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Unsichtbares Komitee

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Beschreibung

"Jetzt" ist ein Interventionstext. Er hat sich aufgedrängt, da die wesentlichen Vorhersagen des Unsichtbaren Komitees nun eingetreten sind – deutlicher Abscheu vor der Polizei, Ernüchterung angesichts ermüdender Parlamentsdebatten, Blockade als zentrales Mittel, Wiederkehr der Idee der Commune, Widerstand, der von Radikalen auf das Bürgertum überspringt, die Weigerung, sich regieren zu lassen. "Jetzt" ist am Anfang eines Jahres erschienen, in dem es für die Macht darum ging, unter dem Vorwand eines Präsidentschaftswahlkampfes all das wieder in das marode Gerüst der klassischen Politik zurückzupressen, was diese bereits Jetzt übersteigt, sich ihr entzieht, ihrer überdrüssig ist. Die massiven Protestbewegungen in Frankreich des Jahres 2016 sind Zeugnis eines politischen Konflikts, der in seiner Bedeutung dem Mai '68 in nichts nachsteht. "Jetzt" entwirft einen alternativen Weg zur verordneten stickigen Atmosphäre, plädiert für ein anderes Modell als die Wahlen: für die Absetzung der Macht. Für neue Lebensformen und nicht für neue Verfassungen; für Verweigerung und Stille statt lärmender Proklamationen. Es wird keinen Umsturz der bestehenden Ordnung geben ohne das Bekenntnis zu einem wünschenswerten Leben. Die zerstörerische Kraft des revolutionären Prozesses kann nichts ausrichten ohne jene Ladung stiller Positivität, die jeder glücklichen Existenz innewohnt.

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Das UNSICHTBARE KOMITEE ist ein anonymes Kollektiv. Ihr Manifest Der kommende Aufstand (frz. 2007 / dt. 2010) wurde in viele Sprachen übersetzt und löste eine kontroverse internationale Debatte aus, auch wegen seiner Instrumentalisierung durch die französische Regierung als angeblicher Beweis für die Bildung einer terroristischen Vereinigung und der damit begründeten Inhaftierung der »Tarnac Nine«. Im Jahr 2014 erschien An unsere Freunde (dt. 2015).

»›Der kommende Aufstand‹ gilt als eine Art Manifest des militanten Aussteigertums und als Abkehr von bisherigen Proteststrategien. Es ist auch der radikalste und problematischste Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Unbehagens.«

Der Spiegel

UNSICHTBARESKOMITEE

JETZT

AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON BIRGIT ALTHALER

Die Originalausgabe des vorliegenden

Buches erschien unter dem Titel

Maintenant bei La Fabrique éditions, Paris 2017

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2017

Deutsche Erstausgabe Oktober 2017

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

ISBN ePub 978-3-96054-062-5

Inhalt

Morgen ist abgesagt

50 Shades of Spray

Tod der Politik

Lasst uns die Welt absetzen

Ende der Arbeit, wunderbares Leben

Alle hassen die Polizei

Für die Fortsetzung der Welt

Morgen ist abgesagt

Alle Gründe, eine Revolution zu machen, sind gegeben. Keiner fehlt. Das Scheitern der Politik, die Arroganz der Mächtigen, die Herrschaft des Falschen, die Vulgarität der Reichen, die Industriekatastrophen, das galoppierende Elend, die nackte Ausbeutung, der ökologische Untergang – von nichts werden wir verschont, nicht einmal davon, informiert zu sein. »Klima: 2016 heißestes Jahr« lautete eine Schlagzeile der Zeitung Le Monde, der sich mittlerweile fast jedes Jahr wiederholt. Alle Gründe sind gegeben, aber nicht die Gründe machen eine Revolution, sondern die Körper. Und die Körper sitzen vor den Bildschirmen.

