An unsere Freunde - Unsichtbares Komitee - E-Book

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Unsichtbares Komitee

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Beschreibung

Die Aufstände sind gekommen - das Unsichtbare Komitee ist zurück, mit einem Bericht über eine Welt in Bewegung und einer Anleitung zur Revolution. Der kommende Aufstand entfachte eine breite und kontroverse internationale Debatte. Seitdem haben die Mitglieder und Freunde des Unsichtbaren Komitees weiter gekämpft, sich organisiert, sind in alle Ecken der Welt gereist - dorthin, wo sie Feuer fing - und haben mit Freunden aus vielen Ländern diskutiert: in Tunesien, Griechenland, der Türkei, Syrien, Quebec, Brasilien, Schweden, Israel, England, in Deutschland usw. An unsere Freunde ist unmittelbar aus dieser Bewegung heraus geschrieben. Die Worte kommen aus dem Herzen der Unruhen und richten sich an jene, die noch stark genug an das Leben glauben, um zu kämpfen. "An unsere Freunde" ist ein Bericht über den Zustand der Welt und der Bewegung, ein wesentlich strategischer und offen parteiischer Text. Sein politischer Ehrgeiz ist maßlos: Er will eine von unserer gesamten Epoche geteilte Verständlichkeit schaffen, trotz der gegenwärtigen äußersten Verwirrung.

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Das Unsichtbare Komitee ist ein anonymes Kollektiv. Ihr Manifest Der kommende Aufstand (frz. 2007 / dt. 2010) wurde in viele Sprachen übersetzt und löste eine kontroverse internationale Debatte aus, auch wegen seiner Instrumentalisierung als angeblicher Beweis für die Bildung einer terroristischen Vereinigung durch die französische Regierung und der damit begründeten Inhaftierung der »Tarnac Nine«.

»›Der kommende Aufstand‹ gilt als eine Art Manifest des militanten Aussteigertums und als Abkehr von bisherigen Proteststrategien. Es ist auch der radikalste und problematischste Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Unbehagens.«

Der Spiegel

»Die Autoren sind ein namenloses Kollektiv, was nicht verhindert hat, dass das Buch glänzend geschrieben ist. Das schmale Werk könnte das wichtigste linke Theoriebuch unserer Zeit werden.« Nils Minkmar, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

»Das Besondere an dem Buch ist dessen glänzender Stil. Der Text kommt ohne das sonstige phraseologische Sperrholz linker Pamphlete aus, die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine ›Ästhetik des Widerstands‹ für das neue Jahrtausend.«

Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung

Die Originalausgabe des vorliegenden Bucheserschien unter dem Titel A nos amisbei La Fabrique éditions, Paris 2014© lundimatin

Edition NautilusSchützenstraße 49 a · D-22761 Hamburgwww.edition-nautilus.deAlle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2015Deutsche Erstausgabe April 2015Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburgwww.majabechert.de1. AuflagePrint ISBN 978-3-89401-818-4E-Book ISBN 978-3-96054-080-9

Inhaltsverzeichnis

Merry crisis and happy new fear

Sie wollen uns zum Regieren zwingen, wir werden uns auf diese Provokation nicht einlassen

Die Macht ist Logistik. Blockieren wir alles!

Fuck off Google

Lass uns verschwinden

Unsere einzige Heimat: die Kindheit

Omnia sunt communia

Today Libya, tomorrow Wall Street

also für Billy, Guccio, Alexis und Jeremy Hammond

Es gibt keine andere Welt.Es gibt nur eine andere Art zu leben.Jacques Mesrine

Die Aufstände sind also gekommen. In so schneller Abfolge, seit 2008, und in so vielen Ländern, dass das ganze Gefüge dieser Welt Stück für Stück auseinanderzubrechen scheint. Wer vor zehn Jahren einen Aufstand vorhersagte, setzte sich dem Hohngelächter der Runde aus; heute machen sich die lächerlich, die die Rückkehr zur Ordnung verkünden. Nichts sei unerschütterlicher, gesicherter, hieß es, als Ben Alis Tunesien, die geschäftige Türkei Erdoğans, das sozialdemokratische Schweden, das Syrien der Baath-Partei, das ruhiggestellte Quebec und das Brasilien der Strände, der bolsa família und der friedensstiftenden Polizeitruppen. Was dann folgte, haben wir gesehen. Die Stabilität ist dahin. Selbst in der Politik denkt man unterdessen zweimal nach, bevor man ein Triple-A-Rating vergibt.

