten Video-Vorlesungen. Diese akribische Arbeit wurde von meinem lieben Freund und Kollegen vorgenommen – Dr. Dale Bowne, emeritierter Professor für Neues Testament am Grove City College. Ich bin ihm für die Bewältigung dieser Mammutaufgabe zutiefst dankbar, das Vorlesungsmaterial nicht nur schriftlich zu erfassen, sondern daraus auch die Rohfassung einer gut lesbaren Version anzufertigen.

Andere Kapitel entstanden aus neuen Studien über Jesu Gleichnisse, die ich vor mehr als dreißig Jahren veröffentlichte. Der größte Teil dieser Kapitel wird nun zum ersten Mal veröffentlicht. Ich danke dem Verlag InterVarsity Press für das Vorrecht, dieses Material den Lesern zugänglich zu machen, die daran interessiert sind, Bibeltexte im Licht der traditionellen nahöstlichen Kultur zu untersuchen.

Für das vorliegende Buch musste ich eine thematische Auswahl treffen; ich entschied mich für Jesu Geburt, die Seligpreisungen, für das Gebet, Jesu dramatisches Handeln, die Rolle der Frau und die Gleichnisse. Die westliche Bibelauslegung nimmt die nahöstliche mittlerweile langsam zur Kenntnis, und in diesem Zusammenhang ist es mein Ziel, kurze Einblicke in einige der Schätze zu ermöglichen, die uns der Blick „nach Osten“ bringt. Es ist meine Absicht, unserem Textverständnis neue Perspektiven zu erschließen, anstatt nur die bisherige Sichtweise mit anderen Worten wiederzugeben.

Ich danke auch Joel Scandrett, meinem Lektor und Freund, der dieses Projekt geduldig von Anfang bis Ende betreut hat. Stets hilfsbereit und verständnisvoll, hat er mir hilfreiche Hinweise gegeben, welche Schwachstellen des Buches weitere Arbeit erforderten und welche Unklarheiten zu beseitigen waren. Ich stehe tief in seiner Schuld.

Was ich meiner persönlichen Korrektorin, Sara Bailey Makari, zu verdanken habe, ist durch nichts aufzuwiegen. Sie hat meine verworrenen Sätze entwirrt, meine Sprünge zwischen den Zeitformen geglättet und überflüssigen Wortballast beseitigt. Kurz und gut, sie hat enorm zu der Qualität des Endproduktes beigetragen. Danke, Sara!

Über zwanzig Jahre lang hatte ich das seltene Vorrecht, von dem weisen Rat eines „Beratungskomitees“ zu profitieren, das sich aus Mitgliedern des Presbyteriums von Shenango (Presbyterianische Kirche in den USA, PCUSA) zusammensetzt und (in jüngerer Vergangenheit) aus Mitgliedern der Diözese von Pittsburgh (Episkopalkirche in den USA). Zu dieser hoch qualifizierten Gruppe gehören heute Pastor Dr. William Crooks, Pastor Dr. David Dawson, Pastor Dr. Joseph Hopkins, Rechtsanwalt Thomas Mansell, Pastorin Pamela Malony, William McKnight und Pastorin Dr. Ann Paton. Für die langjährige Unterstützung dieser lieben Freunde gilt ihnen mein größter Dank.

Zahlreiche mir bekannte und unbekannte Gemeinden und Einzelpersonen haben mich bei meiner Forschungsarbeit unterstützt. Ohne ihre Hilfe wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Mittel zur Arbeit an diesem Buch zu beschaffen und das Projekt zu vollenden. Ich denke hier besonders an die Eastminster Presbyterian Church in Wichita, Kansas, und die Trinity Presbyterian Church in Mercer, Pennsylvania. Ihnen allen danke ich von Herzen.

Die mehr als zehn Millionen arabischsprachigen Christen des Nahen Ostens können ihre Wurzeln auf das erste Pfingstfest zurückführen, bei dem einige Personen aus Arabien anwesend waren und Petrus auf Arabisch predigen hörten. Zwei Bischöfe aus Bahrain nahmen am Ersten Konzil von Nicäa teil.1 In den fünf Jahrhunderten von etwa 900 bis 1400 n. Chr. veröffentlichten arabischsprachige christliche Theologen und Ausleger theologische Schriften höchster Qualität – eine Qualität, die auch in der Gegenwart zu finden ist.

Vierzig Jahre lang war es das größte Vorrecht meines Lebens, von den zeitgenössischen Erben dieser semitisch-christlichen Welt angenommen, ermutigt, geliebt, unterstützt, gelehrt und geleitet zu werden. Für die guten und schweren Tage in Gemeinschaft, durch „Kriege und Kriegsgeschrei“ hindurch, möchte ich ihnen allen danken. Dieses Buch ist nur ein unvollkommener Versuch, von ihrem (und unserem) Erbe zu lernen und dadurch das Leben und die Botschaft von Jesus von Nazareth besser zu verstehen.

Soli Deo Gloria!Kenneth E. Bailey

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung

Sechzig Jahre lang, von 1935 bis 1995, war ich im Nahen Osten zu Hause. Ich verbrachte meine Kindheit in Ägypten und lehrte später vierzig Jahre lang Neues Testament an theologischen Seminaren und Instituten in Ägypten, im Libanon, in Jerusalem und auf Zypern. Dabei konzentrierte sich meine akademische Arbeit hauptsächlich auf den Versuch, die Geschichten der Evangelien im Licht der nahöstlichen Kultur besser zu verstehen. Dieses Buch ist ein Teil jenes fortwährenden Bemühens.

Schriften aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit stellen die Quellen für dieses Unterfangen dar. Bei der antiken Literatur (aramäische, hebräische, syrische und arabische) interessieren mich nicht nur das Alte Testament, die zwischentestamentliche Literatur und die Qumran-Rollen; die jüdische Literatur aus der Zeit nach der Entstehung des Neuen Testaments (Mischna, Midrasch Rabba und die beiden Talmude) ist ebenfalls wichtig. Neben der jüdischen Literatur gibt es außerdem noch die Schriften der orientalischen semitischsprachigen Kirchen.

Syrische und arabische christliche Bibelauslegung

John Meyendorff schreibt über die Bedeutung der Überlieferungen der orientalischen christlichen Welt:

Die Vorstellung, die frühe christliche Überlieferung sei auf griechische und lateinische Texte beschränkt, ist immer noch weit verbreitet. Diese Annahme verzerrt die historische Realität und schwächt unser Verständnis von den Wurzeln christlicher Theologie und Spiritualität. Im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert war Syrisch die dritte internationale Sprache der Kirche. Sie diente als Hauptverkehrssprache der römischen Diözese des „Ostens“, zu der Syrien, Palästina und Mesopotamien gehörten.2

Die Christen des Nahen Ostens werden manchmal als die „vergessenen Gläubigen“ bezeichnet. Es ist bekannt, dass über Jahrhunderte hinweg im Nahen Osten Juden und Muslime lebten. Seit dem Konzil von Chalcedon 451 n.Chr. sind allerdings die Christen des Nahen Ostens größtenteils aus dem Bewusstsein der westlichen Welt verschwunden. Nur wenige wissen, dass es heute noch mehr als zehn Millionen arabischsprachige Christen gibt, die ein reiches Erbe an antiken und neuzeitlichen Schriften besitzen. Diese Christen sprechen eine semitische Sprache und leben, atmen und denken die Kultur des Nahen Ostens; sie sind in diesen Traditionen verwurzelt. Ihre Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart dürfen in der Theologie nicht ignoriert werden.

Deswegen greift diese Aufsatzsammlung auf die frühen syrischen und arabischen christlichen Schriften zu den Evangelien zurück. Syrisch ist mit dem Aramäischen, der Sprache Jesu, verwandt. Das erste Pfingstfest ist die Geburtsstunde der arabischen Christenheit, als einige der Anwesenden Petrus auf Arabisch predigen hörten. Diese Christen waren in den ersten Jahrhunderten im Gebiet des heutigen Jemen, Bahrain, Katar und darüber hinaus weit verbreitet.3 Mit dem Aufkommen des Islam wurde das Arabische nach und nach für die Christen des Orients zu einer wichtigen theologischen Sprache. Hochkarätige arabische christliche Schriften aus mehreren Jahrhunderten sind bis heute größtenteils unveröffentlicht und unbekannt.4 Allen diesen syrischen, hebräischen bzw. aramäischen sowie arabischen Quellen ist die Kultur des Nahen Ostens gemeinsam, und alle von ihnen sind ethnisch näher an der semitischen Welt Jesu als die griechisch-römische Kultur des Westens.