Man kann zuschauen, wie ein Präsidentschaftswahlkampf Schiffbruch erleidet. Dass der »wichtigste Moment im politischen Leben Frankreichs« zu einer einzigen Schießbude verkommt, macht die Fernsehserie nur umso spannender. Wer hätte sich ein neues Dschungelcamp mit solchen Figuren, solch schwindelerregenden Wendungen, solch grausamen Prüfungen, solch durchgängiger Demütigung träumen lassen. Das Spektakel der Politik überlebt sich als Spektakel ihres Zerfalls. Die Fassungslosigkeit passt gut in die widerwärtige Landschaft. Der Front national, diese politische Negation der Politik, diese Negation der Politik auf dem Terrain der Politik, steht logischerweise im »Zentrum« dieser Szene aus rauchenden Ruinen. Die Menschheit wohnt verzaubert ihrem Untergang bei wie einem erstklassigen Schauspiel. Sie verfolgt es so gebannt, dass sie nicht spürt, wie ihr das Wasser bereits zu den Fesseln reicht. Am Ende wird sie alles in Schlamm verwandeln. Das Schicksal der Schiffbrüchigen ist es, alles, was sie berühren, in Schlamm zu verwandeln.

Es geht nicht mehr darum, diese Welt zu kommentieren, zu kritisieren, anzuprangern. Wir leben umgeben von Schwaden an Kommentaren und Kommentaren über die Kommentare, Kritiken und Kritiken der Kritiken, Enthüllungen, die nichts bewirken außer Enthüllungen über die Enthüllungen. Dieser Nebel beraubt uns jeden Zugriffs auf die Welt. Es gibt nichts zu kritisieren bei Donald Trump. Das Schlimmste, was man über ihn sagen kann, hat er bereits aufgegriffen, sich einverleibt. Er verkörpert es. Mit allem, was man ihm vorwerfen könnte, brüstet er sich. Er ist seine eigene Karikatur, und stolz darauf. Selbst die Schöpfer von South Park werfen das Handtuch: »Es ist ziemlich kompliziert jetzt, wo die Satire Wirklichkeit geworden ist. Wir haben wirklich versucht, über das zu lachen, was da gerade passiert, aber wir konnten nicht folgen. Was passiert ist, war so viel komischer als alles, was wir uns ausdenken könnten. Daher haben wir beschlossen, die Sache fallen zu lassen, sie ihre Komödie spielen zu lassen, und wir werden unsere eigene machen.« Wir leben in einer Welt, die sich jenseits jeder Rechtfertigung eingerichtet hat. Kritik kann da nichts mehr ausrichten, Satire ebenso wenig. Sie verpuffen. Weiterhin Diskriminierung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit anzuprangern und darauf zu warten, dass dies etwas bringt, ist überholt. Die Linksradikalen, die glauben, man könne noch immer etwas bewirken, wenn man am schlechten Gewissen ansetzt, täuschen sich schwer. Sie können noch so sehr öffentlich ihre Wunden lecken, ihr Klagelied anstimmen und glauben, damit Sympathie zu erheischen, sie werden nur Verachtung ernten und den Wunsch, sie zu vernichten. »Opfer« ist in allen Stadtvierteln der Welt zum Schimpfwort geworden.