Ein Aufstand kann jederzeit losbrechen, aus welchem Anlass auch immer, in welchem Land auch immer; und irgendwohin führen. Die Machthaber bewegen sich zwischen Abgründen, deren bloßer Schatten sie zu bedrohen scheint. Que se vayan todos! lautete ein Slogan, der zur Volksweisheit geworden ist – zum Basso continuo der Zeit, ein Gemurmel, von Mund zu Mund propagiert, um sich unvermittelt wie ein Beil zu erheben, gerade wenn man es am wenigsten erwartet. Die gewieftesten Politiker haben ihn sogar zu einem Wahlversprechen gemacht. Etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig. Der heillose Abscheu, die reine Negativität, die absolute Verweigerung sind die einzigen erkennbaren politischen Kräfte des Augenblicks.

Die Aufstände sind gekommen, nicht die Revolution. Selten konnte man in den letzten Jahren, in so komprimierter Zeit, so häufig erleben, wie ein offizieller Regierungssitz im Sturm erobert wurde, von Griechenland bis Island. Bald wird es ein elementarer politischer Reflex sein, Plätze mitten in den Stadtzentren zu besetzen, Zelte oder behelfsmäßige Hütten aufzustellen, Barrikaden und Kantinen zu errichten und Versammlungen abzuhalten, so wie man gestern einen Streik ausrief. Offenbar hat die Zeit sogar ihre eigenen Gemeinplätze hervorgebracht – allen voran dieses All Cops are Bastards (ACAB), das eine eigenartige Internationale fortan nach jedem neuen Ausbruch von Revolten auf den bröckelnden Mauern der Städte zurücklässt, ob in Kairo oder Istanbul, Rom, Paris oder Rio.

Doch wie groß auch immer die Unruhen unter dem Himmel sind, die Revolution scheint überall im Stadium des Aufruhrs zu ersticken. Im besten Fall besänftigt ein Regimewechsel einen Moment lang das Bedürfnis, die Welt zu verändern, bevor er sofort wieder in dieselbe Unzufriedenheit mündet. Im schlimmsten Fall dient die Revolution nur jenen als Trittbrett, die sie zwar im Mund führen, aber eigentlich nur abwürgen wollen. Mancherorts, wie in Frankreich, bahnt das Fehlen ausreichend selbstbewusster revolutionärer Kräfte jenen den Weg, die sich darauf spezialisiert haben, Selbstbewusstsein vorzutäuschen und es als Spektakel zu inszenieren: den Faschisten. Die Ohnmacht verbittert.

An diesem Punkt müssen wir Revolutionäre unsere Niederlage eingestehen. Nicht, weil wir die Revolution seit 2008 als Ziel nicht erreicht hätten, sondern weil sich die Revolution als Prozess fortlaufend von uns losgelöst hat. Wenn man scheitert, kann man die ganze Welt dafür verantwortlich machen und sich, gestützt auf tausend Ressentiments, alle möglichen Erklärungen zurechtlegen, selbst wissenschaftliche Erklärungen; oder man kann darüber nachdenken, was in uns selbst dem Feind einen Ansatzpunkt bietet, sodass wir nicht zufällig, sondern häufig scheitern. Vielleicht könnten wir fragen, was zum Beispiel noch links ist an den Revolutionären und sie nicht nur scheitern lässt, sondern einem allgemeinen Hass aussetzt. Ein gewisser Anspruch auf moralische Hegemonie, die sie sich gar nicht leisten können, ist ein Fehler, den sie von der Linken geerbt haben. Ebenso die unhaltbare Anmaßung, die richtige Lebensweise vorschreiben zu wollen – die wirklich fortschrittliche, aufgeklärte, moderne, korrekte, dekonstruierte, einwandfreie. Eine Anmaßung, die Mordgelüste in allen weckt, die sich dadurch unwiderruflich ins Lager der Reaktionären-Konservativen-Obskurantisten-Engstirnigen-Rüpel-Altmodischen gestoßen fühlen. Die leidenschaftliche Rivalität der Revolutionäre mit der Linken befreit sie mitnichten von dieser, sondern hält sie auf deren Terrain zurück. Ziehen wir Leine!

Seit Der kommende Aufstand erschienen ist, haben wir uns dorthin begeben, wo die Epoche in Aufruhr geraten ist. Wir haben gelesen, wir haben gekämpft, wir haben mit Genossen aller Länder und Strömungen diskutiert, sind mit ihnen gegen die unsichtbaren Hindernisse der Epoche gestoßen. Manche von uns sind gestorben, andere waren im Gefängnis. Wir sind hartnäckig geblieben. Wir haben nicht aufgegeben, weder Welten zu errichten, noch die bestehende anzugreifen. Was wir von unseren Reisen mitgebracht haben, ist die Gewissheit, dass wir es nicht mit unsteten, getrennten Revolten zu tun haben, die nichts voneinander wissen und erst miteinander verbunden werden müssten. So wird es von der Echtzeitinformation mit ihrer kalkulierten Wahrnehmungssteuerung in Szene gesetzt. Das ist das Werk des Gegenaufstands, der schon auf dieser untersten Ebene beginnt. Was wir erleben, sind nicht vereinzelte Revolten, sondern eine einzige globale Welle von Aufständen, die unmerklich miteinander kommunizieren. Ein universeller Drang danach zusammenzukommen, der sich nur durch die universelle Trennung erklären lässt. Ein genereller Hass auf die Polizei, der von der klaren Absage an die allgemeine Vereinzelung zeugt, die diese überwacht. Überall verbindet sich dieselbe Unruhe, dieselbe grundlegende Panik, die mit denselben Ausbrüchen von Würde (dignité) – nicht Empörung (indignation) – beantwortet wird. Was seit 2008 in der Welt vor sich geht, ist keine unzusammenhängende Reihe skurriler Ausbrüche in geschlossenen nationalen Räumen. Es ist eine einzige historische Abfolge, die sich, von Griechenland bis Chile, in einer strengen Einheit von Raum und Zeit abspielt. Deren Bedeutung lässt sich nur durch einen deutlich globalen Standpunkt erfassen. Wir können das angewandte Denken dieser Abfolge nicht allein den Thinktanks des Kapitals überlassen.