In dieser frühen Zeit des Christentums entstanden die Schriften von Ephraem dem Syrer und die drei klassischen Übersetzungen des Evangeliums ins Syrische: die altsyrische Übersetzung, die Peschitta und die Harklensis. Alle drei wurden für das vorliegende Buch herangezogen.

Mit dem 8. Jahrhundert gewannen die frühen arabischen christlichen Überlieferungen an Bedeutung. In der Geschichte seit dem Frühmittelalter ist mir kein anderer Neutestamentler aus dem Nahen Osten bekannt, der solch herausragende Arbeit geleistet hat wie Abu’l-Farag ‘Abdallah ibn al-Tayyib al-‘Iraqi, wohl besser bekannt unter dem Namen Ibn al-Tayyib. Dieser überragende Gelehrte aus Bagdad starb im Jahr 1043. Georg Graf beschreibt ihn als „Philosoph, Arzt, Mönch und Priester in einer Person“.5 In der Tat ein Universalgelehrter, war Ibn al-Tayyib weit in griechischer Literatur belesen, sprach fließend Griechisch und war zudem nicht nur als Arzt ausgebildet, sondern unterrichtete auch Medizin und verfasste medizinische Texte. Als Geisteswissenschaftler übersetzte er das Neue Testament aus dem Syrischen ins Arabische, schrieb philosophische und theologische Abhandlungen, redigierte eine arabische Version des Diatessaron und schrieb Kommentare zum Alten und Neuen Testament.6 Seine Schriften zu den Evangelien werden in diesem Buch wiederholt zitiert.

Eine zweite wichtige Stimme des Mittelalters ist der koptische Gelehrte Hibat-Allah ibn al-‘Assal, der 1252 eine Ausgabe der vier Evangelien mit einem vollständigen kritischen Apparat vollendete. Seine Arbeit ist ein erstaunliches Kompendium der verschiedenen Evangelien-Übersetzungen aus dem Griechischen, Koptischen und Syrischen ins Arabische, die über die Jahrhunderte hinweg bis zu seiner Zeit entstanden.7 Zudem zog er die Kommentare zu den Evangelien von Dionysius bar Salibi (gest. 1171) zurate.

Bezüglich der Neuzeit hielt ich mich an Ibrahim Sa‘id, einen herausragenden ägyptischen protestantischen Geisteswissenschaftler, der im 20. Jahrhundert fachkundige Kommentare zu den Evangelien des Lukas und des Johannes auf Arabisch verfasste. Zusätzlich konsultierte ich immer wieder Matta al-Maskin, den koptisch-orthodoxen Gelehrten, der 2006 verstarb. Dieser hoch gebildete Mönch, der beinahe Patriarch seiner Kirche geworden wäre, brachte Jahre seines Lebens im Kloster damit zu, Kommentare zum Neuen Testament auf Arabisch zu schreiben. Seine sechs dicken Bände zu den Evangelien sind beeindruckend und außerhalb der arabischsprachigen christlichen Welt unbekannt.

Neben den alten und modernen Kommentaren gibt es noch die unterschiedlichen Textüberlieferungen. Für mich hat die arabische Bibel die längste und glanzvollste Geschichte aller Sprachtraditionen. Die alten christlichen Überlieferungen waren Übersetzungen des Neuen Testaments ins Lateinische, Koptische, Armenische und Syrische. Mit dem vierten Jahrhundert hörten diese Übersetzungsbemühungen allerdings auf.8 Die ältesten arabischen Neuen Testamente stammen möglicherweise aus dem achten, ganz gewiss aber aus dem neunten Jahrhundert. Sie wurden aus dem Syrischen, Koptischen und Griechischen übersetzt und wurden bis zur heutigen Zeit immer wieder überarbeitet und erneuert.9 Übersetzung ist immer Interpretation, und diese Versionen überliefen das Textverständnis der jeweiligen Kirche, die die Übersetzung erarbeitete. Sie sind eine Fundgrube für die Erforschung der Evangelienauslegung im Orient.

Rhetorische Muster in hebräischen Texten

Die vorliegenden Aufsätze thematisieren nicht nur die Kultur, sondern auch die Sprachkunst der antiken und neuzeitlichen Völker des Nahen Ostens, die seit Jahrtausenden in ihren Dichtungen und teilweise ihren Erzählungen mit Parallelismen arbeiten. In der westlichen Welt sind sie als „hebräische Parallelismen“ bekannt, die im Alten Testament häufig anzutreffen sind. Doch in der frühen hebräischen Literatur wurden diese Parallelismen zu einem Sprachkunstwerk verwoben, das ich als „prophetische Redegänge“ bezeichne. Die Bausteine dieser Redegänge sind verschiedene Kombinationen hebräischer Parallelismen. Manchmal werden Gedanken paarweise nacheinander präsentiert und erscheinen in geschriebener Form als AA-BB-CC-Muster. In anderen Fällen werden Gedanken vorgetragen und dann von hinten nach vorn als A-B-CC-B-A wiederholt. Dies kann man als „gespiegelten Parallelismus“ bezeichnen (andere gebräuchliche Bezeichnungen sind Ringkomposition oder Chiasmus). Ein drittes rhetorisches Stilmittel bezeichne ich als Stufenparallelismus, da es einem ABC-ABC-Muster folgt. Diese drei Grundformen sind häufig in einem einzigen Redegang vereint. Ein meisterhaftes frühes Beispiel einer solchen Kombination rhetorischer Stilmittel findet sich in Jesaja 28, wie in Abbildung 0.1 zu sehen ist.

Darum hört das Wort des HERRN, ihr Männer der Prahlerei,Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist!Denn ihr sagt:1.a) Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossenb) und mit dem Scheol einen Vertrag gemachtc) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährtd) wird sie uns nicht erreichen,Bund geschlossen mitTod, Scheol2.a) denn wir haben Lüge zu unserer Zuflucht gemachtb) und in Trug uns geborgen.ZufluchtsortSchutz gesucht3.Darum, so spricht der Herr, HERR:Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein,einen bewährten Stein,einen kostbaren Eckstein, felsenfest gegründet.bauenMaterial4.Wer [an ihn – LXX] glaubt,wird nicht ängstlich eilen.Inschrift5.Und ich werde das Recht zur Richtschnur machen und die Gerechtigkeit zur Waage.bauenWerkzeug6.a) Hagel wird die Zuflucht der Lüge hinwegfegen,b) und das Wasser wird das Versteck wegschwemmen.ZufluchtsortSchutz zerstört7.a) Und euer Bund mit dem Tod wird aufgehoben werden,b) und euer Vertrag mit dem Scheol wird nicht bestehen bleiben.c) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährt,d) dann werdet ihr von ihr zertreten werden.Bund aufgehoben mitTod, Scheol

Abbildung 0.1: Jesajas Gleichnis von den zwei Bauherren (Jes 28,14-18)10

In diesem Redegang fallen mehrere rhetorische Merkmale auf.

Es gibt sieben Strophen. Diese Strophen sind spiegelbildlich angeordnet: Strophe 1 gehört zu Strophe 7, Strophe 2 zu Strophe 6, Strophe 3 zu Strophe 5. Die mittlere, 4. Strophe bildet den Höhepunkt, in welcher der Prophet das Volk dazu aufruft, zu glauben und nicht ängstlich davonzueilen. Dieser typische rhetorische Stil mit seinen sieben Strophen ist so alt und weit verbreitet, dass er einen Namen verdient. Ich habe mich für die Bezeichnung „prophetisch-rhetorische Form“ entschieden. Sie taucht zum ersten Mal in Psalm 23 auf. Im Markusevangelium findet man 17 Beispiele dafür. Zur Zeit des Neuen Testaments war dieses Stilmittel also mindestens tausend Jahre alt.

