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Beschreibung

Nach dem überraschend großen Erfolg des ersten Bandes Jetzt reden wir. Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist mit über 10 000 verkauften Exemplaren liegt nun der zweite vor, in dem erneut Kombinatsdirektoren und Wirtschaftsexperten zu Wort kommen. Herausgeberin Katrin Rohnstock hat die einstigen Planwirtschaftslenker versammelt, um deren persönliche Geschichte und die ihrer großen Kombinate zu hören. Die daraus entstandene Anthologie nimmt die tatsächlichen Verhältnisse der DDR-Wirtschaftsgestaltung unter die Lupe und räumt auf mit dem verzerrten Bild vom »Pleitestaat DDR«. Durch die Erzählungen wird sichtbar, wie unterschiedlich die Ausgangs- und Interessenlagen waren, wie schwierig oft die Gratwanderung zwischen volkswirtschaftlichen, betrieblichen und sozialen Interessen. Ob aus der Energiewirtschaft, Automobilindustrie, Mikroelektronik, Kosmetik- und Pharmaindustrie, Schuhproduktion, Sportgeräteherstellung oder der Genussmittelbranche kommend – die Beiträger in diesem Buch zeigen allesamt, wie spannend und lehrreich die DDR-Wirtschaftsgeschichte ist, die keine historischen Vorbilder kannte und sowohl in der Wirtschafts- als auch Strukturpolitik immer erst nach geeigneten Wegen suchen musste. Ein ergreifendes Buch über ein großes Experiment, das sich lohnt genauer kennenzulernen, um zu realisieren, was auch heute noch aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist.

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Die Kombinatsdirektoren

Jetzt reden wir weiter!

Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist

Herausgegeben von ROHNSTOCK BIOGRAFIEN

Die in diesem Band versammelten Beiträge basieren zum Großteil auf ausgewählten Wirtschafts-Erzählsalons mit ehemaligen DDR-Kombinatsdirektoren, veranstaltet vom VEREIN ZUR FÖRDERUNG LEBENSGESCHICHTLICHEN ERINNERNS UND BIOGRAFISCHEN ERZÄHLENS e.V. in Kooperation mit ROHNSTOCK BIOGRAFIEN in den Jahren 2013/14. Die Texte wurden aufgeschrieben und bearbeitet von Katrin Rohnstock, Antje Käske, Ralf Pasch und Levin D. Röder.

eISBN 978-3-95841-533-1

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2016 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Redaktion: Levin D. Röder, Antje Käske

Mitarbeit: Julia Langhans, André Simon, Maximilian Mrachacz

Lektorat: Gitte Hartung, Ruth Haake

Fotos: Antje Käske, Sebastian Bertram

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

www.buchredaktion.de

Katrin Rohnstock

Grußwort der Herausgeberin

Liebe Leserinnen und Leser,

als wir das Projekt »Generaldirektoren erzählen« am 21. September 2012 mit der Tagung »Krise und Utopie. Was heute aus der DDR-Planwirtschaft für ein zukünftiges Wirtschaften gelernt werden kann« aus der Taufe hoben, hätte niemand gedacht, ja, geglaubt, dass wir 2016 einen zweiten Band der »Kombinatsdirektoren« publizieren würden. Die DDR-Wirtschaft schien mit der Wiedervereinigung 1990 erledigt zu sein. Spätestens Mitte der 1990er Jahre sollte der marode Kuchen der »Mangelwirtschaft« gewöhnlich durch die »Treuhänder« der siegreichen Marktwirtschaft verteilt/entsorgt sein.

Wir haben uns dem kollektiven Vergessen und der Meinung entgegengestellt, dass es nichts zu erinnern, nichts zu erfahren, nichts zu lernen gibt aus der 40-jährigen Anstrengung, eine lebenswerte Alternative zur kapitalistischen Weltordnung zu entwerfen.

Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Beiträge der mittlerweile 50 Erzählsalons, die wir seit 2012 monatlich im Salon von ROHNSTOCK BIOGRAFIEN veranstalteten. In jeden dieser Salons luden wir einen Generaldirektor eines zentralgeleiteten DDR-Kombinats ein, uns teilhaben zu lassen an der Entwicklung seiner Wirkungsstätte. Im zweiten Teil der Veranstaltung tauschen sich 20 bis 50 Kollegen, Mitstreiter und Wirtschaftsexperten über die geschilderten Ereignisse aus, ergänzen, widersprechen, relativieren. Wir haben uns bemüht, in der vorliegenden Publikation die Lebendigkeit, Widersprüchlichkeit und Komplexität der Auseinandersetzungen einzufangen. Dabei ergaben sich viele Fragen, die das Buch nicht beantwortet. Unsere Hoffnung ist, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, mithelfen, Antworten zu finden.

Die Vielzahl der vorgetragenen Standpunkte verdeutlicht zugleich, dass die Meinungen der sogenannten Nomenklatura alles andere als homogen waren. So haben uns die Beiträger immer wieder vor Augen geführt, wie viele Vorschläge eingebracht, wie viele Konzepte und Strategien entwickelt und ausprobiert, wie differenziert Ansichten und Vorbehalte diskutiert wurden. In ihnen spiegeln sich die Konflikte der DDR-Wirtschaftsentwicklung.

Konflikte sind das Zentrum von Geschichten – jede Geschichte handelt an einem konkreten Ort, zu einer bestimmten Zeit, mit einzigartigen Charakteren. Sie erzählt, indem sie Handlungen wie Perlen auf eine Kette fädelt, einen Entwicklungsprozess. Dieser rote Faden ist der Spannungsbogen der Geschichte, wie wir sie verstehen: als vielstimmigen Chor von Menschen, die sie gelebt, erfahren und reflektiert haben. Auf diese Weise hoffen wir den Vorurteilen zu entkommen, die sich als Patina der herrschenden Geschichtsauffassung auf der Erinnerung an den vergangenen Staat abgelagert haben.

Wir wollten aber auch einen Rückfall in die zu DDR-Zeiten gebildeten Stigmatisierungen verhindern, die zwischen Verherrlichung und selbstkritischer Zerfleischung schwankten. Es ging uns darum, lebendig zu erkunden, welche Konfliktstrukturen es gab und wie damit umgegangen wurde.

