Jetzt bin ich nicht mehr mundtot! - Maria Langstroff - E-Book

Jetzt bin ich nicht mehr mundtot! E-Book

Maria Langstroff

4,7
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Jetzt bin ich nicht mehr mundtot! spricht Maria Langstroff über all die Dinge, die ihr besonders am Herzen liegen. Das Buch entstand bei Aufnahmen zu einer Filmdokumentation und besteht aus Gesprächen, die der Verleger Oliver Schwarzkopf mit ihr führt, da Maria Langstroff das selbstständige schriftliche Festhalten von Texten aufgrund ihres körperlichen Zustands unmöglich geworden ist. In den Interviews spricht sie über ihr Leben vor und mit der Krankheit, über ihren Alltag, ihre Familie, über Glauben und Religion sowie über die Bedeutung des Buches und seines Erfolgs für sie. Auch Marias Umfeld kommt zu Wort, so erzählen ihre Eltern, Freunde und Pfleger von ihrer Beziehung zu Maria und von ihrem Umgang mit der Krankheit. Neben vielen persönlichen Themen wie Freundschaft und Liebe greift sie in den Gesprächen auch immer das Problem Diskriminierung auf und fordert einen anderen Umgang mit Menschen mit Behinderung. In Jetzt bin ich nicht mehr mundtot! zeigt sich erneut, welch beeindruckende Persönlichkeit und couragierte junge Frau Maria Langstroff ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 346

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maria Langstroff

JETZT BIN ICH NICHT MEHR MUNDTOT!

Gespräche über Freundschaft, Familie, Glaube, die Krankheit und den Sinn des Lebens

VORWORT

Von Maria Langstroff

»Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast.« Marc Aurel

Liebe Leserinnen und Leser,

ist Ihnen das oben stehende Zitat geläufig? Ich zumindest denke hin und wieder daran, was ich aufgrund meiner Krankheit verloren habe, Traurigkeit steigt in mir auf, doch dann mache ich mir bewusst, was ich besitze, und welches Glück ich trotz allem habe. Neue Chancen sind mir gegeben worden, wie das Finden meines wunderbaren Verlags, der mich unterstützt und stets neue Ideen mit mir umsetzt, oder die Möglichkeit, meine beiden Bücher zu veröffentlichen.

Außerdem sehe ich meine großartige Familie, tolle Freunde und Bekannte vor meinen Augen, die selbst in der jetzigen Situation zu mir halten. Ich bin glücklich und dankbar für jeden einzelnen Tag, den ich hier sein darf, wenngleich meine Muskelerkrankung auf das Äußerste hinausläuft und unbestreitbar Momente auftauchen, in denen ich mental streike – eine völlig verständliche Reaktion.

Meine Wünsche und Pläne, deren Verwirklichung nicht mehr möglich ist, habe ich Stück für Stück durch neue ersetzt und in ihnen finde ich einen weiteren Halt. Dass mein Debüt »Mundtot!?« solche Wellen geschlagen hat, hätte ich niemals erwartet. Fast fünf Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, zahlreiche Interviews und Reportagen – bis heute bekomme ich Anfragen zum ersten Buch. Ich lernte und lerne viele neue, tolle Menschen kennen, Journalisten, Redakteure, Moderatoren, andere Prominente, und auch meinen Freund habe ich dadurch kennengelernt.

Die Freude über mein zweites Buch »Jetzt bin ich nicht mehr mundtot!« ist sehr groß und ich muss ehrlich zugeben, dass ich ein wenig stolz bin, es fertiggestellt zu haben. Da sich mein Gesundheitszustand kontinuierlich verschlechtert, hätte ich nicht damit gerechnet, noch ein weiteres Werk veröffentlichen zu können. Zwischenzeitlich entstand, aufgrund mehrerer Situationen, in denen mir mein Körper unter anderem durch einen Atemstillstand einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, das Gefühl, zu schwach zu sein und dem Projekt nicht mehr gewachsen zu sein … ich sollte mich jedoch täuschen. Nach einer Pause berappelte ich mich und erinnerte mich an das, was man schon oft aus meinem Mund gehört hat: »Verliere dein Ziel nicht aus den Augen.« Und daran hielt ich mich.

Durch »Jetzt bin ich nicht mehr mundtot!« erhalten Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen tieferen Einblick in mein Leben. In das Leben, das ich vor dem Eintreten meines Handicaps führte, in das Leben vor der Diagnose, aber auch in mein jetziges Leben und meinen Alltag im Pflegeheim. Sie lernen einen kleinen Teil der Menschen kennen, die mich begleiten, die eng an meiner Seite sind und Sie erhalten einen Eindruck, wie diese Personen mich wahrnehmen. Im Anschluss an dieses Buch wird auch eine DVD erscheinen. Um die größtmögliche Authentizität zu gewährleisten, haben wir nur wenige Änderungen an den Interviews vorgenommen.

Ich danke Ihnen für das Lesen meines Buches und hoffe, dass es Ihnen gefallen wird. Wenn Sie mir schreiben möchten, besuchen Sie bitte meine Website www.maria-langstroff.de, ich freue mich auf Ihre Post!

Ihre Maria Langstroff

»SAG MARY ZU MIR!«

Einleitung von Oliver Schwarzkopf

Eines frühen Vormittags Ende 2011 rief meine betagte Mutter im Verlag an, was sie sonst nie tut. Normalerweise telefonieren wir am Wochenende und dementsprechend erwartete ich in dieser Situation etwas sehr Schlimmes. Es war aber niemand gestorben, dennoch war meine Mutter sehr aufgeregt und kündigte gleich zu Beginn des Gespräches an, dass sie mir etwas ausgesprochen Wichtiges mitzuteilen habe.

Sie hatte kurz zuvor im Sat.1-Frühstücksfernsehen einen Beitrag gesehen, der sehr sensibel das Schicksal der todkranken und unterdessen fast vollständig gelähmten jungen Frau Maria Langstroff schilderte. Marias größter Wunsch, so hieß es in einem Nebensatz, sei es, dass ihr Buch noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht werden würde, es sei jetzt fast fertig und nun suche sie einen Verlag dafür.

»Oliver, ich möchte, dass du das Buch machst, es ist mir sehr wichtig, bitte kümmere dich darum«, beendete meine Mutter unser Gespräch. Solange es den Verlag gab – fast zwanzig Jahre –, hatte sie nie mit Ratschlägen oder Wünschen in das Programm eingegriffen; ein Grund mehr, ihren Anruf ernst zu nehmen. Dank der Mediathek, wo ich den Beitrag dann sah, wusste ich wenig später, wie recht sie hatte – dieses Buch wollte ich machen! So kamen wir durch die Hilfe und Vermittlung des Senders mit Maria in Kontakt.