Jeder Aufstand, so örtlich begrenzt er sein mag, weist über sich selbst hinaus und erhält eine unmittelbar globale Dimension. In ihm erheben wir uns gemeinsam auf die Höhe der Zeit, der Epoche. Die Epoche ist aber auch das, was wir tief in uns selbst finden, wenn wir uns darauf einlassen, tief einzutauchen in das, was wir leben, sehen, fühlen, wahrnehmen. Darin liegen eine Methode der Erkenntnis und ein Gesetz des Handelns; darin liegt auch die Erklärung für den verborgenen Zusammenhang zwischen der reinen politischen Intensität des Straßenkampfs und der unverstellten Selbstpräsenz des Solitärs. Die Epoche muss im Innersten jeder Situation und im Innersten jedes Einzelnen gesucht werden. Dort finden »wir« uns wieder, dort, wo sich die wahren Freunde aufhalten, in alle Himmelsrichtungen verstreut, aber auf dem gleichen Weg.

Die Verschwörungstheoretiker sind mindestens darin konterrevolutionär, als sie allein den Mächtigen das Privileg einräumen, sich zu verschwören. So offensichtlich es ist, dass sich die Mächtigen verabreden, um ihre Stellung zu halten und auszubauen, so offensichtlich ist auch, dass Verschwörung überall stattfindet – in den Eingangshallen von Gebäuden, an der Kaffeemaschine, hinter den Kebabbuden, bei Besetzungen, in den Werkhallen, beim Hofgang, auf Abendgesellschaften, in der Liebe. Und all diese Verbindungen, all diese Gespräche, all diese Freundschaften verweben sich im wechselseitigen Austausch zu einer historischen Partei, die weltweit am Werk ist – »unsere Partei«, wie Marx sagte. Tatsächlich gibt es angesichts der objektiven Verschwörung der Ordnung der Dinge eine diffuse Verschwörung, der wir faktisch angehören. Aber innerhalb derselben herrscht größte Verwirrung. Unsere Partei stößt sich überall an ihrem eigenen ideologischen Erbe; sie verheddert sich in einem Geflecht aus aufgelösten, vergangenen revolutionären Traditionen, die dennoch Respekt gebieten. Die strategische Intelligenz kommt aber vom Herzen und nicht vom Hirn, und der Fehler der Ideologie liegt gerade darin, das Denken vom Herzen abzuschirmen. Mit anderen Worten: Wir müssen uns dort den Zutritt erzwingen, wo wir uns gerade befinden. Die einzige Partei, die es aufzubauen gilt, ist jene, die bereits da ist. Wir müssen uns all des geistigen Plunders entledigen, der dem klaren Erfassen unserer gemeinsamen Lage, unserer »gemeinsamen Diesseitigkeit« entgegensteht, um mit Gramsci zu sprechen. Unserem Erbe geht kein Testament voraus.

Wie jeder Werbeslogan bezieht die Parole »Wir sind die 99%« ihre Wirkkraft nicht aus dem, was sie sagt, sondern aus dem, was sie nicht sagt. Was sie nicht sagt, ist die Identität der 1% Mächtigen. Was diese 1% kennzeichnet, ist nicht, dass sie reich sind – in den Vereinigten Staaten gibt es deutlich mehr Reiche als 1% – und auch nicht, dass sie berühmt sind – sie verhalten sich eher unauffällig, und wem wollte man heutzutage nicht seine Viertelstunde Ruhm gönnen? Was diese 1% auszeichnet, ist, dass sie organisiert sind. Sie organisieren sich sogar, um das Leben der anderen zu organisieren. Die Wahrheit dieses Slogans ist fürwahr grausam, und sie lautet, dass es auf die Menge nicht ankommt: Man kann 99% sein und perfekt beherrscht werden. Umgekehrt beweisen die kollektiven Plünderungen von Tottenham zur Genüge, dass man aufhört, arm zu sein, wenn man anfängt, sich zu organisieren. Zwischen einem Haufen Armer und einem zu gemeinsamem Handeln entschlossenen Haufen Armer besteht ein erheblicher Unterschied.