Dieses konkrete Herangehen war für die Protagonisten unserer Salons ebenso ungewöhnlich und überraschend wie die Ergebnisse, die sie zutage förderten: Gewohnt, Referate zu halten, Standpunkte zu vertreten und Statements abzugeben, mussten sich die Kombinatsdirektoren öffnen, Handlungen nachvollziehbar schildern, den Zuhörern die Zusammenhänge erklären. Die sich daraus ergebende Demut gegenüber dem geschilderten Gegenstand ist es, welche die in diesem Buch versammelten Geschichten so sympathisch und authentisch macht.

Wir sind davon überzeugt, dass sich die DDR-Wirtschaft nur volkswirtschaftlich verstehen lässt. Deshalb versucht dieser zweite Band einen Bogen zu schlagen von der Rohstoff- und Energiewirtschaft über die Preispolitik bis hin zur Konsumgüterproduktion. Dazu haben wir von insgesamt 50 Generaldirektoren-Erzählsalons 11 ausgewählt. Wir haben die Veranstaltungen, die immer nach dem gleichen Schema ablaufen – Anmoderation, Vortrag, Diskussion – mitgeschnitten, abgeschrieben und bearbeitet. In zwei Fällen konnten wir nicht auf die lebendigen Erzählungen zurückgreifen. Einmal (bei Wolfgang Neupert vom VEB Kombinat Sportgeräte Schmalkalden) hatte das Tonbandgerät versagt. Und im Fall von Mikroelektronik-Staatssekretär Karl Nendel, der aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfügung stand, entschieden wir uns, einen Auszug aus seiner Autobiografie zu veröffentlichen, an der wir derzeit arbeiten.

Ergänzt werden die Erfahrungsberichte der Kombinatsdirektoren durch Kurzportraits der Protagonisten/Diskussionsteilnehmer sowie ein Glossar zu Begriffen aus der DDR-Ökonomie.

Mit den in diesem Band versammelten Beiträgen ist der Stoff, den die ehemaligen Protagonisten der DDR-Wirtschaft zu bieten haben, weder erschöpfend erkundet noch dargestellt. Jeder Industriezweig, jedes Kombinat hat seine Besonderheiten. Um die Erfahrungen der Menschen, die darüber Auskunft erteilen können, zu erhalten, sind wir auf der Suche nach Unterstützung. In der Hoffnung, dass die Beiträge dieses Buches Ihre Neugier auf die DDR-Wirtschaft wecken, wünschen wir eine anregende Lektüre!

Über Ihre Meinung, liebe Leserin, lieber Leser, freuen wir uns unter www.kombinatsdirektoren.de.

Wir bedanken uns bei allen Erzählerinnen und Erzählern für ihre Offenheit und ihr Vertrauen! Dem Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischenErzählens und insbesondere Bettina Kurzek danke ich für die jahrelange Unterstützung und fachliche Betreuung des Projekts. Mein besonderer Dank gilt dem Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Jörg Roesler, der uns bei allen Erzählsalons als wissenschaftlicher Berater zur Seite stand und uns die Beiträge der Generaldirektoren in ihrem jeweiligen historischen Kontext erklärte.

Berlin, im Oktober 2016

Jörg Roesler

Strukturpolitische Entwicklungen der DDR-Industrie

Das Wirtschaftssystem der DDR wurde bewusst als Gegenmodell zum marktverfassten kapitalistischen System in der Bundesrepublik geschaffen. Den SED-Vorstellungen lagen weniger die spärlichen Hinweise von Marx und Engels über die sozialistische Gesellschaftsordnung zugrunde als die Ablaufschemata der sowjetischen Planung. Das sowjetische Planungssystem hatte sich während der Weltwirtschaftskrise 1929–1932 und der Verteidigung gegen die deutsche Aggression im Zweiten Weltkrieg durch hohe Wachstumsraten bewährt. Der Grundgedanke jenes Planungssystems war es, die nationale Wirtschaft bis hin zu den Betrieben zentral zu koordinieren und zu lenken.

Voraussetzung dafür war die Verstaatlichung der Großbetriebe. Die Bevölkerung wurde befragt, ob sie für die Überführung des Firmeneigentums der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher in staatliches Eigentum sei. Sie sprach sich im Juni 1946 im industriereichen Sachsen zu 77,6 Prozent dafür aus. Daraufhin wurde im zweiten Halbjahr 1946 die gesamte Großindustrie der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Staatseigentum überführt. Im Dezember 1946 fand eine Abstimmung über Enteignung beziehungsweise Staatsaufsicht von Konzernen und Banken in Hessen statt – mit fast identischem Ergebnis: 72 Prozent stimmten dafür. Während in Hessen zunächst die amerikanische Besatzungsmacht und später die Verfassung der Bundesrepublik die Verwirklichung des Volkswillens verhinderte, entstand in der Sowjetischen Besatzungszone bis 1948 in der Industrie der volkseigene Sektor als Grundlage für eine Volkswirtschaftsplanung nach dem Vorbild der UdSSR.

Anders als in der Sowjetunion konnte die Planwirtschaft in der DDR in einem hochentwickelten Industrie­land umgesetzt werden. Auf das DDR-Gebiet entfiel mit Sachsen eines der drei wichtigsten Industriegebiete des Deutschen Reichs. (Die anderen waren das Ruhrgebiet und Oberschlesien.) Die DDR verfügte, nicht zuletzt im Ergebnis des weiterentwickelten preußischen Schulsystems im Vergleich zum europäischen Standard, über eine gut ausgebildete Bevölkerung, die motiviert war, für die Wiedererreichung des »Friedensniveaus« hart zu arbeiten.

Trotz der relativ günstigen gesellschaftlichen Voraussetzungen für die planmäßige Gestaltung der Wirtschaft bestand für die SED jahrelang keine Möglichkeit, eine eigene Wirtschaftsstrategie zu entwickeln. Entscheidungen ergaben sich vor allem aus den konkreten Umständen, die im Folgenden erläutert werden.