Als ich etwas später erstmals und dann immer häufiger mit Maria telefonierte, merkte ich sehr schnell, dass sie eine hochintelligente, schlagfertige und sehr gewitzte junge Frau ist, deren Kopf völlig klar ist, und der »nur« ihr Körper nicht mehr gehorcht. Ist es besser, im körperlichen Verfall debil zu sein, und es nicht mehr zu merken? Oder ist es besser, bei klarem Verstand zu sein?

Bald tauschten wir uns am Telefon immer häufiger aus – nicht nur über das Buch und ihre Krankheit. Maria begann, Anteil am Leben unserer Familie zu nehmen, telefonierte auch mit den damals dreijährigen Kindern, selbst wenn sie anfangs kaum mehr als »Hallo Maria« – »Tschüss Maria« sagten.

Maria wurde über das Telefon ein Teil unserer Familie, und wir wurden ein Teil ihrer Welt in ihrem Krankenzimmer. Fast jedes Wochenende telefonieren wir, bis heute ist es so geblieben.

*

Doch wie besucht man eine Autorin, die in einem vollständig verdunkelten Krankenzimmer liegt? Natürlich wollte ich Maria persönlich kennenlernen, auch wenn ich ahnte, dass die Situation mir sehr nahegehen würde. Diese Krankheit hatte alles angegriffen, nicht nur die Steuerung der Muskeln. Selbst Licht in der Stärke einer Kerze führt bei Maria zu einem epileptischen Krampfanfall, ebenso jedes unerwartete Geräusch, und sei es nur ein herunterfallender Stift.

»Du musst klopfen, dann ganz langsam reinkommen und erst mal stehenbleiben, bis du dich an die Dunkelheit gewöhnt hast«, hatte Maria mich angewiesen. Das Klopfen sei notwendig, damit sie die Augen schließen könne, selbst das gedämpfte Licht des Flurs würde einen Krampfanfall auslösen. So blieb ich also im Raum stehen, schloss die Tür hinter mir und sah minutenlang – nichts. Keine noch so kleine Lampe erleuchtete den Raum, eine solche Dunkelheit ist beunruhigend, weil man sie sonst nie erlebt.

Erstaunlich ist jedoch, wie sehr sich das menschliche Auge an die Dunkelheit anpassen kann. Nach einigen Minuten konnte ich Umrisse erkennen, der Raum schien heller zu werden. Eine winzige, schwache LED eines medizinischen Gerätes gab ein minimales Licht ab, und auch durch den zugezogenen dicken Vorhang vor der heruntergelassenen Jalousie drang ein kaum sichtbarer millimeterbreiter Streifen fahlen Lichtes.

»Hallo Olli, schön, dass du da bist, sag Mary zu mir!«, sagte die junge Frau im Dunkeln und lud mich ein, mich an ihr Bett zu setzen. In den nächsten Stunden haben wir über vieles geredet, ihr Leben mit der Krankheit und ihr Leben davor, ihre Wünsche und Träume, und auch über ihre Wut und ihr Hadern.

Wir haben in der Dunkelheit geredet, geweint und gelacht, uns an den Händen gehalten und auch geschwiegen. Als ich zum Zug gehen musste, wusste ich, dass ich wiederkommen wollte, um meine Freundin Mary erneut zu besuchen.

*

Marias großes Ziel, ihr Buch »Mundtot!?« noch zu erleben, hatte sie erreicht. Aber welch stärkere Motivation gibt es, selbst für eine Todkranke, als neue Ziele? Da waren zum Einen die vielen Interviews, die Maria im Krankenzimmer und am Telefon gegeben hat, und die ihr genauso wichtig waren und sind wie das Buch und ohne die das Buch auch nicht ein solcher Erfolg geworden wäre.

Zum Anderen wollte Maria eine Vorlesung halten, sie wollte aus ihrem Buch lesen, und zwar an ihrer alten Uni in Marburg, wo sie damals – schon im Rollstuhl – begonnen hatte, Deutsch und Englisch auf Lehramt sowie Psychologie zu studieren, und immer noch studiert – dank großartiger Dozenten, die es ihr ermöglichen, die Prüfungen im Krankenbett abzulegen.

Dieser Wunsch, dieser Traum bewegte sie über Monate, und Maria setzte alles in Bewegung, um ihn möglich zu machen. Der Kostenträger musste bewogen werden, einen voll ausgestatteten Intensivtransport für die Fahrt von Gießen nach Marburg zur Verfügung zu stellen, und zwar das ganz große Besteck: permanente Sauerstoff-Versorgung, ständige Überwachung von Herzfrequenz, Anwesenheit eines qualifizierten und erfahrenen Notfallmediziners, ein spezielles Transportbett und vieles andere mehr.

Hinzu kamen die starken und nebenwirkungsreichen Medikamente, die Maria gegen die Krämpfe, die trotz einer absolut dichten Schwarzbrille auftreten könnten, einnehmen musste – Maria nennt es scherzhaft »abschießen«, wenn sie diese heftigen Arzneien bekommt.

Die gesundheitlichen Risiken waren trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immens, ein heftiger Anfall hätte eine potentiell tödliche Herzattacke auslösen können. Wir haben immer wieder sehr klar und mit vollem Bewusstsein der möglichen Konsequenzen darüber gesprochen. »Olli, mir ist ganz klar, dass ich dabei sterben kann«, hat Maria mir vielfach am Telefon gesagt und als SMS geschrieben: »Aber du musst verstehen, dass ich das machen muss, auch wenn es das Letzte ist, was ich tue. Bitte hilf mir dabei.«

Die Vorlesung war ein enormer Erfolg, der abgedunkelte Hörsaal war voll besetzt, und die Medien von der Süddeutschen Zeitung über Spiegel Online bis zu den regionalen Zeitungen aus Marburg und Gießen berichteten anschließend mit großem Respekt und ehrlicher Begeisterung von der Veranstaltung. Maria war unglaublich motiviert, ihre Stimme die tags zuvor noch leise und schwach klang, war kräftig und stark, sie scherzte mit dem Publikum, und nahm so Studenten wie Dozenten die Angst, mit ihr zu sprechen und ihr Fragen zu stellen. Für alle Beteiligten war dies ein intensiver und unvergesslicher Eindruck, wie die körperlich schwerstkranke Maria in ihrem Bett liegend mit kraftvoller und klarer Stimme aus ihrem Buch las und die Studenten voller Ergriffenheit lauschten. So glücklich hatte ich Maria nie zuvor gesehen!