Es gibt einen sozialen Gebrauch der Sprache. Niemand glaubt mehr daran. Ihr Kurs ist in den Keller gerasselt. Daher diese inflationäre Blase aus globalem Geschwätz. Alles, was sozial ist, ist verlogen. Das ist mittlerweile allen klar. Es sind nicht mehr nur die Regierenden, die Werbeleute und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die »Kommunikation machen«, jeder Ich-Unternehmer, den diese Gesellschaft aus uns zu machen versucht, praktiziert unaufhaltsam die Kunst der Public Relations. Die Sprache ist zum Kommunikationsmittel geworden und ist nicht mehr selbst wirklich, sondern ein Werkzeug der Einflussnahme auf die Wirklichkeit, um Wirkungen entsprechend unterschiedlich bewusster Strategien zu erzielen. Die Wörter werden nur noch in Umlauf gebracht, um die Sachen zu verdrehen. Alle fahren unter falscher Flagge. Die Anmaßung ist Allgemeingut geworden. Man schreckt vor keinem Paradox zurück. Der Ausnahmezustand ist Synonym für den Rechtsstaat. Man führt Krieg im Namen des Friedens. Die Unternehmer »bieten Stellen an«. Die Überwachungskameras sind »Einrichtungen zur Videosicherheit«. Die Henker beklagen sich, dass sie verfolgt werden. Die Verräter beteuern ihre Aufrichtigkeit und Treue. Die Mittelmäßigen werden überall als Vorbild angeführt. Auf der einen Seite steht die reale Praxis, auf der anderen der Diskurs. Er ist der gnadenlose Kontrapunkt, er ist die Perversion aller Konzepte, die universelle Täuschung seiner selbst und der anderen. Überall geht es nur um Wahrung oder Ausweitung von Interessen. Umgekehrt bevölkern immer mehr Schweigsame die Welt. Manche von ihnen explodieren in einem Akt des Wahnsinns, in immer kürzeren Abständen. Wen erstaunt das noch? Sagt nicht mehr: »Die Jungen glauben an nichts mehr.« Sagt: »Scheiße! Sie schlucken unsere Lügen nicht mehr.« Sagt nicht mehr: »Die Jungen glauben an nichts.« Sagt: »Verdammt! Wenn es so weitergeht, werden sie den Zusammenbruch unserer Welt überleben.«

Der Kurs der Sprache ist in den Keller gerasselt, und trotzdem schreiben wir. Denn es gibt einen anderen Gebrauch der Sprache. Man kann über das Leben sprechen, und man kann vom Leben aus sprechen. Man kann über die Konflikte sprechen, und man kann vom Konflikt aus sprechen. Das ist weder dieselbe Sprache noch derselbe Stil. Es ist auch nicht dieselbe Vorstellung von Wahrheit. Es gibt einen »Mut zur Wahrheit«, der darin besteht, sich hinter der objektiven Neutralität der »Tatsachen« zu verstecken. Es gibt einen anderen, der findet, dass ein Wort, das zu nichts verpflichtet, das nicht für sich zählt, das seine Stellung nicht aufs Spiel setzt und nichts kostet, nicht viel wert ist. Die ganze Kritik des Finanzkapitalismus sieht blass aus angesichts der zertrümmerten Schaufensterscheibe einer Bank, über die sich quer der tag zieht: »Hier habt ihr eure Risikoaufschläge!« Es ist nicht Unwissenheit, wenn die »Jungen« in ihren politischen Slogans eher die Punchlines der Rapper aufgreifen als die Maximen von Philosophen. Und es geschieht aus Anstand, wenn sie nicht das »Wir geben nicht nach!« aufgreifen, das Aktivisten genau dann hinausposaunen, wenn sie auf der ganzen Linie nachgeben. Die einen sprechen nämlich über die Welt, die andern aber von einer Welt aus.