Antwort auf auferlegte Zwänge

Drei Handicaps wurden den Begründern der ostdeutschen Planwirtschaft gewissermaßen in die Wiege gelegt: Reagiert werden musste erstens auf die Kriegszerstörungen. Diese betrafen etwa 40 Prozent der gesamten ostdeutschen Industriekapazität. 1500 Großbetriebe sowie 8000 kleine und mittlere Betriebe waren (teil-)zerstört worden. Die erste industriepolitische Aufgabe war es daher, die betroffenen Anlagen instand zu setzen. Da Mittel für Neuinvestitionen völlig fehlten, war dies eine Aufgabe, die nur unter großem persönlichen Einsatz der Betriebsbelegschaften Erfolg versprach und dank der »Aktivisten der ersten Stunde« auch gelang. Dabei wurden die Industriestrukturen, wie sie sich im Gebiet zwischen Elbe/Saale und Oder/Neiße historisch entwickelt hatten, wiederhergestellt. Diese Strukturen waren geprägt durch ein Übergewicht der verarbeitenden Industrie, vor allem der Textilindustrie sowie des Leichtmaschinenbaus (Werkzeug-/Elektromaschinenbau).

Zweitens hatte die Industriepolitik in der SBZ auf die Reparationslasten zu reagieren, das heißt auf Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion zugunsten der Sowjetunion. Die in ganz Deutschland vorgesehenen, aber in den Westzonen kaum unternommenen Demontagen sollten sich laut Potsdamer Abkommen auf das militärisch nutzbare Industriepotenzial beschränken, das auf Vorkriegsniveau zu reduzieren war. Tatsächlich aber hatten in den letzten Kriegsjahren alle Industriezweige kriegswichtige Güter produziert, sodass es durch die Demontagen in der SBZ zu einer »industriellen Abrüstung« in fast allen Branchen kam.

Welche Betriebe in welchem Ausmaß demontiert werden, war lange ungeklärt. Deshalb konnten die Ostdeutschen nur versuchen, auf die sowjetischen Kommandanten dahingehend einzuwirken, dass sie arbeitsfähige Restkapazitäten übrig ließen, von denen aus eine Wiederbelebung der betrieblichen Produktion erfolgen konnte.

Im Frühjahr 1948 fanden die letzten größeren Demontagen statt. Insgesamt fielen den Demontagen 30 Prozent der Industriekapazität der Ostzone zum Opfer. Zum Vergleich: In den Westzonen waren es etwa 3 Prozent.

In der SBZ/DDR liefen die Reparationen bis August 1953 teilweise in Form von »Entnahmen aus der laufenden Produktion« weiter, vor allem als Lieferungen derjenigen ostdeutschen Unternehmen, die 1946 (bis Ende 1953) als SAG-Betriebe sowjetisches Eigentum waren. Ihr Produktionsumfang entsprach in den ersten acht Nachkriegsjahren 22 Prozent des ostdeutschen Bruttosozialprodukts. Der Gesamtumfang der Reparationenleistungen der SBZ/DDR wird von Wirtschaftshistorikern mit 54 Mrd. RM/DM zu laufenden Preisen angegeben.

Widrige Umstände für die Entwicklung der ostdeutschen Industrie entstanden drittens ab 1948 im Ergebnis des beginnenden Kalten Krieges zwischen USA und UdSSR. Über den Marshallplan wurde Westeuropa wirtschaftlich an die USA angebunden. Der Handel der Marshallplan-Länder, zu denen auch die Besatzungszonen der Westalliierten gehörten, mit dem »kommunistischen Osteuropa« wurde auf amerikanisches Betreiben weitgehend abgewürgt. Auf der Grundlage des »US-Export Control Act« wurde im November 1949 mit CoCom (»Coordinating Committee on Multilateral Export Controls«) in Paris eine Institution geschaffen, die auf der Grundlage einer von ihr verfassten »Negativliste« entschied, welche Güter die Marshallplan-Länder nicht in den Osten exportieren durften. Sie gliederten sich in die Klassen I (Total­embargo), II (quantitative Ausfuhrbeschränkungen) und III (ständige Handelsüberwachung von Gütern, die bei verschärften Spannungen in I und II überführt werden konnten). Das über 40 Jahre währende Embargo wurde zu einem der größten Hemmnisse der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR und den anderen Ostblockstaaten, denn sie wurden damit vom industriell-technischen Fortschritt in der Welt abgeschnitten.

Ein großes Problem für die ostdeutsche Nachkriegswirtschaft war: Die verarbeitende Industrie des mitteldeutschen Raumes war von der Zufuhr von Rohstoffen und Vormaterialien aus den anderen Teilen Deutschlands abhängig. Was die ostdeutsche Industrie an Steinkohle und Eisenerz, an Walzwerk-Erzeugnissen, Blechen, an Schmiede- und Pressstücken benötigte, hatte sie bis dahin nur zu einem Bruchteil des Bedarfs selbst produziert.

Mit dem Einsetzen der Blockaden und Gegenblockaden 1948 und der Kleinhaltung des Warenaustauschs zwischen den traditionellen Herstellergebieten im sogenannten Interzonenhandel entstanden in der SBZ/DDR ökonomische Disproportionen, die das Funktionieren der gesamten ostdeutschen Industrie stark behinderten. Die durch das Embargo entstehenden Lieferlücken konnten nur in einigen Bereichen durch rasche Erhöhung der eigenen Produktion und durch Importe aus der Sowjet­union und Polen ausgeglichen werden. Deshalb wurde der Auf- und Ausbau von Betrieben der Schwerindustrie, etwa der Bau des Eisenhüttenkombinats Ost, zum vorrangigen Ziel der Industriepolitik der DDR. Mit großem Investitionsaufwand und nur mit hohen Herstellungskosten gelang es, den einzigen in Ostdeutschland reichlich vorhandenen Rohstoff Braunkohle für die Koksgewinnung zu nutzen. In Calbe an der Elbe wurde bis Mitte 1953 ein Werk gebaut, in dem auf der Grundlage eines eigens dafür entwickelten Verfahrens aus Braunkohle hüttenfähiger Koks erzeugt wurde. Und in der Lausitz wurde 1955 das Braunkohleverarbeitungswerk Schwarze Pumpe eingeweiht, das die Elektro- und Gasenergie herstellte, die für den industriellen Aufbau der DDR benötigt wurde.