Nach der Vorlesung und etlichen persönlichen Begegnungen mit ehemaligen Kommilitonen – behinderten wie nichtbehinderten – fiel Maria in einen mehrtägigen Schlaf, so erschöpft war sie. Diese Marburger Vorlesung musste wegen des enormen logistischen Aufwands und der schier übermenschlichen Anstrengung, die sie für Maria bedeutete, die einzige Veranstaltung mit Maria bleiben.

»Könnte Maria sich vorstellen, ihr Hörbuch selbst zu lesen, wenn das Tonstudio zu ihr käme anstatt sie zum Tonstudio?« Diese Frage ging mir nach der Vorlesung in Marburg mehrere Tage lang durch den Kopf, während Maria sich von der Anstrengung erholte. Ein Hörbuch war schon lange geplant, eine professionelle Sprecherin gebucht, Maria hatte sie bereits kennengelernt und war einverstanden, alles war kurz vor dem Start der Produktion.

Doch ihre Vorlesung war so beeindruckend, dass es mir möglich erschien, dass Maria es selbst schaffen kann – wenn sie es selbst wollte. Unwichtig, dass der Aufwand unvergleichlich viel höher war, ein Studio in einem Krankenzimmer zu installieren, es zählte die Stimme der Autorin, die das Hörbuch so authentisch macht.

Maria hatte immense Lust dazu, mein Vorschlag war eine neue Herausforderung für sie, und so sollte es sein: »Olli, ich will meinen restlichen Tagen mehr Leben geben, nicht meinem Leben mehr Tage, wenn sie ereignislos sind. Ja, wir machen das!«

So entstand in mehreren anstrengenden Wochen und in nahezu vollständiger Dunkelheit ein Hörbuch, das Maria weitestgehend aus dem Kopf »gelesen« hat. Ein Ausdruck mit riesigen Buchstaben – das ganze Buch verteilt auf über eintausend Druckseiten – half bei gelegentlichen Hängern, da sie die Schemen der Wörter noch erkennen konnte und so in den Text zurückfand.

Dieses Hörbuch ist ein beeindruckendes Dokument von Marias unbändigem Lebenswillen und ihrer für Außenstehende kaum fassbare Motivation geworden, sich von dieser Krankheit nicht unterkriegen zu lassen, so lange es eben geht. »Mehr Leben in die restlichen Tage ..., Olli, du weißt doch!«

Im Zuge der Vorbereitung der Hörbuchaufnahmen kam uns zum ersten Mal der Gedanke der DVD-Dokumentation, auf der dieses Buch basiert. Die vielen großartigen Fernsehberichte hatten einen entscheidenden Nachteil – die Kürze. Es blieb immer das Gefühl bei uns zurück, dass wichtige Dinge allein aus Zeitgründen nicht gesagt werden konnten, so viel Zeit die Sender dem Thema auch einräumten.

So entstand der Plan, mit Maria lange Gespräche in ihrem abgedunkelten Krankenzimmer zu führen und diese aufzuzeichnen. Eine ganz ruhige Dokumentation sollte es sein, die auch Pausen und Nachdenklichkeit zulässt, die Konzentration auch auf die Zwischentöne verlangt. Über drei Tage hinweg haben Maria und ich lange Gespräche über Gott und die Welt, über ihre Freunde und ihre Familie, über ihre Krankheit und das Schicksal geführt. Wir haben wieder zusammen gelacht und geweint, und uns die meiste Zeit an den Händen gehalten. Auch ihre Eltern standen zu einem Gespräch zur Verfügung, ebenso ihre liebste Pflegerin, ihre Schwägerin, ihre enge Freundin, ihr bester Freund, ein Schüler und andere ihr nahestehende Menschen.

Wir wollten ein vollständigeres Bild von Maria und ihrem Leben bekommen, bevor es zu spät ist, denn Marias Gesundheitszustand hatte sich weiter verschlechtert und verschlechtert sich immer noch kontinuierlich. Diese ausführlichen und vertrauten Gespräche wollten wir ungekürzt auch in Form des vorliegenden Interview-Buches zugänglich machen.

Hier liegt auch der besondere Charakter dieses Buches. Es wurde nur behutsam lektoriert, nur ganz leicht eingegriffen und nicht glatt geschliffen, der mündliche, unmittelbare Charakter der Interviews sollte unbedingt erhalten bleiben, um die Authentizität sowohl des Buches als auch der DVD zu gewährleisten.

*

Und wer ist nun Mary? Ohne Frage ist sie der willensstärkste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Das Sprichwort sagt, dass der Mensch mit den Aufgaben wächst, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die allermeisten würden angesichts solch einer Krankheit, die sich über so viele Jahre absehbar und eben auch todsicher verschlechtert, dauerhaft verzweifeln. Warum noch kämpfen, wenn das Urteil doch feststeht?

Natürlich habe ich Maria auch verzweifelt erlebt, in tiefster Wut und Trauer über dieses ungerechte Schicksal. Denn Hoffnung ist nicht in Sicht, ihre Krankheit ist so selten, dass sie nicht einmal einen Namen hat – eine der vielen »seltenen Krankheiten«, die unbenannt und vollständig unerforscht sind, weil es so wenige Betroffene gibt.

Aber Mary will nicht jammern, sie will kämpfen, bis zum allerletzten Atemzug. Es ist noch so viel zu tun: das Hörbuch, die DVD-Dokumentation, dieses Buch, so viele Presseanfragen müssen noch beantwortet werden und so viele, viele hundert Briefe und E-Mails, für die sie noch keine Zeit fand, worüber sie sich selbst am meisten ärgert, liegen noch auf dem Stapel – doch die Kräfte schwinden. Das Studium geht ja auch weiter, denn das Lernen hört niemals auf: »Tod, du musst warten, ich habe noch so viel zu erledigen!«

Und Maria will ihre wichtige Botschaft weitertragen: Dass wir, unsere ganze Gesellschaft, mit Behinderten endlich anders umgehen müssen. Nur weil jemand »im Gen-Lotto eine Niete gezogen hat« (O-Ton Maria), darf er nicht an den Rand gedrängt werden.