Sich zu organisieren hat noch nie bedeutet, dass man ein und derselben Organisation angehören muss. Sich zu organisieren bedeutet, auf welcher Stufe auch immer, nach einer gemeinsamen Wahrnehmung zu handeln. Denn was in der aktuellen Lage fehlt, ist nicht die »Wut der Leute« oder ein Mangel, weder der gute Wille der Aktivisten noch die Verbreitung kritischen Bewusstseins, auch nicht die Vermehrung der anarchistischen Geste. Was uns fehlt, ist eine von allen geteilte Einschätzung der Lage. Ohne dieses Bindemittel verblassen die Gesten im Nichts, ohne Spuren zu hinterlassen, hat jedes Leben bloß die Beschaffenheit von Träumen und enden die Aufstände in den Schulbüchern.

Die tägliche Fülle an Informationen, die für die einen alarmierend, für die anderen bloß skandalös sind, formt unsere Besorgnis über eine alles in allem unbegreifliche Welt. Ihr chaotisches Erscheinungsbild ist der Nebel des Krieges, hinter dem sie sich unangreifbar macht. Gerade diese scheinbare Unregierbarkeit ist es, die sie tatsächlich regierbar macht. Darin liegt die List. Durch die Übernahme des Krisenmanagements als Regierungstechnik hat das Kapital nicht nur den Fortschrittskult durch die Erpressung mit der Katastrophe ersetzt, sondern wollte sich auch den Anspruch auf das strategische Verständnis der Gegenwart, auf die Übersicht über die laufenden Operationen vorbehalten. Worauf es ankommt, ist, ihm dies streitig zu machen. Es geht darum, in Sachen Strategie der Global Governance wieder zwei Schritte voraus zu sein. Es gibt keine Krise, aus der man herauskommen muss, es gibt einen Krieg, den wir gewinnen müssen.

Ein gemeinsames Verständnis der Situation kann nicht durch einen einzigen Text entstehen, sondern braucht eine internationale Debatte. Und um eine Debatte entstehen zu lassen, braucht es Beiträge. Ein solcher liegt hiermit vor. Wir haben die revolutionäre Tradition und die revolutionären Haltungen im Licht der historischen Konjunktur überprüft und versucht, die Tausenden feinen Fäden zu durchtrennen, die den Gulliver der Revolution am Boden zurückhalten. Wir haben tastend gesucht, welche Ausschnitte, welche Gesten, welche Gedankengänge uns erlauben könnten, uns aus der verfahrenen gegenwärtigen Lage zu ziehen. Es gibt keine revolutionäre Bewegung ohne eine Sprache, die in der Lage ist, sowohl die Verhältnisse zu benennen, in die wir gebracht worden sind, als auch die Vielfalt des Möglichen, das diese Verhältnisse rissig macht. Das Vorliegende ist ein Beitrag zur Ausarbeitung dieser Sprache. Zu diesem Zweck erscheint dieser Text gleichzeitig in acht Sprachen auf vier Kontinenten. Wir sind überall, Unzählige; nun gilt es, uns zu organisieren, weltweit.

Athen, Dezember 2008

Merry crisis and happy new fear

1.Dass die Krise eine Regierungsform ist

2.Dass die wahre Katastrophe existenziell und metaphysisch ist

3.Dass die Apokalypse enttäuscht

1. Wir Revolutionäre sind die großen Betrogenen der modernen Geschichte. Und in der einen oder anderen Form ist man immer mitverantwortlich für das eigene Betrogenwerden. Die Tatsache schmerzt und wird daher in der Regel verleugnet. Wir haben ein blindes Vertrauen in die Krise gehegt, ein so altes und blindes Vertrauen, dass wir nicht gesehen haben, wie die neoliberale Ordnung sie zum Herzstück ihres Arsenals machte. Marx schrieb nach 1848: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« Tatsächlich verbrachte er den Rest seines Lebens damit, bei den kleinsten Zuckungen der Weltwirtschaft die große, finale Krise des Kapitals vorherzusagen, auf die er vergeblich warten sollte. Noch immer wollen uns Marxisten die gegenwärtige Krise als »The Big One« verkaufen, damit wir weiter auf ihre seltsame Art von Jüngstem Gericht warten.