Zum Mangel an Rohstoffen gesellte sich seit Mitte der 1950er Jahre der Mangel an Arbeitskräften. Der resultierte daraus, dass zwischen 1951 und 1961 pro Jahr zwischen 100 000 und 350 000 Personen aus der DDR in die Bundesrepublik »abhauten«. Der Anteil durch die zuständigen Bundesbehörden anerkannter politischer Flüchtlinge lag in diesem Zeitraum bei durchschnittlich 14,2 Prozent. Die besten Chancen für den erhofften Aufstieg in der Bundesrepublik hatten gut ausgebildete DDR-Bürger. Der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser hat die Bedeutung dieser Einwanderung für das westdeutsche »Wirtschaftswunder« hervorgehoben. »Der Ost-West-Transfer von Humankapital in Höhe von jährlich 2,6 Mrd. DM – im Durchschnitt von zwölf Jahren – übertraf das Ausmaß der Marshallplanhilfe für die Bundesrepublik bei Weitem.« Die Staatliche Plankommission bezifferte Ende 1962 den durch die Abwanderung von Arbeitskräften für die DDR entstandenen Verlust in Form von Produktionsausfällen auf rund 120 Mrd. Mark. Daraus ist ersichtlich: Die Entscheidung der DDR-Regierung, ihre Westgrenze zur Bundesrepublik zu schließen, war vor allem ökonomisch begründet.

Der Mangel an Rohstoffen, verursacht durch die Embargomaßnahmen, blieb bis 1957 chronisch. Dann entschloss sich Chruschtschow, den »Frontstaat« DDR wirtschaftlich zu stärken, und versprach, den Rohstoffbedarf der DDR-Industrie kontinuierlich zu sichern. Chruschtschow hatte die Absicht, die Überlegenheit des sozialistischen Systems unter Bedingungen der friedlichen Koexistenz im wirtschaftlichen Wettbewerb zu beweisen. In diesem Wettbewerb kam seiner Meinung nach dem hochentwickelten Industrieland DDR eine besondere Rolle zu. Ab 1958 lieferte die UdSSR jährlich circa 3,3 Mio. Tonnen Walzstahl, ausreichend Buntmetalle, 120 000 Tonnen Baumwolle, Holz und Getreide. »Eigentlich erst mit dieser Entscheidung«, schätzte später der Stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Siegfried Wenzel ein, »wurde die DDR-Entwicklung planbar.«

Wie aber war diese »wirkliche«, das heißt stärker auf Auswahlmöglichkeiten beruhende Planung in der DDR organisiert, und wer bestimmte die Planziele?

Der Aufbau des DDR-Planungssystems

Für die Durchführung einer planmäßigen Industriepolitik wurde in der DDR eine Institutionenordnung geschaffen, die – von der Reformperiode 1964–1968 einmal abgesehen – streng hierarchisch organisiert war. Sie bestand aus zwei an ihrer Spitze personell verflochtenen Säulen: dem SED-Parteiapparat auf der einen und der staatlichen Verwaltung auf der anderen Seite. Innerhalb der SED berieten und entschieden das Politbüro des Zentralkomitees (ZK) beziehungsweise die Sekretariate des ZK alle grundlegenden wirtschaftlichen Fragen. Die Schlüsselposition nahmen dabei der Parteivorsitzende, der Erste Sekretär oder Generalsekretär des ZK der SED sowie das für Wirtschaftsfragen verantwortliche Mitglied des Zentralsekretariats der SED ein. Höhere Wirtschaftsfunktionäre, darunter auch die Kombinatsdirektoren, hatten einen halb- beziehungsweise einjährigen Kurs an der Parteihochschule der SED zu absolvieren, wo sie über die »Lehre der marxistisch-leninistischen Partei« und deren Funktionsweise ebenso unterrichtet wurden wie über die ZK-Vorgaben in »Politischer Ökonomie des Sozialismus« und in »Ökonomik der Industrie«.

Unter den Institutionen der Wirtschaftsverwaltung kam der Staatlichen Plankommission eine herausragende Rolle zu. Sie erarbeitete die Volkswirtschaftspläne und stellte dabei die Lieferverflechtungen zwischen den verschiedenen Industriebereichen her. Auf diese Weise sollte ein rasches, aufeinander abgestimmtes Wachstum der Volkswirtschafts- beziehungsweise Industriezweige erreicht werden, im Entwicklungstempo gestaffelt nach dem optimalen Beitrag der einzelnen Zweige zur Entwicklung der Gesamtwirtschaft. Hauptinstrument der Staatlichen Plankommission zur Lenkung der Industrie war der auf dem jeweiligen Fünf- beziehungsweise Siebenjahrplan beruhende Jahresvolkswirtschaftsplan, der den Kombinaten und Betrieben oftmals bis ins Detail verbindliche Vorgaben auferlegte.

Die Leitung der verschiedenen Sektoren der Industrie oblag Branchenministerien, deren Zahl von 1950 bis 1958 von vier auf sieben anwuchs. Zwischen 1958 und 1965 fungierten sie als Industrieabteilungen des Volkswirtschaftsrats. Mit dessen Auflösung Ende 1965 entstanden aufs Neue Branchenministerien: ein Ministerium für Chemische Industrie, eines für Elektrotechnik und Elek­tronik, ein weiteres für Erzbergbau, Metallurgie und Kali und ein Ministerium für Kohle und Energie. Weiterhin gab es ein Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau, eines für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau sowie eines für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau. Darüber hinaus eines für Glas- und keramische Industrie und eines für Leichtindustrie.

Die Festlegung aller strukturpolitischen Ausrichtungen erfolgte durch den Ministerrat und sein Präsidium. Die wichtigsten Mitglieder des Präsidiums des Ministerrats gehörten zugleich den Spitzengremien der SED an: Bruno Leuschner, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, war während seiner Amtszeit (1952–1961) gleichzeitig Mitglied des ZK der SED. Gleiches traf auch auf den Chef der Staatlichen Plankommission von 1965–1989, Gerhard Schürer, zu, der ab 1963 ZK-Mitglied war. Schürer hat später darüber berichtet, wie unter seiner Leitung innerhalb eines Kreises ausgewählter Mitarbeiter relativ offen über Probleme gesprochen wurde. Diskutiert wurde auch darüber, welche Industriezweige vorrangig entwickelt werden sollten.

Bevor neue Ideen realisiert werden konnten, musste die Parteiführung ihre Zustimmung erteilt haben. Im Verlaufe der DDR-Geschichte nahm die Rolle der Parteiführung bei industriepolitischen Entscheidungen wohl eher zu als ab. Schürer schrieb dazu: »Immer mehr waren wir ein Organ, das dem Politbüro zuarbeitete … Bevor Regierungsvorlagen behandelt wurden, lagen sie auf dem Tisch des Parteiapparates … Ich konnte in die Regierung gar nichts reinbringen, was nicht zugleich wieder abgestimmt war mit dem Parteiapparat.« Diese doppelte Führungsstruktur – staatliche Leitung und Leitung über die Partei – hatte zweifellos auch ihre Vorteile, half die Gefahr einseitiger Entscheidungen zu verringern. Wenn sich Schürer rückblickend darüber kritisch äußerte, liegt das wohl daran, dass die Meinung der Partei oft schwerer wog als die Argumente der »staatlichen Leiter«.