Das Schicksal kann bei jedem zuschlagen – auch Maria war einst eine fröhlich turnende und durch ihre Stadt joggende junge Frau, auch sie wollte ein ganz normales Leben leben, Schüler in Englisch und Deutsch unterrichten, einen Mann und zwei Kinder haben.

Ein ganz normales, einfaches, schönes Leben, mit allen Höhen und Tiefen, mit allen »normalen« Schicksalsschlägen, die jeder auszuhalten hat. Eine unheilbare genetische Krankheit stand nicht in diesem Lebensplan, doch es kann jeden treffen, heute, morgen oder übermorgen. Ihre wichtigste Botschaft ist deshalb »Carpe diem« – »Nutze den Tag«, denn du weißt nicht, ob du morgen noch einen neuen Tag erleben wirst.

Maria ist vor allem ein ganz normaler Mensch mit allen Ecken und Kanten. Auch das ist ihre Botschaft: Behinderte sind ganz normale Menschen. Erst kommt der Mensch, dann die Behinderung. »Ich möchte, dass alle Leute so mit mir umgehen, als wäre ich nicht sterbenskrank. Ich möchte nicht betüdelt werden!«, sagt sie.

*

Mary, ich danke dir dafür, dass ich dich kennenlernen durfte und dass wir Freunde geworden sind. Du machst mein Leben reicher, deine Freundschaft bedeutet mir viel. Dein Buch hilft mir und vielen anderen Lesern, sich selbst besser zurechtzufinden und das eigene Verhalten zu überdenken. Und du hast vielen Behinderten eine Stimme gegeben, das zeigen auch die zahllosen Leserbriefe.

Ich hoffe, dass der Tag noch fern ist, aber ich verspreche dir, wir werden an deinem Grab nicht nur weinen (bei Gott, das werden wir!), sondern wir werden auch dein Leben feiern, so wie du es willst. Du darfst weiterhin Olli zu mir sagen, das darf sonst niemand. Mary, telefonieren wir am Wochenende, wie immer?

GESPRÄCHE MIT MARIA TAG 1

Marias Krankheit und ihr Leben damit

Oliver: Wie geht es dir heute, Maria?

Maria: Schwer zu sagen. Ich sag ja ungern, dass es mir schlecht geht – auch wenn’s so ist. Das ist nicht so meine Art, weil ich immer finde, dass man damit Leute ganz schön vergraulen kann, auch Leute, die sagen, ja, okay, das stört mich nicht, wenn du das sagst. Ich hab dabei trotzdem immer ein ungutes Gefühl. Das soll jeder für sich entscheiden, ob er sagt »Es geht mir schlecht« oder »Es geht mir gut«. Ich bin der Typ, der eher versucht, das Ganze nicht so schlecht darzustellen, wie es wirklich ist. Ich unterhalte mich lieber über die positiven Dinge, auch wenn die Situation schwierig ist.

Oliver: Wir sind in deinem Krankenzimmer und zum ersten Mal trägst du keine Brille. Die allermeisten kennen die Fotos aus den Zeitungen mit der Sonnenbrille. Und du hast sogar so eine ganz harte medizinische Brille, die auch an den Seiten komplett abdunkelt. Der Raum ist fast dunkel, das sollte man dazusagen, es ist ein ganz, ganz winziges Licht an. Wir haben vielleicht eine Lichtstärke wie von einer Kerze. Die Kamera ist sehr empfindlich und nimmt es deshalb ganz gut auf. Wie viel Licht kannst du ertragen?

Maria: Mehr als das, was jetzt hier drin erhellt worden ist, nicht. Alles andere löst Krampfanfälle aus. Man muss sich das so vorstellen: Es wurde immer dunkler in diesem Zimmer. Als ich hier eingezogen bin, war’s noch ganz hell, ganz normal hell. Die Vorhänge waren offen. Dann hab ich sie immer weiter zugezogen. Ich hab das nicht mehr vertragen, wenn das Licht an war – das ganz normale Licht. Gerade beim Waschen musste ich dann Kompromisse machen. Für die Schwestern war es anfangs schwierig, mich bei diesen dunklen Verhältnissen zu versorgen, da sie sich natürlich auch immer die Haut angucken müssen. Sie müssen sich Wunden angucken.

Oliver: Wie viel kannst du jetzt noch sehen? Ich sehe, dass du mich sehr genau fokussierst. Wie viel siehst du vom Zimmer und von mir und von den Kameras?

Maria: Von den Kameras sehe ich die Umrisse. Von dir sehe ich die Umrisse und deine Haare. Also ich kann natürlich nicht im Einzelnen erkennen, welche Haarfarbe du hast, das weiß ich vom Erzählen. Ich kann nicht genau sagen, welchen Schnitt du hast. Ich weiß aber, dass du keine langen Haare hast, das kann ich unterscheiden, du hast aber auch keine raspelkurzen Haare. Du hast so ein »Mittelding«.

Oliver: Kannst du erklären, was das für eine Krankheit ist, die du hast?

Maria: Es ist schwierig. Für die Krankheit selbst gibt es gar keinen Namen. Man kann jetzt nicht sagen, das ist Multiple Sklerose, die ja vielen Menschen ein Begriff sein dürfte. Es ist viel geforscht worden über MS, während es bei meiner Erkrankung so ist, dass … ich nicht mal weiß, ob das überhaupt noch mal so auftritt in dieser Form. Die Erkrankung hat schleichend begonnen, eigentlich schon im Alter von drei Jahren. Aber man hat damals niemals daran gedacht, dass es zu so etwas führen könnte. Ich war beim Arzt, mit meiner Familie. Es wurde eine Skoliose festgestellt, also eine Verkrümmung des Rückgrates, der Wirbelsäule, und man dachte sich nichts dabei, weil Skoliose ja bei vielen Menschen ein Thema ist. Ich hab viel Sport gemacht, von klein auf. Ich war Leichtathletin. Aber irgendwann fiel schon auf, dass ich nicht mehr aus dem Startblock kam, dass ich ausgerutscht bin, dass ich die Treppen nicht hochlaufen konnte, dass ich einfach müde war und einfach geschwächt gewesen bin. Meine Skoliose hat sich dann ausgeweitet. Mit 13 hab ich den Sport reduziert, mit 15 war dann komplett alles vorüber. Ich bin mit 15 auch in ein Korsett gekommen. Also nicht, was man sich so vorstellt von früher, sondern in so ein Plastikkorsett – aber auch ein medizinisches Korsett hat mir nichts gebracht. Es sollte mich aufrichten. Es ist immer aufgefallen, dass meine Muskulatur nie die beste war. Aber auch da hat man sich nichts weiter bei gedacht. Ich war bei guten Ärzten, das will ich gar nicht bestreiten. Aber wenn die Ärzte natürlich sagen, das fällt eben auf, und wir können das nicht weiter einordnen, dann glaubt man denen das auch. Ich bin mit 17 operiert worden an der Wirbelsäule, zweimal. Ich dachte eigentlich, genau wie die Ärzte, dass es besser wird.