»Willst du eine Veränderung bewirken, dann löse eine Krise aus«, empfahl Milton Friedman seinen Chicago Boys. Das Kapital fürchtet Krisen nicht, ganz im Gegenteil. Es produziert sie inzwischen versuchsweise. So wie man eine Lawine auslöst, um sich die Wahl des Zeitpunkts und die Kontrolle über ihre Ausbreitung vorzubehalten. Wie man Steppen abbrennt, um sicherzustellen, dass die drohende Feuersbrunst mangels Brennstoff hier erlischt. »Wo und wann« sind Fragen der Zweckmäßigkeit und der taktischen Notwendigkeit. Bekanntlich ließ es sich der frisch ernannte Direktor des griechischen Amts für Statistik, Elstat, im Jahr 2010 nicht nehmen, die Schuldenbilanz des Landes nach oben zu fälschen, um ein Eingreifen der Troika zu rechtfertigen. Fakt ist also, dass die »Staatsschuldenkrise« von einem Mann lanciert wurde, der zu diesem Zeitpunkt noch offiziell im Sold des IWF stand, jener Institution, die den Ländern beim Ausweg aus den Schulden »helfen« sollte. Es ging darum, im 1:1-Maßstab in einem europäischen Land den neoliberalen Plan der kompletten Umgestaltung einer Gesellschaft und die Folgen einer guten »Strukturanpassungspolitik« zu testen.

Die Krise war, mitsamt ihrer medizinischen Konnotation, während der gesamten Moderne jener natürliche Zustand, der unerwartet oder zyklisch eintrat und eine Entscheidung erforderlich machte – eine Entscheidung, die der allgemeinen Verunsicherung über die kritische Lage ein Ende setzen würde. Die Sache ging gut aus oder auch nicht, je nachdem, wie angemessen die angewandte Medikation war. Der kritische Moment war auch der Moment der Kritik – das kurze Intervall, in dem die Diskussion über die Symptome und die Medikation eröffnet war. Davon ist heute nichts mehr geblieben. Das Mittel hat nicht mehr den Zweck, die Krise zu beenden. Die Krise wird im Gegenteil ausgelöst, um das Mittel einzusetzen. Fortan spricht man von »Krise« in Bezug auf das, was man umzustrukturieren gedenkt, so wie man diejenigen als »Terroristen« bezeichnet, gegen die man einen Schlag vorbereitet. Mit der »Krise der Vorstädte« wurde in Frankreich 2005 die direkt vom Innenministerium orchestrierte größte städtebauliche Offensive der letzten dreißig Jahre gegen ebendiese »Vorstädte« angekündigt.

Der Krisendiskurs der Neoliberalen ist ein doppelter Diskurs – unter sich sprechen sie lieber von »doppelter Wahrheit«: Einerseits ist die Krise das belebende Moment schöpferischer Zerstörung, sie schafft Möglichkeiten, Innovation, Unternehmer, von denen nur die besten, motiviertesten, wettbewerbsfähigsten überleben werden. »Im Grunde ist vielleicht das die Botschaft des Kapitalismus: Nur durch die schöpferische Zerstörung, die Abstoßung überholter Technologien und alter Produktionsweisen zugunsten von neuen lässt sich der Lebensstandard heben […]. Der Kapitalismus löst in jedem von uns einen Konflikt aus. Wir sind nacheinander aggressiver Unternehmer und Stubenhocker, der in seinem Innersten eine weniger wettbewerbsorientierte und stressige Wirtschaft bevorzugt, in der alle dasselbe verdienen würden«, schreibt Alan Greenspan, von 1987 bis 2006 Vorsitzender der US-amerikanischen Notenbank. Andererseits interveniert der Krisendiskurs als politische Methode der Verwaltung der Bevölkerung. Nur durch die permanente Umstrukturierung von allem – ob Organigramme oder Sozialhilfe, Unternehmen oder Stadtteile – lässt sich durch ständige Umwälzung der Existenzbedingungen die Inexistenz der gegnerischen Seite organisieren. Die Rhetorik der Veränderung dient dazu, jede Gewohnheit zu zerstören, jede Bindung zu lösen, jede Sicherheit zu erschüttern, jede Solidarität zu vereiteln, eine chronische existenzielle Unsicherheit wachzuhalten. Sie entspricht einer Strategie, die wie folgt beschrieben werden kann: »Durch die permanente Krise jede tatsächliche Krise verhindern.« Auf den Alltag übertragen, ähnelt dies der bekannten Praxis der Aufstandsbekämpfung durch »Stabilisierung mittels Destabilisierung«, in der die Macht absichtlich Chaos provoziert, damit die Ordnung wünschenswerter erscheint als die Revolution. Ob im Mikromanagement oder in der Verwaltung ganzer Länder, die Bevölkerung wird in einer Art von permanentem Schockzustand gehalten, der sprachlos macht und Verlassenheitsgefühle weckt, woraufhin man mit jedem Einzelnen nahezu alles machen kann, was man will. Die Massendepression, die die Griechen gegenwärtig befallen hat, ist das gewollte Ergebnis der Politik der Troika und nicht ihre Begleiterscheinung.