Strophe 1 hängt mit Strophe 7 zusammen und setzt einen „Stufenparallelismus“ ein. Im direkten Vergleich wird der Zusammenhang deutlich.

1a) Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossenb) und mit dem Scheol einen Vertrag gemacht.Bund geschlossen mitc) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährtTod, Scheold) wird sie uns nicht erreichen,
7a) Und euer Bund mit dem Tod wird aufgehoben werden,b) und euer Vertrag mit dem Scheol wird nicht bestehen bleiben.Bund aufgehoben mitc) Wenn die einherflutende Geißel hindurchfährt,Tod, Scheold) dann werdet ihr von ihr zertreten werden.

Die vier Aussagen in Strophe 7 sind mit denen in Strophe 1 verknüpft und widersprechen ihnen direkt. Zeile 1c und 7c sind identisch.

Ein rascher Blick auf Strophe 2 und 6 zeigt die gleiche Verbindung. Nur gebraucht Jesaja in diesem Fall in seinem Stufenparallelismus je zwei Gedanken, die mit „Zufluchtsort“ und „Schutz“ zu tun haben. In Strophe 2 sind Zufluchtsort und Schutz intakt; in Strophe 6 sind sie zerstört.

Strophe 3 und 5 gehören ebenfalls zusammen, jedoch auf andere Art und Weise. Strophe 3 nennt den verheißenen neuen Grundstein; Strophe 5 beschreibt die zum Bau zu verwendenden Werkzeuge. „Recht“ wird die „Richtschnur“ sein und „Gerechtigkeit“ die „Waage“. Um ein Haus aus Stein zu bauen, muss der Maurer Baumaterialien (3) und Werkzeuge zum Bau (5) haben. Diese zwei Strophen gehören also offensichtlich zusammen.

Der Höhepunkt in der mittleren Strophe konzentriert sich auf den verheißenen Segen des Glaubens. Das Gebäude, das sie aufgebaut haben (Zufluchtsort und Schutz), wird erschüttert werden und einstürzen. Doch mit Glauben (an Gott) werden sie nicht flüchten müssen. Zudem hat die Mitte üblicherweise (und so auch hier) eine Verbindung mit dem Anfang und dem Ende. Die Herrscher von Jerusalem haben einen „Bund mit dem Tod“ (1), der nicht standhalten kann (7). Nur wer „glaubt“ (4), wird standhalten können. Die Mitte (4) besteht aus zwei Zeilen, und 4a gehört zu 1, während 4b in Verbindung mit 7 steht. Man kann es folgendermaßen betrachten.

4a) Wer glaubt(Bezug zu 1 mit seinem „Bund“/„Vertrag“, der von der Natur der Sache her ein gewisses Maß an „Glauben“ erfordert)b) wird nicht ängstlich eilen(steht in Verbindung zu 8, wo „nicht bestehen bleiben“ und „zertreten werden“ den wertlosen Bund charakterisieren, der aus den Angeln gehoben werden wird)

Manch einer mag diese Art von Betrachtung für „interessant“ und „künstlerisch ansprechend“ halten, doch hat sie auch eine Bedeutung für die Auslegung? Jahrhundertelang hat die Kirche die meisten Texte, die in diesem Buch untersucht werden, als linear betrachtet: ein Punkt folgt auf den nächsten. Doch selbst wenn man die Darstellung dieser rhetorischen Muster nur in manchen Fällen überzeugend findet, hat dies Konsequenzen für die Auslegung. Dazu einige Hinweise:

  1. Wenn der Autor seine Argumentation in einer ABC-CBA-Struktur vorbringt, erscheint die Hälfte von dem, was er über „A“ zu sagen hat, in der ersten Zeile; die zweite Hälfte muss in Zeile 6 nachgelesen werden. Das Gleiche gilt für die zweite Zeile (B) und die fünfte Zeile (B), die wiederum ein Paar bilden. Wenn man diese Gedankenpaare übersieht, entgeht einem ein wichtiger Teil der Argumentation des Sprechers.

  2. „Gespiegelte Parallelismen“ stellen den Höhepunkt in die Mitte, nicht ans Ende. Wie bereits angemerkt, wird dieses rhetorische Stilmittel oft als „Ringkomposition“ bezeichnet, weil die Gedanken des Autors im Kreis verlaufen und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Ein einfaches Beispiel für dieses Phänomen findet sich in Lukas 16,13.

Kein Haussklave kann zwei Herren dienen;denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Die erste und letzte Zeile zusammengenommen machen deutlich, dass es sich bei den zwei Herren, von denen Jesus hier spricht, um Gott und um materiellen Besitz handelt. Beide erheben Anspruch auf das Leben des Glaubenden und dieser muss die grundlegende Entscheidung treffen, wem er dieses Recht gewährt. Zudem wird im Höhepunkt in der Mitte die Liebe und Hingebung zu einem Herrn (Gott) betont. Der auf lineare Logik geschulte Verstand geht davon aus, dass der Höhepunkt immer am Ende steht. Wenn das jedoch nicht der Fall ist, muss der Ausleger wissen, wie er den Klimax findet.

  3. Es lässt sich oft viel genauer feststellen, wo eine bestimmte Erzählung beginnt und endet, wenn ihre rhetorische Form erkannt wird. In 1. Korinther 1,17–2,2 schreibt Paulus einen großen Hymnus auf das Kreuz. Die in der westlichen Welt übliche Trennung zwischen Kapitel 1 und 2 findet jedoch an der falschen Stelle statt. Der Hymnus eröffnet mit dem Hinweis auf die Verkündigung Christi, des Gekreuzigten. Er wird in der Mitte und am Ende noch einmal erwähnt.11 Die rhetorische Form kennzeichnet den Anfang und das Ende dieses Meisterstücks und ermöglicht, es im Ganzen zu betrachten.

  4. Eine rhetorische Analyse legt kleinere Abschnitte frei, die als Einheiten erkannt werden können, anstatt sie zu übersehen oder in einzelne Teile zu zerlegen.

  5. Eine rhetorische Betrachtung befreit den Leser auch von der Tyrannei des Zahlensystems. Sie erlaubt dem Text, seine Gedanken selbst anzuordnen. Zahlen, so nützlich sie auch zur Orientierung sein mögen, führen den Leser unbewusst dazu, die Gedanken oder Geschichten linear, der Zahlenabfolge entsprechend zu verstehen. Eine rhetorische Betrachtung befreit uns von 1650 Jahren Herrschaft der Kapitelüberschriften und 450 Jahren unterschwelliger Steuerung durch Verszahlen.

  6. Manchmal ist die rhetorische Anordnung des Materials eine wichtige Entscheidungshilfe für die Wahl der griechischen Lesart, wenn es mehrere davon gibt. Äußere Belege dafür, welche Texte die ältesten und zuverlässigsten sind, besitzen große Wichtigkeit. Doch auch die inhärenten Belege durch die rhetorischen Stilmittel verdienen Beachtung.

  7. Die Parallelen zwischen den Strophen (linear, spiegelverkehrt oder in Stufen) erschließen oft wichtige Bedeutungsebenen, die andernfalls im Dunkeln blieben. In Jesaja 28,14-18 spricht der Prophet über die Gefahr für die Nation durch das assyrische Heer unter dem gefürchteten Sanherib. Die „Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist“ (V. 14) hatten einen Bund mit Ägypten geschlossen und versicherten dem Volk, es sei in Sicherheit. Jesaja war nicht davon überzeugt. Die ägyptische Welt drehte sich um einen Totenkult. Jesaja bezeichnet diesen Bund mit Ägypten als „Bund mit dem Tod“ (lies: Ägypten). In Strophe 1 stellt der Prophet die Position der Regierung dar und widerlegt sie in Strophe 7 Zeile für Zeile. Der Leser sollte in der Lage sein, ihm in seiner vernichtenden Kritik zu folgen.

  8. Hin und wieder finden sich in den Evangelien kunstvoll gestaltete Textstellen, zu denen „Fußnoten“ hinzugefügt wurden. Dies ist in Lukas 12,35-38 der Fall, wo die Formulierung „wenn er in der zweiten Wache und wenn er in der dritten Wache kommt“ das Gleichgewicht der Zeilen stört. Eine weitere „Fußnote“ taucht in der zweiten Hälfte von Lukas 4,25 auf. Diese Anmerkungen lassen sich erkennen, wenn man die rhetorische Grundstruktur freilegt. Solche „Fußnoten“ sind ein Beleg für das hohe Alter des zugrunde liegenden Textes.