Oliver: Was wurde gemacht?

Maria: Meine Bandscheiben wurden entnommen, ich wurde aufgerichtet, ich hab zwei Titanstäbe und etliche Schrauben eingesetzt bekommen. Ich wurde richtig gut aufgerichtet. Ich war wirklich vorher sehr schief, dann bin ich fast ganz »gerade gemacht« worden. Ich hatte ein halbes Jahr Ruhe, auch von den Schmerzen, die schon im Kindesalter angefangen haben. Ich musste schon früh Medikamente nehmen. Ich hab immer Krankengymnastik gemacht, immer Physiotherapie, mehrmals in der Woche. Das war aber auch nicht so der Erfolg. Ich bin viel schwimmen gegangen, was ja eigentlich auch die Muskulatur stärkt, aber auch das war nicht besonders erfolgreich. Ein halbes Jahr nach meinen OPs war ich wieder beim Arzt und hab gesagt, irgendwie hab ich immer mehr Ausfälle. Der Arzt konnte sich das nicht erklären. Ich hab dann mein Abitur noch gemacht, hab das Abitur fast im Stehen absolviert, teilweise auch die Prüfungen, weil ich nicht mehr sitzen konnte vor Schmerzen. Zeitweise dachte man mal, okay, vielleicht ist einfach das Implantat gebrochen. Das könnte ja auch sein, das war’s aber nicht. Mit 19 hat man dann in einer Reha, die ich nach dem Abitur gemacht habe, entdeckt, dass das Becken einen Riss hat, dass da etwas gebrochen ist, dass sich etwas abgespalten hat. Ein Teil ist praktisch »abgewandert«, es gab wirklich ein klaffendes Loch zwischen dem Becken und dem Stückchen, das »abgewandert« ist. Ich bin dann operiert worden, beziehungsweise vor der OP kam raus, dass ich einen mehrfachen Bandscheibenvorfall hab seit zwei Jahren und dass ich schon die ganze Zeit damit rumgelaufen bin, was Schmerzen verursacht hat. Da hat man auch wieder festgestellt, dass meine Muskulatur nicht die beste ist. Aber auch diesmal hat man gedacht, okay, das wird des Rätsels Lösung sein. Ich kam in den Rollstuhl, konnte zu der Zeit schon ein Bein nicht mehr bewegen. Aber man hat sich dann gewundert, dass ich selbst beim Krafttraining keine Erfolge erzielt hab. Ich hab keine Fortschritte gemacht. Ich hab dann immer weitere Verluste erleiden müssen: Plötzlich lahmte mein linkes Bein. Dann merkte ich an der Universität, dass ich beim Schreiben nicht mehr hinterherkam. Das war 2009. Ich hab 2008 mit dem Studium begonnen, im Wintersemester 2008/2009. Ich dachte dann auch, na ja, gut, du pendelst immer noch, Mädchen, es wird schon davon kommen, das ist ja immer sehr aufwendig mit der Deutschen Bahn, wenn man im Rollstuhl sitzt. Gerade die Kälte ist mir in die Knochen gekrochen, es war ein sehr kalter Winter. Dann kam eine ganz schwere Lungenembolie, die hat mich komplett umgehauen, sie hat mir die Schuhe ausgezogen. Ich kam nach der Lungenembolie in eine Reha für Lungenkrankheiten. Die haben aber von Anfang an gesagt: »Stopp, da ist nicht nur die Lunge geschädigt, das ist noch was ganz anderes.« Sie haben einen Neurologen dazugeholt, dieser Neurologe hat gesagt, da sei alles gelähmt. Dann wurden nach und nach Untersuchungen gemacht, es gab mal auffällige Befunde, mal unauffällige Befunde, letztendlich war alles auffällig, was getestet worden ist. Dann hat man gesagt: »Ja, das ist eine Muskelerkrankung, aber wie sie heißt, das wissen wir nicht.«

Oliver: Warst du vorher schon beim Neurologen oder war das der erste in dieser Reha?

Maria: Ich war schon ab und zu mal bei einem Neurologen, aber da standen andere Symptome im Vordergrund. Die Lähmung ist immer weiter hochgestiegen. Mittlerweile ist es so, auch wenn ich meinen rechten Arm noch bewegen kann, dass der auch immer weniger schafft, dass er immer weniger Kraft hat. Und das wird sich noch weiter hochziehen. Das geht zur Lunge weiter und zum Herzen und beim Herzen ist dann Schluss. Der Kopf wird bis zum Ende fit bleiben, was einerseits gut ist, andererseits aber auch sehr schwer sein kann, wenn man mitkriegt, was um einen herum passiert. Aber wie die Krankheit heißt, das weiß man nicht. Ich hab starke Schmerzen, ich kriege viele starke Medikamente, Morphine, aber auch die können das nicht alles wegnehmen, aber … Es ist eben so, wie es ist.

Oliver: Kann man die Morphine nicht höher dosieren?

Maria: Das dürfte man gar nicht, das würde das Herz irgendwann gar nicht mehr mitmachen, das könnte es gar nicht aushalten.

Oliver: Was ich mich frage: Deine Muskeln sind ja noch da, die sind ja nicht weg, das sieht man, wenn du einen epileptischen Anfall hast.

Maria: Ja, aber Muskeln sind ja nicht gleich Nerven.

Oliver: Das ist kein einfacher Muskelschwund, sondern das ist …

Maria: Das ist eine Kombination aus Nerven- und Muskelerkrankung. Es gibt Muskeln, die komplett weg sind. Es gibt auch Partien an meinem Körper, die ich dir zeigen könnte, an denen einfach wahnsinnige Dellen dran sind, zum Beispiel an den Seiten. Wenn man vorm Spiegel stünde, sähe man: Da hat sich der Muskel weggezogen. Auch an den Beinen – wenn man die vergleicht mit früher, mit meinen Läuferbeinen – meine jetzigen Beine, die aussehen wie Streichhölzer, mit Unterschenkeln, um die man drumfassen kann, ganz einfach, mit einer Hand.