Weil er nicht verstanden hat, dass die »Krise« kein wirtschaftliches Phänomen ist, sondern eine politische Regierungstechnik, hat sich schon so mancher damit lächerlich gemacht, die Explosion des Subprime-Betrugs eilfertig als »Tod des Neoliberalismus« zu bezeichnen. Was wir erleben, ist nicht eine Krise des Kapitalismus, sondern im Gegenteil der Triumph des Kapitalismus der Krise. »Die Krise« bedeutet, dass die Regierung wächst. Sie ist zur Ultima Ratio dessen geworden, was regiert. Die Modernität beurteilte alles nach dem Maßstab der Rückständigkeit, der sie uns angeblich entreißen würde; fortan wird alles nach dem Maßstab seines nahenden Zusammenbruchs bemessen. Wenn die Gehälter der griechischen Beamten halbiert werden, dann mit dem Argument, man könne sie ja auch ganz streichen. Jede Anhebung der Beitragsjahre der französischen Arbeitskräfte erfolgt unter dem Vorwand, das »Rentensystem zu retten«. Die permanente, allseitige gegenwärtige Krise ist nicht mehr die klassische Krise, der entscheidende Moment. Sie ist im Gegenteil endloses Ende, dauerhafte Apokalypse, unbestimmte Unterbrechung, anders wirksam als der wirkliche Zusammenbruch und daher permanenter Ausnahmezustand. Die gegenwärtige Krise verspricht nichts mehr; sie neigt ganz im Gegenteil dazu, die Regierenden von jeder Beschränkung hinsichtlich ihrer Wahl der angewandten Mittel zu befreien.

2. Jede Epoche hat ihren Stolz. Möchte einzigartig sein. Der Stolz der unsrigen ist es, Zeugin des historischen Aufeinanderprallens einer globalen ökologischen Krise, einer verallgemeinerten politischen Krise der Demokratien und einer unvermeidlichen Energiekrise zu sein, gekrönt von einer schleichenden, aber »seit einem Jahrhundert beispiellosen« Weltwirtschaftskrise. Und das schmeichelt uns und erhöht unseren Genuss, in einer unvergleichlichen Epoche zu leben. Man muss nur die Zeitungen der 1970er Jahre aufschlagen, den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums von 1972, den Artikel des Kybernetikers Gregory Bateson über »Die Wurzeln ökologischer Krisen« vom März 1970 oder den von der Trilateralen Kommission 1975 veröffentlichten Bericht The Crisis of Democracy lesen, um festzustellen, dass wir mindestens seit Anfang der 1970er Jahre unter dem dunklen Stern einer uneingeschränkten Krise leben. Ein Text von 1973 wie Apocalisse e rivoluzione von Giorgio Cesarano analysiert das bereits hellsichtig. Wenn das siebente Siegel in einem bestimmten Augenblick gebrochen wurde, dann jedenfalls nicht erst gestern.

Ende 2012 veröffentlichte das hochoffizielle amerikanische Center for Disease Control zur Abwechslung einen Comic. Sein Titel: Preparedness 101: Zombie apocalypse. Der Gedanke ist simpel: Die Bevölkerung soll für alle Eventualitäten gerüstet sein, eine Atom- oder Naturkatastrophe, ein allgemeiner Systemausfall oder ein Aufstand. Das Dokument endete so: »Wenn Sie auf eine Apokalypse von Zombies vorbereitet sind, sind Sie für jeglichen Ernstfall gewappnet.« Die Figur des Zombies kommt aus der Voodoo-Kultur Haitis. Im amerikanischen Kino werden regelmäßig Massen aufgebrachter Zombies als Metapher für die Gefahr eines allgemeinen Aufstands des schwarzen Proletariats verwendet. Auf das also gilt es vorbereitet zu sein. Jetzt, wo nicht mehr auf die sowjetische Gefahr verwiesen werden kann, um den psychotischen Zusammenhalt der Bürger sicherzustellen, sind alle Mittel recht, um die Bevölkerung in Bereitschaft zu versetzen, sich zu verteidigen, das heißt das System zu verteidigen. Einen Schrecken ohne Ende aufrechtzuerhalten, um ein Ende mit Schrecken zu verhindern.