Die tatsächliche Lüge liegt nicht in dem, was man den anderen vormacht, sondern in dem, was man sich selbst vormacht. Erstere ist im Vergleich zu letzterer eher die Ausnahme. Die Lüge ist die Weigerung, gewisse Dinge zu sehen, die man sieht, und sie so zu sehen, wie man sie sieht. Die tatsächliche Lüge sind all die Bildschirme, all die Bilder, all die Erklärungen, die man zwischen sich und der Welt stehen lässt. Es ist die Art, wie wir täglich unsere eigenen Wahrnehmungen mit Füßen treten. Sodass es, solange es nicht um die Wahrheit geht, um nichts geht. Nichts wird es geben. Nichts außer diesem globalen Irrenhaus. Die Wahrheit ist nicht etwas, wonach man greifen müsste, sondern eine nicht ausweichende Beziehung zu dem, was da ist. Ein »Problem« ist sie nur für diejenigen, die bereits im Leben an sich ein Problem sehen. Sie ist nicht etwas, was man kundtut, sondern eine Art, in der Welt zu sein. Sie lässt sich also nicht besitzen, und genauso wenig akkumulieren. Sie findet in bestimmten Situationen und von Augenblick zu Augenblick statt. Wer die Falschheit eines Wesens, das Verhängnisvolle einer Repräsentation oder die Kräfte, die hinter dem Spiel der Bilder wirken, wahrnimmt, entzieht ihnen jede Macht über sich. Die Wahrheit ist volle Präsenz bei sich selbst und der Welt, vitaler Kontakt mit der Wirklichkeit, geschärfte Wahrnehmung der Gegebenheiten der Existenz. In einer Welt, in der alle spielen, sich jeder in Szene setzt, wo man umso mehr kommuniziert, je weniger tatsächlich gesagt wird, löst allein das Wort »Wahrheit« schon Lähmung, Gereiztheit oder Gekicher aus. Was in dieser Zeit an sozialem Verhalten vorhanden ist, hat die Gewohnheit angenommen, sich auf die Krücken der Lüge zu stützen, sodass man ohne sie gar nicht mehr weiterkommt. Es geht nicht darum, die »Wahrheit zu proklamieren«. Jenen die Wahrheit zu predigen, die nicht einmal minimale Dosen davon ertragen würden, bedeutet nur, sich ihrer Rache auszusetzen. Im Folgenden erheben wir keineswegs den Anspruch, »die Wahrheit« auszusprechen, sondern unsere Wahrnehmung der Welt, das, was uns wichtig ist, uns aufrecht und lebendig hält. Es gilt aufzuräumen mit dem gesunden Menschenverstand. Wahrheiten gibt es viele, aber nur eine Lüge, denn sie hat sich überall gegen die geringste Wahrheit verschworen, die an die Oberfläche kommt.

Jahraus, jahrein hält man uns mit Tausenden Bedrohungen wach, die uns umgeben – den Terroristen, den inneren Störenfrieden, den Migranten, dem Faschismus, der Arbeitslosigkeit. So geht vor dem Hintergrund unvollendeter Komplotte und Hunderter abgewehrter Katastrophen der unerschütterliche Trott der kapitalistischen Normalität weiter. Unruhen ist die paradoxe Tugend zuzuschreiben, dass sie uns von der fahlen Ängstlichkeit befreien, die man uns Tag für Tag mittels Patrouillen bewaffneter Soldaten, Breaking News und Regierungsverlautbarungen einzuimpfen versucht. Und das können die Liebhaber dieser Trauerprozessionen namens »Demonstration« nicht hören, all jene, die bei einem guten Glas Rotwein dem bitteren Vergnügen frönen, eine Niederlage nach der anderen einzustecken, all jene, die großmäulig »Sonst knallt es!« herauslassen, bevor sie wieder brav in ihren Bus einsteigen. In den Straßenkämpfen hat der Feind, ob in Zivil oder in Kampfmontur, ein definiertes Gesicht. Er wendet hinreichend bekannte Methoden an. Er hat einen Namen und ein Amt. Im Übrigen ist er »Beamter«, wie er nüchtern erklärt. Auch der Freund hat erkennbare Gesten, Bewegungen und Erscheinungsbilder. Unruhen zeichnen sich durch die Glut der Gegenwärtigkeit bei sich selbst und den anderen, durch ein klares Gefühl der Zusammengehörigkeit aus, das zu erzeugen die Republik nicht in der Lage ist. Organisierte Unruhen sind in der Lage, etwas hervorzubringen, was zu schaffen diese Gesellschaft nicht in der Lage ist: lebendige, irreversible Bindungen. Wer sich bei den Bildern von Gewalt aufhält, verpasst all das, was sich in der Tatsache abspielt, gemeinsam das Risiko einzugehen, zu zerstören, zu sprühen, den Bullen die Stirn zu bieten. Niemand geht unbeschadet aus seinen ersten Unruhen hervor. Es ist diese Positivität der Unruhen, die der Beobachter lieber nicht sehen möchte und die ihn im Grunde wesentlich mehr schreckt als der Schaden, die Angriffe und Gegenangriffe. In Unruhen entstehen und vertiefen sich Freundschaften, zeigt sich die Welt in ihrer aufrichtigen Beschaffenheit, gibt es klare Handlungsmöglichkeiten, greifbare Mittel. Die Situation hat eine Form und man kann darin handeln. Die Risiken sind definiert, im Gegensatz zu all diesen nebulösen »Risiken«, die die Regierungen so gern über unseren Existenzen schweben lassen. Die Unruhen sind wünschenswert wie ein Augenblick der Wahrheit. Die Verwirrung ist einen Moment lang ausgesetzt: Im Gas werden die Dinge seltsam klar und die Wirklichkeit endlich lesbar. Da fällt es schwer, nicht zu sehen, wer wer ist. Elias Canetti schrieb in Bezug auf die Revolte, in deren Verlauf am 15. Juli 1927 in Wien die Arbeiter den Justizpalast in Brand setzten: »Es ist das Nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe. Ich habe seither öfters versucht, mich diesem Tag zu nähern […], ich muss ›mich nähern‹ sagen, denn ihm beizukommen ist sehr schwer […].« Daraus zog er die Inspiration für sein Meisterwerk Masse und Macht. Unruhen bilden durch das, was sie sichtbar machen.