Oliver: Ich war heute dennoch erstaunt, wie viel Kraft in so einem epileptischen Anfall steckt.

Maria: Epileptische Anfälle sind sehr kraftvoll, wenn man sie so ausgeprägt hat. Ich hab meistens einen Grand Mal, ein »großes Übelsein«. Man unterscheidet zwischen Grand Mal und Petit Mal, zwischen den großen und den kleinen Anfällen, und ich hab meistens einen Grand Mal, und die sind gewaltiger und viel, viel stärker als ein Petit Mal. Das ist fast so, als würde man Leistungssport machen, als würde man einen Marathon laufen. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich sonst meine Beine nicht mehr bewegen kann. Es ist nicht so, als würde ich bei einem Anfall wild herumhopsen oder herumlaufen. Das ist zwar ein erschreckendes Bild für die meisten, aber es ist bei solchen epileptischen Anfällen einfach so, dass viele sich erschrecken, vor allem wenn sie so etwas zum ersten Mal sehen.

Oliver: Wer hat die Hauptdiagnose gestellt, ein Neurologe?

Maria: Ja.

Oliver: Und im Prinzip hat der gesagt: Wir wissen nicht, was es ist?

Maria: Ja: Wir können das nicht einordnen in etwas Bekanntes. Wir können aber sagen, dass es etwas ist, was in unser Fachgebiet fällt, weil eben bestimmte Untersuchungen auffällig sind. Wenn du dir das bei Multiple-Sklerose-Untersuchungen anschaust, da müssen zum Beispiel A, B, C und D auffällig sein, und müssen so und so verlaufen, und Untersuchung E muss dafür unauffällig sein. Und bei mir ist es dann so, dass die Untersuchungen A, C, D und E auffällig sind und Untersuchung B unauffällig ist. Das müsste aber gegeben sein, damit es genau in den Bereich der Multiplen Sklerose reinfällt. Es gibt Ärzte aus den Staaten, die sich damit befassen wollen und die vielleicht weiter sind als die Ärzte in Deutschland. Vielleicht kannst du mich gerade mal kratzen, hier am Arm, weil ich mich selbst nicht kratzen kann …

Oliver: Sehr gern.

Maria: Weiter nach rechts, von deiner Seite aus gesehen, und weiter nach oben … und richtig hoch und runter, und richtig fest. Das ist so einer der großen Nachteile, wenn man sich nicht richtig kratzen kann, und dass es, wenn keiner hier im Zimmer ist, ewig dauert. Und ich hatte mal vor gar nicht langer Zeit einen Mückenstich am Fuß, und da hab ich meinen Fuß noch gemerkt. Es hat fürchterlich gejuckt. Jetzt ist es ja mittlerweile so: Ich hab eine neue Diagnose bekommen vor Kurzem, es läuft auf einen sensiblen Querschnitt hinaus, das bedeutet, dass man, oder dass ich in diesem Falle ab etwa der Hüfte ungefähr nichts mehr merke.

Oliver: Ist das jetzt schon so?

Maria: Ja. Ich merke zwar den Schmerz von innen, aber von außen nichts.

Oliver: Wie lange bist du jetzt in diesem Zimmer?

Maria: In diesem Zimmer seit Januar 2011, zuvor war ich ein Jahr lang in einem anderen Pflegeheim, und dann hab ich gewechselt.

Oliver: Das heißt, seit 2010 bist du bettlägerig?

Maria: Seit Anfang 2010 beziehungsweise schon seit Ende 2009, weil da die Lungenembolie war, die mich komplett umgeworfen hat. Die hat mir dann den Rest gegeben.

Oliver: Deine Verzweiflung über die Krankheit oder auch der Mut … Was sagen die Ärzte über ihre Machtlosigkeit? Ärzte sind es ja eigentlich gewohnt, helfen zu können. In vielen Fällen, in vielen Fällen aber auch nicht …

Maria: Es kommt auf den Arzt an. Es gibt Ärzte, die mich sehr spüren lassen, dass sie mir nicht helfen können, die dann sehr ihren Ärger darüber rauslassen, dass sie nichts machen können. Das waren ehemals behandelnde Ärzte, und das ist auch der Grund, warum sie ehemalige behandelnde Ärzte sind. Es gibt Ärzte, die verzweifelt sind, nicht helfen zu können, jedoch nicht ihre Wut auslassen. Es gibt Ärzte, die mit mir zusammen beten, dass es besser wird.

Oliver: Deine Krankheit hat ganz viele Aspekte. Gibt es einen, der dich besonders zur Verzweiflung treibt?

Maria: Schmerz. Schmerz und das Problem dieser akustischen Übersensibilität. Dass Konversation, wie sie oftmals auf dem Flur draußen stattfindet, viel zu laut ist für mich. Ein lautes Lachen, das schön ist, aber auch manchmal sehr schrill sein kann. Es ist nicht so, dass ich mir wünsche, dass Leute nicht mehr lachen. Ganz im Gegenteil. Ich bin selbst jemand, der trotz Krankheit noch sehr viel lacht, der aber auch mal Maß halten muss. Und selbst Vogelgezwitscher kann schon zu laut sein. Darum sind oftmals die Fenster geschlossen. Ich würde mir wünschen, dass hier noch mehr Isolierung ist. Das Zimmer ist so schon recht gut isoliert, gerade was so die Sachen von außen betrifft, aber diese Geräusche, die man auf dem Gang hört, wenn irgendwelche quietschenden Wagen vorüber geschoben werden, das ist schon sehr unangenehm. Oder die Konversation von eben, die draußen auf dem Flur geführt worden ist, die Lacher, die waren schon sehr schrill und sehr laut für mich.

Oliver: Alle deine Sinne sind übersensibel, oder?

Maria: Die Ohren fangen das auf, was die Augen nicht mehr können. Die Augen sind natürlich übersensibel, was Helligkeit anbelangt, aber die Sehschwäche ordne ich so ein, dass die Ohren dafür viel stärker sind. Das Schmecken ist sehr viel geringer. Also es muss etwas sein, was richtig bitzelt, Brausepulver zum Beispiel … Also gut, essen kann ich sowieso nichts. Es sei denn, es ist wirklich Brausepulver, das ich richtig schmecken kann, sei es auch noch so künstlich. Dafür rieche ich ganz intensiv. Selbst wenn sich jemand 30-mal desinfiziert hat nach dem Rauchen – ich rieche ihn noch, auch auf die Entfernung.