  9. Wie bereits erwähnt, sind diese rhetorischen Stilmittel typisch jüdisch und lassen sich nicht nur bis zu den Schriften der Propheten zurückverfolgen, sondern auch darüber hinaus. Ihr erneutes Erscheinen im Neuen Testament zeigt, dass diese Texte der jüdischen und nicht der griechischen Welt entstammen – ein weiterer Beleg für die historische Authentizität des zugrunde liegenden Textes.

10. Nicht erst im zwanzigsten Jahrhundert wurden intelligente Menschen geboren. Angesichts dieser durchdachten und kunstvollen rhetorischen Stilmittel wird unser Respekt vor ihren Verfassern weiter zunehmen.

Mit der rhetorischen Betrachtung biblischer Texte ist es wie mit dem Saxofon: Schlecht spielen lässt es sich leicht.12 Die hier vorgetragene rhetorische Analyse ist ein Anfang, und ein weiterer Feinschliff ist unverzichtbar.

Zur Inspiration der biblischen Texte

In der westlichen Welt wird bei der Auseinandersetzung mit der Bibel nur selten über die Inspiration der Schrift gesprochen. Paul Achtemeier schreibt, dass die Lehre von der Inspiration „in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten eher durch ihre Abwesenheit als durch ihre Gegenwart auffiel. In vielen Kreisen wurde sie durch Nichtbeachtung gewürdigt“.13 Die Kirchen des Nahen Ostens leben seit über tausend Jahren als Minderheit in einem Meer des Islam. In einer solchen Welt kann man der Frage nach der Inspiration der Schrift nicht aus dem Weg gehen. Die islamische Welt glaubt, der Koran sei dem Propheten Mohammed durch den Engel Gabriel diktiert worden, kapitelweise über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg, und zwar im beduinischen Arabisch des siebten Jahrhunderts. Der Stoff selbst gilt sowohl als unerschaffen wie auch als ewig und kann daher nicht übersetzt werden. Dieses Ereignis wird mit dem Ausdruck „nuzūl al-Qur’an“ (das Herabkommen des Koran) bezeichnet. Das gleiche Verb beschreibt den „Abstieg“ eines Bergsteigers von einem hohen Gipfel. Im Islam ist der Koran ein präexistentes Ganzes, das aus der Höhe „herabkommt“.

Frühe kolorierte Manuskripte der Evangelien zeigen auf der ersten Seite häufig eine Abbildung, wie ein Engel dem Schreiber des Evangeliums die Worte diktiert.14 In manchen Kreisen herrscht eine unausgesprochene Sehnsucht nach der Gewissheit, die dem islamischen Verständnis von Inspiration nahesteht.

Doch der griechische Grundtext des Neuen Testaments lässt für eine solche Auffassung keinen Raum. Stattdessen sind vier Stufen zu berücksichtigen, die unsere kanonischen Evangelien durchlaufen haben:

1. das Leben und die Lehre Jesu von Nazareth auf Aramäisch,

2. die aramäischen Augenzeugenberichte zu diesem Leben und dieser Lehre,15

3. die Übersetzung dieser Zeugenberichte ins Griechische,

4. die Auswahl, Anordnung und Bearbeitung dieser griechischen Texte zu Evangelien.

In Anbetracht dieser Stufen ist es notwendig, über die Inspiration der Evangelien als Prozess zu sprechen, der bis zu seiner Fertigstellung mehr als fünfundreißig Jahre dauerte. Wenn wir uns nur für die erste Stufe interessieren, entscheiden wir uns für einen „Kanon im Kanon“. Während der vergangenen fünfzig Jahre habe ich die Debatten in der westlichen Welt zu diesen Fragen sehr sorgfältig und mit großem Interesse verfolgt.16 Doch wenn man den Prozess übersieht und nur der ersten Stufe Bedeutung beimisst, leugnet man damit gleichzeitig den Weg, auf dem jedes bedeutsame geschichtliche Ereignis erinnert und verschriftlicht wird.

Der renommierte anglikanische Islamwissenschaftler Kenneth Cragg erörterte das Wesen der Evangelien in einer Predigt, die er am 16. Januar 1977 in der All Saints Episcopal Cathedral in Kairo (Ägypten) hielt. Unter anderem sagte er:

Ein großer Teil der westlichen wissenschaftlichen Mentalität ist versucht, allem den Status des Faktums (und somit der Wahrheit) abzusprechen, was nicht in Reagenzgläsern nachweisbar oder empirisch zu „verifizieren“ ist. Dieser instinktive Reduktionismus vieler zeitgenössischer Philosophen hindert sie leider daran, mit der historischen Bedeutung des Glaubens und der tiefen Wechselbeziehung von Ereignis und Geheimnis zu rechnen.

Ein Vergleich kann helfen. Es ist der 22. November 1963 in Texas. Nehmen wir an, ich äußerte mich wie folgt: „Ein Mann schoss mit einem Gewehr aus dem Fenster eines Lagerhauses auf einen Mann in einem vorbeifahrenden Auto und tötete ihn.“ Jedes Wort hier ist wahr (angenommen, dass wir die Ergebnisse der Warren-Kommission akzeptieren). Doch wie kahl und mager sind doch die Fakten – so spärlich, dass sie beinahe keine Fakten sind. Vom eigentlichen Ereignis wird gar nicht erzählt. Aber nehmen wir an, ich fahre fort und sage: „Auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde ein Mordattentat verübt.“ Diese Äußerung ist viel sachgerechter, weil sie weit mehr aussagt. Das Opfer wird benannt, der Mord als politisch identifiziert und die Perspektive ist wahrheitsgetreuer. Doch wir haben noch lange nicht die Bedeutung der Tragödie erfasst. Versuchen wir es mit einer weiteren Aussage. „Menschen überall spürten, dass sich ein Abgrund des Bösen aufgetan hatte, und begannen, auf offener Straße zu weinen.“

Diese dritte Aussage berührt das Herz. Sie ist wahr, aber es ist eine andere Art von Wahrheit. Sie setzt den Inhalt der anderen Aussagen voraus, dringt aber darüber hinaus in Dimensionen vor, die ansatzweise das Wesen dieses schrecklichen Ereignisses erfassen. Ohne etwas wie diese dritte Aussage bliebe das Ereignis im Halbdunkel und so schemenhaft, dass es quasi falsch dargestellt wäre.

Betrachten wir nun die Evangelien und das gesamte Neue Testament im Licht dieses Vergleichs. Sie gehören eindeutig zur dritten Art von Aussage, weil sie Herz und Verstand zutiefst ansprechen und ein Bekenntnis von erlebter Sinnhaftigkeit ablegen – einer Sinnhaftigkeit, die aufs Engste mit der Geschichte und dem Ereignis verbunden ist. So ist es mit Jesus: nicht Neutralität, bloßer Bericht, leere Chronologie, sondern lebendige Teilnahme und Herzensbeteiligung. Jesu Geschichte kann – so wie alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse – nicht ohne Beteiligung von Verstand und Seele erzählt werden.

Der christliche Glaube ist ein Faktum, aber kein bloßes Faktum; er ist Poesie, doch nicht Einbildung. Wie der Bogen in einem Bauwerk, der durch das ihm auferlegte Gewicht erst recht an Festigkeit gewinnt, so trägt die Botschaft der Evangelien mit beruhigender Stärke die Hingabe der Jahrhunderte an Jesus als Christus. Was ist Musik anderes, fragte Walt Whitman, als was in uns erwacht, wenn wir dem Instrument lauschen? Und Jesus ist die Musik der Wirklichkeit Gottes, und Glaube ist, was erwacht, wenn wir zuhören.17

Im Einklang mit Kenneth Craggs Worten und aus dem Blickwinkel des hier deutlich werdenden Inspirationsverständnisses sollen die biblischen Texte in den folgenden Betrachtungen „ganzheitlich“ untersucht werden.