Das ganze falsche westliche Bewusstsein ist in diesem offiziellen Comic vereint. Natürlich sind die wirklichen lebenden Toten die Kleinbürger der amerikanischen Suburbs. Natürlich kommt die platte Sorge ums Überleben, die wirtschaftliche Angst, alles zu verpassen, das Gefühl, die Lebensweise an sich sei unerträglich, nicht nach der Katastrophe, sondern beflügelt schon jetzt den verzweifelten Struggle for Life jedes Einzelnen in der neoliberalen Ordnung. Das im eigentlichen Sinn unaushaltbare Leben droht nicht, sondern ist bereits da, tagtäglich. Jeder sieht es, weiß es, fühlt es. Die Walking Dead, das sind die Salary Men. Unsere Epoche ist nicht allein des ästhetischen Vergnügens wegen, das diese Art von Zerstreuung bietet, vernarrt in apokalyptische Szenen, die einen guten Teil der Filmproduktion ausmachen. Schon die Apokalypse des Johannes hat übrigens alles, was eine fantastische Hollywood-Vision braucht, mit ihren Luftangriffen durch entfesselte Engel, ihren unbeschreiblichen Sintfluten, ihren spektakulären Plagen. Nur die allumfassende Zerstörung, der allseitige Tod kann dem Angestellten aus der Eigenheimsiedlung entfernt das Gefühl verleihen zu leben, ihm, der unter den lebenden Toten der toteste Lebende ist. »Genug davon!« und »Hoffentlich bleibt es so!« sind die zwei Seufzer, die von ein und derselben zivilisierten Hilflosigkeit abwechselnd ausgestoßen werden. Darein mischt sich eine alte calvinistische Lust zur Kasteiung: Das Leben ist Aufschub, niemals Fülle. Nicht umsonst hat man von »europäischem Nihilismus« gesprochen. Der sich übrigens so gut als Exportartikel eignete, dass die Welt seiner mittlerweile überdrüssig ist. Was die »neoliberale Globalisierung« betrifft, so gab es für uns vor allem die Globalisierung des Nihilismus.

2007 haben wir geschrieben, dass »das, dem wir uns gegenübersehen, nicht die Krise einer Gesellschaft, sondern das Erlöschen einer Zivilisation ist«. Mit derlei Aussagen galt man damals als Illusionist. Doch »die Krise« ist eingetreten. Selbst ATTAC hat gemerkt, dass es eine »Krise der Zivilisation« gibt, und das will etwas heißen. Pikanter ist, was ein amerikanischer Irakkriegs-Veteran und heutiger »Strategie«-Berater im Herbst 2013 in der New York Times schrieb: »Wenn ich nun in unsere Zukunft blicke, sehe ich, wie das Wasser ansteigt und das südliche Manhattan überflutet. Ich sehe Hungerrevolten, Hurrikans und Klimaflüchtlinge. Ich sehe Soldaten des 82. Fliegerregiments, die Plünderer erschießen. Ich sehe allgemeine Ausfälle des Versorgungsnetzes, verwüstete Häfen, die Abfälle von Fukushima und Epidemien. Ich sehe Bagdad. Ich sehe die Rockaways. Ich sehe eine seltsame, prekäre Welt. […] Das größte Problem mit dem Klimawandel ist nicht, wie sich das Verteidigungsministerium auf Rohstoffkriege vorbereiten sollte oder wie wir Deiche errichten sollten, um Alphabet City zu schützen, oder wann wir Hoboken evakuieren sollten. Es wird nicht damit getan sein, Hybridautos zu kaufen, Abkommen zu unterzeichnen oder die Klimaanlage abzustellen. Das größte Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist philosophischer Natur: zu verstehen, dass diese Zivilisation bereits tot ist.« Nach dem Ersten Weltkrieg hieß es noch, sie sei »tödlich«, was sie zweifellos in jedem Sinn des Wortes war.

In Wirklichkeit wurde die klinische Diagnose des Endes der westlichen Zivilisation schon vor einem Jahrhundert gestellt und durch die Ereignisse bestätigt. Das zu erörtern ist seither nur eine Art, sich davon abzulenken. Vor allem aber ist es eine Art, sich von der Katastrophe abzulenken, die da ist, und das seit Langem, von der Katastrophe, die wir sind, der Katastrophe, die der Westen ist. Diese Katastrophe ist zuerst existenziell, emotional, metaphysisch. Sie liegt in der unglaublichen Fremdheit des westlichen Menschen gegenüber der Welt, einer Fremdheit, die beispielsweise gebietet, sich zum Beherrscher und Besitzer der Natur zu machen – nur was man fürchtet, versucht man zu beherrschen. Nicht umsonst hat der Mensch so viele Schirme zwischen sich und der Welt errichtet. Der westliche Mensch hat das Existierende, indem er sich von ihm abschottet, in diese trostlose Weite, dieses triste, feindselige, mechanische, absurde Nichts verwandelt, das er ständig durch seine Arbeit, durch einen krankhaften Aktivismus, durch eine hysterische oberflächliche Geschäftigkeit verändern muss. Ununterbrochen von der Euphorie in den Stumpfsinn und vom Stumpfsinn in die Euphorie zurückgeworfen, sucht er in der Anhäufung von Expertisen, Prothesen, Beziehungen – all diesem letztlich enttäuschenden technologischen Krimskrams – Abhilfe für seine Absenz von der Welt. Immer deutlicher wird er zu diesem überausgerüsteten Existentialisten, dessen Geist unaufhörlich arbeitet, der alles neu schafft und eine Realität nicht ertragen kann, die ihm völlig unverständlich ist. »Die Welt verstehen heißt für einen Menschen: sie auf das Menschliche zurückführen, ihr ein menschliches Siegel aufdrücken«, gestand der Idiot Camus unumwunden ein. Seinem Bruch mit der Existenz, mit sich selbst, mit »den anderen« – dieser Hölle! –, versucht der westliche Mensch trivial neuen Zauber zu verleihen, indem er ihn seine »Freiheit« nennt, wenn schon langweilige Feste, debile Ablenkungen oder der massive Gebrauch von Drogen nicht helfen. Das Leben ist für ihn effektiv und emotional abwesend, denn das Leben widert ihn an; im Grunde bereitet es ihm Ekel. Vor allem, was die Wirklichkeit an Instabilem, Unlösbarem, Greifbarem, Körperlichem, Drückendem, an Hitze und Müdigkeit bereithält, konnte er sich schützen, indem er es auf die ideelle, visuelle, entfernte, digitalisierte Ebene des Internets projiziert, das ohne Reibung und Tränen, ohne Tod und Geruch auskommt.