Oliver: Hm, der Mensch ist ein Konstruktionsfehler der Natur. Man kann die Augen zumachen, aber nicht die Ohren und nicht die Nase. Den Mund auch, aber Gestank und Geräusch …

Maria: Ja, leider.

Oliver: Würdest du denn so weit gehen zu sagen, es wäre einfacher, das Schicksal anzunehmen, wenn dieser eine Aspekt nicht so im Vordergrund stünde, also Schmerz? Also würdest du lieber mit Schmerzen laufen oder ohne Schmerzen liegen?

Maria: Das ist eine nicht so leicht zu beantwortende Frage. Natürlich ist das Liegen auch noch so ein Aspekt, der schwierig ist, aber solange ich raus könnte, egal wie, in die Uni zurück und zurück zu meinen Freunden und zu meiner Familie, wäre mir alles andere egal, selbst der Schmerz.

Oliver: Wie siehst du jetzt deinen Körper – Freund oder Feind oder neutral?

Maria: Wenn ich sagen würde, er ist mein Feind, dann wär ich mit mir nicht im Reinen und dann hätt ich ein noch viel gewaltigeres Problem. Natürlich ist mein Körper der, der mir die Grenzen aufzeigt, aber mein Körper ist auch der, der mir schon oft genug bewiesen hat, dass wir noch Freunde sind. Beispielsweise bei der Vorlesung in Marburg hat er mir genau gezeigt, dass wir noch ein Team sein können. Das wäre ich mit einem Feind nicht.

Oliver: Über Marburg sprechen wir noch.

Maria: Das war nur ein Beispiel. Er hat mich ja auch beim Hörbuch unterstützt, was er nicht tun würde, wenn wir uns nicht immer noch verstehen würden.

Oliver: Kennst du andere Menschen, die diese oder eine ähnliche Krankheit haben, übers Internet oder sonst wie?

Maria: Es gibt Menschen, die mich kontaktiert haben, die gesagt haben, sie hätten genau dasselbe, obwohl ich es schwierig finde, das einzuordnen. Ich weiß nicht warum, aber ich finde es schwierig, wenn einer sagt: »Ich habe genau dasselbe«, wenn da noch nicht alle Symptome abgeglichen sind. Wenn man dann näher gefragt hat, merkte man, dass das ganz weit auseinanderklaffte. Ich bin nicht der Mensch, der auf der Suche ist nach Leuten, die genau das Gleiche haben. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Ich weiß nicht, warum ich noch nicht danach gesucht hab, aber es ist einfach so, dass ich mich nicht ständig damit befassen möchte.

Oliver: Es würde dir nichts helfen?

Maria: Nee, es ist nicht mal das … Ich will mich da nicht selbst in so einen Sog reinziehen. Ich find das wunderschön, wenn mich jemand kontaktiert, der sagt: »He du, du kannst mir helfen, ich habe ähnliche Probleme«, oder: »Können wir uns austauschen?« Natürlich, sofort. Aber ich würde mich nicht selbst hineinbegeben, in so was wie eine Selbsthilfegruppe oder sonst irgendetwas, weil … Ich glaube, das wäre mir zu negativ – das sag ich ganz ehrlich. Ich find das ganz toll, wenn mich jemand kontaktiert, der sagt: »Guck mal, ich hab das und das.« Das find ich ganz schön, wenn mir das jemand sagt, wenn sich mir jemand anvertraut. Ich finde, das ist ein Vertrauensbeweis – obwohl mich die Leute gar nicht kennen. Ich find das sehr schön, und wenn ich die Kraft hätte, würde ich jedem Einzelnen darauf antworten, um ihm zu helfen. Ich würde auch jeden Einzelnen hierher einladen, aber für mich selbst … Ich bin durchaus auch mal mit mir selbst beschäftigt. Aber ich bin beschäftigt mit den positiven Sachen des Lebens. Vielleicht deswegen. Ich hab noch nie explizit danach gesucht, nach jemandem, der genau das Gleiche hat.

Oliver: Ich bin immer wieder erstaunt über deine positive Grundenergie. Und wie viel du lächelst und wie viel Blödsinn du im Kopf hast und wie viel Schabernack. Das ist noch ganz die Mary von früher.

Maria: Ja. (Lacht.)

Oliver: Und du bist auch eine Frau, die sehr auf sich achtet. Also das find ich bewundernswert. Du kümmerst dich um deine Haare. Und du kümmerst dich um schönes Parfüm für dich. Du magst dezente Wohlgerüche. Das hält dich lebendig, diese kleinen Sachen.

Maria: Hm (bejahend). Für mich ist das wichtig, aus dem einfachen Grund, wenn’s einem schlecht geht, wenn man sich schlecht fühlt, sollte man … Also ich könnte das nicht, aufhören, mich zu pflegen oder mich zu waschen. Manche Menschen verfallen in so eine Starre, dass sie sich nicht mehr waschen, dass sie nicht mehr auf sich achten usw. So bin ich nicht. Ich wollte mir immer treu bleiben. Ich hab Begegnungen mit Menschen gehabt, die mir sagten: »Warum machst du das eigentlich noch? Du wirst zum Beispiel nie wieder einen Mann finden.« Denen hab ich gesagt: Ich mach das nicht für irgendjemanden, ich mach das für mich.

Oliver: Du bist der Beweis dafür, dass Frauen sich für sich selber schön machen. Das glaubt man mir immer nicht. Aber das ist so. Du hast eine Menge Schläuche um dich rum. Du kriegst Luft in die Nase, damit die Lungen nicht zusammenfallen. Du hast eine Halskrause, um dir nicht selbst das Genick zu brechen bei einem Anfall. Du kriegst Nahrung über eine Sonde, im Prinzip pürierte Babykost – kann man das so sagen?