Die Redakteure von Fernsehdokumentationen sind vielleicht am ehesten das moderne Gegenstück zu den Autoren bzw. Redaktoren der Evangelien. Der Redakteur einer Fernsehdokumentation muss alles Material, das er präsentiert, vorher auswählen, anordnen, schneiden und mit Begleitkommentaren versehen. Ein unvoreingenommener Redakteur wird ernsthaft versuchen, das Thema fair zu präsentieren. „Fair“ im Sinne „im Einklang mit dem, was der Redakteur zutiefst wahrnimmt und als Wahrheit des Themas ansieht“.

Viele zeitgenössische Kommentare zu den Evangelien verwenden verständlicher- und richtigerweise enorme Energie auf die Diskussion, ob das Material „primär“ oder „sekundär“ ist. Ist dieses oder jenes Wort auf Jesus zurückzuführen oder auf seine jüdischen Nachfolger oder auf die griechische Gemeinde? Ich bin überzeugt davon, dass die Evangelien theologisch interpretierte Geschichtsschreibung sind. Im Einklang mit dem, was bereits über Inspiration gesagt wurde, bin ich der Auffassung, dass der Geist Gottes sowohl Jesus gegeben wurde (Mk 1,9-11) als auch der Gemeinde (Apg 2,1-4), die sich an ihn erinnerte. Mit den folgenden Betrachtungen habe ich also nicht vor, die exakten Worte Jesu von der sorgfältigen Redaktionsarbeit der Evangelienschreiber zu unterscheiden. Stattdessen soll die theologisch-historische Dramatik des Textes wird als kreatives Ganzes untersucht werden.

Was dieses Buch will

Es ist auch nicht Ziel dieses Buches, ein eigenständiger Fachkommentar zu sein. Mir ist bewusst, dass neben meiner Ansicht andere Meinungen bestehen, und ich habe die Debatten in der Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament in der westlichen Welt während der vergangenen fünfzig Jahre verfolgt und mich an ihnen beteiligt. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es nicht, in einen Diskurs mit der außergewöhnlich umfangreichen aktuellen Literatur zu treten, die zu den besprochenen Bibeltexten vorliegt – diese Arbeit wurde bereits fachkundig von Joseph Fitzmyer, Arnold Hultgren, I. Howard Marshall und andern übernommen.18

Es ist mir ein Anliegen, dass auch Leser ohne theologische Vorbildung den folgenden Erörterungen problemlos folgen können. Ohne anmaßende Vergleiche anstellen zu wollen, habe ich mir vor allem die Readings in St. John’s Gospel des ehemaligen Erzbischofs von Canterbury, William Temple,19 zum Vorbild genommen – sowie auch die Arbeit von Lesslie Newbigin zum Johannesevangelium.20

Meine Absicht ist es, neue Perspektiven aus der orientalischen Tradition beizutragen, die bisher, wenn überhaupt, außerhalb der arabischsprachigen christlichen Welt nur wenig beachtet wurden. Ich hoffe sehr, dass die folgenden Aufsätze dem Leser helfen werden, die Gedankenwelt Jesu und die Gedankenwelt der Evangelienautoren bzw. -redaktoren besser zu verstehen, so wie diese die ihnen vorliegenden Überlieferungen aufzeichneten und auslegten. Es bleibt dem Leser überlassen zu beurteilen, ob ich mein Ziel erreicht habe.

Alle Zitate aus arabischen Quellen in diesem Buch wurden von mir selbst übersetzt. Ich fände es pedantisch, jede einzelne davon mit dem Vermerk „eigene Übersetzung“ zu versehen. Für etwaige Fehler zeichne ich allein verantwortlich. Allerdings weise ich gesondert darauf hin, wo ich selbst Texte aus dem Hebräischen, Aramäischen, Griechischen und Syrischen übersetzt habe. Bei den verwendeten Bibeltexten habe ich mit der Revised Standard Version [für die deutsche Ausgabe: Elberfelder Bibel, Anm. d. Übers.] gearbeitet und gelegentlich selbst aus dem Griechischen übersetzt. Wenn ich auf die rhetorische Struktur eines Textes eingehe, verwende ich die RSV, bearbeite diese Bibelübersetzung jedoch gelegentlich anhand des griechischen Grundtextes.

Die hier untersuchten Bibelabschnitte sind großartige Texte, aus der gläubige Menschen seit fast zweitausend Jahren Inspiration beziehen. „Furcht und Zittern“ muss jeden Ausleger überkommen, der es wagt, solch heiligen Raum zu betreten und sich dem mit brennenden Kerzen geschmücktem Altar zu nähern. Mögen Autor und Leser diese Erfahrung teilen.

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ERSTER TEIL

Jesu Geburt

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1

Die Geschichte der Geburt Jesu

LUKAS 2,1-20

Die überlieferten Ereignisse der Weihnachtsgeschichte sind allen Christen hinlänglich bekannt. Zur Geburt Jesu gehören drei weise Männer mit Geschenken, Hirten auf dem Feld mitten im Winter, ein Baby, das in einem Stall geboren wird, und „kein Raum in der Herberge“. Diese Aspekte des Berichts sind in den Köpfen der Menschen fest verankert. Deswegen stellt sich die Frage, ob man zwischen dem Text und seinem traditionellen Verständnis eine kritische Unterscheidung vornehmen muss. Haben wir über Jahrhunderte hinweg etwas in den Text hineingelesen, das er eigentlich gar nicht enthält?21

Ein Diamantring wird bewundert und voller Stolz getragen, doch irgendwann sollte man ihn zum Reinigen zu einem Juwelier bringen, damit er wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft erhält. Je öfter der Ring getragen wird, umso eher sollte er hin und wieder gereinigt werden. Je vertrauter wir mit einer biblischen Geschichte sind, umso schwieriger ist es, sie anders zu lesen, als sie schon immer verstanden wurde. Und je länger die Ungenauigkeit in der Überlieferung unkorrigiert bleibt, umso tiefer wird sie im christlichen Bewusstsein verankert. Jesu Geburt ist eine solche Geschichte.

Das traditionelle Verständnis des Berichts in Lukas 2,1-18 enthält mehrere entscheidende Schwächen:

1. Josef kehrte in den Ort zurück, aus dem er stammte. Im Nahen Osten besitzen die Menschen ein ausgeprägtes Gedächtnis für Geschichte. Für sie hat die Verwandtschaft und deren Verwurzelung in ihrem Herkunftsort eine große Bedeutung. In einer solchen Welt hätte ein Mann wie Josef in Bethlehem auftauchen können und sich den Einwohnern als „Josef, [Sohn] des Eli, des Mattat, des Levi“ (Lk 3,23 f) vorstellen können – und die meisten Häuser des Ortes hätten ihm offen gestanden.

2. Josef war ein „Adliger“, das heißt, er stammte aus der Familie des Königs David. Die Familie Davids war so berühmt in Bethlehem, dass die Einheimischen den Ort offenbar „Stadt Davids“ nannten, eine Gepflogenheit, der man oft begegnet. Der offizielle Name des Ortes war Bethlehem. Jeder wusste, dass die hebräischen Heiligen Schriften Jerusalem als die „Stadt Davids“ bezeichneten. Doch so bezeichneten in der Umgegend offenbar viele Menschen auch Bethlehem (Lk 2,4). Da Josef aus dieser berühmten Familie stammte, wäre er überall im Ort willkommen gewesen.

3. In jeder Kultur wird eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht, besonders umsorgt. Einfache ländliche Gemeinschaften überall auf der Welt helfen ihren eigenen Frauen bei der Geburt, ungeachtet der Umstände. Sollte Bethlehem eine Ausnahme gewesen sein? Hatten die Menschen in Bethlehem kein Ehrgefühl? Sicher hätte die Gemeinschaft die Verantwortung verspürt, Josef bei der Suche einer angemessenen Unterkunft für Maria zu helfen und ihr die Fürsorge zukommen zu lassen, die sie brauchte. Einen Nachkommen Davids in der „Stadt Davids“ abzuweisen, hätte unsägliche Schande über den ganzen Ort gebracht.