In der englischen Marine gab es diesen alten Trinkspruch: »Confusion to our enemies!«, »Verwirrung unseren Feinden!« Die Verwirrung hat einen strategischen Wert. Sie ist kein Zufall. Sie zerstreut den Willen und verhindert, dass er sich erneut sammelt. Sie strömt den aschenen Geruch der Niederlage aus, bevor noch die Schlacht stattgefunden hat, die vermutlich nie stattfinden wird. So folgte in Frankreich auf jedes Attentat der letzten Zeit eine Verwirrung, die der entsprechende Diskurs der Regierung tunlich verstärkte.

Die Bekenner wie auch diejenigen, die zum Krieg gegen die Bekenner aufrufen, sind alle interessiert an unserer Verwirrung. Während die Ausübenden selbst nur allzu oft die Kinder sind – die Kinder der Verwirrung.

Diese Welt, die so viel quasselt, hat nichts zu sagen: Sie ist ohne jede Affirmation. Vielleicht glaubte sie, sich damit unangreifbar zu machen. Sie hat sich damit aber vor allem jeder konsequenten Affirmation ausgeliefert. Eine Welt, deren Positivität sich über so viel Verwüstung erhebt, verdient, dass das, was darin bejaht wird, zuerst die Form der Plünderung, der Zerstörung, der Unruhen annimmt. Man wird uns der Verzweiflung bezichtigen, mit der Begründung, wir handelten, bauten, attackierten ohne Hoffnung. Die Hoffnung ist eine Krankheit, mit der uns diese Zivilisation immerhin nicht angesteckt hat. Deshalb sind wir noch lange nicht verzweifelt. Niemand hat je aus Hoffnung gehandelt. Die Hoffnung steckt mit der abwartenden Haltung unter einer Decke, mit der Weigerung zu sehen, was ist, mit der Angst, in die Gegenwart einzubrechen, kurzum mit der Angst zu leben. Hoffen heißt, sich von vornherein gegenüber dem, wovon man sich trotz allem etwas erwartet, als machtlos zu erklären. Es heißt, gegenüber dem Prozess zurückzubleiben, um sich an sein Ergebnis nicht halten zu müssen. Es heißt zu wollen, dass die Dinge anders sind, ohne die Mittel dafür zu wollen. Es ist eine Feigheit. Man muss wissen, worauf man etwas hält, und sich daran halten. Auch wenn man sich damit Feinde macht. Auch wenn man sich damit Freunde macht. Sobald wir wissen, was wir wollen, sind wir nicht mehr allein, die Welt bevölkert sich erneut.