Siegfried Wenzel, 1955–1989 Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission, als deren Stellvertretender Vorsitzender langjährig zuständig für volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Plankoordinierung, sprach diesbezüglich von einem »›genetischen Fehler‹ des sozialistischen Gesellschaftssystems, dass es das Postulat der führenden Rolle der Partei gegeben hat, den Weisheits- und Wahrheitsanspruch einer Partei, ein Monopol«. »Jede Sachkritik«, erläutert dazu der DDR-Forscher Hans-Hermann Hertle, »verwandelte sich unter diesen Bedingungen in Personenkritik und drohte als Aufkündigung der ideologischen Loyalität auf den Kritiker zurückzufallen. Denn bereits Korrekturen der Politik kommen in diesen Systemen einem Eingeständnis vorhergehender Fehlentscheidungen gleich; das Eindämmen von Fehlern wiederum dementierte den Wahrheitsanspruch und das Unfehlbarkeitsdogma der SED.«

Parallel zur Planung nach Sektoren vollzog sich in der DDR die Planung nach Regionen. Die Ausarbeitung der regionalen Pläne oblag den »örtlichen Staatsorganen«, vor allem den Bezirks- und Kreisplankommissionen, die diese wiederum mit den Bezirks- und Kreissekretären der SED abzustimmen hatten.

Etappen der Industriepolitik

Der zehn Jahre lang zwangsläufig verfolgte Kurs, die extensive Erweiterung derjenigen Industriezweige zu betreiben, die im Sinne volkswirtschaftlicher Proportionalität unzureichend entwickelt waren, wurde 1958 durch die Einführung von Rekonstruktionsplänen modifiziert. Die Betriebe wurden im Rahmen des 1959 beginnenden Siebenjahrplans dazu aufgefordert, Rationalisierungsprojekte zu entwickeln, um die Produktion zu spezialisieren und zu konzentrieren. Das sollte helfen, die Produktionspalette des einzelnen Betriebes zu verschlanken. Die Produktionspalette war nach dem Krieg unter dem Motto: »Wo noch Kapazität vorhanden, da wird das volkswirtschaftlich benötigte Produkt hergestellt«, entwickelt worden, weniger nach den Grundsätzen der rationellen Fertigung. Damit sollte nun Schluss sein. In der Tat gelang es, schätzt der Wirtschaftshistoriker André Steiner ein, »Anfang der 60er Jahre in der Industrie das vor dem Kriege schon einmal erreichte Niveau der Fertigungsorganisation wiederherzustellen«.

Über Rekonstruktion und Rationalisierung bereits vorhandener Industriezweige hinaus reichte das Ende 1958 von der SED-Führung verabschiedete Chemieprogramm. Die Entwicklung der Erdölchemie war die Antwort auf einen weltweiten Entwicklungstrend und versprach Kostenvorteile gegenüber der traditionellen Kohlechemie. Auf der Grundlage des 1963 beschlossenen »Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖS) wurde die 1959 eingeleitete Modernisierung der Industrie im Bereich der Wirtschaftsorganisation fortgesetzt. Durch Reformen gewonnene Mittel sollten dazu benutzt werden, in Wissenschaft und Technik zu investieren, um »wissenschaftlich-technischen Höchststand« zu erreichen und »Spitzenprodukte« zu erzeugen. Auf organisatorischem Gebiet sollte diese Entwicklung durch eine einheitliche ökonomische Leitung zusammenhängender Betriebskomplexe in ihren arbeitsteiligen Verflechtungen, vor allem auch durch die Eingliederung von bis dahin selbständig agierenden Indus­triezweig-Forschungsinstituten erreicht werden. Zu diesem Zweck kam es zwischen 1968 und 1970 im Rahmen der Wirtschaftsreform zur Bildung von 48 Kombinaten.

Das im Auftrag von Walter Ulbricht vom Wirtschaftssekretär des ZK der SED, Günter Mittag, mit Nachdruck verfolgte Reformkonzept zielte zunehmend auf die forcierte Entwicklung ausgewählter »Fortschrittszweige« wie (Mikro-)Elektronik, Elektrotechnik und Gerätebau, die als Träger moderner Technologie galten. Von diesen Branchen aus sollte sich dann das in den besonders geförderten Zweigen zuerst erreichte »Weltniveau« in alle Industriebereiche ausbreiten.

Doch dieses neue strukturpolitische Programm zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik stieß Ende der 1960er Jahre an die Grenze der ökonomischen Ressourcen der DDR. Während die ausgewählten Branchen rasch modernisiert wurden, führte das Programm zur Vernachlässigung von Investitionen in »Nichtschwerpunktzweigen« wie Automobilindustrie, Konsumgüterindustrie, Energiewirtschaft oder Wohnungsbau. Unzureichende Zulieferungen hatten Mängel bei der Versorgung der Bevölkerung zur Folge.

Walter Ulbricht wurde 1970/71 von einer Mehrheit in der Parteiführung zum Sündenbock erklärt und aus dem Amt gedrängt. Sein Stellvertreter Erich Honecker ersetzte ihn 1971 als Erster Sekretär des ZK der SED. Auf Honeckers Betreiben wurde die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsstrategie der DDR bald als »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« bezeichnet. Nicht mehr die Umsetzung der wissenschaftlich-technischen Revolution galt nunmehr als »Hauptaufgabe«, sondern die Bedürfnisse der Menschen sollten im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen. Die Investitionsmittel wurden speziell für den Wohnungsbau erhöht, der zum »Herzstück« der neuen Sozialstrategie avancierte. Dementsprechend erhöhten sich die Investitionen im Wohnungsbau von 13 Mrd. Mark 1970 auf über 20 Mrd. Mark in den 1980er Jahren. Erhöht wurden auch Sozialleistungen wie Unterstützungen für Alleinstehende, Mietbeihilfe, Pflegegeld, Beihilfen für Tuberkulose- und Krebskranke; über sechzigjährige Beschäftigte erhielten fünf zusätzliche Urlaubstage; Preise für öffentliche Dienstleistungen wie Eisenbahn-Fahrpreise für Lehrlinge, Oberschüler und Studenten wurden um bis zu 50 Prozent gesenkt, Konsumgüter wie Kinderbekleidung subventioniert. Im Gegenzug wurden Investitionen für die »Fortschrittszweige« Elektrotechnik, Elektronik und den wissenschaftlichen Gerätebau drastisch gekürzt.