Maria: Die Firma ist schon sehr darauf bedacht, das man das richtig sagt: Es ist Sondenkost. Also keine Sonderkost – darauf legen sie auch immer Wert –, sondern Sondenkost: Im Moment habe ich Karotte, Kürbis mit irgendeinem Fleisch, glaube ich, mit Kartoffeln und Pute. Das ist einfach dünnflüssig und wird reingepumpt, eingeführt über die Sonde. Und dann gibt es noch einen suprapubischen Katheter, über den der Urin abfließt, weil ich so nicht mehr auf Toilette gehen kann wie früher und ein Schieber ist für mich schwierig. Eine Inkontinenzvorlage, die man sowieso trägt – da bin ich sehr offen –, die ich sowieso trage. Sobald der Katheter verstopft, geht das natürlich alles dahin ab. Dadurch, dass ich das nicht spüre, und im Nassen liege, kann das Infektionen und Reizungen hervorrufen. Die Halskrause ist auch deshalb da, weil ich eine ganz instabile Halswirbelsäule hab. Das ist das Einzige, was nicht operiert wurde bei den vier Operationen – man hat mir ja auch mit 19 das Becken zusammengeflickt, die restlichen zwei, drei Bandscheiben, die da kollabiert waren, rausgenommen und hat noch mal zwei Stangen reingesetzt und noch mal einige Schrauben. Man weiß noch nicht, ob man das operieren wird. An der Halswirbelsäule ist es noch mal was anderes als am Rest der Wirbelsäule. Für mich ist das sowieso ganz, ganz schwierig aufgrund der Grundvoraussetzungen. Wenn ich jetzt sonst noch gesund wäre, wäre es etwas anderes – wenn ich noch gesund wär und »nur« eine Skoliose hätte. Die Lunge kann ja auch von der Skoliose betroffen sein, wenn diese so schief ist, dass die Lunge gequetscht wird, soweit ich das weiß. Aber jetzt sind das ganz andere Voraussetzungen, da könnte jede Narkose sonst was für mich bedeuten. Das ist schwierig.

Der Umgang mit Marias Krankheit

Oliver: Du musst ja jetzt um alle Sachen, die du haben möchtest, bitten. Du musst den Pfleger rufen, wenn du irgendetwas willst, wenn du einen Löffel Milchreis haben willst, musst du drum bitten, oder einen Löffel Eis. Wie ist das, ständig um alles bitten zu müssen?

Maria: Wenn man früher sehr »selbstständig« war, ist das natürlich eine Umstellung. Man gewöhnt sich dran. Wie ich mich bisher an alles gewöhnt hab oder gewöhnen musste. Es ist schwierig, zumal es Menschen gibt, die einen spüren lassen, dass sie jetzt die Macht haben. Das ist ein ganz ekelhaftes Gefühl, wenn das jemand so sehr raushängen lässt. Natürlich gibt es Menschen, die das nicht machen, die sich auch nicht zweimal bitten lassen, sondern die sofort kommen und praktisch schon springen, wenn man sagt: »Könnte ich bitte mal das und das haben. Würdest du mir bitte mal das geben«, oder: »Kannst du mich mal bitte drehen?« Das ist schon seltsam, fast nichts mehr zu können.

Oliver: Wie würdest du dir wünschen, dass deine Umgebung mit dir umgeht, die Pfleger und auch alle, die dich besuchen kommen?

Maria: Wenn ich jetzt sage »ganz normal«, würdest du wahrscheinlich fragen: Was bedeutet denn »ganz normal«? Ich möchte, dass sie so mit mir umgehen, als wäre ich nicht sterbenskrank. Ich möchte nicht betüddelt werden. Ich möchte auch mal, wenn ich mich falsch verhalte, oder nicht richtig verhalte, nicht adäquat, die richtigen Worte gesagt bekommen. Man kann mir sagen: »Maria, das geht so nicht.« Ich möchte von niemandem eine Sonderbehandlung haben. Das habe ich auch meinen Dozenten gesagt: »Ich möchte keine erhöhte Punktzahl, ich möchte nicht weniger schwere Fragen haben als andere, sondern genau denselben Schwierigkeitsgrad«. Und von den Menschen, die aber genau anders mit mir umgehen, nämlich diskriminierend, wünsche ich mir auch, dass sie ganz normal mit mir umgehen, sprich: nicht, als wäre ich ein Mensch zweiter Klasse, sondern genauso, als würde ich vor ihnen stehen. Denn nur, weil ich etwas nicht mehr kann, heißt das nicht, dass ich deshalb schlechter behandelt werden darf. Denn sie können in genau die gleiche Situation reingeraten und dann ist es für sie sicher auch alles andere als schön, wenn ich dann hier reinkomme und auf ihnen rumtrete oder sie wie einen Fußabtreter benutze und gegentrete oder draufspucke.

Oliver: Und wenn man dich ganz normal behandelt, dann darf man Witze über dich und mit dir machen wie mit jedem anderen auch?

Maria: Ja. Es sei denn, ich sage natürlich: Stopp, hier ist die Grenze.

Oliver: Die sollte man auch bei jedem anderen nicht überschreiten.

Maria: Sowieso.

Oliver: Kannst Du das, wie du behandelt werden möchtest, auch den Leuten vermitteln – also verstehen das alle Pfleger, verstehen das alle Ärzte? Das ist doch auch ein extrem harter Job, wenn man den ganzen Tag mit Pflegefällen zu tun hat.

Maria: Es gibt natürlich welche, die auf dem Ohr taub sind. Wie diejenigen, die sagen: »Kann die das nicht schneller?« Als ich zum Beispiel meine Sprache verloren hab, war es für mich viel schwieriger, das, was ich sagen wollte, in Rekordschnelle, in Windeseile einzutippen, als vorher, als ich noch genug sehen konnte. Ich hab gemerkt, wie der Arzt ungeduldig wurde, wie der gesagt hat: »Ah, wahrscheinlich rafft die eh nix«, sodass mir nichts übrig blieb, als (räuspert sich) … zu machen, damit er versteht: »Ich hör ganz genau, was du sagst, und ich kapier auch ganz genau, was du mir damit sagen willst.« Es gibt Leute, die sind taub auf dem Ohr, natürlich. Und das wird sich auch nie ändern. Es gibt aber auch Menschen, die dann doch nachdenken.

Oliver: Ich will auf eine Besonderheit hinaus. Du bist hier in dem Heim, soweit ich die anderen Bewohner gesehen habe, die Einzige, oder fast die Einzige, die geistig so präsent und völlig klar und völlig fit ist.

Maria: Das ist nur auf dieser Station hier so, weil hier vor allem Wachkoma-Patienten sind.

Oliver: Aber hier auf der Station, da sind ja auch die Pfleger, die dich pflegen. Ist es für die nicht auch schwierig, sich darauf einzustellen, dass eigentlich alle anderen geistig nicht mehr anwesend sind und du diejenige bist, die absolut präsent ist, alles mitbekommt, über alles nachdenkt, argumentieren kann?