4. Maria hatte Verwandtschaft in einem nahe gelegenen Dorf. Einige Monate vor Jesu Geburt hatte Maria ihre Cousine Elisabeth im „Gebirge von Judäa“ besucht und wurde von ihr willkommen geheißen. Bethlehem lag im Zentrum von Judäa. Als Maria und Josef in Bethlehem eintrafen, waren sie also nicht weit von dort entfernt, wo Zacharias und Elisabeth wohnten. Wenn Josef tatsächlich keine Unterkunft in Bethlehem gefunden hätte, wäre er natürlich zu Zacharias und Elisabeth gegangen. Doch hatte er Zeit für diese wenigen zusätzlichen Kilometer?

5. Josef besaß genug Zeit, angemessene Vorkehrungen zu treffen. In Lukas 2,4 heißt es, Josef und Maria „gingen von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa“, und in Vers 6, „als sie dort waren, wurden ihre Tage erfüllt, dass sie gebären sollte“ (Hervorhebung von mir).22 Die meisten Christen denken, dass Jesus in der gleichen Nacht geboren wurde, in der die Familie in Bethlehem eintraf – daher auch Josefs Eile und Bereitschaft, jede Unterkunft zu akzeptieren, selbst einen Stall. Traditionelle Krippenspiele zementieren diesen Gedanken jedes Jahr.

Im Text wird die Zeit, die das Paar vor der Geburt in Bethlehem verbrachte, nicht genau angegeben. Doch sicher reichte sie aus, um eine angemessene Unterkunft zu finden oder Marias Familie aufzusuchen. Der Mythos einer Ankunft mitten in der Nacht mit der unmittelbar bevorstehenden Geburt ist so tief im christlichen Gedankengut verwurzelt, dass es wichtig ist, nach seinem Ursprung zu fragen. Woher stammt diese Idee?

Ein christlicher Roman

Die Quelle dieser Fehlinterpretation stammt aus einer Zeit etwa zweihundert Jahre nach der Geburt Jesu, als ein anonymer Christ eine ausgeschmückte Erzählung über das große Ereignis schrieb. Dieses sogenannte Protevangelium des Jakobus23 ist erhalten geblieben. Der aus dem Neuen Testament bekannte Jakobus hatte damit nichts zu tun. Der Autor war auch kein Jude und hatte keine Ahnung von der Geografie Palästinas und von jüdischen Traditionen.24 In dieser Zeit schrieben viele Menschen Bücher, für die sie berühmte Personen als Autor angaben.

Dieser besondere „Roman“ enthält zahlreiche fantasievolle Details. Hieronymus, der berühmte lateinische Gelehrte, kritisierte das Werk, ebenso viele Päpste.25 Es wurde ursprünglich auf Griechisch verfasst und ins Lateinische, Syrische, Armenische, Georgische, Äthiopische, Koptische und Altslawische übersetzt. Zwar hatte der Verfasser eindeutig die Evangelienberichte gelesen, kannte jedoch, wie erwähnt, die Geografie des Heiligen Landes nicht. Zum Beispiel beschreibt der Autor in seinem Roman die Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem als Wüste. Allerdings liegt sie nicht in einer Wüste, sondern ist von fruchtbarem Ackerland umgeben.26

In dem Roman sagt Maria kurz vor Bethlehem zu Josef: „Joseph, hebe mich vom Esel herunter, denn das (Kind) in mir bedrängt mich und will herauskommen.“27 Daraufhin lässt Josef Maria in einer Höhle zurück und eilt nach Bethlehem, um eine Hebamme zu suchen. Nachdem er auf dem Weg sonderbare Visionen empfangen hat, kehrt Josef mit der Hebamme (das Kind ist übrigens inzwischen geboren) zur Höhle zurück, die zuerst von einer dunklen Wolke und dann von einem hellen Licht umgeben ist. Eine Frau namens Salome taucht aus dem Nichts auf und die Hebamme erklärt ihr, eine Jungfrau habe ein Kind zur Welt gebracht, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Salome an diesem Wunder zweifelt, wird ihre Hand von Aussatz befallen. Eine Untersuchung bestätigt Marias Behauptung. Dann steht plötzlich ein Engel vor Salome und sagt ihr, sie solle das Kind berühren. Als diese der Aufforderung nachkommt, wird ihre kranke Hand geheilt …

Auf diese Weise spinnt der Roman seine Geschichte fort. Autoren, die beliebte Romane schreiben, haben meistens eine blühende Fantasie. Dass Jesus geboren wurde, noch bevor seine Eltern Bethlehem erreichen, bildete einen wichtigen Teil der Handlung. Die Vorstellung, dass Jesus in der Nacht geboren wurde, als Maria und Josef nach oder in die Nähe Bethlehems gelangten, begegnet uns in diesem Roman zum ersten Mal. Die meisten Christen sind, selbst wenn sie noch nie von diesem Roman gehört haben, dennoch von seinen Vorstellungen beeinflusst.28 Der Roman ist eine fantasievolle Ausschmückung des Evangelienberichts, unterscheidet sich jedoch von diesem.

Die Probleme in der traditionellen Interpretation von Lukas 2,1-7 kann man wie folgt zusammenfassen: Josef kehrte in seinen Heimatort zurück, wo er leicht eine Unterkunft gefunden hätte. Als Nachkomme König Davids hätten ihm fast alle Türen offen gestanden. Ferner hatte Maria Verwandte in der Nähe, die sie hätte aufsuchen können. Die Zeit hätte ausgereicht, eine angemessene Unterkunft zu organisieren. Warum hätte eine jüdische Stadt einer jungen jüdischen Mutter, die kurz vor der Niederkunft stand, nicht helfen sollen? – Wie sollen wir also im Licht dieser kulturellen Realitäten den Text verstehen? Diese Frage führt uns zu zwei weiteren: Wo stand die Futterkrippe? Was war die „Herberge“?

Verschiedene Beobachtungen verhelfen hier zu einer Antwort. Zunächst stellen wir fest, dass der Bericht im Lukasevangelium tatsächlich der Geografie und Geschichte des Heiligen Landes entspricht. Der Text berichtet, dass Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem „hinaufgingen“. Bethlehem ist auf einem Gebirgskamm erbaut und liegt wesentlich höher als Nazareth.29 Zweitens war die Bezeichnung „Stadt Davids“ wohl eher in der Gegend dort gebräuchlich, sodass Lukas für die nicht ortskundigen Leser den Zusatz „die Bethlehem heißt“ hinzufügt. Drittens informiert der Text den Leser darüber, dass Josef „aus dem Haus und Geschlecht Davids“ stammte. Im Nahen Osten ist „das Haus von XYZ“ gleichbedeutend mit „die Familie von XYZ“. Griechische Leser dieses Berichts hätten sich bei dieser Formulierung vielleicht ein Gebäude vorgestellt. Möglicherweise setzte Lukas den Begriff Geschlecht hinzu, um ganz sicherzugehen, dass seine Leser ihn verstanden. Er veränderte den offenbar schon ausgebildeten Text nicht, als er ihn erhielt (Lk 1,2). Doch besaß er die Freiheit, einige erläuternde Anmerkungen einzufügen. Viertens erwähnt Lukas, das Kind sei in Windeln gewickelt gewesen. Dieser alte Brauch wird schon in Hesekiel 16,4 erwähnt und wird von der ländlichen Bevölkerung Syriens und Palästinas immer noch praktiziert. Und schließlich bezeugt der Bericht eine davidische Christologie. Diese fünf Punkte unterstreichen, dass der Text schon sehr früh im Leben der Urgemeinde von einem messianischen Juden verfasst wurde.

Wenn ein Mensch aus der westlichen Welt das Wort [Futter]krippe hört, denkt er zunächst an Stall oder Scheune – jedenfalls an ein Gebäude, in dem auch Tiere gehalten werden können. Im Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12,16-21) werden im griechischen Grundtext „Lagerhäuser“ erwähnt, aber keine Scheune im üblichen Sinn. Sehr reiche Menschen hatten natürlich abgetrennte Räumlichkeiten für die Tiere.30 Doch in einfachen Dorfhäusern in Palästina gab es oft nur zwei Räume. Einer davon war ausschließlich für Gäste bestimmt. Dieser Raum konnte an das Hauses angebaut oder eine „Prophetenkammer“ auf dem Dach sein, wie in der Geschichte von Elia (1Kö 17,19). Der Hauptraum war ein „Familienzimmer“, in dem die sich die gesamte Familie aufhielt. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen und gewohnt. Die Seite, auf der man den Raum betrat, lag entweder um einiges tiefer als der Rest des Bodens oder war mit schweren Holzbalken abgeteilt. Jeden Abend wurden die Kuh der Familie, der Esel und ein paar Schafe in diesen abgetrennten Bereich getrieben, und jeden Morgen wurden die Tiere wieder hinausgeführt und im Hof angebunden. Dann wurde der Tierverschlag für den Tag gesäubert. Solche einfachen Häuser gab es von der Zeit des Königs David an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe sie sowohl in Obergaliläa als auch in Bethlehem gesehen. Abbildung 1.1 zeigt ein solches Haus schematisch von der Seite.