Mitte der 1970er Jahre gelang es besorgten Wirtschaftsfunktionären, die davor warnten, über die Investitionen in die Konsumgüterzweige den in der westlichen Welt rasch voranschreitenden wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu ignorieren, sich bei Honecker Gehör zu verschaffen. Im Juni 1977 wurde auf Betreiben von Günter Mittag, seit 1976 (erneut) Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED, ein »Mikroelektronikplenum« abgehalten. In die Kombinate Carl Zeiss Jena und RobotronDresden, in die Förderung der Mikroelektronik generell, flossen von nun an Investitionsmittel, auch Devisen, in Höhe von geschätzt 14 Mrd. Mark und 4 Mrd. DM, das heißt in Größenordnungen, von denen man in anderen Industriezweigen nur träumen konnte. Aufgewendet wurden weit mehr Mittel als zunächst geplant, da das von CoCom wieder strenger gehandhabte Embargo der DDR den Ankauf von Lizenzen von Siemens oder Toshiba verbot. Die USA beabsichtigten auf diese Weise, das Auf- und Einholen des Westens durch den Osten auf technologischem und ökonomischem Gebiet zu verhindern. Das hatte unter anderem Fritz Schenk in seinem erstmals 1969 erschienenen Buch Das rote Wirtschaftswunder vorausgesagt.

Dafür, dass Honecker Günter Mittag in Ökonomie und Technik freie Hand ließ, verhielt sich dieser loyal und stellte Honeckers »Hauptaufgabe« nicht in Frage. Die 1978 bis 1980 von Mittag durchgesetzte »umfassende Kombinatsbildung«, in deren Ergebnis die Industriebetriebe in der DDR 167 zentralgeleiteten und 90 bezirksgeleiteten Kombinaten zugeordnet wurden, bedeutete keine Wiederbelebung der Wirtschaftsreform, sondern eine Stärkung des Zugriffs der Zentrale, teilweise ohne Berücksichtigung der ökonomischen Voraussetzungen, über die in den 1980er Jahren unter anderem die Planauflage durchgesetzt wurde, nach der jedes Kombinat verpflichtet war, im Umfang von mindestens 5 Prozent der Gesamtproduktion Konsumgüter für den Bedarf der Bevölkerung herzustellen.

Die Konsequenzen der vielfachen Nichtbeachtung der ökonomischen Binsenwahrheit, dass nur verbraucht werden könne, was auch erarbeitet wurde, waren absehbar. Infolge nachlassender Exporteinkünfte war es der DDR ab 1981 nicht mehr möglich, Investitions- und Konsumvorhaben weiterhin auch über ausländische Kredite zu finanzieren. Durch ein, wie es US-amerikanische Finanzexperten einschätzten, »geschicktes Schuldenmanagement«, zu dem auch die beiden Straußschen Milliardenkredite beitrugen, gelang es der DDR jedoch in der internationalen Verschuldungskrise Anfang der 1980er Jahre solvent zu bleiben.

Die Partei- und Staatsführung war sich jedoch im Klaren darüber, dass mit der Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit das Schuldenproblem für die DDR keineswegs gelöst war. Die Idee zum wirksamen Abbau der finanziellen Verbindlichkeiten kam 1981 vom »Büro Mittag« und hieß »Heizölablösung«. In der DDR war bis dahin das über die Leitung »Freundschaft« aus der ­UdSSR bezogene Erdöl in den petrolchemischen Werken in Schwedt und Leuna überwiegend zu Heizöl verarbeitet worden. Nunmehr wurden Anlagen geschaffen, um das Erdöl »tiefer zu spalten«. Diese »hellen« Produkte würde die DDR – anders als die Erzeugnisse ihres Maschinenbaus –, bedingt durch deren Qualität und den hohen Preis, den Erdölerzeugnisse damals erzielten, auf dem Weltmarkt mit beträchtlichem Gewinn verkaufen können. Das »Derivategeschäft«, kombiniert mit einem allen anderen Wirtschaftszweigen diktierten Ersatz von Importen zugunsten von Eigenentwicklungen, gestaltete das Außenhandelssaldo der DDR gegenüber dem NSW nach mehr als einem Jahrzehnt wieder positiv. Die Auslandsverschuldung der DDR ging bis 1985 um über ein Drittel zurück.

Die Kosten der Entschuldung wurden an anderer Stelle sichtbar: Das Heizöl musste durch Braunkohleprodukte ersetzt werden. Allein die Umrüstung der Energieerzeugung führte zu Investitionsumverteilungen von 15 Mrd. Mark. Die in die Petrolchemie und andere Exportzweige investierten Mittel wurden der übrigen Wirtschaft entzogen. Dort konnten Modernisierungs- und Ersatzinvestitionen kaum noch getätigt werden. Der Kapitalstock der DDR begann zu verfallen.

Mitte der 1980er Jahre trafen die DDR-Wirtschaft zwei schwere Schläge: Die Erdölpreise stürzten weltweit ab, und selbst Günter Mittag musste zugeben, dass die DDR, auf sich allein gestellt, den Rückstand in der Mikroelektronik nicht würde aufholen können. Nach dem Wegfall beider zeitweise erfolgreicher Gegenstrategien konnten keine neuen tragfähigen Entschuldungskonzepte mehr entwickelt werden. Was der DDR blieb, war der »Westexport um jeden Preis«. Die Ausfuhr gegebenenfalls auch zu Niedrigpreisen und entsprechend geringeren Erlösen ging auf Kosten der nicht exportierenden Industrien und der Infrastruktur. Einigen dieser Industriezweige mussten selbst die Ersatzinvestitionen verweigert werden.