Überall Verbündete, Nähe und eine unendliche Stufenfolge möglicher Freundschaften. Für den, der schwebt, ist nichts nah. Die Hoffnung, dieser sehr schwache, aber ständige Drang zum Morgen, der uns tagtäglich vermittelt wird, ist der beste Ordnungshüter.Täglich werden wir über Probleme informiert, zu denen wir nichts beitragen können, für die es morgen aber sicher Lösungen geben wird. Das ganze erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit, das diese gesellschaftliche Organisation, soweit das Auge reicht, in jedem fördert, ist nichts anderes als eine gewaltige Pädagogik des Abwartens. Es ist eine Flucht aus dem Jetzt. Aber noch nie hat es etwas anderes gegeben und wird es etwas anderes geben als das Jetzt. Auch wenn das Einst das Jetzt beeinflussen kann, dann weil das Einst selbst nie etwas anderes war als ein Jetzt. Wie es auch das Morgen sein wird. Die einzige Art, etwas über die Vergangenheit zu verstehen, ist zu verstehen, dass sie ebenfalls ein Jetzt war. Es bedeutet, den leichten Windhauch zu verspüren, in dem die Menschen von gestern lebten. Wenn wir so sehr darauf erpicht sind, dem Jetzt zu entfliehen, dann deshalb, weil es der Ort der Entscheidung ist. Es ist der Ort des »Ich akzeptiere« oder »Ich lehne ab«. Es ist der Ort des »Ich lasse es laufen« oder »Ich halte daran fest«. Es ist der Ort der Geste, die logisch unmittelbar auf die Wahrnehmung folgt. Es ist die Gegenwart, und daher der Ort der Gegenwärtigkeit. Es ist der unaufhörlich weitergeführte Augenblick der Parteinahme. In entfernten Begriffen zu denken ist immer bequemer. »Am Ende« wird sich etwas ändern; »am Ende« werden sich die Menschen verwandelt haben. Bis dahin lasst uns so weitermachen, lasst uns bleiben, was wir sind. Ein Verstand, der in Begriffen von Zukunft denkt, ist unfähig, in der Gegenwart zu handeln. Er sucht nicht die Veränderung: Er vermeidet sie. Das gegenwärtige Desaster ist wie eine ungeheure Ansammlung alles Aufgeschobenen der Vergangenheit, zu dem ständig das Aufgeschobene jedes Tages und jeden Augenblicks hinzukommt. Doch das Leben spielt sich immer jetzt und jetzt und jetzt ab.

Jedem ist deutlich erkennbar, dass diese Zivilisation wie ein Zug ist, der auf einen Abgrund zufährt und beschleunigt. Je mehr er beschleunigt, desto deutlicher sind die hysterischen Jubelrufe der Säufer des Disco-Waggons zu erkennen. Man müsste schon genau hinhören, um die gelähmte Stille der rational Denkenden zu hören, die nichts mehr verstehen, jene der Ängstlichen, die an den Nägeln kauen, und den Klang falscher Heiterkeit in den gelegentlichen Zwischenrufen derer, die abwartend Karten spielen. Innerlich haben viele beschlossen, vom Zug abzuspringen, doch sie halten sich am Trittbrett fest. Sie werden noch von so vielem zurückgehalten. Sie fühlen sich zurückgehalten, weil sie zwar eine Wahl getroffen haben, ihnen aber die Entschlossenheit fehlt. Denn es ist die Entschlossenheit, die in der Gegenwart die Art und die Möglichkeit des Handelns skizziert, um einen Sprung zu tun, der kein Sprung ins Leere ist. Es ist die Entschlossenheit zu desertieren, aus der Reihe zu treten, sich zu organisieren, die Entschlossenheit, sich abzusetzen, und sei es unmerklich, aber auf jeden Fall jetzt.

Die Zeit gehört denen, die nicht lockerlassen.

50 Shades of Spray

»Nichts geht mehr«, sagen die schlechten Spieler. »Die Welt liegt im Argen«, meint zustimmend der Volksmund. Wir sagen eher, dass sich die Welt fragmentiert