Abbildung 1.1: Typisches Dorfhaus in Palästina, Seitenansicht

Manchmal ist auf dem Flachdach ein Raum für Gäste erbaut, oder dieser liegt als Anbau neben dem Haus. Die Tür im Erdgeschoss dient als Eingang für Menschen und Tiere. Der Bauer will die Tiere jede Nacht im Haus haben, weil sie im Winter eine Wärmequelle bieten und so außerdem vor Dieben sicher sind. Abbildung 1.2 zeigt das gleiche Haus von oben.

Abbildung 1.2: Typisches Dorfhaus in Palästina, Grundriss

Die länglichen Kreise stellen die Futterkrippen dar, die in den niedriger gelegenen Teil des Wohnraumes gegraben sind. Das „Wohnzimmer“ der Familie ist in Richtung des Tierverschlags leicht abschüssig, was das Fegen und Waschen erleichtert. Schmutz und Wasser bewegen sich natürlicherweise „bergab“ zum Stellplatz für die Tiere hin und können zur Tür hinausgefegt werden. Wenn die Kuh der Familie nachts Hunger bekommt, kann sie aufstehen und aus den Futterkrippen fressen. Für die Schafe kann es hölzerne Futterraufen geben, die man auf den Boden des niedriger gelegenen Raumes stellt.

Diese traditionelle Hausbauweise passt ganz natürlich zum Bericht der Geburt Jesu. Doch auch in den Berichten des Alten Testaments treten solche Häuser indirekt in Erscheinung. In 1. Samuel 28 war Saul zu Gast im Haus der Totenbeschwörerin von Endor, und es wird berichtet, dass der König sich weigerte zu essen. Da nahm die Frau ein gemästetes Kalb, das sie „im Haus“ (V. 24) hatte, schlachtete es und bereitete eine Mahlzeit für den König und seine Diener. Sie holte das Kalb nicht von der Wiese oder aus dem Stall, sondern aus dem Inneren des Hauses.

Die Geschichte von Jeftah in Richter 11,29-40 setzt die gleiche Art Einraumhaus voraus. Auf seinem Weg in den Krieg legte Jeftah einen Eid ab, das Erste zu opfern, das ihm bei seiner Rückkehr aus dem Haus entgegenlaufe, sollte Gott ihm den Sieg schenken. Jeftah gewann die Schlacht, doch als er nach Hause zurückkehrte, war es – tragischerweise und zu seinem großen Entsetzen – seine Tochter, die ihm als Erste aus dem Haus entgegenkam. Höchstwahrscheinlich kehrte er in den frühen Morgenstunden zurück und erwartete zweifellos, ihm komme eines der Tiere aus dem Haus entgegengesprungen, wo es die ganze Nacht über mit allen anderen eingepfercht gewesen war. Der Bibeltext erzählt uns nicht von einem brutalen Schlächter, sondern der Leser muss annehmen, dass Jeftah nie der Gedanke kam, er würde zuallererst auf ein Familienmitglied treffen. Nur unter dieser Voraussetzung ergibt die Geschichte überhaupt einen Sinn. Wäre das Haus nur von Menschen bewohnt gewesen, hätte Jeftah niemals einen solchen Eid geleistet – denn wen hätte er ermorden wollen oder warum? Die Geschichte wird zur Tragödie, weil Jeftahs ein Tier erwartet hatte.

Die gleichen einfachen Häuser treten im Neuen Testament in Erscheinung. In Matthäus 5,15 sagt Jesus: „Man zündet auch nicht eine Lampe an und setzt sie unter den Scheffel, sondern auf das Lampengestell, und sie leuchtet allen, die im Hause sind.“ Natürlich geht Jesus hier von einem typischen Dorfhaus mit einem Raum aus. Wenn eine einfache Lampe allen im Haus Licht spendet, kann dieses Haus nur einen Raum haben.

Ein weiteres Beispiel für die gleiche unausgesprochene Annahme findet sich in Lukas 13,10-17, als Jesus eine Frau am Sabbat heilte, die „zusammengekrümmt und völlig unfähig [war], sich aufzurichten“. Jesus rief sie und sprach sie an: „Frau, du bist gelöst [wörtlich: losgebunden] von deiner Schwäche.“ Der Synagogenvorsteher war wütend, weil Jesus am Sabbat „gearbeitet“ hatte. Jesus antwortete: „Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn hin und tränkt ihn?“ (V. 15). Was Jesus sagen wollte: Heute, am Sabbat, habt ihr ein Tier losgebunden. Ich habe eine Frau „losgebunden“. Wie könnt ihr mir da Vorwürfe machen? Der Text berichtet, dass „alle seine Widersacher beschämt“ waren (V. 17).

Offensichtlich wusste Jesus, dass seine Gegner jede Nacht wenigstens ein Rind oder einen Esel in ihrem Haus hatten. Am Morgen hatte jeder im Raum Tiere aus dem Haus gebracht und sie draußen angebunden. Der Synagogenvorsteher antwortete nicht: „Ich fasse am Sabbat niemals Tiere an.“ Es ist undenkbar, Tiere tagsüber im Haus zu lassen, und es gab keinen Stall. Eine der frühesten und am sorgfältigsten übersetzten arabischen Versionen des Neuen Testaments wurde – wahrscheinlich in Palästina – im 9. Jahrhundert angefertigt. Nur acht Exemplare existieren noch. Diese (aus dem Griechischen übersetzte) hervorragende Version gibt den Vers folgendermaßen wieder: „Bindet nicht jeder von euch sein Rind oder seinen Esel von der Futterkrippe im Haus los und bringt ihn nach draußen und tränkt ihn?“31 Kein griechisches Manuskript enthält in diesem Text die Worte „im Haus“. Doch der arabischsprachige christliche Übersetzer im 9. Jahrhundert verstand den Text richtig. Hat nicht jeder eine Futterkrippe im Haus? In seiner Welt war dies bei allen Dorfbewohnern des Nahen Ostens der Fall!

Auch moderne Wissenschaftler haben über diese Dorfhäuser geschrieben, in deren einzigem Raum Futterkrippen vorhanden waren. William Thompson, ein arabischsprachiger presbyterianischer Missionar und Gelehrter des 19. Jahrhunderts, hatte Dorfhäuser in Bethlehem gesehen und gab seine Beobachtungen wieder:

„Mein Eindruck ist, dass die Geburt tatsächlich in einem gewöhnlichen Haus eines einfachen Bauern stattfand und der Säugling in eine der Futterkrippen gelegt wurde, wie sie noch immer in den Behausungen von Bauern in dieser Gegend zu finden sind.“32

Der anglikanische Gelehrte Eric F. F. Bishop, der von 1920 bis 1950 in Jerusalem lebte, schrieb:

Vielleicht … nahmen sie Zuflucht zu einem der Häuser in Bethlehem, in dem der untere Teil für die Tiere abgetrennt ist und in dem Futterkrippen aus dem Gestein ausgehöhlt sind, während der höher gelegene Teil der Familie vorbehalten ist. Solch eine unbewegliche Futterkrippe würde, gefüllt mit gehäckseltem Stroh, den Zweck einer Wiege erfüllen.33

Seit über hundert Jahren gehen im Nahen Osten ansässige Geisteswissenschaftler davon aus, dass in Lukas 2,7 von einem Familienwohnraum die Rede ist, in dem an einer Seite Futterkrippen in den Boden gehauen sind. Wenn man dieser Auslegung folgt, bleibt noch die Frage, worin die „Herberge“ bestand. Wo genau war „kein Raum“ mehr?