Angesichts der Überalterung vieler Anlagen war eine Verringerung der wirtschaftlichen Zuwachsraten unvermeidlich. Die Industrieerzeugung (Bruttowertschöpfung), die sich in den 1970er Jahren noch jährlich um 3,9 Prozent und in der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch um 3,5 Prozent erhöht hatte, erreichte 1985–1989 gerade einmal eine Zuwachsrate von 2,1 Prozent. Im internationalen Vergleich gesehen, war der Rückgang der Wachstumsrate der DDR-Industrie nicht dramatisch. Die Bundesrepu­blik, deren Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in einer Rezessionsphase – der dritten in ihrer Geschichte – gerade einmal ein jährliches Indus­triewachstum von 1,0 Prozent erreicht hatte, verzeichnete 1985–1989 eine industrielle Zuwachsrate von 2,1 Prozent. Man sprach dort von einer »Aufschwungphase«. Für die DDR-Industrie wird das rückblickend niemand behaupten wollen, obwohl entsprechend den hier zitierten Berechnungen des Kölner Instituts für Historische Sozialforschung die quantitativen Zuwachsraten im Bereich der Industrie beider Länder identisch waren. Wohl aber widerspricht der Wachstumsvergleich der weit verbreiteten These, die DDR sei Ende der 1980er Jahre wirtschaftlich gescheitert.

Im November 1989, nach Honeckers Sturz, versprach der neugewählte Ministerpräsident Hans Modrow in seiner Regierungserklärung, durch Reformmaßnahmen einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen. Neben eigenen Anstrengungen forderte er dafür von Bonn Finanzmittel als nachträgliche Beteiligung der BRD an von der DDR an die Sowjetunion für Deutschland insgesamt geleisteten Reparationen ein. Die verweigerte die Bundesregierung. Ein »Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform in der DDR«, verfasst unter Leitung der Wirtschaftsministerin Christa Luft, wurde Anfang Fe­bruar 1990 vorgelegt, konnte aber nach der Abwahl der Regierung Modrow im März 1990 nicht mehr wirksam werden. Die nachfolgende Regierung von Lothar de Maizière verzichtete ab 1. Juli 1990 auf die Souveränität der DDR im Bereich der Ökonomie.

Eckhard Netzmann

Die Grundlagen der Energieversorgung

Die Energieversorgung I

In eine Lehrerfamilie 1938 hineingeboren, absolviert Eckhard Netzmann mit vierzehn eine Lehre als Werkzeugschlosser. Im Alter von zwanzig Jahren erlangt er den Ingenieursabschluss auf dem Gebiet der Umformtechnik. Nach dem Studium arbeitet er zwanzig Jahre im VEB Schwermaschinenkombinat »Ernst Thälmann« (SKET) in Magdeburg. Dort schließt er 1966 sein Fernstudium an der Technischen Universität Dresden als Diplom-Ingenieur ab. Seine Laufbahn im SKET gliedert sich in vier Hauptetappen: Er beginnt als Technologe, arbeitet dann als Chef des Walzwerkbaus, später als Werkdirektor im Zementanlagenbau Dessau und schließlich bis 1979 in der Position des Generaldirektors.

Darauf folgen vier Jahre als Stellvertretender Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau – sie enden 1983 »misslich« mit der fristlosen Entlassung. Nach einem Tag Arbeitslosigkeit geht er zum VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau in Berlin. Hier ist Eckhard Netzmann zunächst Mitarbeiter für Planung und Bilanzierung (zuständig für Feuerungsroste und Mannlochklappen), dann Leiter des Dampferzeuger- und Feuerungsanlagenbaubetriebes. Unter Manfred Dahms wird er Stellvertretender Generaldirektor und erhält 1987 den Auftrag, als Sonderbevollmächtigter das letzte Kraftwerk der DDR »Block V« in Greifswald ans Netz zu nehmen.

Nach der Wende wird der Engineering-Bereich des Kombinats in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die Eckhard Netzmann als Vorstandsvorsitzender leitet. Zwei erfolglose Privatisierungen veranlassen ihn zu gehen. Von 1999 bis 2006 arbeitet Eckhard Netzmann in Personalunion als Vorstandsvorsitzender der Riesaer Beteiligungs AG und als Geschäftsführer von sechs der AG unterstellten GmbHs. Seit 2007 ist er als selbständiger Unternehmensberater tätig.

Energie ist Macht

Im Herbst 2015 schrieb Helmut Schmidt, es müsse ein Prozess der Einheit, der weiteren Annäherung stattfinden. Es ist – und bleibt – ein zäher Prozess, weil ich feststelle, dass auch 25 Jahre nach der sogenannten Vereinigung unabdingbare Fakten, die man in Ost und West wissen sollte, nicht bewusst sind oder nicht akzeptiert werden. Ich will zwei Beispiele nennen. Vielleicht die Hälfte derer, die hier im Saal sitzen, waren unlängst Zeugen eines Ost-West-Wirtschaftsforums, das Rohnstock Biografien und der Verein Lebenserinnerungen im September 2015 veranstalteten. Wenn der West-Manager Heinz Dürr dort ernsthaft glauben macht, die Züge der Deutschen Reichsbahn seien mit 15 Kilometer pro Stunde durch die Gegend gezuckelt, dann können wir nur mit dem Kopf schütteln. Und wenn der von mir hochgeschätzte Ex-Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer öffentlich bezweifeln darf, ob es in der DDR ordentliche Kalkulationen gab, dann darf ich erwidern: Wir arbeiteten im Turbinenbau Görlitz mit Kostenstellen-, Kostenarten- und Kostenträgerrechnungen und ohne Zweifel auch mit Nachkalkulationen. Abgesehen davon, dass das Geld in der DDR eine völlig andere Rolle spielte als in der BRD, hatten wir in unseren Betrieben eine exakte Buchhaltung und eine detaillierte Kostenzuordnung.

Leider ist die Meinungsbildung über beide Gesellschaftssysteme abgeschlossen und zuungunsten historischer Tatsachen verfestigt. Das gilt für Ost und West gleichermaßen. Deshalb dürfen wir uns heute nicht auf vermeintlich historisch verbürgte Mutmaßungen verlassen, sondern müssen Zahlen, Fakten und Zusammenhänge zusammentragen.

Ich freue mich, unter den Anwesenden Zeitzeugen auszumachen, die sich Jahrzehnte unter schweren Bedingungen konstruktiv für eine stabile Strom- und Wärmeversorgung in der DDR eingesetzt haben. Energie ist heute das zentrale Thema. Ohne Energie, ohne Wärme, ohne Strom kann niemand arbeiten. Energie ist Macht!