Die Lüge der ganzen westlichen Apokalyptik besteht darin, auf die Welt die ganze Trauer zu projizieren, die wir für sie nicht aufbringen können. Nicht die Welt ist verloren, wir haben die Welt verloren und verlieren sie unaufhörlich; nicht die Welt wird bald zu Ende gehen, wir sind am Ende, amputiert, abgeschnitten, wir, die halluzinatorisch den lebendigen Kontakt mit der Wirklichkeit ablehnen. Die Krise ist nicht wirtschaftlicher, ökologischer oder politischer Natur, die Krise ist vor allem eine der Präsenz. Und dies so sehr, dass das Must Have unter den Waren – typischerweise das iPhone und der Hummer-Geländewagen – aus einer ausgeklügelten Apparatur der Absenz besteht. Das iPhone bündelt einerseits in einem einzigen Objekt alle möglichen Zugänge zur Welt und zu den anderen; es ist Lampe und Fotoapparat, Winkelmaß und Musikrekorder, Fernseher und Kompass, Touristenführer und Kommunikationsmittel; andererseits ist es die Prothese, die dem, was da ist, jede Verfügbarkeit verwehrt und mich in ein System ständiger bequemer Halbpräsenz versetzt, das einen Teil meines Da-Seins ständig zurückhält. Kürzlich wurde sogar eine Smartphone-App eingeführt, die dafür Abhilfe schaffen soll, dass »unsere Rund-um-die-Uhr-Verbindung mit der digitalen Welt uns von der realen Welt um uns herum abkoppelt«. Sie nennt sich hübsch GPS for the Soul. Der Hummer wiederum ist die Möglichkeit, meine autistische Blase, meine Undurchlässigkeit für alles bis in die letzten unzugänglichen Winkel »der Natur« zu transportieren; und wieder unbeschadet von dort zurückzukommen. Dass Google den »Kampf gegen den Tod« als neue industrielle Perspektive verkündet, ist bezeichnend dafür, wie man sich darüber täuscht, was das Leben ist.

In seiner perfekten Demenz hat sich der Mensch sogar zur »geologischen Kraft« erklärt; er ist so weit gegangen, eine Phase des Lebens dieses Planeten nach seiner Spezies zu benennen: Er hat begonnen, von »Anthropozän« zu sprechen. Ein letztes Mal weist er sich die Hauptrolle zu, auch wenn er sich beschuldigt, alles verwüstet zu haben – die Meere, die Lüfte, die Gründe und Untergründe –, auch wenn er sich für die beispiellose Ausrottung von Pflanzen- und Tierarten an die Brust schlägt. Bemerkenswert ist allerdings, dass er sich gegenüber der Katastrophe, die er durch sein katastrophales Verhältnis zur Welt verursacht, immer in derselben katastrophalen Weise verhält. Er berechnet die Geschwindigkeit, mit der das Packeis verschwindet. Er misst die Auslöschung nichtmenschlicher Lebensweisen. Über den Klimawandel spricht er nicht anhand seiner eigenen Sinneserfahrung – jener Vogel, der nicht mehr zur selben Jahreszeit kommt, jenes Insekt, dessen Zirpen man nicht mehr hört, jene Pflanze, die nicht mehr zur gleichen Zeit blüht wie eine andere. Er spricht darüber in Zahlen, Durchschnittswerten, wissenschaftlich. Er glaubt, etwas gesagt zu haben, wenn er feststellt, dass die Temperatur um soundso viel Grad ansteigen und die Niederschläge um soundso viel Millimeter abnehmen werden. Er spricht sogar von »Biodiversität«. Er beobachtet die Verminderung des Lebens auf Erden aus dem All. Als Gipfel seines Stolzes behauptet er jetzt sogar paternalistisch, »die Umwelt zu schützen«, die ihn darum nicht gebeten hat. Alles deutet darauf hin, dass dies seine letzte Flucht nach vorne ist.