Wenn Josef und Maria in einem Privathaus untergebracht waren und Jesus nach seiner Geburt in diesem Haus in eine Futterkrippe gelegt wurde, wie ist dann das Wort „Herberge“ in Lukas 2,7 zu verstehen? Die meisten (deutschen) Übersetzungen besagen, dass das Kind nach seiner Geburt in eine Futterkrippe gelegt wurde, „weil in der Herberge kein Raum für sie war“. Das klingt so, als hätten die Bewohner von Bethlehem die Familie abgewiesen. War das wirklich der Fall?

Die Entwicklung der Sprache hat ihre Tücken. „Kein Raum in der Herberge“ hat im Lauf der Zeit die Bedeutung „die Herberge hatte mehrere Zimmer und alle waren belegt“ angenommen. Das „Zimmer belegt“-Schild hing bereits draußen, als Josef und Maria in Bethlehem eintrafen. Doch das griechische Wort bedeutet nicht „ein Zimmer (Raum) in einer Herberge“, sondern viel mehr „Platz“ (topos) wie in „Auf meinem Schreibtisch ist kein Platz (Raum) für meinen neuen Computer“. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wort betrachten, das uns als „Herberge“ bekannt ist.

Das griechische Wort in Lukas 2,7, das meistens mit „Herberge“ übersetzt wird, heißt katalyma. Dies ist nicht das übliche Wort für eine kommerzielle Herberge. Im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25-37) bringt der Samaritaner den verletzten Mann in eine Herberge. Das dort verwendete griechische Wort ist pandocheion. Der erste Teil dieses Wortes bedeutet „alle“, der zweite Teil ist von dem Wort für „aufnehmen“ abgeleitet. Ein pandocheion ist somit der Ort, der alle aufnimmt, also eine kommerzielle Herberge. Dieser geläufige griechische Begriff für Herberge war im Nahen Osten so bekannt, dass er über die Jahrhunderte als griechisches Lehnwort mit der gleichen Bedeutung – kommerzielle Herberge – ins Armenische, Koptische, Arabische und Türkische übernommen wurde.

Wenn Lukas ausdrücken wollte, dass Josef aus einer „Herberge“ weggeschickt wurde, hätte er das Wort pandocheion verwendet, das eindeutig eine kommerzielle Herberge bezeichnet. Doch in Lukas 2,7 ist ein katalyma überfüllt. Was also bedeutet dieses Wort?

Buchstäblich bedeutet katalyma einfach „Bleibe“ und kann viele verschiedene Arten von Unterkunft bezeichnen. Die drei für unsere Geschichte denkbare sind Herberge (wie üblicherweise in deutschen Bibelübersetzungen verwendet), Haus (wie es seit mehr als tausend Jahren in arabischen Bibelübersetzungen verwendet wird) und Gästezimmer (Bedeutung bei Lukas). Tatsächlich verwendete Lukas diesen wichtigen Begriff noch an anderer Stelle in seinem Evangelium, wo er im Text selbst definiert wird. In Lukas 22 sagt Jesus zu seinen Jüngern:

Er aber sprach zu ihnen: Siehe, wenn ihr in die Stadt kommt, wird euch ein Mensch begegnen, der einen Krug Wasser trägt. Folgt ihm in das Haus, wo er hineingeht! Und ihr sollt zu dem Herrn des Hauses sagen: Der Lehrer sagt dir: Wo ist das Gastzimmer [katalyma], wo ich mit meinen Jüngern das Passahmahl essen kann? Und jener wird euch einen großen, mit Polstern ausgelegten Obersaal zeigen. Dort bereitet! (Lk 22,10-12)

Hier wird das Schlüsselwort katalyma erklärt; es ist ein „Obersaal“, eindeutig ein Gästezimmer in einem Privathaus. Diese Bedeutung ist absolut einleuchtend, wenn man sie auf die Geburtsgeschichte anwendet. In Lukas 2,7 teilt Lukas seinen Lesern mit, dass Jesus in eine Futterkrippe (im Familienzimmer) gelegt wurde, weil in diesem Haus das Gästezimmer bereits belegt war.

Wenn das Wort katalyma am Ende des Lukasevangeliums ein Gästezimmer bezeichnet, das an ein Privathaus angebaut war (22,11), warum sollte es am Anfang des Evangeliums nicht die gleiche Bedeutung haben? Das Familienzimmer mit angebautem Gästezimmer hätte etwa wie in Abbildung 1.3 ausgesehen.

Abbildung 1.3: Typisches Dorfhaus in Palästina mit angebautem Gästezimmer

Diese Übersetzung für katalyma wurde von Alfred Plummer in seinem wegweisenden Kommentar gewählt, der Ende des 19. Jahrhunderts erschien. Plummer schreibt: „Es ist ein wenig zweifelhaft, ob die bekannte Übersetzung ‚in der Herberge‘ korrekt ist … Möglicherweise hat Josef die Gastfreundschaft eines Freundes in Bethlehem in Anspruch genommen, dessen ‚Gästezimmer‘ allerdings bereits belegt war, als Josef und Maria ankamen.“34

I. Howard Marshall trifft die gleiche Feststellung, erläutert ihre Bedeutung jedoch nicht weiter.35 Fitzmyer nennt das katalyma eine lodge, was für ihn „eine öffentliche Karawanserei oder ein Chan“ meint.36 Ich dagegen bin der Überzeugung, dass Plummer recht hat. Wenn dem so ist, warum wurde diese Bedeutung dann nicht von der – orientalischen und abendländischen – Kirche übernommen?

In der westlichen Welt hat die Kirche die von mir geschilderte Problematik nicht bemerkt. Wenn das traditionelle Verständnis der Erzählung nicht „kaputt“ ist, braucht man es auch nicht zu „reparieren“. Doch wenn die Probleme mit der traditionellen Auslegung klar hervortreten, muss man sie lösen. Im Orient gehören die meisten Christen zur hochverehrten orthodoxen Kirche. Was sagen denn die orthodoxen Überlieferungen dazu?

In der Christenheit des Nahen Ostens herrscht die Vorstellung vor, die Geburt habe in einer Höhle stattgefunden. Viele einfache Häuser in traditionellen Dörfern im Heiligen Land bestehen aus Höhlen, die weiter ausgebaut wurden. Die Überlieferung der Geburt in einer Höhle lässt sich bis zu Justin dem Märtyrer zurückverfolgen, der seine Werke in der Mitte des zweiten Jahrhunderts verfasste. Wie bereits angedeutet, ging die orientalische Überlieferung stets davon aus, dass Maria allein war, als das Kind geboren wurde. Im Gottesdienst der orientalischen Kirche wird sogar der Altar vor den Augen der Gläubigen verdeckt, und die Transsubstantiation, die Verwandlung der Elemente beim Abendmahl in Fleisch und Blut des Herrn, findet „hinter den Kulissen“ statt. Wie viel mehr musste dann die „Fleischwerdung des Wortes“ ohne Zeugen stattfinden? Pater Matta al-Maskin, ein koptisch-orthodoxer Gelehrter und Mönch des zwanzigsten Jahrhunderts, der sechs gewichtige Kommentare zu den Evangelien in arabischer Sprache verfasste, reflektiert voller Staunen über die heilige Maria allein in der Höhle. Er schreibt:

Mein Herz fühlt mit dieser einsamen Mutter. Wie hat sie die Schmerzen der Wehen allein ertragen? Wie hat sie ihr Kind mit ihren eigenen Händen empfangen? Wie hat sie es in Windeln gewickelt, obwohl ihre Kraft gänzlich erschöpft war?Was hatte sie zu essen oder zu trinken?O Frauen der Welt, seht diese Mutter des Retters.Wie viel litt sie und wie viel Ehre verdient sie … ebenso wie unsere Zärtlichkeit und Liebe?37

Diese echte und rührende Frömmigkeit ist natürlich nicht an einer Geburt interessiert, die in einem Privathaus stattfand, mit all der Fürsorge und Unterstützung, die andere Frauen der werdenden Mutter hätten zukommen lassen. Daher gibt es unter den Christen der östlichen und westlichen Kirche verständliche Gründe, aus denen ein neues Verständnis dieses Textes bisher vernachlässigt wurde.