Die Ausgangslage

Nach dem Zweiten Weltkrieg war sowohl im Osten wie im Westen ein Großteil der energetischen Basis der Wirtschaft zerstört. Die wenigen erhaltenen Anlagen waren verschlissen. Dabei verfügte Ostdeutschland von vornherein über ein geringeres wirtschaftliches Potenzial. Hinzu kommen die vergleichsweise hohen Reparationsleistungen in der SBZ: Etwa 40 Prozent der industriellen Ausrüstungen – das Transportwesen eingeschlossen – wurden demontiert. Durch die Teilung wurde der Osten vom flächendeckenden Gas- und Stromnetz des vormaligen Deutschen Reiches abgekoppelt. Steinkohlevorkommen waren marginal, Gasförderung und Wasserkraft quantitativ kaum nennenswert. Der einzig relevante Energieträger, der den Osten Deutschlands versorgen konnte, war die Braunkohle.

Der Westen verfügte hingegen über zahlreiche Steinkohlevorkommen (vor allem im Ruhrgebiet) sowie über Braunkohlereserven mit Flözstärken von bis zu 300 Metern. (Im Osten waren es im Schnitt 30 Meter!) Zusätzliche Steinkohle- und Ölimporte verhalfen dem Westen in Verbindung mit dem Marshallplan zu wesentlich besseren Startbedingungen für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung – einschließlich einer sicheren Strom- und Wärmeversorgung. Um die Energieversorgung sicherzustellen, sahen sich die Verantwortlichen in der SBZ und frühen DDR gezwungen, 30 bis 45 Prozent aller Indus­trieinvestitionen in die Energiewirtschaft zu stecken – das Drei- bis Vierfache vergleichbarer Investitionen im Westen Deutschlands.

Obwohl diese Ausgangsbedingungen weitestgehend in Vergessenheit geraten sind, dominierten sie die gesamte Investitionsstrategie der DDR bis 1989. Partei- und Staatsführung mussten permanent Beschlüsse fassen, um Finanz- und Material-Ressourcen zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund wird einmal mehr deutlich, wie oberflächlich die Behauptung ist, die DDR sei eine Miss- und/oder Zwangswirtschaft gewesen. Natürlich gab es notwendige Prämissen: Deren wichtigste bestand in der Erzeugung von ausreichend Wärme und Energie – eine Prämisse die, wie wir gesehen haben und sehen werden, unter denkbar ungünstigen Vorzeichen stand.

Die Braunkohle

In keinem Land Europas war die energiepolitische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg so angespannt wie in der DDR. Der mittlere Teil des vormaligen Deutschen Reiches hatte von der Steinkohle aus dem Ruhrgebiet und aus Oberschlesien gelebt. Von diesen Ressourcen war die SBZ/DDR abgeschnitten. Sich im Kalten Krieg auf Lieferungen aus dem Ruhrgebiet zu verlassen, war ein Vabanquespiel. Es blieb uns nichts anderes übrig: Wir mussten auf die heimische Braunkohle zurückgreifen. Und das war teuer, weil sich die seit Jahrzehnten ausgebeuteten, flach gelegenen Braunkohletagebaue im Bezirk Halle erschöpft hatten und neue, tief gelegene Lagerstätten im Bezirk Cottbus, die die Beseitigung gewaltiger Abraummengen notwendig machten, erschlossen werden mussten. Das Verhältnis Abraum-Kohle lag 1956 bei knapp 4:1 und verschlechterte sich bis 1962 auf knapp 6:1.

Die Hauptvorkommen lagen in Mitteldeutschland, dem Bitterfelder Raum und in der Lausitz. Insgesamt betrugen die abbauwürdigen Vorräte circa 24 Mrd. Tonnen – eine überschaubare Größe, aber für die kleine DDR bedeuteten sie eine Absicherung über viele Jahre. Förderten wir 1945 85 Mio. Tonnen, waren es 1970 bereits 260 Mio. Tonnen. Während der 1970er Jahre blieb die Fördermenge aufgrund des Einsatzes von Öl und der beginnenden Nutzung von Kernkraft konstant. Als sich Mitte der 70er Jahre die Ölpreise drastisch erhöhten, wurde das Krisenprogramm Energieträgerumstellung aufgelegt. Selbst kleinere Verbraucherstellen wie Krankenhäuser und Schulen erhielten mit Braunkohle befeuerte Heizwerke, die »kleinteilige Anwendung« entstand.

Da ich ab 1983 in einem Betrieb des Kombinats Kraftwerksanlagenbau, im Dampferzeugerbau, für die Bilanzierung von Feuerungsrosten und Mannlochplatten zuständig war, erlebte ich die Auswirkungen dieser Krise aus unmittelbarer Nähe. Die Energieträgerumstellung kostete unglaubliche Kapazitäten materieller, technischer und finanzieller Art. Erst Mitte der 1980er Jahre war der Prozess abgeschlossen. Im Zuge der Energieträgerumstellung nahm die Braunkohleförderung von 258 Mio. Tonnen (1980) auf 315 Mio. Tonnen im Jahr 1989 zu.

Im Vergleich zur Steinkohle besaß die DDR-Braunkohle nur ein Viertel bis ein Drittel des Heizwertes. Ihr Wassergehalt betrug bisweilen über 50 Prozent. Das machte den Kohletransport im Winter – bei minus 20, 25 Grad Celsius – zu einer technischen und logistischen Herausforderung. Um einen Kubikmeter Kohle zu fördern, mussten im Schnitt sechs Kubikmeter Wasser abgepumpt werden. Die Abraummengen betrugen in den Startjahren das Zweieinhalbfache der abgebauten Kohle. Im Lauf der Jahre verschlechterte sich das Verhältnis zum Teil bis hin zum viereinhalbfachen Abraumvolumen. Unvorstellbar, welche Erdmassen in den Braunkohlekombinaten in Senf­tenberg und Bitterfeld zu bewegen waren, welches technische Know-how, welche Arbeitsleistung diese Form des Bergbaus erforderte.

Bedingt durch die Minderwertigkeit der Kohle fielen jährlich etwa 17 Mio. Tonnen Asche an, die nur zum Teil industriell oder als Baumaterial verwendet wurde. Ein Großteil musste als Abraum verbracht werden.

Für den Prozess der Veredelung spielte zudem der Schwefelgehalt eine Rolle. Er lag zwischen ein Prozent in der Lausitz und bis zu drei Prozent in Bitterfeld. Je niedriger der Anteil, desto geringer war der Aufwand der synthetischen Verarbeitung.